Sehen - Rudolf E. Lang - E-Book

Sehen E-Book

Rudolf E. Lang

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Beschreibung

Fünf Sinne sind es, die dem Menschen die Welt beschreiben. Keiner tut es eindrücklicher als der Sehsinn. Was aber passiert eigentlich, wenn wir etwas Sehen? Und welche Rolle spielt dabei unser Gehirn? Was die Wissenschaft darüber in den letzten Jahren in Erfahrung gebracht hat, zählt zu den spektakulärsten Entdeckungen, deren sich die moderne Hirnforschung rühmen kann. Rudolf E. Lang schaut den Spitzenforschern bei ihren bahnbrechenden Experimenten über die Schulter und erklärt deren Erkenntnisse in Form eines Spazierganges, der im Louvre, vor Leonardos "Mona Lisa" beginnt und dort endet, wo den Betrachter das Gefühl beschleicht, dass er es ist, dem ihr berühmtes Lächeln gilt.

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Seitenzahl: 208

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Rudolf E. Lang

Sehen

Wie sich das Gehirn ein Bild macht

Mit 68 Abbildungen

Reclam

Alle nicht anders gekennzeichneten Abbildungen und Tabellen stammen vom Autor.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Covergestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart

unter Verwendung eines Ausschnittes aus Leonardo da Vincis (1452–1519) »La Gioconda« (Mona Lisa)

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2014

RECLAM ist eine eingetragene Marke

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960611-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-010991-5

www.reclam.de

Inhalt

Prolog

1.   Pixelflug durch die Salle des États

2.   Verkehrte Welt

3.   Auf der Schwelle zum Gehirn

 Die Kunst des Santiago Ramón y Cajal

 Die Netzhaut ist wie eine Torte aufgebaut

4.   Aus Licht wird Strom

 Experiment unter römischem Himmel

 Fotovoltaik in der Retina

 Warum mit Zapfen die Welt bunt erscheint

5.   Der Rechner im Auge

 Vom grünen Rasen zum rezeptiven Feld

 Die Fenster, durch die Ganglienzellen die Welt erblicken

 Was zählt, sind Kontraste

 Von Zwergen und Sonnenschirmen

6.   Über die Opticuskreuzung zum seitlichen Kniehöcker

 Zerrbild auf dem Knie

 Checkpoint Thalamus

7.   Ankunft auf der Sehrinde

8.   Vom Punkt zur Linie zur Form

 Meisterschüler

 Ein lausiger Tag in Baltimore

 Vom Punkt zur Linie

 Signalverarbeitung auf sechs Stockwerken

 Orientierungssäulen

 Von der Linie zur Form

9.   Blobs

10.  Was ist wo?

11.  Von der Form zum Objekt

 Wink aus der Rauschgiftszene

 Tanakas Flasche

12.  Ein Gesicht! Ein Gesicht!

 Nebel zwischen Hut und Kragen

 Die zerebralen Sehhilfen zur Gesichtserkennung

 Die Zelle, die Gesichter mit einer Bürste verwechselte

 Gibt es eine Mona-Lisa-Zelle?

13.  Gleiche Welle, gleiches Motiv

 Oszillationen

 Einstimmigkeit findet Gehör

14.  Ein Porträt entsteht

 Kufflers Urenkel

 Nervenzellen nehmen Maß

 Ein Netzwerk, das nach Gesichtern fischt

 Picasso am Abgrund

 Gesichter sind Karikaturen eines Normgesichts

 Blond oder braun? Alt oder jung?

15.  Das innere Auge

 Aufmerksamkeit schärft die Wahrnehmung

 Aufmerksamkeit ist ein Signalverstärker

 Das neuronale Netz der Aufmerksamkeit

 Egozentrische Karten weisen der Aufmerksamkeit den Weg

 Blick nach drinnen, Blick nach draußen

 Wohin blickt das innere Auge?

 Wie Bilder festgehalten werden

 Mona Lisa wird erkannt

16.  Im Bildarchiv

 Der Fall H. M.

 Der Repetitor im Ammonshorn

 Schlafwandlungen

 Wo liegt der Langzeitspeicher?

 Augenblicke hinterlassen Spuren

 Das Ammonshorn, Tummelplatz der Prominenz

 Ariadnefaden durch das Labyrinth der Erinnerungen

17.  Ist Mona Lisa schön?

 Wie funktioniert Schönheit?

