Keime, Killer, Lorbeerkränze - Rudolf E. Lang - E-Book

Keime, Killer, Lorbeerkränze E-Book

Rudolf E. Lang

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Beschreibung

Dies ist kein Lehrbuch, sondern ein Lesebuch, das in Form einer Zeitreise den Entdeckern unseres Immunsystems und seiner Funktionen einen Besuch abstattet. Der Leser sieht ihnen bei der Arbeit zu und lernt so die raffinierten Strategien kennen, mittels derer unser Körper seine Feinde bekämpft. Die Reise beginnt im fernen Konstantinopel, wo von Heilerinnen die ersten Pockenimpfungen vorgenommen werden, führt nach Stockholm, wo Emil von Behring den Nobelpreis für die Entdeckung der passiven Immunisierung gegen die Diphtherie entgegennimmt, begibt sich an das Rockefeller Institut in New York, an dem der junge Maurice Edelmann herausfindet, dass Antikörpermoleküle wie ein Y oder das Victory Zeichen aussehen, begegnet auf der Knippelbrücke in Kopenhagen Niels Jerne auf dem Fahrrad, dem gerade eingefallen ist, wie das Immunsystem sich auf bestimmte Aggressoren so schnell mit der Produktion geeigneter Antikörper einstellen kann, und besucht einen Hans im Glück namens Bruce Glick in Ohio, der dank einer experimentellen Schusseligkeit in seinem Hühnerstall die Entdeckung macht, dass es zwei Formen von Lymphozyten gibt. Zurück in Europa trifft der Reisende in Freiburg auf den Japaner Susumu Tonegawa, der Einsteins Behauptung, Gott würfele nicht, mit der Entdeckung widerlegt, dass der Schöpfer bei der Herstellung der Antikörpervielfalt alles dem Zufall überlässt. Von da macht die Reise einen Sprung nach Australien, wo der Zufall das Tandem Zinkernagel und Doherty darüber belehrt, wie Zellen ihren Virusbefall anzeigen, nämlich, indem sie den tranchierten Eindringling auf einem Teller namens MHC präsentieren. Im englischen Cambridge erlebt der Leser den Triumphtanz George Köhlers, der zusammen mit Cesar Milstein eigentlich wissen wollte, wie es zu der immensen Vielzahl unterschiedlicher Antikörper kommt und dabei die Technik der monoklonalen Antikörpergewinnung erfunden hat. Damit ist die Reise in der Welt der Immuntherapie angekommen. Es ist das Jahr 2018. Am Krebsforschungsinstitut in Houston, Texas, wird so etwas wie ein Rockstar gefeiert. Dem zottelhaarigen Chef, James Allison, Freund des Country Songs und Harley Davidson Fan, wurde der Nobelpreis für eine neue Krebstherapie verliehen, die mittels monoklonaler Antikörper Killerzellen zur Attacke auf maligne Zellen aufstachelt. Die Reise endet an jenem legendären Xerox Kopierer in Pennsylvania, an dem Kati Kariko und Andrew Weissman die Idee der mRNA Impfung ausheckten. Das Corona Virus ist in der Welt angekommen.

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Impressum

Rudolf E. Lang

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

 

Vorwort

Sie können sich entspannt zurücklehnen, verehrte Leserin, lieber Leser, dies ist kein Lehrbuch. Es ist ein Lesebuch. Oder genauer, eine Zeitreise zu den Helden einer Wissenschaft, die sich der Erforschung der körperlichen Abwehrmechanismen verschrieben hat und gerade dabei ist, die Medizin zu revolutionieren: der Immunologie. Von ihren Erkenntnissen erhofft sich die Menschheit neben der Vertreibung von Seuchen neuerdings auch die Befreiung von Leiden wie dem Diabetes, den Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis, der Atherosklerose, der Alzheimer - Demenz und natürlich dem Krebs.

Die Reise beginnt im Konstantinopel des 18. Jahrhunderts, wo gewitzte Heilerinnen in Fortführung einer uralten chinesischen Tradition der Ausbreitung der Pocken Einhalt zu gebieten suchen, indem sie Kindern den Inhalt von Pockenpusteln unter die Haut setzen. Die Frau, die als Gattin des englischen Botschafters Augenzeugin der Prozedur wurde und deren energischem Einsatz für die Einführung dieser Impfung in England Tausende ihrer Landsleute vor dem Tod bewahrte, war Lady Mary Wortley Montagu. Der Satz, mit dem sie ihr erfülltes Leben in den Armen ihrer Tochter beendet haben soll, lautete: „Es war alles sehr interessant“. Besser lässt sich die Erfolgsgeschichte der Immunologie nicht beschreiben.

Rund zwei Jahrhunderte nach Lady Mary´s orientalischem Erweckungserlebnis beginnen sich in Europa die Nebel über dem Geheimnis der humoralen Immunabwehr zu lichten. In Berlin bastelt Emil Behring, damals noch ohne von und Adel, an der Entwicklung eines Diphtherie – Antiserums herum, das Wort Antikörper macht bald die Runde und Behring´s experimenteller und intellektueller Beistand, Paul Ehrlich, verschickt Briefe mit Skizzen seiner Vision von Blutzellen, die diese Antikörper wie Kanonenboote abfeuern, wenn sich ihnen ein Feind nähert.

Einige Tausend Kilometer weiter südlich stapft derweil ein Russe namens Ilja Metschnikow gedankenverloren an der Straße von Messina entlang, wo das Tyrrhenische Meer seine Weichtiere auf den Strand spuckt, und entdeckt in ihnen seltsame Zellen, die eingedrungenen Fremdkörpern den Garaus machen, indem sie sie verschlingen. Ein Vorgang, den er auf Vorschlag humanistisch vorgebildeter Biologiekollegen Phagozytose tauft und zur Grundlage seiner Theorie von der zellulären Immunabwehr ausbaut.

Um aus berufenem Munde zu erfahren, was es chemisch mit den Antikörpern auf sich hat, muss man sich in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Amerika in das Labor des Amateurklarinettisten Michael Heidelberger am Rockefeller Institut, N.Y., begeben. Er findet heraus, dass es sich um große Eiweiße vom Globulintyp handelt, die als Immunglobuline in die Lehrbücher eingehen werden.

Mit der Entzifferung ihrer Struktur wird Jahre später gleichen Ortes der blutjunge Maurice Edelman den ersten seiner wissenschaftlichen Triumphe feiern. Ihre Gestalt gleicht dem eines großen Ypsilons. Oder, die Hochgefühle des Entdeckers paraphrasierend, der Geste Winston Churchill´s auf der Krim, dem Victory Zeichen.

Von New York macht die Reise einen großen Sprung nach Down under, wo in Melbourne Macfarlane Burnet darüber nachsinnt, wie es das Immunsystem anstellt, dem Angriff eines Keimes binnen weniger Tage mit der Produktion von Unmengen spezifischer Antikörper zu begegnen. Zur Hilfe kommt ihm ein Gedankenblitz aus Dänemark, der Nils Jerne, als er auf dem Fahrrad die Kopenhagener Knippelbrücke überquert, durchzuckt. Die Geburtsstunde der klonalen Selektionstheorie hat geschlagen.

Wir sind im Jahr 1975 und am inzwischen von besagtem Nils Jerne geleiteten Baseler Institut für Immunologie angekommen. Eine Frage, die die Wissenschaft seit langem umtreibt, ist die nach der unerschöpflichen Vielfalt der Antikörper, die offensichtlich für jede erdenkliche Struktur die passende Antwort bereit hält. Die Lösung findet ein japanischer Gast namens Susumu Tonegawa, der zwar, wie er freimütig eingesteht, beschämend wenig Ahnung von den Funktionen der körperlichen Abwehr hat, aber dafür auf der Klaviatur der aufblühenden molekulargenetischen Techniken virtuos zu spielen weiß. Er ertappt die Natur bei einem Würfelspiel, in dem die Zusammensetzung der Bindungsregionen von Antikörpern ganz einfach dem Zufall überlassen wird. Die Immunologen nennen es somatische Rekombination.

