Seewalder Stadtgeschichten aus DDR-Zeiten - Klaus Wossidlo - E-Book

Seewalder Stadtgeschichten aus DDR-Zeiten E-Book

Klaus Wossidlo

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Beschreibung

Die von mir erdachte Kleinstadt Seewalde, später Bad Seewalde, liegt in der idyllischen Mecklenburgischen Seenplatte. Ich erzähle hier, welchen enorm hohen Anteil der Bürgermeister Franz Wichmann daran hatte, das Leben und Überleben der Bewohner in der außerordentlich schwierigen Nachkriegszeit unter den Bedingungen der sowjetischen Militärdiktatur Schritt für Schritt erträglicher zu gestalten. Man lebte ja bis zur Gründung der DDR im Jahr 1949 in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ). Hauptfiguren sind Bürgermeister Franz Wichmann, der Kaufmannssohn Joachim Schöler und Pastor Michael Worsek. Franz Wichmann ist alter Kommunist, hat als solcher in einem Strafbataillon der Wehrmacht den Krieg überlebt, wenn auch gesundheitlich angeschlagen. Die KPD hat ihn nach dem Krieg gleich als Bürgermeister eingesetzt. Joachim Schöler ist der Sohn der Betreiberin eines kleinen »Tante-Emma-Ladens«, deren Mann als vermisst gilt. Franz hat den männlichen Part seiner Erziehung übernommen. Als Bürgermeister hat er den hauptsächlichen Anteil an der steilen Entwicklung der Stadt zu einem staatlich anerkannten Kurort und bei der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens seiner Bürger. Sein Ziehsohn Joachim hat es zu etwas Großem gebracht. Diese Namen sind von mir frei erfunden. Dabei habe ich mich aber an mir bekannten Personen orientiert, die in diese Rolle sehr gut hinein passen. Vieles davon kenne ich aus meinem eigenen Erleben.

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Seewalder Stadtgeschichten aus DDR-Zeiten

1. Auflage, erschienen 6-2022

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Klaus Wossidlo

Layout: Romeon Verlag

ISBN: 978-3-96229-697-1

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Klaus Wossidlo

Seewalder

Stadtgeschichten

Inhalt

Vorwort

Seewalde nach dem 2. Weltkrieg

Franz Wichmann wird Bürgermeister

Die Aufgaben des Bürgermeisters

Der Bürgermeister und der Pastor

Bei der Kaufmannsfrau Trude Schöler

Jochen Schölers heilsame Wandlung

Das Kinder- und Jugendleben in Seewalde

Tanz in der HO-Gaststätte »Marktbrunnen«

Seewalder Originale

Das Kneipenleben

Aus Seewalde wird Bad Seewalde

Jochen Schöler studiert

Hansi Möller gerät auf die schiefe Bahn

Der Mauerbau im Jahr 1961

Der Bürgermeister und das Wohnungsbauprogramm in der DDR

Die Enteignungswelle 1972

Professor Dr. Joachim Schöler

Bürgermeister Franz Wichmann nimmt Abschied

Biografie des Autors Klaus Wossidlo

Vorwort

Ich beschreibe hier, wie das Leben während der Zeit, als der Osten Deutschlands noch sowjetisch besetzte Zone war, und in der danach gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in einer mecklenburgischen Kleinstadt verlief. Hierbei habe ich mich streng an die diese Zeit prägenden politischen Beschlüsse und Ereignisse gehalten und davon das Leben und die Haltung der Bürger in frei erfundenen Begebenheiten abgeleitet. Auch der Ortsname Seewalde ist frei erfunden.

Ich selbst habe bewusst diese ganze Zeit erlebt, war Junger Pionier, Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und Genosse der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Diese Mitgliedschaften bin ich aus voller innerer Überzeugung vom Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus eingegangen.

