Seelenzwang - Lara Nishio - E-Book

Seelenzwang E-Book

Lara Nishio

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Beschreibung

"Er ruft nach dir. Spürst du, wie deine Seele immer schwächer wird? Du musst dich beeilen!" Eine unbekannte Bestie fällt in das beschauliche Dorf Tiros ein und die sechzehnjährige Helena wird zum Opfer. Bei dem Angriff überträgt das Wesen einen Teil seiner Seele in ihren Körper. Um ihre eigene Seele zu retten, ist Helena gezwungen, ihre Heimat erstmals zu verlassen. Ein Freund ihres Bruders scheint mehr über die Bestie zu wissen. Kann dieser womöglich Licht ins Dunkel bringen? Schnell wird klar: Allein kann sich Helena nicht gegen die erbarmungslose Macht der fremden Seele behaupten, die versucht, ihre eigene in Besitz zu nehmen. Die Zeit drängt! Mit dem ersten Teil ihrer mitreißenden High-Fantasy-Reihe entführt die Autorin ihre Leser in eine Welt voller Geheimnisse und Magie, deren Unbeschwertheit sowohl von dem Hunger nach Macht als auch dem hoffnungslosen Streben nach Freiheit überschattet wird.

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Seitenzahl: 425

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Seelenzwang - Macht

Teil 1

Lara Nishio

Seelenzwang

Macht

Impressum

Seelenzwang – Macht

Copyright Lara Buchheit-Tölke

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Larissa Müller (Lektorat Zeilenschmuck)

Coverdesign, Buchsatz und Kapitelzierde: Renee Rott (Dream Design Cover and Art)

Lara Buchheit-Tölke

Lothringer Straße 15

66346 Püttlingen

Alle Texte dieses Buches sind geistiges Eigentum der Autorin. Sämtliche Verwendung ist urheberrechtswidrig und somit strafbar.

Instagram: _lara.nishio_

E-Mail: [email protected]

ISBN: siehe Buchrücken

Druck: epubli – Ein Service der neopubli GmbH Berlin

Für meine Oma Ruth, deren herzlicher Charakter

mit diesem Buch für immer fortbestehen wird.

Die Nacht des Vollmondes. Finster und grausig.

Dunkle Schatten tanzten im Schein des Mondes. Angetrieben vom Wind, wirkten sie wie Seelen, die zwischen den Welten irrten. Ein zarter Nebel aus Magie lag in der Luft. Sanft und stetig glitt er über die Erde, legte sich auf verdorrtes Laub und schmiegte sich an die Stämme der Bäume. Zitternd verkrochen sich die Tiere im Unterholz und wagten nicht, sich zu bewegen. Sie gaben keinen Ton von sich. Mit den Augen verfolgten sie jene Gestalt, die zwischen den hohen Büschen entlang schritt.

Sie war eingehüllt in einen Umhang und hatte die Kapuze der Robe weit über die Stirn gezogen. Das Kinn stand hervor wie ein Haken und die Lippen waren schmal und so rau wie unbehandelter Sandstein. Die Fußsohlen des Fremden waren wund und bluteten von unzähligen gelaufenen Meilen über Felder und Geröll.

Dornensträucher zerkratzten seine nackten Waden, doch Schmerz empfand er nicht. Unbeirrt folgte er seinem Weg, denn er hatte sein Ziel genau vor Augen. In dieser Nacht würde er sich einen jungen Menschen aussuchen. Von den Alten hatte er genug. Er war angewidert von der runzligen Haut und dem verbrauchten Geruch, der von ihnen ausging. Heute brauchte er Frischfleisch. Gelächter erreichte seine empfindlichen Ohren. Er war nahe. Schon bald würde er ein Opfer finden. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, er hielt an und streifte die Kapuze zurück.

Sie feierten ein Fest im Dorf. Unbekümmert betranken sie sich mit Bier, lachten und tanzten. Für ihn waren Abende dieser Art die ideale Gelegenheit. Er beobachtete die Menschen ungesehen und traf in aller Ruhe seine Wahl. Eine große Auswahl gab es nicht. Er lechzte nach einem Mädchen, frisch und unberührt, die Haut zart und der Geist unbelastet. Doch in dieser Siedlung wimmelte es von Jungen, deren grobes Auftreten er den Tag über beobachtet hatte.

Er schnaufte verärgert und fuhr sich durch sein fettiges Haar, das seine Wangen bedeckte. Sein Blick schweifte über die ausgelassenen Leute. Das kleinste Übel galt es zu finden und letzten Endes entschloss er sich für ein Kind. Es war eine Weile her, dass er sich an einem derart jungen Menschen ausgetobt hatte. Denn um ehrlich zu sein, empfand er kein Vergnügen dabei. Sie waren zu leicht zu überwältigen. Für heute musste es genügen. Er legte den Umhang ab. Wie ein Gerippe stand er da und seine unzähligen Narben glänzten im hellen Licht des Mondes. Tief ein- und ausatmend bereitete er sich auf den Angriff vor. Er würde sich nicht lange damit aufhalten.

Dann trat sie in sein Sichtfeld und seine Augen weiteten sich. Dunkles Haar fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern, umspielte ihr weiches Gesicht. Sie war genau das, was er brauchte: blutjung und unschuldig. Lust packte ihn und durchzuckte seinen Körper wie ein Blitz. Ihm wurde klar, sein Verlangen vermochte doch noch gestillt zu werden.

Bald gab es ein rauschendes Fest in dem kleinen Dorf namens Tiros. Die Bewohner feierten es jedes Jahr um diese Zeit und läuteten so die Ackersaison ein. Vermutlich nannten sie es deshalb Feldfest. Bereits Wochen vorher freuten sie sich darauf und alle beteiligten sich bei den Vorbereitungen. Die Jäger erlegten Wild im angrenzenden Wald, um es für das Fest vorzubereiten. Der Bäcker backte Brot, der Schmied und der Tischler brachten Tische und Stühle in Reih und Glied und die Frauen kümmerten sich um die Dekoration. Die Kinder übten in der Schule Volkslieder und die Älteren spielten ihre Instrumente ein.

Auch Helena half mit. Achtsam steckte sie zwei Seiten einer Tischdecke zusammen, nahm Nadel und Faden zur Hand und fing an, sie zusammenzunähen. Die Mädchen aus Tiros erlernten neben dem Unterricht im Lesen und Schreiben die Handwerkskunst des Nähens. Helena war seit kurzem sechzehn Jahre alt und laut ihrer Mutter somit im heiratsfähigen Alter. Sie selbst hatte mit siebzehn geheiratet und schwärmte in letzter Zeit oft von der Ehe. Es lag wohl daran, dass ihre Tochter nie Anstalten machte, überhaupt darüber nachzudenken. Für Helena war eine Heirat noch lange kein Thema. Sie war doch gerade erst aus dem Kindesalter heraus.

»Wieso bist du abgelenkt, Helena?« Die Frage kam von Helenas Freundin Jenna.

»Abgelenkt?«

»Na, du nähst die falschen Seiten zusammen.«

Erschrocken blickte Helena auf den Stoff in ihren Händen. Das war ihr schon lange nicht mehr passiert. Auch Allyndra hob den Kopf und betrachtete Helenas Tischdecke.

»Ist irgendwas?«, wollte sie wissen.

»Ach, es ist nichts Wichtiges. Meine Mutter spricht seit Neustem vom Heiraten«, erklärte Helena und griff nach dem Nahtauftrenner.

»Minara spricht vom Heiraten?« Allyndra sah ihre Freundin überrascht an. »Will sie, dass du demnächst heiratest?«

Helena zuckte mit den Schultern. Viele Mütter betrachteten die Ehe für ihre Töchter als eine Art Absicherung und es war eher unüblich, als junge Frau nicht über die Ehe nachzudenken. Ihre Mutter vertrat diese Meinung zwar, wollte ihre Tochter aber sicher nicht dazu drängen. Vermutlich tastete sie sich langsam an das Thema heran, um es für sie präsent zu machen.

»Ich denke, die Ehe ist wunderbar.« Jenna kicherte hinter hervorgehaltener Hand. Sie war zwei Jahre älter als Helena und Allyndra.