Der Zeitschrift „Poultry Science“ liegt, wie ihr ihr Name verrät, das Wohl und Wehe des gehegten Geflügels am Herzen. Im Jahr 1956 taucht in ihr die Veröffentlichung eines gewissen Bruce Glick, Doktorand am Ohio Institut für landwirtschaftliche Experimente, auf, der der nur mäßig beeindruckten wissenschaftlichen Gemeinschaft die Mitteilung macht, dass Küken, denen eine dicht an der Kloake sitzende Drüse namens Bursa Fabricii entfernt wurde, eine Impfung nicht wie intakte Tiere mit der Ausschüttung entsprechender Antikörper beantworten. Bei der Entdeckung hatte ein glücklicher Zufall in Form einer experimentellen Schlamperei Glick´s die Finger im Spiel. Zwei Mediziner, Max Cooper und Robert Good, gehen der Sache nach und kommen zu dem Ergebnis, dass es nicht nur beim Geflügel, sondern auch beim Menschen, nicht eine, sondern wenigstens zwei Klassen von Lymphozyten gibt. Die eine umfasst die von da an als B wie Bursa bezeichneten Lymphozyten, die andere die im Thymus heranreifende T – Zellen. Cooper wird 2019 mit der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung der USA geehrt. Bruce Glick, der bis ins hohe Alter den Hühnchen die Treue hält, durfte ein Jahr zuvor den Golden Goose Award, eine Medaille, auf der eine Gans neugierig den Hals reckt, wie weiland der namensverwandte Hans im deutschen Märchen, nach Hause tragen.

Wir bleiben bei der Spezies Geflügel und reisen nach London, wo wir am University College auf im Sand badende weiße Legehennen mit einer roten Feder im Kleid stoßen. Sie stammen aus der Zucht des brasilianischen Opern – Aficionados Peter Medawar. Er hat in der knappen Zeit, die ihm zwischen den Premieren blieb, herausgefunden, dass Fremdtransplantate vom Immunsystem zeitlebens toleriert werden, wenn den Embryonen im Ei oder frisch geschlüpften Hühnchen zuvor Zellen des fremden Spenders eingepflanzt werden. Die Erklärung: Fremd von Eigen zu unterscheiden, bedarf es eines Organs, das Gourmets als Bries kennen und die Anatomen Thymus nennen. In ihm werden die Lymphozyten vom T – Typ erst Tage nach der Geburt darin geschult, körpereigenes Gewebe nicht anzugreifen und fremdes abzustoßen. Zellen, die ihre Lektion nicht gelernt haben, erwartet der Tod im Bries.

Und noch einmal ein Abstecher zum fünften Kontinent, diesmal an seine Ostküste, wohin es einen Schweizer mit dem markigen Namen Zinkernagel, nachdem mehr als fünfzig seiner Bewerbungen auf dem europäischen oder amerikanischen Kontinent entweder abschlägig oder gar nicht beantwortet worden waren, verschlagen hat. Im Team mit dem Australier Peter Doherty findet er binnen eines Jahres mit einem Quäntchen Glück, wie er stets betont, heraus, dass T – Lymphozyten virusinfizierte Zellen nur dann als krank erkennen, wenn ihnen von diesen Bestandteile des eingedrungenen Schädlings wie auf einem Teller präsentiert werden. Bei dem Teller handelt es sich um ein Molekül des MHC – Komplexes, der eine wichtige Rolle bei der Abstoßung von Transplantaten spielt. Ein Meisterstück im Schnelldurchgang. Stolz präsentiert das Tandem 1990 seine Medaillen mit dem Abbild des Sprengstoffmillionärs Alfred Nobels den Fotografen.

Es ist ein kalter Januartag des Jahres 1975, als ein junger Forscher namens George Köhler mit seiner Frau jubelnd im einem Kellerlabor der Universität Cambridge herumtanzt und die Geburtsstunde Antikörper produzierender Immunzellen feiert, die er nach dem Rezept Cesar Milstein´s mit Blutkrebszellen verschmolzen und damit unsterblich gemacht hat. Eine Jahrhundertentdeckung. Denn nun ist es möglich, in einem einzigen Immunisierungsschritt aus einem bunten Mix von Immunzellen durch klonale Vermehrung diejenigen Antikörperproduzenten herauszufischen, die ein bestimmtes Antigen erkennen. Der Einsatz monoklonaler Antikörper in Diagnostik und Therapie versetzt die immunologische Forschung in einen rauschhaften Höhenflug, abzulesen an der Zahl der unter dem Stichwort „immun“ gelisteten jährlichen Publikationen. Kürzlich hat sie die Hunderttausendermarke überschritten.

Schon Ende des vergangenen Jahrhunderts kommen monoklonalen Antikörper in der Bekämpfung der Krankheiten des rheumatischen Formenkreises zum Einsatz. Nachdem die Bedeutung des Immunsystems in der Abwehr maligner Entartungen erkannt ist, erobern sie sich auch in der Krebstherapie ihren Platz. Zwei Leuchttürme ragen aus der Schar der auf diesem Feld tätigen Forscher hervor. Der eine ist ein leidenschaftlicher Golfer aus dem Land der aufgehenden Sonne. Der andere ein texanischer Mundharmonikaspieler, der den Blues und den Ritt auf schweren Maschinen liebt. Was beide verbindet, ist die Entdeckung zweier Bremsen, die T – Zellen in Zaum halten, wenn sie sich auf feindliches Material stürzen. Manche Krebszellen haben die tückische Eigenschaft, diese Bremsen anzuziehen, um sich vor einem zytotoxischen Angriff zu schützen. Der Golfer, Tasuku Hanjo, und der Liebhaber schwermütiger Countrysongs, Jim Allison, haben monoklonale Antikörper entwickelt, die den Krebszellen einen Strich durch die Rechnung machen, indem sie die Bremsen blockieren. Der klinische Erfolg bei der Krebstherapie macht in Stockholm Eindruck. Der Phonecall aus Schweden reißt die beiden 2018 aus dem Schlaf.

Damit sind wir in der unmittelbaren Gegenwart angekommen. Nein, die Reise endet nicht in Boston am MIT oder der Harvard, nicht am Salk auf den Klippen von La Jolla und auch nicht am Rockefeller, sondern an einer Xerox Kopiermaschine an der Medical School of Pennsylvania, die, zumindest medial, Medizingeschichte geschrieben hat. Sie war die Zeugin des Dialogs zwischen zwei Weißkitteln, der wenige Jahre später viele Menschenleben retten sollte. Der eine der beiden Gesprächspartner war der wortkarge Immunologe Andrew Weissman, die andere eine vor Energie berstende Ungarin namens Kati Kariko. Weissman war an der Entwicklung einer Vakzine gegen HIV interessiert. Kariko, eine RNA Expertin, träumte von einer Impfung, in der nicht abgetötete Viren oder deren Eiweiße unter die Haut gepflanzt werden, sondern lediglich der Bauplan dazu in Form der entsprechenden mRNA. Das spart Arbeit, denn der aufwendige Prozess der Proteinsynthese wird vom Immunsystem übernommen. Mit der Idee hatten vorher schon einige Krebsforscher geliebäugelt, waren aber gescheitert. Die Gründe dafür fanden Kariko und Weissman, die sich inzwischen in Anbetracht der aktuellen Situation darauf geeinigt hatten, gemeinsam einen mRNA basierten Impfstoff gegen das SARS – coV - 2 Virus zu entwickeln, in Tierversuchen heraus. Das Immunsystem wehrt sich gegen mRNA Moleküle mit der Freisetzung von Entzündungsfaktoren. Kariko entdeckt nach intensivem Literaturstudium und einer langen Serie ermüdender Tierexperimente, dass man das System zur Akzeptanz bekehren kann, indem man einen Baustein im RNA Molekül auswechselt. Das Patent für diese Entdeckung steckt die Universität ein und verscherbelt es wenig später an eine Firma, die mit Lizenzabkommen Millionen machen wird. Zu deren Kunden zählt auch ein deutsches Unternehmen, das seinen Hauptsitz An der Goldgrube 12 in Mainz hat. Im Jahr 2021 reißt sein Nettogewinn dank des Vertriebs seines Covid – 19 Impfstoffes die 10 Milliarden Euro Marke. Kati Kariko, die über ihr gesamtes Wissenschaftlerleben hinweg um die Verlängerung ihrer Arbeitsverträge bangen musste, kann aufatmen. Der Chef des Unternehmens bietet ihr eine üppig dotierte Stelle als Vize – Präsidentin an. Weissman und Kariko werden innerhalb eines Jahres mit mehr Ehrungen überschüttet als andere während ihres gesamten Lebens nicht und gelten nun als brandheißer Tipp für die nächste Preisverleihung in Stockholm.