Genosse der SED blieb ich bis zum Ende der DDR, obwohl sich besonders mit Beginn der Siebzigerjahre in mir die Zweifel an der Kompetenz der Partei- und Staatsführung, vor allem in wirtschaftlichen Fragen, regten. Mein Glaube an eine kommunistische Zukunft blieb bis zum Schluss. Ich habe in dieser Partei keine politischen Funktionen ausgeübt und hauptsächlich in leitenden Funktionen ehemaliger volkseigener Betriebe gearbeitet.

Die Hauptfiguren dieses Buches, der Bürgermeister Franz Wichmann, sein Ziehsohn Joachim Schöler und der Pastor Michael Worsek, spiegeln sehr viele Begebenheiten in meinem persönlichen Leben wider. Der Kommunist Franz Wichmann verkörpert meinen Onkel, der anstelle meines im Krieg gefallenen Vaters die männliche Rolle für meine Erziehung übernommen hatte; unsere Familien lebten in einem Haus zusammen. Damit ist klar, dass sich viele Parallelen zu meinem Leben in dem des Joachim Schöler wiederfinden.

Seewalde nach dem 2. Weltkrieg

Seewalde ist eine Kleinstadt mit etwa 5.000 Einwohnern aus dem 13. Jahrhundert in der Mecklenburgischen Seenplatte, auch Ackerbürgerstadt genannt. Sie grenzt an einen großen See und ist von Feldern, Wiesen und Wäldern sowie einer hügeligen Landschaft umgeben; einen Bahnhof hat sie auch. In der Stadt stehen noch Ruinen eines alten burgähnlichen Klosters mit Teilen der Mauer und einem Fangelturm. Auch die alte Stadtkirche thront noch auf einem Hügel über der Stadt und befindet sich in einem guten Zustand.

Es war der 8. Mai 1945.

Der Waldarbeiter Franz Wichmann war gerade vor ein paar Tagen aus dem Krieg gegen die Sowjetunion, an dem er als Kommunist in einem Strafbataillon der Wehrmacht teilgenommen hatte, zu seiner Familie zurückgekehrt. Es war ein sonniger Tag und er, seine Frau Else und seine zehnjährige Tochter Inge machten einen kleinen Vormittagsspaziergang. Sie waren auf einem Hügel angelangt und blickten über den See, hinter dem in einigen Kilometern Entfernung die Kreisstadt lag.

Von dort her hörten sie in kurzen Zeitabständen ein wegen der Entfernung abgeschwächtes Knallen und sahen dann kurze Blitze zum Himmel hochschießen. Franz umarmte seine Familie und sagte mit belegter Stimme: »Na endlich, nun hat die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapituliert, dieser schreckliche Krieg ist jetzt endgültig vorbei. Dass ich diesen und insbesondere die Stalingrader Schlacht von Anfang bis zum Ende überlebt habe, ist und bleibt für mich ein Wunder. Von meinen Kameraden haben es nur ganz wenige geschafft; ich muss immer noch sehr oft an sie denken.«

Else küsste ihren Mann und die kleine Inge natürlich auch ihren lieben Papi. Für ihr zartes Alter waren es viele Jahre, in denen sie ihn nicht gesehen hatte, und daher sind auch nicht viele Erinnerungen an ihn haften geblieben.

Else sagte: »Unser schönstes Geschenk ist es, dass wir dich ab jetzt immer bei uns haben. Ich kann mein Glück darüber noch gar nicht richtig fassen. Sollst sehen, wir machen das Beste für uns daraus und fangen ein neues Leben an.«

Seewalde hatte diesen Krieg glücklicherweise ohne Bombardierung und ohne nennenswerte Schäden gut überstanden. Bei den Einwohnern war es größtenteils nicht so. Der Krieg und die Einnahme der Stadt durch die russische Armee hatten viel Leid verursacht. Viele Männer waren im Krieg gefallen, wurden noch vermisst oder befanden sich in Gefangenschaft der Siegermächte. Viele Frauen waren von russischen Soldaten vergewaltigt worden, Familien ausgeplündert und Verdächtige als Helfer der Nazis entweder verhaftet oder gleich erschossen worden. In dieser Zeit kamen die Flüchtlingsströme aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und den Sudeten auch nach Seewalde. Sie mussten untergebracht und versorgt werden, denn die Menschen hatten ja auf ihren langen Fluchtwegen kaum etwas übrig behalten. Sie wurden durch Zwangseinweisungen in Wohnungen untergebracht und alle, sowohl Wohnungsinhaber als auch Flüchtlinge, lebten auf engstem Raum. Mehrere Familien teilten sich Toiletten und Küchen.