»Du musst das ja sagen.« Allyndra grinste. »Schließlich heiratest du im Sommer. Dann auch noch den Sohn des Bürgermeisters.«

»Und was ist mit dir, Ally?«, fragte Jenna verschmitzt, um von sich selbst abzulenken.

»Ach.« Allyndra winkte ab. »Hier gibt es doch keine ehebereiten Männer mehr.«

Sie hatte recht. Die Mehrzahl der Bewohner Tiros’ war zwar männlich, aber sie waren entweder zu jung, zu alt oder – so wie im Falle von Jennas Zukünftigem – verlobt oder sogar verheiratet. Für Helena und Ally käme es daher nur in Frage einen Mann aus einem der Nachbardörfer zu heiraten. Helena hielt sich aus dem Gespräch der beiden raus und korrigierte ihren Nähfehler. Das Feldfest fand am nächsten Abend statt und bis dahin sollten die Decken für die Tische fertig sein.

»Meint ihr, wir können irgendwann mal ein Fest in der Hauptstadt miterleben?«, fragte Ally nachdenklich.

»In der Hauptstadt?« Mit gerunzelter Stirn sah Helena sie an.

»Ja. In Berben, wo das Schloss des Königs ist. Ich wette, die Feste dort sind atemberaubend.«

»Und du willst so eines miterleben?«, hakte Jenna nach.

»Wieso denn nicht? Dort gibt es sicher Tausende von Menschen, die musizieren und tanzen und bis zum Morgengrauen feiern. Dagegen ist unser Fest doch ein Witz.«

»Ich finde es in Ordnung«, murmelte Helena und steckte die richtigen Stoffseiten aufeinander. Tiros lag im Süden des Kontinents Malumbrehn, dessen Hauptstadt Berben hieß und sich im Norden des Landes befand.

»Du bist eben nicht ich«, plapperte Ally weiter. »Irgendwann werde ich die Welt bereisen. Das ist mein großer Traum. Was ist dein Traum, Helena?«

»Mein Traum?«

»Dein Lebenstraum, ja.«

Helena grübelte kurz. Einen solchen hatte sie nicht. Die Welt zu bereisen klang aufregend und sie war neugierig, wie es in anderen Städten und Ländern zuging. Gern würde sie mehr erfahren, aber ihr Heimatdorf verlassen, um durch ganz Malumbrehn zu wandern? Das war ihr zu ungewiss. Zumal die Strecke bis nach Berben sicherlich einen Fußmarsch von mehreren Wochen bedeutete.

»Jedenfalls keine Heirat in nächster Zeit«, sagte sie und lachte.

»Nein, den Part übernehme ich.« Jenna stimmte in ihr Lachen mit ein.

»Ihr Langweiler!« Ally schüttelte den Kopf, musste aber ebenfalls grinsen.

Helena glaubte zu wissen, wieso Ally ausgerechnet diesen Traum verfolgte. Ihr Vater verstarb, kurz nachdem sie geboren worden war. Ihre Mutter Merglin hatte sich fortan allein um ihre Tochter gekümmert.

Allyndra hatte von Kind an in der Schneiderei ihrer Mutter ausgeholfen. Sie hatte ihre Kindheit daher nicht in vollen Zügen genießen können. Anders als Helena, die behütet aufgewachsen war. Mit beiden Elternteilen und ihren Geschwistern lebte sie in einer kleinen Holzhütte das Leben einer umsorgten Tochter. Meist half sie ihrer Mutter, das Haus ordentlich zu halten und das Kräuterbeet im Garten zu pflegen. Ansonsten war sie ohne jegliche Verpflichtungen. Eine heile Familie schien Ally zu fehlen und womöglich rührte ihr Wunsch, Tiros zu verlassen, daher.

Helena mochte es nicht zu reisen. Einmal hatte ihr Vater sie zu einem Nachbardorf mitgenommen, welches einen Fußmarsch von zwei Tagen entfernt war. Der Ausflug, wie er es genannt hatte, war ihr nicht in guter Erinnerung geblieben. Tagsüber hatte die Sonne sie verbrannt und Helena war von mehreren Insekten gestochen worden. Nachts war es kalt gewesen und das Heulen eines Wolfes hatte ihr die Angst in die Knochen getrieben.

Das Leben in Tiros war gar nicht so eintönig, wie Ally behauptete. Da es ein kleines Dorf war, kannten sich die Bewohner untereinander und waren wie eine große Familie. Das gesellschaftliche Leben fand auf einer Wiesenfläche statt, die sie als Dorfplatz bezeichneten. Hier trafen sie sich, schwatzten und feierten Wiegentage und Feste. So wie das bevorstehende Feldfest. Und darauf musste sich Helena jetzt konzentrieren. Nicht, dass sie die nächste Tischdecke wieder falsch zusammensteckte.

Am frühen Abend beendeten die Mädchen ihre Näharbeiten. Sie räumten ihre Plätze auf und fegten den Boden, ehe sie die Schneiderei verließen. Die Sonne stand niedrig und orangerot über den Wipfeln der Bäume. Tiros war ein kleines, unscheinbares Dorf direkt am Rande des Waldes. Ein Bachlauf plätscherte mitten hindurch. Er war ein Ausläufer des großen Flusses, der von der Bergkette weiter nördlich kam.

»Wir sehen uns dann morgen«, verabschiedete sich Jenna. Sie war die Tochter des Bäckers und um nach Hause zu kommen, musste sie nur rüber zur Bäckerei laufen. Helena wohnte in der Wohnsiedlung hinter dem Dorfplatz.

»Sieh mal, Helena. Da ist dein Vater.« Ally deutete nach links. Helenas Vater Isan stand um die hundert Meter von ihnen entfernt und sprach mit dem Bürgermeister Makos. Ihrer Körpersprache nach zu urteilen war es eine ernste Unterhaltung.

»Um was es da wohl geht?«, fragte Helena mehr sich selbst.

»Lass es uns herausfinden.« Ally nahm sie an der Hand und zog sie mit sich.

»Warte mal! Wir können sie doch nicht belauschen!«

»Können wir sehr wohl.«

Ihre Freundin führte sie hinter die Schneiderei und dort weiter an den Rückseiten der Gebäude entlang. Am Hinterhof der Schmiede verlangsamte sie ihre Schritte, blieb an der Hausecke stehen und lugte daran vorbei. Helena sträubte sich dagegen, ihrem Vater hinterher zu spionieren. Er mochte es nicht, wenn sich jemand ungefragt in seine Angelegenheiten einmischte. Des Weiteren hatte er seine Tochter nicht zum Rumschnüffeln erzogen.

»Komm schon«, flüsterte Ally. »Du verpasst sonst alles.«

Die Neugierde obsiegte und Helena lauschte ebenfalls. Sie stellte sogleich fest, dass der Inhalt des Gespräches nicht für ihre Ohren bestimmt war:

»Bist du dir sicher, Makos?«, fragte ihr Vater sein Gegenüber mit gedämpfter Stimme.

»Absolut sicher, Isan. Kay hat ihn im Wald gesehen, als er auf der Jagd war. Er trug einen Umhang und ist herumgeschlichen, als wäre er auf der Suche nach etwas.«

»Ich schicke ein paar Männer los. Denkst du, Kay ist in der Lage sie anzuführen?«

»Du hast meinen Sohn gut ausgebildet. Es wird ihm eine Ehre sein.«

»In Ordnung. Vielleicht war der Fremde nur ein verirrter Wanderer, der Hilfe braucht. Sollten die Männer ihn erneut sehen, finden wir heraus, wer er ist und was er in der Nähe von Tiros will.«

»Was ist mit dem Fest?« Der Bürgermeister sprach leise und seine Augen huschten verunsichert hin und her.

»Das ist nicht meine Entscheidung.«

»Ich würde aber gern deine Meinung hören, Isan. Du, als Ausbilder der Jungen im Waffen- und Kampftraining, hast einen geschulteren Blick auf die Situation.«

Helenas Vater rieb sich über den Nasenrücken. »Mein Vorschlag wäre, dass wir es von Kays Bericht abhängig machen. Es ist nicht ratsam, wegen eines Fremden in Panik zu verfallen. Am Ende allerdings wirst du entscheiden müssen. Ich werde mir diesen Schuh nicht anziehen, Makos.«

Die Mädchen zogen sich zurück und entfernten sich unbemerkt.