 Semir Zekis Schönheitsfleck

 Blick in eine schöne Seele

18.  Der Blick

 Blicke gehen unter die Schläfen

 Warum verfolgt uns Lisas Blick?

 Blicke, die unter die Haut gehen

19. Das Lächeln

 Lächeln ist Schokolade für das Gemüt

 Gesichtsmimikri

 Ist Mona Lisas Lächeln echt?

20.  Auf der Suche nach dem Ich im Betrachter

Glossar

Literaturhinweise

Personenregister

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Prolog

»NASA Beams Mona Lisa to Lunar Reconnaissance Orbiter at the Moon.« Mit dieser Schlagzeile setzte die amerikanische Luft- und Raumfahrtbehörde am 17. Januar 2013 die Öffentlichkeit davon in Kenntnis, dass es Wissenschaftlern am NASA Goddard Space Flight Center in Greenbelt, Maryland, gelungen sei, unserem nächsten Nachbarn, dem Mond, Bildmaterial per Laserlicht zu schicken. Als Beweis diente das Porträt einer Frau, das fast jeder Bewohner der zivilisierten Welt in seinem Kopf mit sich herumträgt: Leonardo da Vincis Mona Lisa. Die Forscher hatten ein Foto von ihr in 30 000 Bildschnipsel zerlegt, deren jeweilige Helligkeitswerte einem von viertausend Grautönen zugeordnet und dann zeitlich verschlüsselt in Form von Laserpulsen zur Raumsonde LRO geschossen. Diese umkreist seit 2009 im Abstand von 50 Kilometern den Erdtrabanten und funkt alles zur Erde, was ihre Sensoren auf ihm gesehen und gemessen haben. Dass die Dame, abgesehen von ein paar Kratzern, dort gut angekommen war, bestätigte ein Funkbild, das die Sonde nach ihrem Eintreffen aus den Lasersignalen rekonstruiert und dann, ganz konventionell, mittels Radiowellen wieder hinunter nach Maryland geschickt hatte.

Ein Triumph der Technik: 400 000 Kilometer war die Ikone unbeschadet durchs All gereist, bevor sie der Schirm des LRO-Teleskops in die Arme geschlossen und Photodioden ihr Licht in elektrischen Strom umgewandelt hatten.

Das Raumfahrtprogramm, das das Original im Musée du Louvre zu Paris tagtäglich absolviert, sieht bescheidener aus. Von der Sicherheitszelle in der Salle des États, wo sich die Mona Lisa dem Publikum präsentiert, zum Auge des Betrachters ist es nur ein Katzensprung. Gerät ihr Luftbild dabei in die Fänge einer der Kameras, die sich ihr entgegenrecken, widerfährt ihr das gleiche Schicksal wie der Kopie am Mond: Ihr Licht erstickt in einem Stück Silizium, und der Ausflug ist zu Ende. Schafft sie es aber durch die Pupille bis ins Auge, beginnt eine Reise, der gegenüber sich die Fahrt zum Mond wie eine öde Spritztour ausnimmt. Sie steht auf der Schwelle zu dem bunten Kosmos aus Bildern, Gefühlen, Erinnerungen und Erwartungen, den Milliarden von Nervenzellen im Kopf eingerichtet haben und der unser ganz persönliches Tun und Handeln bestimmt.

So wie sich die Weltraumforscher mit Hilfe von Riesenteleskopen und Raumfähren immer weiter ins All vortasten, versucht die Hirnforschung mit ihren Werkzeugen in das neuronale Dickicht unter unserer Schädeldecke einzudringen. Sie will verstehen, wie die virtuelle Welt dort entsteht. Das Instrumentarium, auf das sie sich bei ihren Expeditionen stützt, braucht sich nicht hinter den Geschützen, mit denen die Astronomie den Gestirnen zu Leibe rückt, zu verstecken. Es besteht aus Sonden, mit denen der Nachrichtenverkehr zwischen Nerven und Hirnregionen abgehört werden kann, Rechnern, die die neuronalen Signale in eine verständliche Sprache übersetzen, Genfähren, mit denen sich Nerven über Lichtblitze an- und abschalten lassen, und apparativen Monstern, die in den Schädel hineinschauen und registrieren, wo im Gehirn es gerade besonders hektisch zugeht.