Deutschland wird geteilt

Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht fassten die Regierungschefs der Sowjetunion, Großbritanniens und der USA im Sommer 1945 auf der Potsdamer Konferenz den Beschluss, Deutschland in vier Besatzungszonen und Berlin in vier Sektoren zu teilen und von einem gemeinsamen Alliierten Kontrollrat verwalten zu lassen.

Während des Zweiten Weltkriegs hatte die Sowjetunion eigene Ideen für ein Nachkriegsdeutschland entwickelt. Josef Stalin hatte ein ungeteilter, neutraler und nichtsozialistischer Staat vorgeschwebt. Er hatte erwartet, zahlreiche Reparationen insbesondere aus dem Ruhrgebiet zu erhalten. Im Gegenzug hätten aus der sowjetischen Besatzungszone Nahrungsmittel in die westlichen Zonen geliefert werden sollen.

Doch seine Idee war geplatzt, denn die Westalliierten hatten sie abgelehnt und darüber hinaus ihre Lieferungen an die Sowjetunion eingestellt. Bei den Reparationszahlungen an die Sowjetunion war die BRD äußerst günstig davongekommen. Laut Ermittlungen der Staatlichen Plankommission der DDR im Jahr 1953 trug die DDR 99,1 Milliarden DM und die Bundesrepublik nur 2,1 Milliarde DM.

Außerdem hatte Westdeutschland das Glück, vom Marshallplan der USA zu profitieren, der im Jahr 1948 anlief. Die USA stellten Kredite bereit und lieferten Waren, Rohstoffe und Lebensmittel. Zwischen 1948 und 1952 wurden insgesamt rund 12,4 Milliarden Dollar für Europa bereitgestellt. Davon flossen 1,5 Milliarden Dollar nach Westdeutschland.

Ziel des US-amerikanischen Marshallplans in der Nachkriegszeit war, das vom Zweiten Weltkrieg zerstörte Europa politisch und wirtschaftlich zu stabilisieren. Die Amerikaner wollten damit humanitäre Hilfe für die hungernde Bevölkerung leisten, neue Absatzmärkte für sich schaffen und die Eindämmung des sowjetischen Kommunismus über Europa erreichen.

Die Wettbewerbsfähigkeit der DDR gegenüber der BRD war also von Anfang an denkbar schlecht. Zu dem ungleichen Handel mit der Sowjetunion aufgrund der von der DDR zu leistenden Reparationszahlungen erzählte man sich später folgenden Witz:

Der Parteichef Erich Honecker besucht den Rostocker Überseehafen, um sich an Ort und Stelle ein Bild über dessen Bedeutung für unsere Volkswirtschaft zu machen. Er fragt einen Kapitän, wohin denn die Reise führt und mit welcher Rückladung sein Frachter hier wieder vor Anker geht. Der sagte: »Wir bringen Dünger nach Mosambik und kommen mit einer Ladung Bananen und Apfelsinen wieder zurück.«

Erich ist mit dieser Antwort sehr zufrieden und stellt dem Kapitän eines anderen Frachtschiffes die gleiche Frage. Der sagt: »Wir haben Fahrräder von ›Mifa‹ geladen, bringen sie nach Kuba und kommen mit einer Ladung Zucker und Tee wieder nach Hause.« Auch damit ist Erich wieder sehr zufrieden.