»Wen Kay wohl im Wald gesehen hat?«, überlegte Helena.

»Würde ich auch gern wissen. Klang jedenfalls unheimlich, oder? Ein Fremder in einem Umhang …«

Tiros war ein idyllisches Dorf. Nie hatte es sonderbare Zwischenfälle gegeben. Zumindest hatte Helena bisher von keinem erfahren. Die Sache mit dem Mann im Wald hatte sie nur mitbekommen, weil ihre Freundin sie zum Lauschen angestiftet hatte.

»Ich frage mich, was er in Tiros will. Wäre er ein Dieb, würde er nicht froh werden. Hier gibt es nichts von Wert.«

»Falls er überhaupt in unser Dorf will«, gab Helena zu bedenken. »Vielleicht war er wirklich auf der Durchreise.«

»Du siehst immer alles so positiv, Helena. Warum nutzt er nicht die Wege, wenn er ein Reisender ist, mh? Wäre bestimmt spannend, wenn er versuchen würde Tiros zu überfallen. Jedenfalls mal eine Abwechslung zu dem öden Dorfleben hier, oder?«

»Was?«

»Na, überleg doch mal! Die Männer würden, angeführt von deinem Vater, zu den Waffen greifen, sich ins Gefecht stürzen und den Sieg über einen Halunken davontragen!«

Erschüttert starrte Helena ihre Freundin an. Sie wünschte sich nicht ernsthaft, dass Tiros angegriffen würde? Sie machte sich Sorgen um Ally. Erst sprach sie von großen Festen in Städten, einer Reise über den ganzen Kontinent und jetzt von einem Überfall auf das Dorf?

»Du machst mir Angst, Ally.«

»Ach was! War nur ein Scherz. Als würde irgendjemand in Tiros einfallen.« Sie lachte, doch Helena erkannte, dass es gespielt war. »So, ich werd dann mal nach Hause gehen. Meine Mutter wartet um diese Zeit schon mit dem Abendessen. Wir sehen uns morgen beim Fest.«

Sie ließ Helena mitten auf dem Dorfplatz stehen und lief zur Schneiderei. Perplex sah Helena ihrer Freundin nach und fragte sich erneut, weshalb das Leben hier im Dorf zu langweilig für Ally war. Sie hatten hier alles, was man brauchte: Im angrenzenden Wald gab es Wild und Beeren, der Bauer und seine Frau bestellten ein Weizenfeld, hatten Hühner, die Eier legten, und der Bach sorgte für frisches Wasser. Helena hatte bisher nie das Bedürfnis gehabt, das Dorf zu verlassen.

Sie mochte die Ruhe der beschaulichen Siedlung, vor allem die Nachmittage. War der Unterricht vorbei, trafen sich Helena, Ally und Jenna oft am Fluss im Wald, streckten ihre Füße in das kühle Wasser und quatschten und lachten miteinander. Manchmal war sie aber auch gern für sich. Dann erklomm sie einen Hügel ganz in der Nähe, genoss den Ausblick über das Dorf und beobachtete, wie sich die Dächer der Hütten im Sonnenuntergang allmählich rot färbten.

Die Klänge fröhlicher Volksmusik schwangen durch die Luft, brachten eine ausgelassene Stimmung und luden zum Tanz ein. Bier und Met flossen aus großen Eichenfässern in Humpen und ein mannshohes Feuer prasselte und knisterte in der Mitte des Dorfplatzes. Rundherum steckten dünne Spieße in der Erde, an denen Fleisch zum Rösten hing. Die Bewohner von Tiros feierten das Feldfest wie in jedem Jahr.

»Offenbar hat die Suche nach dem Fremden nichts ergeben.« Ally tauchte neben Helena auf und hielt ihr einen Humpen hin.

»Scheint so. Nein, danke, ich nehme lieber was anderes.«

»Warum willst du kein Bier?«

»Mir schmeckt der Alkohol nicht. Aber zurück zu dem Mann im Wald«, versuchte Helena sie abzulenken. »Da das Fest heute stattfindet, hat Kay ihn nicht mehr gesehen, oder?«

»Sieht ganz so aus.« Ally nahm einen großen Schluck aus dem Humpen in ihrer Hand. Helena hatte sie noch nie Bier trinken sehen und fand, es sah seltsam aus. Es wunderte sie, dass das Bier ihrer Freundin schmeckte. Allerdings wollte sie ja auch durch das ganze Land reisen, um ein Fest in Berben zu feiern. »Auf der einen Seite zwar schade, auf der anderen jedoch … lass uns Spaß haben!«

Sie stellte das Getränk auf einem Tisch ab, nahm Helena an der Hand und führte sie näher zur Musikkapelle. Sie fing sogleich an zu tanzen. Ob sie von den wenigen Schlucken betrunken war?

»Na los, Helena! Mach mit!« Ally lachte und machte ausschweifende Bewegungen mit den Armen. Für gewöhnlich liebte Helena es, dem Rhythmus der Musik zu folgen, doch wenn sie ehrlich war, würde sie lieber weiter über den Vorfall mit dem Unbekannten im Wald reden. Nichtsdestotrotz war es gar nicht schlecht, mit ihrer verrückten Freundin zu tanzen. Von hier aus hatte sie freie Sicht auf ihren Vater. Er und der Bürgermeister standen abseits vom Geschehen und erneut wirkte ihre Konversation ernst. Die Gesichtszüge ihres Vaters waren streng und er gestikulierte hastig. Makos blieb stumm und nickte zwischendurch bloß. An einem Tisch, der hinter den beiden stand, waren Waffen unterschiedlicher Art angelehnt. Seit wann brauchten sie Schwerter, Äxte und Speere beim Feldfest?

»Möchtest du einen Kräutertee?« Helenas jüngere Schwester stand vor ihr und lächelte sie fröhlich an. Sie hielt mit dem Tanzen inne und betrachtete sie. Eleahs rotbraune Locken schimmerten im flackernden Schein des Feuers und ihre blassgrünen Augen leuchteten vor Freude. Zwischen ihr und ihrer großen Schwester lagen vier Jahre Altersunterschied.

In der einen Hand hielt Eleah einen Tonbecher, mit der anderen umschloss sie die Finger eines kleinen Mädchens. Lena war mit ihren drei Jahren das Nesthäkchen von Helenas Familie. Ihr Haar war ebenso rotgelockt wie das von Eleah. Bis über beide Ohren grinsend und mit strahlendem Blick beobachtete sie die feiernden Menschen. Helenas jüngere Schwestern kamen nach ihrer Mutter Minara. Sie selbst hatte das Aussehen ihres Vaters geerbt.

»Und wie schmeckt er?«, fragte Eleah und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Das Mädchen hatte ihrer Mutter gestern Abend voll Eifer bei der Zubereitung des Kräutertees geholfen. Helena nippte an dem Tee, den ihre Schwester ihr in die Hand gedrückt hatte.

»Wirklich lecker«, antwortete sie und lächelte.

»Eleah hat sich viel Mühe gegeben«, meinte Lena und tänzelte glücklich auf der Stelle. »Ich will Papa auch einen Becher Tee bringen!«

Die Sonne war hinter den Bäumen des Waldes untergegangen. Der Mond stand hell und rund am klaren, sternenübersäten Himmel. Das Fest in Tiros war noch immer in vollem Gange. Der Alkohol floss, die Kapelle spielte ihre Volksmusik und die Stimmung der Erwachsenen schien auf dem Höhepunkt zu sein. Die jüngeren Kinder waren zu Hause und schliefen, während die älteren weiterhin mitfeierten.

Ally war des Tanzens irgendwann müde geworden. Auch Helena war erschöpft und brauchte ein wenig Ruhe. Deshalb saßen sie seit einer Stunde zusammen mit Jenna auf einer Bank vor deren Haus und unterhielten sich.