Der Zuwachs an Wissen, den der Einsatz dieser Werkzeuge der Hirnforschung in den letzten Jahren beschert hat, ist spektakulär. Und auf keinem Gebiet hat sie dabei so viele neue Erkenntnisse zur Arbeitsweise unseres Denkorgans gesammelt wie auf dem der visuellen Wahrnehmung. Sie versteht inzwischen nicht nur, wie das Auge Licht in Strom verwandelt, Konturen schärft und Farben mischt, sondern kennt auch die Wege, auf denen die Informationen an die Orte gelangen, wo sie in Wahrnehmung umgewandelt werden. Sie hat Karten mit dem Netz der Fertigungsstraßen angelegt, entlang derer Bildpunkte zu Linien, Linien zu Formen und Formen zu Gestalten zusammengesetzt werden. Sie weiß, an welchen Stätten die Montage von Gesichtern, Körpern oder Häusern erfolgt. Sie hat die Kontrollzentralen aufgespürt, die entscheiden, was aus der Flut der Informationen ausgewählt und was verworfen wird. Sie ist sogar bis zu den Archiven vorgestoßen, in denen das Gehirn vergangene Augenblicke aufbewahrt.

Das vorliegende Buch ist das Protokoll einer Kunstreise. Es begleitet die Madonna Lisa auf ihrem Weg von der Salle des États in den Kopf des Betrachters bis hin zu dem Moment, in dem sie ins Bewusstsein eintaucht. Das Terrain, durch das die Reise führt, ist das visuelle Gehirn. Dies nimmt mehr als ein Drittel der gesamten Großhirnrinde ein. Keinem anderen der fünf Sinne hat die Natur so viel Arbeitsfläche eingeräumt. Obwohl die Wege in ihm verschlungen und voller Fallen sind, dauert die Reise nicht viel mehr als 200 bis 300 Tausendstel einer Sekunde, nur einen Augenblick also. Hat sich im Betrachter das Gefühl eingestellt, dass er es ist, dem Mona Lisas Lächeln gilt, ist das Ziel der Reise erreicht.

1. Pixelflug durch die Salle des États

Wie von magnetischen Kräften angezogen fliegt das Bild der Mona Lisa jedem Besucher, der in der Salle des États des Louvre seinen Blick ihr zuwendet, entgegen. Wie funktioniert das? Regnet das Bild, wie der Begründer der klassischen Mechanik, Sir Isaac Newton, vermutete, in Form winziger Lichtteilchen herab, deren Einschläge die Netzhaut in Vibrationen versetzen? Oder pflanzt es sich in Wellen fort ähnlich dem Schall, indem es ein Medium namens Äther in Schwingungen versetzt, wie Christiaan Huygens glaubte? Die Verfechter der Teilchen- und der Wellentheorie einigten sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf einen Kompromiss: Was die einzelnen Punkte auf Lisas Porträt dem Betrachter entgegenschleudern, ist beides zugleich, Teilchen und Welle. Es sind winzige, vibrierende Energiepakete, Photonen genannt, deren elektromagnetische Schwingungen dem Auge jeweils die Farbe und Helligkeit desjenigen Bildelementes mitteilen, das sie abgesandt hat. Bildelemente sind in der knappen Sprache der Wissenschaft Pixel (picture elements). Mobilisiert vom Licht der LED-Leuchten in der Decke schießen ihre Botschaften kreuz und quer durch die Salle des États. Im Kopf des Betrachters angekommen, werden sie in Bruchteilen von Sekunden zu dem Bild zusammengefügt, von dem das Gehirn glaubt, dass es der Wirklichkeit am nächsten kommt.

2. Verkehrte Welt

Jeder Punkt auf Mona Lisas Oberfläche wird unter Beleuchtung zu einer eigenen Lichtquelle. Die Strahlen, die von ihm ausgehen, breiten sich wie der Schein einer Kerze geradlinig nach allen Seiten in den Raum aus. Ein kleiner Ausschnitt dieser Strahlen gelangt durch die Pupille ins Auge des Betrachters. Wie dort ein getreues Abbild der Außenwelt entsteht, hat den Naturforscher Leonardo ein halbes Leben lang beschäftigt. Als Modell für seine Studien diente ihm eine Einrichtung, die heute jedem Besucher des Louvre in modernerem Design und in Kleinformat vor der Brust baumelt: die Camera obscura. Wie sehr er sie als Hilfsmittel zur Erforschung des Sehvorgangs schätzte, geht aus seinen Skizzenbüchern hervor. Mehr als 270 Diagramme finden sich darin, auf denen er den Verlauf der Lichtstrahlen darstellt, die ein beleuchtetes Objekt in das Innere der Kammer wirft. Dass dort die Bilder auf dem Kopf stehen und ihre Seiten verkehrt sind, weil sich die Lichtstrahlen nach Durchtritt durch die Öffnung überkreuzen und auf den gegenüber außen jeweils entgegengesetzten Seiten auftreffen, war ihm wohlbekannt. Die Frage, die ihn quälte, war: Wie stellt es das Auge an, dass das umgekehrte Bild, das es von der Außenwelt empfängt, aufrecht zum Sehnerv gelangt?