Der Kapitän eines dritten Schiffes gibt dazu folgende Auskunft:»Wir haben Bananen, Apfelsinen und Zucker geladen und schippern damit nach Leningrad.« »Und womit kommt ihr wieder zurück?«

»Natürlich wie immer, ganz bequem mit unserer alten Deutschen Reichsbahn!«

Ab der Potsdamer Konferenz gehörte die spätere DDR zur sowjetischen Besatzungszone und wurde von Moskau aus von Generalissimus Josef Stalin regiert, der am 9. Juni 1945 die Sowjetische Militäradministration (SMAD) in Deutschland mit Sitz in Berlin-Karlshorst unter Leitung von Marschall Schukow installierte. Das politische Geschehen wurde auf Befehl der SMAD vollzogen und von dort strengstens überwacht. Dort waren über 50.000 Mitarbeiter im Einsatz.

Am 10. Juni 1945 wurde die KPD neu gegründet. Wilhelm Pieck, der als Mitbegründer der KPD im Jahr 1919 vor den Nazis fliehen musste und zehn Jahre in Moskau zubrachte, war mit diesem Auftrag Stalins zurückgekehrt. In Moskau war er politisch geschult worden und hatte den Befehl von Stalin, der Roten Armee beim Aufbau der neuen Verwaltungsstrukturen nach sowjetischem Muster zu helfen. Nach dem Krieg mussten ja zunächst die aus der Nazizeit bestehenden Verwaltungsstrukturen einschließlich deren personelle Besetzung übernommen werden. Das öffentliche Leben konnte ja nicht zum Stillstand kommen.

Wilhelm Pieck forcierte zunächst den Prozess der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED. Im April 1946 wurde er gemeinsam mit Otto Grotewohl (SPD) Vorsitzender der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und nach Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Oktober 1949 deren erster und einziger Präsident; er blieb dies bis zu seinem Tode 1960. Otto Grotewohl wurde der erste Ministerpräsident.

Die Macht zur Gestaltung und den Ausbau der sowjetisch besetzten Zone und die Führungsrolle dazu lag also seit Gründung der SED in den Händen der Genossen, natürlich nur in Abhängigkeit von der SMAD.

Sehr aktiv wirkte hierbei Walter Ulbricht mit, der ebenfalls mit seiner Gruppe und mit dem gleichen Auftrag von Stalin zurückgekehrt war. Von 1946 bis 1951 war Ulbricht Abgeordneter des Landtags von Sachsen-Anhalt. Nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurde er stellvertretender und am 24. November 1955 Erster stellvertretender Vorsitzender im Ministerrat unter dem Vorsitzenden Otto Grotewohl. Er übertraf jedoch den Staatspräsidenten Wilhelm Pieck und den Ministerpräsidenten Grotewohl damals schon an Macht.

Nach dem III. Parteitag der SED wurde Ulbricht am 25. Juli 1950 vom ZK der SED zum Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) gewählt. Seine Devise war: »Es muss alles demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.«

Eine territoriale und politische Untergliederung der sowjetisch besetzten Zone geschah bereits ab Juni 1945 durch die Errichtung der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Thüringen mit eigenen Landesregierungen und Provinzverwaltungen.

Im Sinne der Reparationspolitik gemäß den sowjetischen Forderungen kam es zur Aneignung von Kriegsbeute und zu Trophäenaktionen, der Demontage von Unternehmen, der Enteignung von Industriebetrieben und sonstigen Vermögenswerten, der Errichtung sowjetischer Handelsgesellschaften, der Entnahme von Erzeugnissen aus laufender Produktion für den Abtransport in die Sowjetunion und Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen sowie Zivilinternierten auch in der UdSSR.

Franz Wichmann wird Bürgermeister

Franz Wichmann, geboren 1915, war der älteste Sohn der Bauernfamilie Hermann und Mathilde Wichmann. Sein Bruder Otto war vier Jahre jünger als er. Franz war also standesgemäß der Hoferbe und arbeitete nach der Schulzeit und dem Abschluss einer landwirtschaftlichen Lehre als solcher in dem elterlichen Betrieb. Er hatte den Kommunisten Fritz Behrend kennengelernt, der im Sägewerk der Stadt als Arbeiter tätig war und gleich nach der Gründung der KPD den Aufbau einer kleinen Ortsgruppe dieser Partei organisierte. Franz wurde sofort Mitglied und von Fritz Behrend mit Literatur von Karl Marx, Friedrich Engels und Lenin versorgt, die er eifrig studierte. Fritz trat aus Altersgründen bald als Leiter dieser Ortsgruppe zurück und übertrug seinen Posten an Franz.