»Unglaublich, dass ich in ein paar Monaten verheiratet bin.« Sie nahm einen Schluck aus einem Becher, den sie sich von Helenas Mutter mit Tee hatte auffüllen lassen.

»Ja.« Ally kicherte mädchenhaft und hickste. Sie hatte eindeutig zu viel getrunken. »Und dann wirst du bestimmt bald Nachwuchs bekommen, oder?«

»Ach, das hat Zeit«, antwortete Jenna lachend. »Erst möchte ich mit meinem Ehemann eine Weile allein sein, bevor kleine Kinder durch das Haus wuseln.«

»Wisst ihr denn schon, wo ihr wohnen werdet?«, fragte Helena.

»Unsere Väter bauen nach der Hochzeit ein Häuschen am Waldrand. Ich freue mich wirklich darauf!«

Jenna suchte mit den Augen den Dorfplatz nach ihrem zukünftigen Mann ab. Seit ihrer frühen Jugend schwärmte sie von ihm. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass Kay einer der besten Kämpfer war, den Helenas Vater je ausgebildet hatte.

Dass Jenna ihn bald heiratete, war für sie wie die Erfüllung eines Traumes. So wie Allys Lebenstraum das Bereisen der Welt war. Möglicherweise ergab sich eines Tages für Helena ebenfalls eine Art Wunsch, an dem sie festhalten konnte.

»Ich bin froh, dass mein Vater der Ehe zugestimmt hat. Er hatte anfangs Probleme damit, mich loszulassen. Immerhin bin ich seine einzige Toch-«

Ein langgezogener Ton war zu hören. Er klang laut und schallend in ihren Ohren. Helena sprang erschrocken auf und ihre Unterhaltung fand ein abruptes Ende. Sie hatte es noch nie gehört – das Horn, das bei Gefahr geblasen wurde.

»Was ist los?«, fragte Ally, die mit einem Mal wieder nüchtern war.

Die Musik verstummte und Helenas Herz klopfte schneller. Die Dorfbewohner hörten auf zu tanzen und stellten ihre Humpen ab. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, warum das Warnsignal ertönt war. So manch Betrunkener schien es für einen Scherz zu halten.

»Jenna!« Ihr Verlobter kam auf sie zu gerannt.

»Kay? Ist etwas passiert?«

»Ihr müsst verschwinden!« Seine Stimme war ernst und dennoch holprig, sein Gesichtsausdruck besorgt und auf seiner Stirn waren kleine Schweißtropfen. Er umfasste Jennas Handgelenk und zog sie von der Bank.

Kay hielt eine Axt in seiner rechten Hand. Helena sah ihren Vater. Er verteilte Waffen an die Männer aus dem Dorf, rief ihnen Anweisungen zu und zeigte in Richtung Wald.

»Was ist denn los, Kay?«

»Ich habe keine Zeit für Erklärungen, Jenna.« Er sah ihr voll Sorge in die Augen und legte liebevoll seine Hand an ihre Wange. »Bitte, versteckt euch im Haus!«

Kay machte kehrt und rannte über den Dorfplatz zurück zu Helenas Vater. Dieser teilte die Männer in kleine Gruppen ein und schickte sie in verschiedene Richtungen. Er selbst lief auf den Wald zu. Sie folgte ihm mit den Augen, überblickte die Bäume, die im Schatten der Dunkelheit lagen und erstarrte. Dort, zwischen den Sträuchern, bewegte sich eine eigenartige Gestalt.

Statt stimmungsvoller Musik schwängerte Panik die Luft. Die Leute rannten um ihr Leben. Sie versuchten vor dem Wesen zu fliehen, welches ihr Dorf an diesem späten Abend heimsuchte. Helena stand da und starrte in Richtung Wald. Obwohl es mittlerweile dunkel war und das lichtspendende Feuer nur einen Teil des Dorfplatzes erhellte, erkannte sie es deutlich: Giftgrüne Augen durchstachen die Nacht wie Blitze. Sie gehörten zu den Umrissen eines großen, vierbeinigen Tieres. Gebückt bewegte es sich vorwärts, genau auf die Männer mit den Waffen zu.

»Bleibt ruhig und begebt euch zur Wohnsiedlung! Meidet die Gebäude in der nahen Umgebung!«, rief Helenas Vater den Menschen zu. Er, der Bürgermeister und Jennas Verlobter stellten sich dem Tier, zusammen mit einigen anderen Männern, in den Weg.

»Lasst uns abhauen.« Allys Stimme bebte.

Ja, sie sollten in der Tat wegrennen und sich in Sicherheit bringen. Sie sollten mit dem Strom an flüchtenden Menschen mitlaufen, um sich in den Häusern zu verschanzen. Doch Helena war wie versteinert und beobachtete das Wesen. Obwohl es direkt auf ihren Vater, Makos und Kay zusteuerte, zuckten seine Augen in alle Richtungen.

»Komm schon, Helena!«, forderte Jenna sie voller Angst auf. »Kay sagte, wir müssen uns verstecken.«

Sie umfasste ihren Unterarm und zog daran. Jennas Hand war schwitzig und kühl. Sie war kalkweiß, hatte die schmalen Lippen zusammengepresst und die Augen weit geöffnet. Helenas Starre löste sich allmählich. Die anderen Dorfbewohner liefen hektisch an den drei jungen Frauen vorbei. Die Truppe ihres Vaters bemühte sich, sie zu beruhigen und ihnen klarzumachen, dass Panik die Situation nur verschlimmerte. Ally und Jenna reihten sich ebenfalls mit ein und liefen los.

»Wartet!«, rief Helena und wollte Jennas Hand schnappen, verfehlte sie jedoch. Im nächsten Augenblick waren sie und Ally zwischen den Leuten verschwunden. Schnell versuchte sie Anschluss zu finden.

Ein lauter Schrei übertönte das Durcheinander an Stimmen. Wie angewurzelt blieb Helena stehen. Es war ein Schrei, der ihr durch Mark und Bein ging und ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mit klopfendem Herzen warf sie einen Blick über ihre Schulter, voller Furcht vor dem, was sie sehen würde.

Ihr Vater wehrte das Unwesen ab. Mit kurzen, schnellen Sprüngen griff es an und preschte gegen ihn vor. Das Tier war groß, schmal und agil wie ein junger Hund. Mit seinen mächtigen Vorderpranken schlug es auf Helenas Vater ein. Er hielt es mit einem Schwert auf Abstand und wich seinen Attacken aus. Kay war an seiner Seite, um seinem Lehrmeister zu helfen. Unaufhörlich attackierte das Wesen sie, sodass es ihnen schwerfiel, es in Schach zu halten.

Sorge erklomm Helenas Brustkorb. Ihr Vater und Kay würden es nicht lange aushalten, gegen das Tier zu kämpfen. Was, wenn es sie verletzte? Oder sie es nicht schafften, es aus Tiros zu vertreiben? Auf dem Boden lag etwas. Erst dachte sie, es seien Lumpen, doch bei genauerem Hinsehen erkannte sie einen Körper. Der Bürgermeister lag dort. Die Erde um ihn herum war blutgetränkt. Er rührte sich nicht.

Jemand stieß gegen sie. Sie stolperte vorwärts, verlor das Gleichgewicht und stürzte mit den Händen voran zu Boden. Kleine Steine schürften ihre Haut an den Handgelenken auf.

Als sie aufstehen wollte, wurde sie erneut angerempelt. Um sie herum wimmelte es von Menschen. Es war ihr unmöglich, auf die Beine zu kommen. Immer wieder krachte ihr zierlicher Körper auf die trockene Erde. Staub wirbelte auf, schränkte ihre Sicht ein und legte sich auf ihre Lungen. Sie hustete und kniff die Augen fest zu. Schützend bedeckte Helena ihren Kopf mit den Armen, schirmte ihn so vor den Leuten ab, die über sie trampelten. Wieder und wieder blieben sie mit den Füßen an ihr hängen, traten ihr auf die Beine und den Rücken. Sie krümmte sich und rollte sich zusammen wie eine Assel.

Sie wartete, bis es vorüber war, bis die Menschenwelle abebbte und das Fußgetrappel zu leisen Geräuschen in der Ferne wurde. Nebel aus feinem Schmutz waberte durch die Luft, rieselte auf sie herab und legte sich über sie wie weicher Seidenstoff. Ihr Schädel dröhnte und ihre Glieder schmerzten.