Was nimmt der Leser mit von dieser Reise in die Vergangenheit? Zu allererst, so steht wenigstens zu hoffen, hat er auf ihr etwas von seiner Ahnungslosigkeit bezüglich des Systems verloren, das sich tagtäglich für ihn und sein Überleben in den Kampf wirft. Ohne die schützende Hand der Immunabwehr wäre er längst dem Angriff böser Keime, Viren und Parasiten zum Opfer gefallen. Er hat die Bekanntschaft führender Wegbereiter der immunologischen Forschung gemacht, hat während ihrer Arbeit neben ihnen gesessen und dabei zugesehen, wie sie mit immer raffinierterem Instrumentarium dem Immunsystem seine Geheimnisse entlockten. Menschen mit Launen und Marotten wie Du und ich. Was treibt sie an? Wissenschaft ist, auch das hat er gelernt, Knochenarbeit und wer sich auf sie einlässt, muss einen langen Atem haben. Ist es Spieltrieb, Ehrgeiz oder die Aussicht auf Ruhm, Anerkennung und Geld, der die Leute auf ihrem steinigen Weg bei der Stange hält? Von allem ein bisschen. Und natürlich das rauschhafte Gefühl des Heureka - Moments, der Kick, wenn man etwas gefunden hat. Er kann süchtig machen.

Und was ist die Antwort auf die Frage des Jungforschers an den Laureaten: „Worin besteht das Geheimnis des wissenschaftlichen Erfolgs?“ Für Paul Ehrlich waren es Geschick, Glück, Geld und Geduld. Da aber das Glück nach Louis Pasteur nur dem Tätigen hold ist, sollte man Ehrlich´s Liste noch um das Wörtchen Fleiß erweitern. Und damit ist man schon fast bei der Nobelpreisformel Rolf Zinkernagel´s angelangt: 50 Prozent Glück, 49.5 Prozent Fleiß und lediglich 0.5 Prozent Idee. Das Bisschen an Idee oder Verstand muss man ihm nicht glauben. Hier handelt es sich zweifellos um eine ebenso medienwirksame wie falsche Bescheidenheit des Preisträgers.

Kapitel 1

Es war alles sehr interessant

 

 

Lady Mary, die Frau, die England das Impfen beibrachte

 

London, April 1721. Die Nachricht schlägt wie eine Bombe ein: Lady Mary WortleyMontagu, Gattin des Diplomaten und Parlamentariers Lord Edward WortleyMontagu, hat ihrer dreijährigen Tochter Mary, spätere Gräfin von Bute. das eiterigeSekret aus den Pusteln eines Pockenkranken unter die zarte Haut pflanzen lassen. Diedurchgeknallte Idee einer in Panik geratenen Aristokratin angesichts der sich in derStadt ausbreitenden Seuche? Nein, eine Pionierleistung. Schließlich handelt es sichum die erste Impfung auf englischem Boden. Wer ist die Frau hinter der Geschichte?Sie ist die hoch gebildete Tochter der Herzogin von Kingston, aufgewachsen mit denVersen Homers und Vergils, geschätzt als Verfasserin geistvoller Essays und Satirenund berüchtigt für ihre unverhohlen zur Schau gestellten Verachtunggesellschaftlicher Konventionen. Ihr Faible für Pluderhosen und Turban, in denen siegerne bei gesellschaftlichen Anlässen auftritt, rührt von einem mehrjährigenAufenthalt in Konstantinopel her, wo ihr Mann etwas glücklos als englischerBotschafter wirkte. In ihren bei Hofe als Abschrift kursierenden und später inmehrbändiger Ausgabe erschienen “Briefen aus der Türkei” erzählt sie von den Sittenund Gebräuchen des fremden Landes. Sie hält Damenkränzchen im Harem desSultans ab, mischt sich in der Schwüle eines türkischen Bades unter die Nackten undräumt mit der Legende von der Unterdrückung der türkischen Frauen auf. Sind diesebegütert, so schwärmt sie, verbleibt ihr Reichtum auch bei einer Verheiratung inihrem Besitz. Kommt es zu einer Trennung, besteht obendrein das Anrecht auf eineAbfindung seitens des Gatten. In der im Westen viel geschmähten Verschleierungsieht sie ein willkommenes Mittel, sich unerkannt auf erotische Abwege zu begeben.

Zu einem Schlüsselerlebnis wird für sie die Beobachtung einer von selbsternanntenHeilerinnen vorgenommenen Behandlung zur Verhütung einer der verheerendstenSeuchen der damaligen Zeit, den Pocken. Voller Enthusiasmus berichtet sie, die durchdiese Krankheit ihren Bruder und selbst ihre jugendliche Schönheit verloren hat, ihrerFreundin Sarah Chiswell von Nottingham darüber: “Alte Frauen kommen mit einerNussschale voll Eiter aus einer Pockenpustel und fragen, wo das Kind geritzt werdensoll. Dann öffnen sie ein Äderchen mit einer Nadel und geben so viel Pustelflüssigkeithinein, wie auf der Nadelspitze Platz hat. Die Kinder bekommen am achten TagFieber, im Gesicht bilden sich nicht mehr als zwanzig bis dreißig Pusteln, die ohneNarben zu hinterlassen abheilen. Nach einer Woche sind sie wieder gesund. Tausendewerden so behandelt. Es gibt keinen einzigen Todesfall”. Und sie verspricht, zurückin der Heimat werde sie alle Kraft dafür einsetzen, dass diese Behandlung auch inEngland Verbreitung findet. Ärzten, die sich dem Impfen widersetzen, weil sie mitder Eindämmung der Pocken um ihr Geschäft fürchten, werde sie den Krieg erklären.

Unter Vermittlung der befreundeten Karoline von Ansbach, die später an der SeiteGeorgs des II. den Thron besteigen wird und sich Anblicks der Seuche um das Wohlihrer Kinder sorgt, erreicht ihr Appell auch das Ohr des Königs. Sein ärztlicherBerater Dr. Sloane, Präsident des Royal College of Physicians, mahnt zur Vorsichtund schlägt eine Vorabuntersuchung zur Sicherheit und Wirksamkeit der Impfungvor, der seine Majestät seine Unterstützung zusichert.

Eine Kommission aus Ärztenund Apothekern begibt sich auf die Suche geeigneter Versuchspersonen und wird inden Kerkern des verruchtesten Gefängnisses der Stadt, dem Newgate Prison, fündig.Drei Frauen und drei Männern, allesamt zum Tod am Galgen verurteilt, wird dieFreiheit versprochen, falls sie einer Impfung zustimmen. Einer körperlichenInspektion und eigenen Angaben zufolge waren sie vorher noch nie an den Pockenerkrankt. Am 12. August 1721 werden alles sechs nach türkischer Art mit dem Eiteraus den Pusteln eines Pockekranken eines nahegelegenen Hospitals an Armen undBeinen geimpft. Alle bis auf einen, der gelogen und eine Infektion schon einmalüberstanden hat, reagieren mit milden Symptomen. Und alle überleben. Eineweibliche Teilnehmerin wird zur Pflege eines an Pocken schwer erkrankten Kindes indas Christ´s Hosptal beordert und dazu verpflichtet, sechs Wochen lang nachts mitdem kleinen Patienten das Bett zu teilen. Es erfolgt keine Ansteckung. Das “RoyalExperiment” gilt als gelungen.