Als Franz das seinem Vater Hermann erzählte, rastete der aus, verwies Franz sofort von Haus und Hof und enterbte ihn zugunsten seines Bruders Otto. Hermann Wichmann war als aktives Mitglied der Ortsgruppe der NSDAP begeisterter Anhänger Adolf Hitlers.

Franz kam bei der Familie Behrend unter, die ihm ein kleines Zimmer zur Verfügung stellte, und fand eine Anstellung beim Forst als Waldarbeiter. Zusätzlich verdiente er sich Geld durch die Hausschlachterei bei den Schweinehaltern und als Trompeter in einer kleinen Kapelle, die in Seewalde und Umgebung zum Tanz aufspielte. Beides, sowohl das Schlachten als auch das Trompete Spielen, hatte er sich selbst angeeignet und beherrschte es vorzüglich. Für seine Hausschlachterei bekam er von den Bauern Rezepte zur Herstellung von Wurst, von deren unübertrefflichem Geschmack seine spätere Familie ihr Leben lang profitierte. Diese Rezepte wurden an den Nachwuchs weitergegeben.

1935 heiratete er seine Else. Das Ehepaar nahm einen Kredit auf und schuf sich am Stadtrand von Seewalde ein kleines Anwesen mit Haus, Garten und Ackerland. Das Haus wurde zu einem Drittel als Stall, Tierfutterküche und Heuboden genutzt. Nun war auch die Zeit reif, dass das Töchterchen Inge zur Welt kam. Das fühlte sich für alle wie eine glückliche Fügung an, bis dann im Jahr 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach.

Franz wurde sofort von der Wehrmacht als Soldat eingezogen und aufgrund seines Vorlebens als aktives KPD-Mitglied zusammen mit anderen Kommunisten, Kriminellen und Homosexuellen in ein Strafbataillon eingegliedert. Die deutsche Wehrmacht schuf diese Bataillone für den Einsatz in besonders gefährlichen Situationen, zum Beispiel in Nahkämpfen und in Aufklärungseinheiten; man nannte sie auch Himmelfahrtskommandos.

Er erlebte den Krieg hauptsächlich in der damaligen Sowjetunion und somit auch die Schlacht um Stalingrad. Er behielt bleibende Schäden wie eine Herzkrankheit und Asthma zurück. Seine äußeren Ohrläppchen waren in der eisigen Kälte abgefallen. Anfang Mai 1945 kam er wieder zu Hause in Seewalde an. Seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen hielt er weitestgehend verborgen und nahm gleich wieder die schwere Waldarbeit auf.

Bald bekam er Besuch von zwei KPD-Genossen aus dem Landratsamt in der Kreisstadt. Sie suchten einen kommunistischen und zuverlässigen Bürgermeister für die Kleinstadt Seewalde, und von den Einwohnern dieser Stadt hielten sie Franz am besten dafür geeignet. Die Zustimmung des SMAD lag vor und die Russen fanden diesen Vorschlag »otschen charascho«, also sehr gut.

Franz brauchte nicht lange zu überlegen, obwohl ihn die Übertragung eines so hohen Amtes anfangs irritierte; er war ja nur ein einfacher Arbeiter. Er besann sich aber schnell auf seine innere Stärke, die er sich selbst gegenüber in sehr kritischen Situationen bewiesen hatte, und sagte zu.

Die Aufgaben des Bürgermeisters

Er bekam sein Büro im Rathaus zugewiesen und sagte sich: Als Erstes rufst du deine künftigen Mitarbeiter im Rathaus zusammen, stellst dich vor und sagst ihnen, wie aus deiner Sicht die Stadt Seewalde in der neuen Gesellschaftsordnung geführt werden muss. Das machte er. Groß vorzustellen brauchte er sich nicht, denn in solch einer Kleinstadt kannte fast jeder jeden.