»Helena!« Ihr Vater rief nach ihr. Sie öffnete die Augen und löste ihre Kauerhaltung. Ächzend rappelte sie sich auf. Ihr war schwindelig und sie schwankte hin und her.

»Helena!« Erneut hörte sie seine Stimme. Sie konnte nicht ausmachen, aus welcher Richtung sie kam, denn sie hatte die Orientierung verloren. »Lauf weg!«

Ein donnergrollartiges Knurren drang zu ihren Ohren vor. Es war nahe. Als stünde das Wesen unmittelbar neben ihr. Der Schwindel machte es ihr unmöglich, herauszufinden, wo genau es war. Hinter ihr? Oder vor ihr? Ihr Herz schlug schneller und hämmerte schmerzhaft. Grauen durchstach sie wie hundert Dolchstiche. Sie wollte wegrennen, wie ihr Vater es geraten hatte.

Plötzlich wurde sie von den Füßen gerissen und knallte hart mit dem Rücken auf den Boden. Der Aufprall presste die Luft aus ihren Lungen und ein schmerzverzerrtes Stöhnen entwich ihrer Kehle. Etwas Schweres hielt sie auf der staubigen Erde. Sie öffnete ihre Augenlider und ihre Benommenheit war wie weggeblasen. Sie war begraben unter langem, zottligem Fell, das schmutzig und verfilzt war und penetrant nach nassem Hund stank. Das Wesen war kein Hund, wie sie angenommen hatte. Es war ein Wolf – ein unnatürlich großer Wolf.

Diese Kreatur war definitiv kein normaler Wolf. Seine Schnauze war breit, seine Augen lagen dicht beieinander und seine Ohren liefen spitz wie ein Speer zusammen. Schnaufend bleckte er seine langen Zähne. Speichel rann zäh daran herunter. Sein Atem roch nach verfaultem Fleisch. Heiß glitt er über ihr Gesicht und trieb Helena die Übelkeit in den Magen. Seine grellgrünen Augen glänzten vor Hunger. Sie war sich sicher: Er würde sie töten.

Panisch strampelte sie mit den Beinen, hob die Arme und zog an den felligen Vorderläufen. Mit aller Kraft versuchte sie die Kreatur von sich herunterzustoßen. Doch es nutzte nichts. Der Wolf war zu schwer und Helena zu schwach. Seine spitzen Krallen stachen in ihren Brustkorb. Todesangst pulsierte in ihr. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie zog und drückte heftiger und schrie ihre unermessliche Panik heraus. Sie schaffte es nicht. Sie konnte dem riesigen Tier nicht entfliehen.

Ein tiefes Grummeln drang aus der Kehle des Wolfes. Helena unterbrach den Versuch, sich zu befreien. In seinen Augen sah sie den Drang zu töten. Er kräuselte die Schnauze und öffnete sein Maul. Seine messerscharfen Zähne bohrten sich in ihre Schulter. Wie ein Nebelhorn hallte ihr Schrei durch die Nacht. Kreischend warf sie den Kopf hin und her und schlug unkontrolliert um sich. Wieso half ihr niemand? Wo war ihr Vater? Der Schmerz trieb sie der Ohnmacht nahe. Sie schrie. Schrie immer weiter. Bis ihre Arme schlaff neben ihr auf dem Boden aufschlugen.

Von Furcht gepackt schreckte Helena aus dem Schlaf. Ihr Atem ging schnell und abermals überkamen sie Schwindelgefühle. Ein intensiver Geruch von Kräutern stieg ihr in die Nase. Wo war sie? Hektisch suchte sie die Umgebung mit ihren Augen ab. Das Licht hier war dämmrig, beinahe düster. Der Raum, in dem sie sich befand, war klein und wirkte wie ein Hinterzimmer.

An den Wänden gab es offene Schränke mit unzähligen Fläschchen, Schalen und Kisten darin. Ein runder Tisch, daran ein einzelner Stuhl, stand an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und es gab insgesamt drei Betten. Helena erkannte Regale mit Büchern, von denen einige so alt waren, dass der Einband teilweise abblätterte. Dunkle, ausgefranste Vorhänge bedeckten die Fenster und sperrten das Licht von draußen aus, welches sowohl durch schmale Schlitze an den Seiten als auch durch kleine Löcher im Stoff in den Raum fiel. Es war scharlachrot, wie das der untergehenden Sonne. Hatte sie etwa den ganzen Tag geschlafen?

Sie senkte ihre Lider und fuhr sich mit der Hand einmal über das Gesicht. Sie lag in einem weichen Bett in der Hütte des Dorfheilers und war zugedeckt mit einem dünnen Baumwolltuch. Ihr Kissen fühlte sich feucht an, sicher, weil sie im Schlaf geschwitzt hatte.

Sie war unendlich erleichtert. Sie hatte überlebt. Langsam drehte sie sich auf die Seite. Ein plötzlicher Schmerz loderte in ihrer rechten Schulter und jagte durch ihren ganzen Körper. Helena keuchte auf. Ihre Muskeln spannten sich und sie zog die Knie an. Bedacht darauf, sich so wenig wie möglich zu bewegen, rollte sie sich zurück auf den Rücken.

Erschrocken blickte sie zu der verletzten Stelle. Sie war mit einem vergilbten Verband aus alten Laken umwickelt, der vollgesogen war mit frischem Blut. Ihr wurde übel. Eigentlich hatte Helena keine Probleme damit, Blut zu sehen, doch jetzt, da es ihr eigenes war … Rasch wand sie sich ab, biss sich auf die Unterlippe und versuchte sich zu beruhigen. Die Wunde würde heilen und der Schmerz vergehen, redete sie sich ein.

Erschöpft schloss Helena die Augen und rieb sich die Stirn. Sie fühlte sich, als schlüge jemand mit einem Hammer gegen ihren Kopf. Ihre Glieder waren schwer wie Blei und müde war sie ebenfalls. Sie bettete ihr Gesicht seitlich in das Kissen, sodass sie bequem lag, und dachte nach.

Das Ungetüm hatte die Absicht besessen, sie zu töten. Sie war davon ausgegangen, es sei ein Wolf gewesen, aber war es wirklich ein normaler Wolf? Vielleicht war es eine fremde Wolfsart, denn gewöhnliche Wölfe hatte sie schon einige Male gesehen. Von Zeit zu Zeit tauchten welche im Dorf auf, weil sie auf Fleischabfälle hofften.

Dieser jedoch hatte bis unter ihre Brust gereicht. Zudem hatte er unüblich aggressives Verhalten gezeigt. Am auffälligsten waren seine Augen gewesen. Giftgrün und stechend, als verkündeten sie den sicheren Tod.

Aber sie war nicht tot. Helena lebte. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Dieser Wolf kam ihr unwirklich vor. War er tatsächlich ins Dorf eingefallen oder spielte ihre Fantasie ihr einen Streich? Hatte sie sich den Angriff nur eingebildet? Ein weiterer Blick auf ihre Schulter genügte, um sicher zu sein, dass es Wirklichkeit war.

Ein leises Knarzen ertönte und der hagere Dorfheiler namens Boron trat ein. Ihm folgte ein großer, breitgebauter Mann.

»Wie fühlst du dich?« Ihr Vater setzte sich zu ihr aufs Bett und legte seine Hand auf ihren Unterarm. Seine Handfläche war rau und wies Schwielen und Blasen auf, die dem Waffentraining verschuldet waren. »Es tut mir leid, Helena. Ich war nicht schnell genug.«

Schuldbewusst sah er weg. Er war der beste Kämpfer von Tiros, der Ausbilder der Jungen, und dennoch hatte er sein Dorf - und seine Tochter - nicht beschützen können. So oder so ähnlich mussten seine Gedanken sein. Helena stützte sich mit der linken Hand auf der Federmatratze ab und setzte sich achtsam auf. Sie wollte ihm sagen, dass es nicht seine Schuld war, dass sie gleich mit den anderen Leuten hätte fliehen sollen. Doch in diesem Moment kam auch Boron zu ihr ans Bett.