Die Impfung gewinnt vor allem in höheren Kreisen rasch an Zuspruch. Im folgenden Jahr werden sogar die Enkel des königlichen Paares geimpft.Lady Mary bleibt sich in ihrer Extravaganz treu. Im reifen Alter von 47 Jahren zieht sie nach Italien, wo sie eine zehn Jahre währende Liebesbeziehung mit einem sehr schönen, nur halb so alten italienischen Grafen eingeht, den ihr allerdings später ein liebestoller Lord abtrünnigzu machen sucht. Im Jahr 1762 beendet sie ihr Leben in den Armen ihrer Tochter Mary in London mit den Worten: ”Es war alles sehr interessant.”.Schade, dass Lady Mary nicht mehr erlebt hat, wie es weiter ging. Es wurde nämlich alles noch viel interessanter. Die folgenden Kapitel berichten darüber.

Kapitel 2

Serum ist ein besonderer Saft

 

 

Emil von Behring zieht Bilanz und ist mit sich zufrieden

 

Neunter Dezember 1901. Zentralbahnhof Stockholm. Ein Zug aus Berlin läuft ein.Drei auf Deutsch parlierende Herren, in Vorwarnung des skandinavischen Winters indicke Reisemäntel eingepackt, entsteigen der ersten Klasse. Sie werden schonerwartet. Eine Meute aufgeregter Journalisten stürzt auf sie zu. Notizblöcke werdengezückt, Magnesiumlichter blitzen auf. Um wen es sich bei den Ankömmlingenhandelt, ist Stunden später im Aftonbladet nachzulesen. Es sind die Professoren Emilvon Behring und Konrad Röntgen aus Deutschland sowie der Holländer Jacobus van´tHoff. Sie sind gekommen, um aus der Hand des Kronprinzen Gustaf den Preis einerkürzlich eingerichteten Stiftung entgegenzunehmen, die es sich zur Aufgabe gesetzthat, alljährlich jeweils Personen auszuzeichnen, die sich Jahrs zuvor auf dem Gebietder Physik, Chemie, Physiologie und Medizin, der Literatur und derFriedensvermittlung um das Wohl der Menschheit besonders verdient gemacht haben.Der Preis umfasst neben einer Urkunde und einem Scheck über die nicht unerheblicheSumme von 150 000 Kronen, was in etwa dem 20 - fachen eines deutschenProfessorengehaltes entspricht, auch eine goldene Medaille mit dem Konterfei desSpenders, Alfred Nobel. Der ist genau an diesem Tag 1895 in San Remo einemHerzinfarkt erlegen. In seinem Testament hat er verfügt, dass das beträchtlicheKapital, das er mit seiner Idee, dem Nitroglycerin durch den Zusatz von Kieselguretwas von seiner spontanen Explosionsfreudigkeit zu nehmen, angehäuft hat, in einenFond fließen soll, aus dessen jährlichen Zinsen sich das Preisgeld ergibt.

Die Herren nächtigen im feudalen Grand Hotel Stockholm mit Blick aufs Meer. Amnächsten Morgen werden sie sich in Frack und steifen Kragen werfen, um dann zurKöniglichen Schwedischen Akademie für Musik zur Preisverleihung geleitet werden.Dort ist der feierlich geschmückte Saal bereits bis in die obersten Ränge dicht gefüllt.Im Hintergrund einer Bühne ragt unter einem Lorbeerkranz ein riesiger goldenerObelisk mit der Büste Nobels empor. Davor steht ein Rednerpult und vier weitereObelisken mit den Aufschriften “Physics”, “Chemistry”, “Medicine” und“Literature”. Die Operngläser fliegen vor die Augen, als die Laureaten den Saalbetreten. Als erster nimmt Augenzeugen zufolge Konrad Röntgen mit seinem langen,professoralen schwarzen Bart auf der Bühne Platz, es folgt sichtlich gut gelaunt derglattrasierte, blonde Jakobus Hendricus van´t Hoff, dann, sehr elegant, GeheimratEmil Adolf von Behring und schließlich der französische Minister für Äußeres, derin Vertretung des erkrankten Dichters Sully Proudhomme den Preis für Literaturentgegennehmen soll. Nachdem die Prinzen Gustaf Adolf, Prinz Eugen und KronprinzGustaf, der den wegen Konflikten in der Schwedisch - Norwegischen Unionabwesenden König Oscar vertritt, in ihren Sesseln Platz genommen haben, schmettertdas Königliche Orchester eine pompöse Festouvertüre in den Saal. Der Vorsitzendeder Nobelgesellschaft kämpft sich in einer quälend langen Rede durch den Lebenslaufdes edlen Spenders. Anschließend trägt der ständige Sekretär der SchwedischenAkademie ein Gedicht nebulösen Inhalts vor, ein Männerquartett stimmt ein altesStudentenlied mit dem flehenden Refrain “Öffne deine Tore, du strahlenderTempelgarten der Erinnerung” an.

Und dann endlich beginnt die Preisverleihung. Behring nutzt die einleitende Zeremonie für eine Bestandsaufnahme der bisherigenHöhepunkte seines 47 - jährigen Lebens, zu denen es jetzt ganz ohne Zweifel einenweiteren wichtigen hinzuzufügen kann. Er ist mit sich zufrieden. Zäher Fleiß, wacherVerstand, Geschäftssinn und, offen gestanden auch ein bisschen Zufall, haben ihn, derals Sohn eines Dorfschullehrers in der westpreußischen Provinz aufgewachsen ist undsich mangels materiellen Rückhalts das Studium der Medizin mit der bitterenVerpflichtung zu einer achtjährigen Dienstzeit als Militärarzt erkaufen musste, bis andie Spitze der Wissenschaft und in die höchsten gesellschaftlichen Kreise befördert.Er führt neben dem Professorentitel auch den eines Geheimen Rates, ist Ritter derfranzösischen Ehrenlegion und wurde erst im Januar dieses Jahres in Königsberg vonKaiser Wilhelm II. in den erblichen Adelsstand erhoben. Finanziell ist er eingemachter Mann. Der Vertrag mit der Firma Höchst zur millionenfachen Herstellungseines Diphtherie Antiserums sichert ihm eine fünfzigprozentige Gewinnbeteiligung.Er verfügt neben umfangreichen Ländereien und einer Villa in Marburg auch über einHaus auf Capri, von dem der Blick bis hinüber nach Neapel und den Vesuv geht. Under wird noch reicher werden. Anlässlich von Streitereien mit Hoechst um Anrechteauf weitere Erfindungen nimmt sein Entschluss immer festere Formen an, in Marburgeine eigene Firma zur Serumproduktion zu gründen. Das Preisgeld aus der Nobelstiftungkommt da gerade recht.Den Schlüssel zu seinem Erfolg bildet eine Entdeckung, die er - und das ist derglückliche Zufall in seiner Karriere - als Stabsarzt an Robert Koch´s Institut fürHygiene in Berlin abkommandiert, zusammen mit dem japanischenGastwissenschaftler Shibasaburo Kitasato gemacht hat. Ihre Veröffentlichungerscheint am 4. Dezember 1980 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift unterdem Titel “Über das Zustandekommen der Diphtherieimmunität und derTetanusimmunität bei Thieren”. Darin wischen die beiden Autoren alle bishergängigen Theorien zur Erklärung der Immunität gegenüber Krankheitserregern, wiesie nach überstandenen Infektionen oder Impfungen zu beobachten sind, kurzer Handvom Tisch. Des Rätsels Lösung liege weder in der schädliche Keime vernichtendenWirkung bestimmter phagozytierender Zellen, noch in einer allgemeinenbakterienfeindlichen Wirkung des Blutes oder gar einer Giftgewöhnung desOrganismus. Wie die Versuche überzeugend darlegen, ist die Resistenz gegenübermikrobiellen Toxinen wie dem der Diphtherie - oder Tetanusbakterien auf spezifischeFaktoren zurückzuführen, die im durch Gerinnung gewonnenen zellfreien Blutbeziehungsweise Serum nach einer Impfung mit den entsprechendenBakterienkulturen oder deren Toxin auftreten. Behring wird sie zwei Tage später inseiner Lecture “Antikörper” nennen.