Alle Mitarbeiter der Stadtverwaltung waren dort schon in der Nazizeit tätig gewesen und hatten in der Verwaltungsarbeit Erfahrungen, ohne die anfangs auch die neue Zeit nicht auskommen konnte. Das normale Leben der Stadt musste ja ohne große Schwierigkeiten weiterlaufen.

Seewalde hatte inzwischen auch einen neuen Ortspolizisten: Leutnant Gerhard Bühring, der Mitglied der KPD war und während seines Aufenthalts in der Sowjetunion in Fragen der Sicherheit ausgebildet worden war. Franz und er erklärten sehr übereinstimmend den Rathausmitarbeitern, wie sie sich unter den neuen Bedingungen die künftige Verwaltungsarbeit und besonders den Umgang mit den Bürgern vorstellten. Im Allgemeinen fand diese Vorstellung guten Anklang. Nicht alle Mitarbeiter waren ja euphorische Anhänger des Nazi-Regimes gewesen, und von denjenigen, die es zuvor waren, waren einige durch leidvolle Verluste in ihren eigenen Familien infolge des Krieges zum Nachdenken über das Verbrechen des Nazi-Regimes gekommen. Allerdings konnte man auch in ein paar skeptische Gesichter sehen. Und nun ging die Amtszeit von Franz als Bürgermeister richtig los.

Als Erstes galt es, schon im Mai 1945 die Ausgabe von Lebensmittelmarken an die Bevölkerung zu organisieren und durchzuführen. Die Hungersnot war groß.

Mit den von öffentlichen Behörden ausgegebenen Lebensmittelmarken konnten die Menschen vorgegebene Lebensmittel in einer bestimmten Menge kaufen. Andere Konsumgüter, wie etwa Heizmaterial (Kohle), Kleidung, Genussmittel wie Zigaretten und Alkohol waren ebenfalls rationiert. Sie wurden nur gegen Bezugsscheine ausgegeben. Für die Erteilung eines Bezugsscheins musste ein besonderer Anlass – wie zum Beispiel die Geburt eines Kindes – vorliegen oder ein Antrag gestellt werden. Diese Marken gab es bis Mai 1958. Die Rationen an Brot, Fleisch, Fett, Zucker, Kartoffeln, Salz, Bohnenkaffee, Kaffee-Ersatz und Tee wurden entsprechend den Möglichkeiten festgelegt und waren anfangs äußerst knapp bemessen. Sie wurden in Kalorien umgerechnet, die nur zu 30 Prozent den täglichen Bedarf deckten.

Gleichzeitig gab es das äußerst prekäre Problem der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge. Franz blieb nichts anderes übrig, als dort, wo bei den Wohnungsinhabern noch irgendwie Platz war, Zwangseinweisungen zu veranlassen, wenn Bürger sich einer Aufnahme von Flüchtlingen widersetzten. Vorher hatte er sich Möglichkeiten für sein eigenes kleines Siedlungshaus durch den Kopf gehen lassen. Es war unmöglich. In seinem nur zu zwei Dritteln als Wohnraum genutzten Haus wohnten: er selbst mit seiner Familie, seine Schwägerin, deren Mann in Stalingrad gefallen war, mit zwei Kindern, Elses lediger und aus englischer Gefangenschaft zurückgekehrte Bruder sowie ihre Eltern und ihr Opa; insgesamt also zehn Personen auf engstem Raum.

Dass Franz mit seinen Zwangseinweisungen bei den Seewaldern oft nicht gut ankam, ist verständlich; ihm blieb aber in den meisten Fällen nichts anderes übrig, als robust vorzugehen.