»Ich wechsle deinen Verband«, teilte er ihr mit. Vorsichtig wickelte der Heiler ihn ab, um sich die Wunde anzuschauen. Eine Sekunde lang wagte Helena es hinzusehen, wandte ihren Blick aber sofort wieder ab. Tiefe, fleischige Furchen zogen sich vom Schlüsselbein bis zum Schulterblatt.

»Du hattest Glück.« Boron nahm ein sauberes Tuch und tauchte es in ein Gefäß mit lauwarmem Wasser. »Hätte dein Vater den Wolf nicht gestört, hätte er dir ein ganzes Stück deiner Schulter herausgebissen.«

Helenas Bauch rumorte. Sie wollte es sich gar nicht so genau vorstellen. Behutsam säuberte Boron die Ränder der Verletzung und bestrich sie anschließend mit einer klebrigen, grünen Salbe. Mehr konnte der Heiler nicht tun. Die Wunden waren zu tief. Während der Prozedur schaute Helena konsequent in eine andere Richtung. Genau genommenen musterte sie ihren Vater. An manchen Stellen waren sowohl seine dunklen Haare als auch sein Bart von einem silbergrauen Glanz durchzogen. Helena war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hatte nicht nur Farbe und Form seiner Augen geerbt, sondern ebenfalls seine Mund- und Nasenpartie.

»Was ist mit dem Wolf?« Helenas Stimme klang krächzend. »Ist – ist er weg?«

»Wir konnten ihn zurück in den Wald jagen«, antwortete ihr Vater.

»Die Männer sollten doch nach einem fremden Mann im Wald Ausschau halten, oder?«, fragte Helena weiter. »War ihnen dieser seltsame Wolf nicht begegnet? Autsch!«

Sie zuckte abermals zusammen. Ihre Schulter brannte wie Feuer. Borons Salbe schimmerte und leuchtete einmal silbern auf, bevor sie vollends verschwand, als wurde sie von der Haut eingesogen.

»Es wird eine Weile dauern, bis die Wunde eine Kruste bildet.« Der Heiler verband Helenas Schulter neu. »Leider kenne ich mich nicht ausreichend mit dieser Art von Wölfen aus, um den Heilungsprozess im Vorfeld gänzlich zu beurteilen.«

Helena horchte auf. »Also war es wirklich kein normaler Wolf gewesen?«

Ihr Vater warf Boron einen flüchtigen Blick zu und betrachtete dann seine Tochter. »Nun ja, Helena. Boron behauptet, es war ein Seelenwolf.«

»Seelenwolf?« Verwundert zog Helena die Augenbrauen zusammen. Von einem Seelenwolf hatte sie noch nie gehört. Sie legte den Kopf schief und sah ihren Vater fragend an. Auf seinem Arm klaffte eine frische, längliche Wunde. Die Begegnung mit dem Wolf war an ihm ebenfalls nicht spurlos vorbei gegangen. »Was genau ist ein Seelenwolf?«

»Angeblich sind Seelenwölfe Menschen in Wolfsgestalt.«

Wenn die Furchen auf Helenas Stirn ihre maximale Tiefe noch nicht erreicht hatten, dann hatten sie es jetzt. Menschen in Gestalt eines Wolfes?

»So heißt es zumindest in alten Erzählungen.« Boron stellte den Tiegel mit der Salbe zurück in das Regal. »Als ich ein Kind war, erzählte man sich in den großen Städten von den Seelenwölfen – von Menschen, die mit der Seele eines magischen Wolfes geboren wurden.«

»Und es war ein solcher Wolf, der mich gebissen hat?«, hakte Helena ungläubig nach.

»Wir können nichts als mutmaßen«, antwortete ihr Vater. »Ich habe durch Boron zum ersten Mal von ihnen gehört.«

»Leider erinnere ich mich bloß an die Geschichten aus meiner Kindheit«, meinte Boron. »In unserer Familie erzählte man sich von Menschen, die sich nach Belieben in einen Wolf verwandeln konnten. Andere wiederum sprachen von Leuten, die sich nur in bestimmten Nächten verwandelten.«

Das konnte er unmöglich ernst meinen. Hier in Tiros hatte nie jemand von solchen Wesen gesprochen. Die Geschichten über die Seelenwölfe waren erfunden, war sich Helena sicher. Andererseits waren die Unterschiede zwischen einem normalen Wolf und dem Wesen von gestern nicht von der Hand zu weisen. Ihr Vater hatte die Stirn ebenfalls gerunzelt und schien über Borons Worte nachzudenken.

Der Heiler reichte Helena einen Becher mit Medizin, woraufhin diese den Mund verzog. Als Kind hatte sie schon einmal eine von Borons hergestellten Kräutermischungen trinken müssen und erinnerte sich noch sehr genau an den bitteren Geschmack. Dass sie ihr bei der Genesung helfen würde, stand außer Frage – wie pflegte ihre Mutter Minara immer zu sagen: Herbes Aroma versprach Heilung. Dennoch schmeckte es fürchterlich. Helena trank die Flüssigkeit in einem Zug und schüttelte sich kurz.

Sie gab Boron den leeren Becher zurück und fragte: »Was bedeutet das: Ein Mensch wird mit der Seele eines magischen Wolfes geboren?«

»Das wissen wir leider nicht genau«, antwortete ihr Vater. »Hör mal, Helena. Ruh dich ein wenig aus.«

Ein kurzes, schiefes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Er lächelte auf die gleiche Art und Weise wie sie selbst. Mit seiner Hand drückte er ihren Arm und erhob sich vom Bett.

»Deine Mutter und Eleah sorgen sich. Ich sage ihnen, sie können dich morgen besuchen. Schlaf jetzt erst mal.«

Ihr Vater beugte sich zu ihr herunter und küsste ihre Wange, bevor er kehrt machte und ging.

Boron wandte sich an Helena und sagte: »Ich bin nebenan, falls du mich brauchst.«

Dann war sie allein. Sowohl hier im Raum als auch mit ihren Gedanken und ihrer Verwirrung. Ein Wolf hatte sie gebissen. Vermutlich ein Seelenwolf, von dem niemand wusste, ob er überhaupt existierte. Sie zupfte sich ihr Kissen zurecht. Es wurde dunkel draußen. Sie erkannte es daran, dass das feine Licht der untergehenden Sonne, welches durch die Löcher im Fenstervorhang fiel, nach und nach versiegte. Bis Borons Hütte gänzlich in Dunkelheit gehüllt war und nur noch der flackernde Schein einer Kerze auf dem Tisch sanftes Licht spendete.

Müde blinzelnd betrachtete Helena die Zimmerdecke. An manchen Stellen war das festgezurrte Stroh ausgefranst und reparaturbedürftig, doch das kümmerte sie nicht. Vielmehr fragte sie sich, wohin der Seelenwolf verschwunden war. War er zurück in den Wald geflohen und lauerte nun verborgen zwischen den dichten Büschen?

Der Schein der Kerze verschwamm allmählich und erlosch schließlich. Ein erdrückendes Gefühl breitete sich in Helena aus und ihr Atem beschleunigte sich unweigerlich. Hastig setzte sie sich auf, bereute es aber sofort. Wie ein Messer durchfuhr der Schmerz ihre Schulter und sie griff sich reflexartig an den Oberarm. Die Dunkelheit ängstigte sie plötzlich. Düstere, schemenhafte Umrisse schürten Helenas Furcht, obgleich sie wusste, dass es bloß die Schatten der Gegenstände in Borons Hütte waren. Ein lauer Lufthauch kam durch das halboffene Fenster und der Vorhang flatterte leicht.

Helena lauschte angestrengt. Grillenzirpen, der Ruf einer Eule … Geräusche der Nacht, die ihr mehr als vertraut waren. Schließlich lebte sie am Rande eines Waldes. Dennoch pulsierte ihr das Blut in den Ohren und sie bibberte, obwohl ihr nicht kalt war. Ein lautes Knacken vor dem Fenster ließ sie zusammenzucken. Ihre Finger krallten sich in der Decke fest. Was, wenn er da draußen war? Wenn er es auf sie abgesehen hatte und auf einen geeigneten Moment wartete, um sie doch noch zu töten?