Der Versuchsaufbau ist so einfach wie genial.Kaninchen werden mit Tetanusbazillen geimpft und der Erfolg der Immunisierungdurch Applikation einer tödlichen Dosis virulenter Tetanusbazillen überprüft.Erweisen sich die Tiere als resistent, wird ihr Vollblut oder auch nur das zellfreieSerum Mäusen injiziert. Überleben diese eine 24 Stunden später die appliziertetödliche Dosis virulenter Tetanuskeime oder deren Gift, so hat sie die Übertragungdes Kaninchenserums ebenfalls immun gemacht. Das Kontrollexperiment liefert dieBestätigung: Mäuse, die lediglich Blut oder Serum nicht immunisierter Kaninchenerhalten haben, sterben binnen 48 Stunden. Dass die schützende Wirkung auf derunmittelbaren Einwirkung eines Serumfaktors auf das Tetanustoxin beruht, zeigt einExperiment, in dem Mäusen ein Gemisch aus Immunserum und Toxin in einertödlichen Dosis verabreicht wird. Die Tiere erkranken nicht. Die Veröffentlichung schließt mit dem Zitat “Blut ist ein besonderer Saft”, was allerdings so die Kernaussage der Experimente nicht ganz trifft. Wissenschaftlich korrekt müsste der Satz lauten: “Serum ist ein besonderer Saft”. Aber das wusste der Teufel zu Goethe´s Zeiten noch nicht.

Behring lächelt bei dem Gedanken leise in sich hinein. Dann richtet er sich auf. DerPräsident der Schwedischen Akademie der Wissenschaften hat inzwischen dieVerdienste Konrad Röntgens gewürdigt und ihm Urkunde und Medaille überreicht.Nun tritt der Rektor des Karolinska Intstitus ans Rednerpult und setzt zur Laudatioauf von Behring an. Er streift kurz die Wegbereiter der Bakteriologie, Koch undPasteur, sowie Löffler, den Entdecker des Diphtheriebakteriums. Dann kommt er aufdie Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen zu sprechen. Ererinnert an die Tausende von Kindern, die bisher alljährlich dem heimtückischenErreger der Diphtherie zum Opfer fallen mussten, bevor die geniale Erfindung derindirekten Immunisierung oder Serumtherapie des Geheimrats der Ohnmacht derMedizin gegenüber dieser Erkrankung ein Ende setzte. Beifall brandet auf. Behringrückt den Frack zurecht und tritt dem Kronprinzen gegenüber, verneigt sich gemessenund nimt in strammer militärischer Haltung die Insignien für seine Verdienste aufdem Gebiet der Physiologie und Medizin entgegen. Als erster in der inzwischen überhundertjährigen Geschichte des Nobelpreises.

Am Abend findet ein Banquet im Grand Hotel statt. Die Gänge sind Supreme debarbue a la normande, Filet de boeuf a l`imperial, Gelimottes roties, salade Estree,Succes Grand Hotel, Patisserie. Dazu ein Niersteiner 1897, Chateau Abbe Gorasse1881, Champagne Creme de Bouzy Doux et Extra Dry, Sherry. Das Menu, kann manheute noch im Rathaus ordern. Bei den Weinen sollte man sich eher nicht so sichersein.

Kapitel 3

Der Visionär

 

Paul Ehrlich zeichnet schöne Figuren

 

“Geschick, Glück, Geld und Geduld” seien es gewesen, die ihn zumwissenschaftlichen Erfolg geführt haben. So ruft der bärtige, kleine Mann amRednerpult in den Saal, in dem sich die politische und gesellschaftliche Haute Voleeder Stadt Frankfurt ihm zu Ehren zu einem Festakt versammelt hat, Geschick? Meinter das souveräne Hantieren mit dem wissenschaftlichen Instrumentarium oder dieKunst des Umgangs mit Geldgebern und amtlichen Entscheidungsträgern? Glück?Soll das der Zufall sein, der den Forscher unverhofft über eine Entdeckung stolpernlässt, oder die Gnade, zur richtigen Zeit am richtigen Ort, oder genauer, in derrichtigen Stadt gewesen zu sein? Geld? Hier ist die Sache klar. Die Stadt hat eineerkleckliche Summe Geldes beigesteuert, um die Einrichtung von Steglitz nachFrankfurt zu verlegen, der der Redner seit 1896 vorsteht. Es handelt sich um dasInstitut für Serumforschung und Serumprüfung, das später einmal seinen Namentragen wird, der da lautet: Paul Ehrlich Und wie steht es mit der Geduld? DasPublikum schmunzelt amüsiert angesichts der Selbstironie, mit der der Redner auf dieReihe der Jahre anspielt, in denen er den größten Triumph seines Lebens zum Greifennah vor Augen aber bis vor kurzen nie in Händen hatte.

Man schreibt den 11. Januar 1910. Vor genau vier Wochen stand der Herr amRednerpult, Paul Ehrlich, noch in der Schwedischen Musikakademie, um den Preisentgegenzunehmen, der dem Kollegen Emil von Behring sieben Jahre zuvor vominzwischen zum König avancierten Kronprinzen verliehen wurde. Eigentlich hatte erdamals selbst schon ein bisschen damit gerechnet. Immerhin hatte er demBehring´schen Diphtherie - Serum durch seine Standardisierung zum therapeutischenDurchbruch verholfen, wie man dem Etikett eines jeden der von den FarbwerkenHoechst hergestellten Fläschchens entnehmen kann: Hergestelltnach Behring – Ehrlich. Er war es, der das Immunisierungsschema zur Steigerung derAntiserenausbeute perfektioniert hatte. Und er hatte erkannt, dass es sich bei derInaktivierung des Toxins durch das im Serum enthaltene Antitoxin um einen Prozesshandelt, der nach den Regeln einer chemischen Reaktion abläuft.

Chemie war sein Steckenpferd. Das Interesse daran war erwacht, als er noch alsGymnasiast seinem Vetter, Karl Weigert, später Professor der Pathologie, bei seinenVersuchen zusah, dünne Gewebsschnitte mit Farbstoffen anzufärben, deren Formelnsich Wissenschaftler der Badischen Anilin - und Sodawerken ausgedacht hatten. DasSpiel, mit farbigen Verbindungen Unsichtbares sichtbar zu machen, wurde ihm zurLeidenschaft. Bereits als 23 - jähriger Student der Medizin berichtet er über denEinsatz von Anilinfarben in der mikroskopischen Anatomie, ein Jahr später liefert erseine Dissertation über die Theorie und Praxis der histologischen Färbung samt derErstbeschreibung von Mastzellen ab. Während den achtziger Jahren, als Arzt an derBerliner Charite, experimentiert er mit der Anfärbbarkeit von Blutzellen. Dabei findet er heraus, dass die weißen Blutkörperchen keine einheitliche Klasse darstellen,sondern bei entsprechender Färbung in eine Gruppe granulierter und nicht granulierterZellen zerfallen. Der mikroskopische Nachweis der Lymphozyten, der wichtigstenWaffe im Kampf des Körpers gegen fremde Gäste, war ihm gelungen.

 

 

Blutausstriche von Leukozyten und (klein) Erythrozyten. Die lymphozytären Subtypen können mit den klassischen Färbemethoden nicht voneinander unterschieden werden.

Der Einstieg in die immunologische Forschung erfolgt, als er mit den hoch toxischenGiften Ricin aus dem Samen der Christuspalme und dem Abrin aus der Abrusbohnearbeitet. Er stellt fest, dass bei Mäusen die Verabreichung von Ricin in vorsichtigsteigender Dosierung zu einer Art Gewöhnung an das Gift führt. Die Tiere erweisensich auch noch nach Wochen dieser Behandlung als resistent gegenüber einer Menge,die bei unbehandelten Tieren zum raschen Tode führt. Interessanter Weise überträgtsich die Resistenz weiblicher Tiere auch auf den Wurf, was dafür spricht, dass dieÜbertragung von der Mutter auf den Fötus über die Plazentaschranke erfolgt. Darüberstellt sich heraus, dass Neugeborene, die von resistenten Mäusen gesäugt werden,ebenfalls tödliche Dosen des Giftes überleben. Ehrlich schlussfolgert, dass diewiederholte Applikation des Toxins in einschleichender Dosierung zur Bildung einesAntitoxins führt, das über die Blutflüssigkeit in den fötalen Kreislauf und die Milchgelangt. Damit hat er das Prinzip der aktiven und passiven Immunisierung entdeckt.Die aktive ist seit Einführung der Pockenimpfung längst gängige Praxis. Die passivewird wenige Jahre später mit der Behringschen Serum - Therapie in die medizinischeBehandlung Einzug halten.