So zum Beispiel gegen Frau Schönbeck. Sie bewohnte eine großzügige Villa in der Nähe des Bahnhofs. Ihr Mann, der als Oberstleutnant an der Ostfront gefallen war, hatte dort zuvor eine Rechtsanwaltskanzlei geführt. Frau Schönbecks Vater war ein hoher Regierungsbeamter in Berlin gewesen. Sie dünkte sich damit als etwas Besseres und ließ dies bei jeder Gelegenheit auch ihre Mitbürger spüren. Ihre Villa bewohnte sie mit ihren beiden zehn- und zwölfjährigen Kindern. Franz hatte sich vorgenommen, hier zwei Flüchtlingsfamilien unterzubringen.

Er ging zusammen mit einem Angestellten dorthin. Die Hausdame öffnete die Eingangstür: »Was wünschen die Herren?«

Franz sagte: »Ich bin der Bürgermeister und möchte Frau Schönbeck sprechen.«

»Einen Moment bitte, ich frage die gnädige Frau, ob es ihr jetzt passt.«

»Das brauchen sie nicht«, sagte Franz und ging schnurstracks mit seinem Angestellten in Richtung Wohnzimmer. Die Hausdame riss die Augen weit auf, stemmte ihre Fäuste in die Seite und kreischte: »Eine Unverschämtheit, was habt ihr ungebildeten Proleten bloß für einen Anstand. Euch hätte man früher mit der Peitsche hinaus geprügelt!«

Die Gnädigste, ganz in Schwarz gekleidet, erhob sich empört aus ihrem Ledersessel, als beide nach kurzem Anklopfen das Zimmer betraten.

»Was hat Ihr ungebührliches Benehmen zu bedeuten, wohnen wir nun etwa schon in Russland, wo man keine Zivilisation kennt und sich gebärdet wie die Barbaren?«

Franz: »Das nun gerade nicht, noch leben wir in unserem schönen zivilisierten Mecklenburg und das bleibt auch so!«

Dann erklärte er ihr, dass er in ihrer Villa zwei Familien unterbringen müsse. Der Mann der einen Familie aus Pommern sei gefallen, der Mann der anderen sei noch in Gefangenschaft. Beide Familien hätten insgesamt fünf Kinder.

Frau Schönbeck keifte: »Alle sollen bei mir ins Haus einziehen, soll ich mich denn mit meinen beiden Kindern im Keller einquartieren? Kommt überhaupt nicht infrage! Das hier ist mein Haus und hier bestimme ich, wer hier Gast sein darf und wer nicht. Das Flüchtlingspack, diese Hungerleider, hätten doch zu Hause bleiben sollen. Es sei denn, sie haben überhaupt ein Zuhause gehabt, sonst hätten sie das doch nicht so ohne Weiteres und feige aufgegeben.«

Nun war es an Franz, der puterrot anlief, zu brüllen: »Wissen Sie überhaupt, was diese Menschen durchgemacht haben mit der Vertreibung aus ihren Häusern und ihren Anwesen und was die alles hatten dort lassen müssen und damit ihr Hab und Gut verloren? Darüber hinaus haben sie, ebenso wie wir, Tote zu beklagen. Denken Sie gar nicht daran, dass das unsere eigenen deutschen Landsleute sind? Auf den Trecks hierher war der Tod immer ihr Weggefährte und sie mussten Hunger, eisige Kälte, Vergewaltigungen und Plünderungen über sich ergehen lassen.«

Und er fügte hinzu: »Wegen ihrer Gnadenlosigkeit gegenüber unseren notleidenden Mitmenschen bringe ich hier nicht nur zwei, sondern drei Familien unter. Kommen Sie mit, ich weise Sie ein, welche Räumlichkeiten diese Familien bewohnen werden. Falls Sie sich meinen Anordnungen widersetzen, bringe ich Sie in einer für Flüchtlinge geschaffenen Baracke unter.«

Nun war die Gnädigste sprachlos, und die beiden Familien bezogen die ihnen zugewiesenen Räumlichkeiten in der Villa.

Doch nicht alle Flüchtlinge konnten in den Wohnhäusern der Stadt untergebracht werden, einige mussten vorübergehend in einer dem Sägewerk gehörenden Baracke wohnen.