Energisch schüttelte sie den Kopf. Nein. Ihr Vater hatte das Wesen vertrieben. Es würde mit Sicherheit nicht wiederkommen, zumal die Dorfbewohner alarmiert waren. Bestimmt hatte er seine Männer in Truppen aufgeteilt, die abwechselnd das Dorf bewachten. Ja, so musste es sein.

Sie legte sich auf den Rücken und zog sich die Decke bis unter die Nase. Hier war sie geschützt. Trotzdem fiel es ihr schwer, abzuschalten. Bisher hatte sie nie auch nur einen Gedanken an nächtliche Gefahren verschwendet. Es hatte nie einen Grund gegeben. Selbst die Wölfe aus dem Wald kamen bloß ins Dorf, um in den Abfällen zu wühlen. Sie waren scheu und mieden die Menschen. Außerdem waren sie gewöhnliche Wölfe und keine Seelenwölfe. Helena sollte versuchen zu schlafen. Ihr Körper brauchte Ruhe, um sich zu erholen.

Kaum, dass ihre Lider zufielen, begegnete sie ihm erneut: dem riesigen Tier mit den giftgrünen, hungrigen Augen. Es stierte sie an. Lüstern. Mörderisch. Sein tiefes, unheilvolles Knurren machte es lebendig.

Obwohl sie schon sechzehn Jahre alt und näher am Erwachsensein als am Kindsein war, fühlte sie sich wie ein hilfloses Kleinkind. Sie kam sich vor wie ihre jüngste Schwester Lena, die ihre Mama zum Einschlafen brauchte und sich in der Nacht dicht an diese kuschelte. Wie gern würde sich auch Helena jetzt an ihre Mutter klammern oder zumindest ihre Hand halten. Sie schämte sich schon fast für diesen Wunsch.

Sie war müde und musste dringend schlafen. Doch sie hatte Angst. Angst vor dem Ungeheuer in ihrer Erinnerung. Sie wusste, der Seelenwolf würde nicht zurückkommen. Aber was, wenn er es tat, sobald sie einschlief? Immer wieder sah sie ihn vor ihrem geistigen Auge. Ihr wurde heiß und sie hatte das Gefühl ihre Wangen brannten. Sie war benommen und ihre Arme und Beine kribbelten vor Erschöpfung. Egal wie vehement sie sich dagegen wehrte einzuschlafen, es half nichts. Irgendwann übermannte sie der Schlaf.

Die Nacht verlief erstaunlich ruhig und traumlos. Was sie am frühen Morgen weckte, war nicht die Angst vor dem Wolf. Vielmehr war es ihre verletzte Schulter. Es hatte mit einem leichten Pochen begonnen, im Schlaf hatte sie es kaum wahrgenommen. Wenig später war es angeschwollen zu einem stetigen Klopfen. Im Halbschlaf kniff sie die Augen zusammen und stöhnte auf. Schlussendlich war es zu einem fiesen Stechen geworden.

Helena biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte einen jähen Aufschrei. Es war, als würde man ihr ein Schlachtbeil in die rechte Schulter schlagen. Regungslos lag sie da und konnte keine Bewegung machen.

»Bleib so liegen.«

Boron fummelte eine ganze Weile an ihrem Verband herum. Sie wusste nicht, was genau er tat, aber es sorgte dafür, dass der Schmerz nachließ und sie sich entspannte.

»Versuche den Arm so wenig wie möglich zu bewegen. Und du solltest etwas trinken«, riet der Heiler und half ihr, sich aufzusetzen. Helena fuhr sich mit dem linken Handrücken über die Stirn und stellte fest, dass sie schwitzte.

»Dein Körper reagiert auf die Verletzung«, klärte Boron sie auf. Er reichte ihr einen Becher mit Wasser und Helena trank gierig. »Die Wunde ist entzündet. Ich habe sie mit einer Kräutertinktur gereinigt und neu verbunden.«

Sie bedankte sich und fragte ihn erneut, was er über Seelenwölfe wusste.

»Leider kann ich dir nicht mehr sagen als gestern Abend«, antwortete er. »Früher lebte ich weiter im Norden des Landes. Die Geschichten über diese Wesen waren so unterschiedlich wie die Leute, die sie erzählt hatten.«

»Also wenn es stimmt, dass es ein Seelenwolf war«, fing Helena an. »Dann war es ein Mensch, der mich angegriffen hat. Oder?«

»Wenn es ein Seelenwolf war, ja.«

Ein Mensch im Körper eines Wolfes. Es kam ihr noch immer unwirklich vor. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die hölzerne Wand hinter dem Kopfende ihres Bettes. Sie würde warten, bis ihre Mutter sie besuchte, aber die Zeit schleppte sich zäh dahin. Wie Sand, der niemals bis zum letzten Korn durch die Sanduhr rieselte, weil sie immer wieder umgedreht wurde.

Gegen Mittag kamen ihre Mutter und ihre Schwester Eleah endlich. Lena war nicht dabei.

»Hallo, Schätzchen.« Minara umarmte Helena achtsam und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Wie geht es dir?«

»Ganz gut, denke ich.« Sie fühlte sich wirklich ganz gut, wenn man bedachte, dass sie vor zwei Nächten von einem riesigen Tier attackiert worden war. Ihr Körper war ein wenig geschwächt und sie konnte sich nicht länger als nötig auf den Beinen halten, aber solange sie im Bett saß oder lag, war es in Ordnung. Die Wunde war das Einzige, was ihr Schmerzen bereitete.

»Tut es arg weh?«, fragte Eleah.

Helena wollte auf keinen Fall, dass sie sich unnötig um sie sorgte. »Das verheilt im Nu, du wirst sehen«, sagte sie deshalb und lächelte ihr aufmunternd zu, doch der Blick ihrer Schwester glitt zu ihrem rotgefärbten Verband.

»Und wenn der Wolf wiederkommt?« Eleah strich sich eine gelockte Strähne hinters Ohr.

»Der wird nicht wiederkommen. Papa hat ihn vertrieben.«

Wenn sie ihre Worte nur selbst glauben könnte …

»Ich habe gestern mit Ally und Jenna gesprochen«, eröffnete ihre Mutter ihr. »Die beiden machen sich Vorwürfe.«

»Vorwürfe?«, wiederholte Helena. »Weswegen?«

»Sie sagen, sie hätten dich allein gelassen und wären ohne dich losgerannt.«

»So war das nicht.« Sie erzählte ihrer Mutter, was genau geschehen war. Ihre Freundinnen waren fortgerannt, das stimmte, dennoch war es Helena, die ihnen nicht schnell genug gefolgt war. Jemand hatte sie angerempelt, sie war gestürzt und die Leute waren über sie hinweggetrampelt. Ally und Jenna hätten keine Möglichkeit gehabt, auf sie zu warten oder ihr gar zu helfen. Helena würde mit ihnen darüber reden und ihre Mutter versprach, ihnen auszurichten, dass sie sie besuchen sollten.

Sie blieben etwa eine Stunde. Gern hätte ihre Mutter Helena mitgenommen, aber Boron bestand darauf, sie in seiner Obhut zu behalten, bis er davon ausgehen konnte, dass die Genesung seiner Patientin vorbildlich verlief. Ihre Mutter hielt ihr Versprechen. Am Nachmittag betraten Jenna und Ally Borons Hütte. Sie entschuldigten sich hundertfach bei Helena und ließen sie kaum zu Wort kommen.

»Ihr wart nicht schuld!«, rief Helena laut, um die beiden zum Schweigen zu bringen. »Hört endlich auf damit, ja? Ich habe es nicht mehr geschafft, euch einzuholen, und wurde umgestoßen. Ihr hättet nichts ändern können. Und schon gar nicht hättet ihr verhindern können, dass dieser Wolf mich gebissen hat.«

»Er hätte dich beinahe getötet.« Jenna senkte betroffen den Blick. »Kay hat es mir erzählt.«

Kay. Stimmt. Auch er war dabei gewesen, als Helena … Ihre Augen weiteten sich. Mit einem Mal fiel ihr etwas ein.