Die Untersuchungen mit den Pflanzengiften vermitteln noch zu eine weitere wichtigeErkenntnis. Tiere, die mit Ricin immunisiert wurden, sind gegenüber der Giftwirkungresistent, versterben aber nach Verabreichung einer tödlichen Dosis Abrin.Umgekehrt zeigen Tiere, die mit Abrin geimpft wurden, keine Immunität gegenüberRicin. Die in Beantwortung der jeweiligen Immunisierung gebildeten Antitoxine sinddamit ausschließlich gegen das jeweilige Immunogen gerichtet. Die Immunantwort istalso hochspezifisch.

 

Paul Ehrlichs Seitenkettentheorie ( Roy. Soc. Proc.Vol 66, 1900 ).

 

Bei der Betrachtung dieser und der in Zusammenarbeit mit Behring anhand vonTetanus - und Diphtherie - Toxin erhobenen Befunde reift in Ehrlichs Kopf eine Ideeheran, die später als die “Seitenkettentheorie“ in die Annalen der Medizin eingehenwird. Wenn pflanzliche oder bakterielle Toxine eine zerstörerische Kraft auf dieKörperzellen ausüben, so kann das nur in unmittelbarer Verbindung mit diesenerfolgen. “Corpora non agunt nisi fixata“ wird Ehrlich nicht müde zu zitieren. Körperwirken nicht, wenn sie nicht gebunden sind. Eine solche Verbindung setzt voraus,dass die Zellen an ihrer Oberfläche spezifische Kontaktstellen besitzen, in die dieToxine, um es mit dem Bild Fischers für die Interaktion von Enzymen und Substratauszudrücken, wie der Schlüssel ins Schloss einrasten können. Auf einer mit derBemerkung “schöne figuren” versehenen Skizze stellt er in einem Brief die Theorieseinem Neffen Karl Weigert vor Die Kontaktstellen sitzen auf langen zellulärenAuswüchsen, den “Seitenketten”, an die die mit einer dazu komplementärenBindungsstelle ausgestatteten Toxine andocken. Die Zufuhr immer größerer MengenToxin wird von den Zellen mit einer Überproduktion von Seitenketten beantwortet.Diese werden schließlich als “lästiger Ballast” abgeworfen, geraten in die Blutbahnund halten dort, indem sie sich mit ihnen verbinden, die Toxine von ihrer schädlichenWirkung ab.

 

Die Bestätigung von Ehrlich´s Vision: B – Lymphozyten verwandeln sich nach Antigenkontakt in Plasmazellen und werfen ihre Rezeptoren als Antikörper ab.

 

Ein halbes Jahrhundert später wird diese prophetische Sicht einer humoralenImmunantwort mit der Entdeckung der B Zellen und deren Umwandlung nachAntigenkontakt in Antikörper freisetzende Plasmazellen ihre Bestätigung finden.

Ehrlich ist kein Freund großer gesellschaftlicher Veranstaltungen. Und so wäre erauch an diesem Abend nach seinem Auftritt in der Frankfurter Festhalle gerne soschnell wie möglich in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt, um sich zwischen Stößenvon Folianten und Journalen, in der linken Hand eine seiner schweren, schwarzenZigarren, der wissenschaftlichen Lektüre hinzugeben. Oder aber, um Entspannung zusuchen bei einer Geschichte des verehrten Kollegen Doktor Conan Doyle, demliterarischen Vater von Sherlock Holmes. Die Gestalt des legendären Detektiven istihm geistesverwandt. Ein untrügliches Auge für scheinbar nebensächliche Details unddie Fähigkeit, diese unverhofft mit messerscharfer Logik zu einer Indizienkettezusammenzufügen, sind das Geheimnis seines Erfolgs.Und so hängt nicht dasPortrait seines Vorbilds und Förderers Robert Koch im Arbeitszimmer an der Wand,sondern Conan Doyle blickt milden Auges auf Ehrlich herab.

Kapitel 4

Der Holzbläser von Manhattan

 

Heidelberger fällt und fällt

 

Elf Tage benötigt ein Passagierschiff im Jahr 1911, um von New York über denAtlantik nach Le Havre zu dampfen. Bis die Pan Am den Linienflug von der neuen indie alte Welt startet, sind es noch fast dreißig Jahre hin. An Bord des Cabin Liners“Chicago” geniest ein junger Mann aus Manhattan die gastronomischenAnnehmlichkeiten seiner ersten Schiffsreise und den Flirt mit einer außergewöhnlichattraktiven jungen Dame mit dem Ziel Paris. Beim Check - in hatte er ein kleinesProblem. Zwei längliche Futterale in seinem Handgepäck erregten den Argwohn derKontrollen. Schusswaffen? Messer? Nein, Holzblasinstrumente. Eine B Klarinette fürdie Klassik und eine A Klarinette für mehr romantische Weisen. Ihr Besitzer alsovermutlich ein Berufsmusiker auf Konzertreise. In der Tat ist die angesehene NeueZüricher Zeitung wenige Monate später voll des Lobes über den virtuosen Auftrittdes Passagiers in Mozarts Klarinettenquintett. Allerdings spielt er nicht in einemprofessionellen Ensemble, sondern mit Mitgliedern des Studentenorchesters amEidgenössischen Polytechnikum in Zürich. Dem hat er sich schon bald nach seinerAnkunft in der Stadt angeschlossen. Seine Leidenschaft gilt neben demKlarinettenspiel der Chemie. Die Reise nach Europa hat er nach seiner Promotion ander Columbia Universität NY unternommen, um mit dem Aufenthalt in einemeuropäischen Spitzenlabor seiner weiteren Karriere den nötigen Schub zu verleihen.Die Wahl war auf den bekannten und später mit dem Nobelpreis für Chemieausgezeichneten Biochemiker Richard Willstätter am Polytechnikum Zürich gefallen.Dass er dereinst als einer der Gründerväter der modernen Immunologie in dieWissenschaftsgeschichte eingehen würde, hatte sich der frisch gebackene Doktor derChemie damals wohl nicht träumen lassen. Sein Name ist Michael J. Heidelberger,auf Kongressen, wie Zeitgenossen berichten, stets an den beiden Klarinettenkoffernim Gepäck zu erkennen.

Heidelberger ist der Mann, dem die Lösung des Rätsels um die Natur des Wirkstoffes,der dem Serum nach erfolgter Impfung seine schützende Wirkung verleiht, gelingt. Erbeweist, dass es sich bei den von Behring als “Antikörper” bezeichneten Substanzenum Eiweiße handelt, die einer Unterklasse der Globuline angehören, denImmunglobulinen.Die Entdeckung erfolgt über einen Ausflug in die Mikrobiologie. Oswald Avery, Arztam Rockefeller Institut in NY hat beobachtet, dass Erreger der Lungenentzündung,nämlich Pneumokokken, bei ihrer Züchtung eine lösliche, spezielle Substanz in dasNährmedium abgeben, die offenbar ihrer Kapsel entstammt und bei Mischung mitdem Serum von gegen Pneumokokken immunisierter Tiere einen Antigen -Antikörperkomplex bildet. Dieser ist unlöslich und setzt sich am Boden derReaktionsgefäße als sogenanntes Präzipitat ab. Er bringt ein solches zu dem Chemiker desHauses, Michael Heidelberger, und bittet ihn um eine Analyse. Dem gelingt inlangwierigen Versuchen die Aufreinigung bis zu einem Grad, an dem in der Probekein Stickstoff, ein typischer Baustein von Eiweißen, mehr nachweisbar ist. “Könntees vielleicht ein Zucker sein?”, fragte ihn eines Tages ahnungsvoll Avery.Heidelberger nimmt die notwendigen Analysen vor und kommt zu der Feststellung,dass es sich bei der Substanz in der Tat um eine hochmolekulare Zuckerverbindunghandelt, ein Polysacharid. Weitere Experimente enthüllen, dass diese Moleküle an derOberfläche der Bakterien sitzen und deren spezifischen Antigeneigenschaftenbestimmen. Die wissenschaftliche Welt ist erstaunt. Bis dahin herrschte der Glaube,sofern überhaupt die Existenz von Antikörpern akzeptiert war, dass diese nur gegenEiweißstoffe gerichtet wären.Heidelberger findet auf der Suche nach dem optimalen Verhältnis zwischenPolysacharid - und Antiserumkonzentration heraus, dass ein Überschuss an Antigendie Ausfällung verhindert, ein Überschuss an Antikörper dagegen steigert. Erschließt daraus, dass Antikörper wenigstens zwei Bindungsstellen, das Polysacharidsogar noch mehr besitzen müssen, damit eine unlösliche Quervernetzung zwischenden Reaktionspartnern stattfinden kann.