Um an etwas Essbares heranzukommen, zogen die Menschen aus der Stadt mit allem, was sie an Kleidung, Bettwäsche oder Schmuck entbehren konnten, auf die Dörfer. Das tauschten sie bei den Bauern gegen Kartoffeln, Milch für die Kinder, Butter und andere Nahrungsmittel ein. Manche zogen auch nachts heimlich auf die Felder, um Kartoffeln, Runkeln und Zuckerrüben zu stehlen, und machten sich damit bei den Bauern unbeliebt.

Dann kam der Hungerwinter, der im November 1946 begann und bis März 1947 dauerte. Er war einer der kältesten Winter in Deutschland seit Jahrzehnten. Temperaturen bis zu minus 25 Grad und vierzig Tage Dauerfrost machten das Leben in den nur kärglich beheizten Häusern fast unerträglich. Hinzu kamen die Probleme mit der Ernährung. Infolge des vorangegangenen trockenen Sommers, der zu hohen Ernteverlusten geführt hatte, war die Hungersnot groß. Kohlen zum Heizen gab es nicht mehr, und die Menschen zogen scharenweise mit Handkarren in die Wälder, um sich mit Holz zu versorgen. Vielen gelang das nicht und sie starben an Unterkühlung, an Tuberkulose oder Diphtherie in ihren Wohnungen. An manchen Tagen zog der Leichenwagen drei- bis fünfmal durch Seewalde. Freiwillige halfen, mit Pickhacke und Spaten Gräber in die tiefgefrorene Erde zu treiben. Dieser Winter wurde auch »der weiße Tod« oder »der schwarze Hunger« genannt, in Deutschland starben daran mehrere Hunderttausend Menschen.

Die miteinander eng verwobene Boden- und Industriereform hatte bereits im Herbst 1945 begonnen. Das war der Anfang des Enteignungsprozesses und gleichzeitig der Planwirtschaft nach sowjetischem Muster.

Die Bodenreform stand unter dem Motto: »Junkerland in Bauernhand«. Nach diesem Gesetz wurden alle Großbauern enteignet, die mehr als 100 Hektar Land besaßen. Kein Seewalder hatte so viel Land. Dennoch wurden auch hier Bauern enteignet, deren Besitz weit unter der festgelegten Hektarzahl lag. Ihnen wurde vorgeworfen, sich im ehemaligen Nazi-Regime aktiv politisch betätigt zu haben. Viele der enteigneten Bauern gingen in den Westen.

Organisation und Durchführung dieser Reform lagen in den Händen der Landratsämter, die dazu Kommissionen gebildet hatten. Franz und einige Mitglieder der Stadtverwaltung wurden hinzugezogen. Obwohl Franz von der Richtigkeit dieser Reform überzeugt war, fiel es ihm so manches Mal schwer, mit den verzweifelten Bauern zu diskutieren, die sich keiner Schuld bewusst waren. Bei der Industriereform verlief es ähnlich.

Zeitgleich musste er sich bemühen, sein Amt handlungsfähig besetzt zu bekommen. Das von der SMAD eingesetzte Entnazifizierungskomitee hatte den erfahrenen und befähigten Stadtkämmerer Heinrich Borchert, der früher Mitglied der SA war, festgenommen und eingesperrt. Mit seinem scharfen Verstand galt er lange Jahre als die graue Eminenz im Rathaus und konnte sehr nutzbringend zum Wohle der Stadt mit dem Geld umgehen. Weil er ihm vor dem Krieg eine Manipulation mit der Gewerbesteuer nachgewiesen hatte, hatte ein Handwerker aus Seewalde Heinrich Borchert bei der sowjetischen Kommandantur denunziert und ihn beschuldigt, das Bild von Stalin, das über dem Rathauseingang hing, abgerissen und vernichtet zu haben. Er hatte dazu sogar die Uhrzeit angeben müssen.

Franz konnte glücklicherweise nachweisen, dass Heinrich zu dieser Zeit zusammen mit ihm und dem Ratsmitglied für Inneres in seinem Privathaus bei einer Beratung gesessen hatte, und er durfte Heinrich wieder mit nach Hause nehmen.