Ein Jesuit brachte Licht ins Dunkel. Der Mönch Christoph Scheiner stellte runde hundert Jahre nach Leonardo in einem verblüffend einfachen Experiment fest, dass die Bilder im Auge genau wie in der Camera obscura auf dem Kopf stehen. Er entfernte vom hinteren Pol eines Schafsauges, vor das eine Lichtquelle postiert war, die Lederhaut, so dass die Netzhaut durchschimmerte, und sah, dass dort die Lichtquelle auf dem Kopf stand. Das Auge schert sich also nicht um die Ausrichtung der Bilder in seinem Hintergrund. Es wirbelt die Bilder herum, vertauscht ihre Seiten und vertraut darauf, dass der Großrechner im Schädel, das Gehirn, mit der verkehrten Welt auf der Netzhaut schon zurechtkommen wird. Das Gehirn hat sich längst auf diese Form der Präsentation eingerichtet. Schließlich ist es ihr von Geburt an ausgesetzt.

4. Aus Licht wird Strom

Experiment unter römischem Himmel

Die Entdeckung des Stoffes im Auge, auf dem Bilder wie das Siegel auf dem Wachs ihren Abdruck hinterlassen, ist dem klaren römischen Himmel in der zweiten Januarhälfte des Jahres 1876 und der Genialität eines 27-jährigen jungen Mannes zuzuschreiben, der diese lichten Tage für seine Forschungen zu nutzen verstand. Franz Christian Boll war gebürtiger Mecklenburger. Die Leitung des Laboratoriums für vergleichende Anatomie und Physiologie in Rom hatte er deshalb übernommen, weil er sich vom milden Klima Italiens eine Stärkung seiner durch eine Tuberkulose angeschlagenen Gesundheit erhoffte. Eines seiner ehrgeizigen wissenschaftlichen Ziele während dieses Aufenthaltes war es, die Funktion der Stäbchen bei der Aufnahme des Lichtes abzuklären.

Die Zellforscher bzw. Histologen hatten zu dieser Zeit unter ihren Mikroskopen bereits entdeckt, dass das Außensegment der Stäbchen plättchenartige Elemente enthält, die wie Geldrollen übereinandergeschichtet sind. Boll selbst hatte erkannt, dass die rote Farbe, die die Außensegmente der Stäbchen auszeichnet, ein Charakteristikum dieser Plättchen ist. Das samtene Rot, in dem bei Betrachtung des Augenhintergrundes die Netzhaut aufscheint, war nach seiner Überzeugung nicht auf den Blutfarbstoff in den Netzhautgefäßen zurückzuführen, sondern durch ebendiese Färbung der Stäbchenaußenglieder bedingt.

Der Gedanke, die rote Färbung könnte etwas mit der Aufnahme des Lichtes zu tun haben, kam Boll bei der Präparation der Retina aus einem Froschauge. Er stellte fest, dass diese, unmittelbar nachdem er sie bei Tageslicht als feines Häutchen mit der Pinzette aus einem halbierten Auge abgezogen hatte, noch rot war, dann aber binnen Sekunden abblasste, bis schließlich nur noch ein gelblicher Hauch zu sehen war. Nach seinen eigenen Worten war es nicht schwer, »das hier wirksame physiologische Moment zu errathen« und »auf das Licht als bestimmende Ursache zu verfallen«. Um diese Hypothese zu erhärten, beförderte er zwölf Frösche aus der Dunkelheit des Labors an die Januarsonne, tötete sie in fünfminütigen Abständen und entnahm ihnen ihre Augen. Im Gegensatz zu einem ähnlichen Versuch im finsteren November des Vorjahres war schon nach den ersten 5 Minuten eine deutliche Abblassung des »Sehroths« zu verzeichnen, nach 10 Minuten Exposition bestand davon allenfalls noch ein schwacher Schimmer, nach 15 Minuten hatte das Licht das gesamte Sehrot »aufgezehrt«. Zum endgültigen Beweis einer lichtinduzierten Transformation des Stäbchenfarbstoffes setzte er Froschaugen einer partiellen Beleuchtung aus, indem er mit dem Pfeilgift Curare gelähmte Tiere in den schmalen Lichtstreif setzte, den die Sonne durch einen Spalt des geschlossenen Fensterladens warf. Seine Theorie wurde auf das schönste bestätigt. Das Rot der Netzhaut war genau an der Stelle, an der der Lichtstrahl auf sie traf, von einem hellen Streifen unterbrochen. In weiterführenden Versuchen stellte sich heraus, dass die bleichende Wirkung des Lichtes nicht gleichförmig über das Farbspektrum verteilt ist. Das Sehrot erwies sich als äußerst widerstandsfähig gegenüber Rot, war empfindlich gegenüber Gelb und schmolz binnen kürzester Zeit dahin, wenn es mit Licht aus dem Grünbereich bestrahlt wurde.