Die Verfügbarkeit eines Antigens, das kein Eiweiß ist, und des entsprechenden,mutmaßlich eiweißartigen Antikörpers bringt ihn auf eine Idee. Er mischt dasPneumokokken - Polysacharid mit Pneumokokken - Antiserum in einem Verhältnis,das eine maximale Ausbeute an Fällungsprodukt verspricht, und beginnt mit derAufreinigung des Präzipitats. Ziel ist es, alle Serum - Eiweiße, das bedeutet, alleStickstoff enthaltenden Verbindungen, die mit der Bindung des Antigens nicht zu tunhaben, aus dem Zucker - Antikörper - Fällungsprodukt zu entfernen. Die Arbeit ziehtsich über zwei Jahre hin. Was er und seine Assistenten schließlich in Händen halten,ist ein Eiweiß, das in wässriger Lösung ausflockt, in salziger dagegen gelöst werdenkann, sich in Filtrationsversuchen als hochmolekular erweist und somit derSerumfraktion der Globuline zuzurechnen ist. Es ist ein Immunglobulin. SeinDoktorand Elvin Kabat wird später im Labor von Arne Tiselius Antiserum imelektrischen Feld auftrennen und feststellen, dass es wenigstens zwei Klassen vonImmunglobulinen gibt, die heute als IgG und IgM bezeichnet werden.

 

Elektrophoretische Auftrennung des Fällungsproduktes eines Antiserums vor und nach Absättigung ( Präabsorption ) mit einem Überschuss Antigen ( nach Kabat und Tiselius ).

 

Heidelberger wurden für sein Werk eine Vielzahl von Ehrungen zuteil. Zweimalstand er mit der Würdigung des Albert Lasker Awards im Vorzimmer zumNobelpreis, für den er insgesamt dreiundzwanzigmal vorgeschlagen wurde. Ihn aus der Hand des Königs entgegenzunehmen, blieb ihm leider versagt. Die zeitliche Spanne seinerVeröffentlichungen ist rekordverdächtig. Sie erstreckt sich über fast achtzig Jahre.Der kleine, agile Mann, der seine Kongressreisen in Erwartung kammermusikalischerPartner stets in Begleitung seiner beiden Klarinetten antrat, wurde 103 Jahre alt

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Kapitel 5

Der Virtuose

 

Gerald Maurice Edelman entdeckt die Struktur der Immunglobuline

 

Dass sich Heidelberger und der Mann, der bei der Aufklärung der Struktur derAntikörper so glanzvoll sein Erbe antrat, des öfteren fachlich begegnet sind, davon istmit Sicherheit auszugehen. Ob sie sich dabei persönlich nähergekommen sind, ist beieinem Unterschied von über vierzig Lebensjahren eher fraglich. Auf jeden Fall wäreGerald Maurice Edelman für Heidelberger ein hervorragender kammermusikalischerPartner gewesen. Auch er hatte neben der Wissenschaft eine zweite, oder kalendarischbetrachtet, erste Liebe, nämlich das Geigenspiel. Wie Heidelberger war EdelmannNew Yorker. Seine Begeisterung für die Musik hatte ihre Wurzeln im Konzertsaal derCarnegie Hall, wo ihn seine Eltern zusammen mit seiner Schwester gerne in derangemieteten Loge absetzten, während sie ihren Abendgesellschaften nachgingen. Alssich der Kleine nach Fritz Rainers Aufführung der “Kleinen Nachtmusik” in den Kopfsetzte, Konzertgeiger zu werden, wurde schnell für die beste aller geigerischenAusbildungen gesorgt. Zur Erleichterung seiner Eltern beschlichen den jungen Mannnach mehreren Jahren harter Arbeit Zweifel an seiner musikalischen Berufung, ernahm Abschied von der Welt der Capricen und Kadenzen, trat in die Fußstapfen seinesVaters, eines praktischen Arztes, und nahm das Studium der Medizin auf. Doch eswar nicht der pflegliche Umgang mit den Kranken, dem seine Neigung galt, es warendie naturwissenschaftlichen Grundlagen des Faches. Den dreijährigen Aufenthalt alsMilitärarzt in Paris nutzte er zum Studium der medizinisch - wissenschaftlichenLiteratur und entdeckte dabei sein Interesse für die gerade aufblühendeimmunologische Forschung. In ihr ahnte er seine Zukunft. Und er sollte rechtbehalten. Hier, in der Welt der chemischen Formeln und molekularen Strukturennahm sein Aufstieg zu dem überragenden Virtuosen ihren Anfang, den er sich einstmit der Geige in der Hand auf dem Konzertpodium erträumt hatte.

 

Zur rechten Zeit am richtigen Ort

 

Zurück in New York fand Edelman Aufnahme in das Doktorandenprogramm desRockefeller Institutes in New York. Er war mit seinem Wunsch, sich der Erforschungdes Immunsystems zu widmen, punktgenau am richtigen Ort gelandet. Das Institutblickte auf eine langjährige Tradition in der immunologischen Forschung zurück. MitKarl Landsteiner, dem Entdecker der Blutgruppen, hatte es einen der weltweitführenden Immunforscher in seinen Reihen. Die labortechnische Einrichtung war vomFeinsten, das wissenschaftliche Umfeld breit gefächert und die Ausstattung mitfinanziellen Mitteln nicht anders als üppig zu nennen.War es Naivität oder Arroganz, dass das Greenhorn Edelman dem wissenschaftlichenBetreuerkollegium auf die Frage nach seinen Plänen erklärte, die Struktur derAntikörpermoleküle aufklären zu wollen? Die Verwirklichung dieser hochfliegendenIdee war in Expertenaugen aus zwei Gründen zum Scheitern verurteilt. Zum einengab es nicht das eine und einzige Immunglobulin. Bei der Auftrennung von Antiserenim elektrischen Feld stellte sich, wie schon Tiselius mit seiner Elektrophorese inUpsala gezeigt hatte, die Immunglobulinfraktion nicht wie andere Serumproteine alsscharf umrissene Bande dar, sondern als ein verschmiertes Etwas, was dafürsprach,dass es sich nicht um ein singuläres Molekül, sondern eine Vielzahl verwandterMoleküle handeln musste. Daraus ein einzelnes zur eindeutigen Charakterisierungherauszufischen, und das auch noch in ausreichender Menge, war mit den damaligenMitteln schwer möglich. Charakterisierung bedeutet letztlich, die Abfolge dereinzelnen Eiweiß - Bausteine, also die Aminosäuresequenz, zu bestimmen. Der BriteFrederick Sanger hatte dafür ein aufwendiges Verfahren entwickelt, in dem das zuanalysierende Protein in immer kleinere Bruchstücke zerlegt werden musste. DieSequenzierung des Insulins, das aus 51 Aminosäuren besteht, kostete ihn über zehnJahre harter Arbeit. Das Ergebnis lag er erst 1955 vor, gerade einmal zwei Jahre vorEdelmans Eintritt in das Rockefeller Institut. Insulin besitzt ein Molekulargewichtvon nicht ganz 6000 Dalton ( d. h. dem etwa 6000 - fachen eines Wasserstoffmoleküls). Dasjenige eines Immunglobulins wurde auf etwa 150 000 geschätzt. War esangesichts dieser Datenlage realistisch, sich auf die Strukturaufklärung vonAntikörpern einzulassen?