»Was ist mit Makos? Ich habe gesehen, dass er-« Sie brach ab.

Tränen schwammen in den Augen ihrer Freundin, was ihr als Antwort genügte. Kays Vater war tot. Die letzten Stunden hatte Helena nur an sich gedacht und war erleichtert, noch am Leben zu sein. Sie hatte vergessen, dass der Bürgermeister in einer Lache aus Blut am Boden gelegen hatte.

Betretene Stille mischte sich unter sie. Es war nur eine Sekunde gewesen, in der sie den Körper des Mannes gesehen und ihn irrtümlicherweise für einen Haufen Lumpen gehalten hatte. Sie schämte sich dafür, ihn nicht gleich erkannt zu haben. Es war alles so schnell gegangen. Bereits im nächsten Augenblick, so war es ihr vorgekommen, hatte der Wolf sie unter seinem massiven Körper begraben.

»Wurde … wurde noch jemand verletzt? Und was passiert jetzt?«, fragte Helena flüsternd. Jenna seufzte und fuhr sich mit der Hand einmal durch ihr kurzes Haar.

»Nein, sonst niemand, zum Glück. Nun … Kay und dein Vater planen das Begräbnis. Und danach … wird Kay wohl die Nachfolge antreten. Er will davon aber nichts hören. Er ist am Boden zerstört.«

Helena konnte es sich nur zu gut vorstellen. Wäre es ihr Vater gewesen, der … nein, sie durfte gar nicht daran denken. Als er sie gestern Abend besucht hatte, hatte er den Tod seines Freundes mit keinem Wort erwähnt. Vermutlich wollte er sie nicht damit belasten.

»Sag mal, Helena«, begann Ally. »Was ist denn an der Geschichte mit diesem Seelenwolf dran?«

»Ihr wisst davon?«

»Dein Vater hat mit Kay darüber gesprochen«, offenbarte Jenna. »Er hat ihn nach dem Unbekannten aus dem Wald gefragt. Da Kay nicht verstanden hat, was dieser Kerl mit dem Angriff des Wolfes zu tun hatte, hat dein Vater es ihm erklärt.«

»Denkt er etwa, dieser Mann könnte der Wolf gewesen sein?«

»Also stimmt es?«, flüsterte Jenna geschockt.

Helena erzählte den beiden alles, was sie von Boron wusste. Jenna und Ally tauschten einen kurzen Blick aus.

»Das klingt absolut verrückt«, meinte Letztere. »Kein Wunder, dass Kay sagte, wir sollen es nicht an die große Glocke hängen. Ich meine … wer würde so eine Geschichte glauben?«

»Ich jedenfalls nicht.« Helena zuckte mit den Schultern und lachte leise. Die Stimmung änderte sich von trüb zu heiter, als würde ein Sonnenstrahl durch eine dichte Wolkendecke am Himmel kriechen. Sie philosophierten eine Zeit lang über den Mann im Wald und Menschen, die sich in Tiere verwandeln konnten. Helena war froh, dass ihre Freundinnen hier waren und sie zum Lachen brachten. So vergaß sie zumindest für eine Weile den Angriff und alles, was damit zusammenhing.

Als die Sonne unterging, trennten sich ihre Wege. Ally und Jenna gingen nach Hause und Helena blieb in Borons Heilerhütte. Kaum schritt der Abend weiter voran, schürte das schwindende Tageslicht Helenas Angst.

Viel lieber wäre sie jetzt bei ihrer Familie, in ihrem Zuhause. Sie mochte es nicht, allein zu sein und die Stille in Borons Hütte war unerträglich. Lag sie zu Hause in ihrem Bett, hörte sie ihre Eltern in der Wohnstube herumlaufen und miteinander sprechen. Selbst mitten in der Nacht, wenn es in der Wohnung lautlos war, erklangen ständig Geräusche, die für Helena alltäglich waren: Das Klirren von Metall, wenn der Schmied die ganze Nacht hindurch arbeitete, das Mühlrad, welches der Bäcker in aller Frühe antrieb, oder den Schrei des Hahnes, der nicht verstanden hatte, dass er erst bei Sonnenaufgang krähen sollte.

Die Tür der Hütte wurde geräuschvoll aufgerissen und Helena schreckte hoch. Ihre Schwester Eleah stürmte in den Raum.

»Helena!« Sie war außer Atem und ihre rötlichen Haare klebten an ihrer Stirn. Offenbar war sie den Weg von zu Hause bis hierher gerannt. »Ich habe Neuigkeiten! Du wirst es nicht glauben!«

»Atme erst mal durch«, schlug Helena ihr vor. Eleah schüttelte ungestüm den Kopf. In ihren hellen, grünen Augen stand ein Glanz kindlicher Vorfreude. Was sie ihr auch sagen mochte, es musste wichtig sein, sonst wäre sie zu dieser Stunde sicher nicht hierhergekommen.

»Wissen Mama und Papa, dass du wieder hier bist?«

»Nee.« Eleah wedelte mit der Hand durch die Luft und lachte. »Papa ist bei irgendeiner Versammlung mit Kay und den anderen Männern. Mama ist bei Lena, weil sie einen Alptraum hatte. Aber vorher hab ich sie reden hör‘n. Du wirst es nicht glauben, wenn ich dir sage, worüber!«

Eleah war vom Alter her gerade an der Schwelle zur Jugendlichen. Obgleich sie behandelt werden wollte wie eine Erwachsene und oft altklug daher redete, konnte sie das Kind in sich nicht verbergen.

»Das findest du nur heraus, wenn du es mir sagst. Oder nicht?«, stichelte Helena deshalb.

»Sie haben über Taron gesprochen!«

Helena musste sich verhört haben. Sie richtete sich auf, öffnete den Mund, fand aber nicht die richtigen Worte, um darauf zu reagieren.

»T-Taron? B-bist du sicher?«, stammelte sie schließlich im Flüsterton.

»Jahaaa! Wenn ich es dir doch sage!«

Taron. Den Namen hatte sie schon länger nicht gehört. Dass Eleah ihn hier und jetzt erwähnte … Sie fühlte sich überfordert. Wie sollte sie damit umgehen? Es war, als hätte ihre kleine Schwester etwas Totgeglaubtes zum Leben erweckt.

»W-was haben sie über ihn gesagt?«

»Also …« Eleah kratzte sich am Hinterkopf. »Sie haben nur seinen Namen erwähnt.«

Neben den drei Töchtern gab es noch ihn, Taron. Er war ihr Bruder, das älteste Kind der Familie Latai und der einzige Sohn. Vor einigen Jahren hatte er das Dorf verlassen, aus Gründen, die Helena nicht kannte. Ihre Eltern hatten es ihr nie erklärt. Immer, wenn sie sie danach gefragt hatte, waren sie ausgewichen oder hatten ihr gesagt, sie sei zu jung, um es zu verstehen. Irgendwann hatte sie es dann aufgegeben.

»Ich glaube, es kam ein Brief von ihm an oder so.«

Sie konnte sich nicht entsinnen, dass Taron jemals einen Brief geschickt hatte. Falls doch, hatten ihre Eltern es vor ihr geheim gehalten.

Es waren mehr als sechs Jahre vergangen, seit ihr Bruder die Familie verlassen hatte. Sie war damals zehn gewesen, Eleah sechs. Vermutlich hatte diese kaum Erinnerungen an Taron, wohingegen Helenas Kindheit maßgeblich von ihm geprägt worden war. Ihr Geschwisterverhältnis war innig gewesen, wenn er auch sieben Jahre älter war als sie. Er hatte sich stets um sie gekümmert: sie getröstet, wenn sie sich verletzt hatte oder ihr etwas nicht gelungen war, sie an die Hand genommen und ihr die Welt erklärt. Für Helena war er fast wie ein zweiter Vater gewesen.

Die ersten Jahre hatte sie sich nach seiner Rückkehr gesehnt und gehofft, er würde wieder nach Hause kommen. Mit der Zeit war ihr Wunsch jedoch unwirklich geworden. So unwirklich, dass sie ihren Bruder zu vergessen drohte.

»Was steht drin?«, wollte Helena wissen.