Nach mehreren erfolglosen Versuchen, das »Erythroopsin«, wie er das Sehrot nannte, aus der Netzhaut herauszulösen, entschied sich Boll in aller Bescheidenheit, derartige Experimente denjenigen Forschern zu überlassen, die »in diesen Dingen besser zu Hause sind als ich«. Zu diesen Experten zählte zweifellos der Heidelberger Professor für Physiologie und Physiologische Chemie Friedrich Wilhelm Kühne. Ihm gelang es erstmals, den von ihm in »Rhodopsin« umbenannten Stäbchenfarbstoff mittels Gallensäuren aus der Netzhaut freizusetzen. Seine Lichtempfindlichkeit blieb auch im Reagenzglas erhalten, was Kühne die genauere Charakterisierung seiner chemischen Natur ermöglichte. Boll konnte den Fortgang dieser Untersuchungen nur noch wenige Jahre verfolgen, denn im Alter von nur 30 Jahren erlag er in Rom seinem Lungenleiden.

Auf Kühne geht nicht nur die Bezeichnung »Rhodopsin« für den Stäbchenfarbstoff zurück. Von ihm wurde auch der Begriff »Optogramm« in die Welt gesetzt. Er hatte beobachtet, dass sich auf der Retina von Kaninchen, nachdem sie wenigstens drei Minuten auf ein Fenster gestarrt hatten, die Sprossen des Fensters abzeichneten. Fantasiebegabte Kriminalisten schlugen anlässlich dieser Meldung vor, zukünftig auch die Retina von Mordopfern in die Indizienkette zur Überführung der Täter einzubeziehen. Vermutlich hatten sie dabei die sprichwörtliche Szene von dem Kaninchen im Kopf, das die letzten Minuten vor seiner Tötung damit verbringt, bewegungslos auf die Schlange zu starren.

Fotovoltaik in der Retina

Betrachtet man das äußere Segment eines Zapfens oder Stäbchens bei starker Vergrößerung unter dem Mikroskop, so fallen darin jene von Boll und Kühne als »Plättchen« bezeichneten Strukturen auf, die in den Zapfen infolge ihres Rhodopsingehaltes rot gefärbt erscheinen. Bei näherer Betrachtung erkennt man, dass es sich um zu Scheibchen zusammengepresste Säckchen handelt, die wie die Münzen einer Geldrolle die Außenglieder längs durchsetzen. Sie sind der Ort, an dem Lichtenergie in innerzelluläre Signale und schließlich Strom umgewandelt wird. Das Instrument dazu, der Sehfarbstoff, sitzt in tausendfacher Ausführung in ihrer Wand. Er setzt sich aus zwei Komponenten zusammen, nämlich aus einem großen Eiweißkörper und einem winzigen Molekül, das zwischen seinen Schlingen verankert ist und die Photonen einfängt. Das Eiweiß wird in Anlehnung an das griechische Wort »Opsin« für Sehen Opsis genannt. Der Photonenfänger in seinem Inneren trägt die Bezeichnung »11-cis-Retinal«, was ihn als Abkömmling des Retinols, besser bekannt unter dem Namen »Vitamin A1«, kennzeichnet.

Die Außensegmente der Zapfen und Stäbchen enthalten als Disks bezeichnete flache Säckchen, in deren Wand mit Hilfe des Opsins die Umwandlung von Licht in Strom eingeleitet wird.