 

Auftakt mit Paukenschlag

 

Edelman plagen solche Zweifel nicht. Er stürzt sich in die Arbeit. Zunächst prüft er,ob menschliche Gammaglobuline einzelsträngige Moleküle sind oder ob sie sich ausmehreren Aminosäureketten zusammensetzen, die wie die Holme einer Leiter überSprossen miteinander verbunden sind. Die Sprossen wären in diesem Fall Brücken,die von den Schwefelresten zweier einander gegenüberliegender Aminosäurengebildet werden und die Ketten aneinander schmieden. Er versetzt menschlichesImmunglobulin mit einer chemischen Substanz, die solche Schwefelbrückenaufsprengen kann, und steckt das Ergebnis in eine Hochgeschwindigkeitszentrifuge.Volltreffer! Das Reaktionsprodukt ist, angetrieben von den Zentrifugalkräften,entsprechend seiner Masse in eine Zuckerlösung graduell zunehmender Dichteeingewandert, aber nicht bis zu dem Punkt, an dem man das unbehandelteGammaglobulin entsprechend seiner Masse erwarten würde. Es ist in eine Zonegeringerer Dichte angelangt, was darauf schließen lässt, dass es sich bei dem Materialum niedrigmolekulare Komponenten des Gammaglobulinmoleküls handelt. Edelmanveröffentlicht das Ergebnis zu Beginn des Jahres 1959 in schnörkelloser Knappheitauf nicht mehr als einer Seite des Journals der Amerikanischen ChemischenGesellschaft.

 

 

Im Duett

 

Die Konkurrenz im Rennen um die Entschlüsselung der Antikörperstruktur sitzt inPerson des nicht weniger begabten Rodney Porter, ehemaliger Doktorand vonFrederick Sanger, in London. Vier Wochen nach Edelmans Veröffentlichung trittPorter mit der Mitteilung an die Öffentlichkeit, dass sich das, wie er damals nochglaubt, einsträngige Antikörpermolekül in zwei etwa gleich lange Abschnittengliedert, einem vorderen mit der Fähigkeit, Antigene zu binden, und einen darananschließenden hinteren, der sich im Gegensatz zu ersterem in Kristallform darstellenlässt. Das vordere Antigen bindende Fragment nennt er Fab, das hinterekristallisierbare Fc. In diese Fragmente aufgetrennt hat er das Antikörpermolekül mitdem Enzym Papain, einem Eiweiß spaltenden Protein der Papayafrucht. Bei genauererBetrachtung stellt sich heraus, dass in einem Immunglobulin - Molekül jeweils zweiFab Fragmente auf ein Fc Fragment treffen. Addiert man die für die Fragmenteermittelten Molekulargewichte, so gelangt man zum Molekulargewicht desGammaglobulins.

Nach Edelmans Bekanntgabe, dass die Immunglobuline nach Aufsprengung vonSchwefelbrücken in kleinere Bestandteile zerfallen, bemüht sich Porter um derennähere Charakterisierung. In Filtrationsversuchen stellt sich heraus, dass es sich umzwei unterschiedlich lange Komponenten handelt, Das Molekulargewicht der als Abezeichneten längeren bewegt sich um 50 000, das der kürzeren B Kette liegt bei etwa20 000 Dalton. Mit Papain kann er die A Komponente in einen Fab und einen FcAnteil zerlegen. Dann beginnt er mit den Fragmenten wie in einem Baukasten zuspielen. Das Ergebnis stellt er 1962 in einem Diagramm vor. Danach sind dieImmunglobuline symmetrisch angelegte Eiweißmoleküle, in denen an das vordereEnde eines höhermolekularen und damit schwereren Kettenpaares jeweils einekürzere leichte Kette angelagert ist. Die Fixierung erfolgt über Schwefelbrücken.Zählt man die Molekulargewichte der einzelnen Komponenten zusammen, so kommtziemlich genau das Gewicht eines Immunglobulinmoleküls heraus. Es wurde vorKenntnis der Aminosäurenabfolge auf etwa 150 000 geschätzt.

Porter vermutet, dass die Antigenbindung auf der langen, von ihm als A bezeichnetenKette erfolgt. Edelman kann jedoch in Rekombinationsversuchen zeigen, dass dievolle Bindungsfähigkeit weder mit der Paarung zweier kurzer, leichter ( L wie light )Ketten LL noch mit zwei langen, schweren ( H wie heavy ) HH zu erzielen ist. Sietritt nur ein, wenn er leichte Ketten mit schweren mischt ( LH ).Dass die Antikörper jeweils nur mit demjenigen Antigen eine innige Beziehungeingehen, gegen das immunisiert wurde, kann in seinen Augen nur mit demspezifischen Aufbau der Bindungsstellen zusammenhängen. Antikörperunterschiedlicher Spezifität müssten sich demnach in ihren Bindungsregionenunterscheiden. Ein Vergleich der Aminosäuresequenzen verschiedener Antikörper istalso unumgänglich.

 

Darwins Doktor

 

Auf der Suche nach einem geeigneten Ausgangsmaterial erinnert sich Edelman an denLondoner Arzt, der Charles Darwin im vergangenen Jahrhundert von seinenBlähungen befreite, indem er ihn auf eine erbarmungslose Reduktionskost setzte,Henry Bence Jones. Seinen Namen in der Geschichte der Medizin verdankt erallerdings nicht der Verschreibung rigoroser Diäten, sondern der Analyse einerUrinprobe, die ihm, der für seine chemischen Kenntnisse bekannt war, ein Kollegemit der Frage “Was ist das” zur Untersuchung zusandte. Die Probe stammte voneinem Patienten, der von schweren Knochenschmerzen geplagt wurde und mit demUrin riesige Mengen eines Eiweißes ausschied. Die Obduktion nach seinem balddarauf eingetretenen Tod ergab eine Ansammlung gallertiger Tumormassen imKnochenmark. Heute weiß man, dass es sich bei der Erkrankung um eine maligneEntartung von Immunzellen handelte, die als multiples Myelom oder Plasmazytombezeichnet wird. Bence Jones kam nach umfänglichen labor - chemischenUntersuchungen zu dem Schluss, dass das mit dem Urin ausgeschiedenen Material,das heute als Bence Jones Protein seinen Namen tragt, eine oxidierte Form desAlbumins sei. Das war falsch. Es war der Teil eines Plasmaproteins, das vonentarteten Plasmazellen im Überschuss produziert und ins Blut freigesetzt wird.

 

Angestrengtes Pizzicato, triumphaler Schlussakkord

 

Edelmans Laborchef und Betreuer am Rockefeller, Henry Kunkel, hatte sich bereitseinige Jahre zuvor mit der abnorm hohen Konzentration von Gamma - Globulin inden Seren Myelomkranker befasst und festgestellt, dass es sich dabei umImmunglobulin handeln muss. In Fortführung dieser Experimente spaltet Edelman dasMyelomprotein über die Sprengung der SS - Brücken in seine L - und HKomponenten auf und vergleicht deren Wanderung im elektrischen Feld mitderjenigen einer gleich behandelten Gamma - Globulin Fraktion eines Gesunden. Zuseiner Freude zeigt sich, dass sich der L Anteil aus dem kranken Blut im Gegensatzzu dem des Gesunden nicht als heterogene Mixtur sondern als eine singuläre Bandedarstellt.

Eine verhängnisvolle Fehlleistung der Natur hat für ihn die Arbeit erledigt,aus einem Gemisch unterschiedlich gestalteter Antikörpermoleküle, wie sie Antiserennun einmal enthalten, ein einzelnes zur Charakterisierung herauszufischen. Die schonvon Kunkel angestellte Vermutung, dass es sich bei dem Bence Jones Eiweiß im Urinum das nierengängige Teilprodukt eines im Blut zirkulierenden Immungobulins handeln könnte, bestätigt sich. Edelman identifiziert es als die kurze L - Kette. Er kann ferner zeigen,dass sich die Bindungsregionen der L - Ketten verschiedener Myelompatientenhinsichtlich ihrer Aminosäurezusammensetzung unterscheiden und liefert damit denBeweis, dass der Körper über ein vorgefertigtes vielfältiges Erkennungssystem zurAbwehr fremden Materials verfügt.

Die Sequenzierung eines kompletten Myelom -Gamma - Immunglobulins ist 1969 abgeschlossen.

---ENDE DER LESEPROBE---