Sein letzter Schrei - Bert Seemann - E-Book

Sein letzter Schrei E-Book

Bert Seemann

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Beschreibung

Ein gellender Schrei durchbricht die Stille des Waldes an jenem Samstagmorgen. Von zartem Nebelschleier umhüllte Baumwipfel schwanken ein wenig im Wind, während auf einem verlassenen Waldweg die junge Familie Bergmann zu einer Fahrradtour zum Herzberg aufbricht, um den malerischen Ausblick auf die umliegende Landschaft zu genießen. Plötzlich halten sie inne. Um die Ursache zu finden, schlägt sich der mutige Vater unerschrocken durch das Unterholz. Gebannt bleibt er vor einer Leiche stehen, deren Anblick ihn an uralte Geschichtsbücher erinnert. Den nackten Bauch von einem Pfahl durchbohrt liegt zwischen Gräsern und Farnkraut ein weißhaariger Mann. Die Augen starren gen Himmel und sein Mund steht offen. Die herbeigerufenen Beamten von Polizei und Kriminaltechnik sind von diesem in ihrer Praxis einmaligem Anblick überwältigt. Sie ahnen nicht, dass sie einen ermordeten Mörder vor sich haben. Aufwendige und umfangreiche Recherchen, die dem Leichenfund folgen, stellen selbst die erfahrensten Kriminalisten vor ständig neue Rätsel und Herausforderungen. Dieser Kriminalroman aus dem Taunus mit einem Hauch von Erotik konfrontiert den Leser mit einem Mord, der in die Kategorie brutaler Hinrichtungen einzuordnen ist. Die vielfältige Ermittlungsarbeit der polizeilichen Detektive nimmt nicht selten kuriose Züge an und führt erst am Ende zu einem nie vermuteten Resultat.

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Dr. Berthold W. Seemann nennt sich in seiner Funktion als Autor nur Bert Seemann. Er ist 1937 geboren und hat an der Universität Rostock und an der Humboldt-Universität Berlin studiert. Er ist Diplom-Physiker, Ing. für Elektronik und Ing. für Biophysik. An der Universität Rostock promovierte er zum Dr.-Ing. In seiner 58-jährigen beruflichen Tätigkeit auf verschiedenen technischen Gebieten und in der Medizin sammelte er einen großen Fundus an Erfahrungen und praktischem Wissen. So bindet der Autor gern physikalische und technische Raffinessen in seine Kriminalgeschichten ein. Er ist verheiratet mit einer inzwischen pensionierten Lehrerin, hat fünf Kinder und wohnt in der Nordheide. Mit dem Ende seines Berufslebens wechselte er in ein gänzlich neues und für ihn fremdes Metier der Schriftstellerei. Für die ersten Romane benutzte er noch das Pseudonym Pit Saylor. Nun aber setzt er den Klarnamen auf die Cover seiner Bücher.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 1

An diesem sonnigen Samstagmorgen sitzt bereits jetzt die gesamte Familie am Frühstückstisch. Es ist erst sieben Uhr und doch haben alle ausgeschlafen und freuen sich auf den heutigen Tag. Sie wollen ihn nutzen, um eine ausgiebige Fahrradtour zu unternehmen.

Die Familie Bergmann bewohnt im Silberweg 16 in Dornholzhausen ein mittelgroßes Einfamilienhaus, zu dem auch ein kleiner Garten gehört. Gleich nachdem sie das Grundstück mit dem Haus erworben haben, wurde ein kleines Gartenhaus errichtet. Darin ist genügend Platz, um die Gartengeräte unterzubringen und obendrein auch noch die drei Fahrräder der Familie.

Anita Bergmann ist Lehrerin an einer Schule im nahegelegenen Bad Homburg. Sie ist sowohl bei ihren Kollegen als auch bei den Schülern als strenge, aber gerechte Lehrerin bekannt. Deswegen achtet sie stets auf eine gesunde und ausgewogenen Ernährung ihrer Zöglinge. Sie weiß, dass es wichtig ist, jeden Tag mit einem guten Frühstück zu beginnen. Auch wenn es nicht gerade üppig ausfällt, so darf kein Kind mit leerem Magen in ihrer Klasse erscheinen. Darauf achtet sie jeden Tag und kennt auch ihre ‚Kandidaten,‘ die das Elternhaus mit einem Keks verlassen und zum Unterricht erscheinen. Sie wiederholt zwar immer wieder den gleichen Text, dass man keinen Tag mit einem hungrigen Gefühl beginnen darf. Doch so oft sie es auch den Schülern sagt, trifft es leider die verkehrten. Zweifelsohne fällt es immer auf die Mutter zurück. Aber bedauerlicherweise hört sie bei ähnlichen Diskussionen am Elternabend die Entschuldigung, dass die Zeit am Morgen immer zu knapp ist. Manche Eltern stehen sogar auf dem Standpunkt, es sei Pflicht der Schule, die Kinder zu versorgen, denn schließlich werden doch im Unterricht von den Kindern die Leistungen abverlangt.

Karl Bergmann, ihr Ehemann und Journalist, kennt diese Thematik schon seit Jahren und gibt sich Mühe, keinen Kommentar abzugeben, denn sonst bekäme der schöne Tag einen miesen Anfang. Natürlich weiß ein gestandener Mann von 44 Jahren, dass eine vernünftige Ernährung die notwendige Basis einer erfolgreichen Arbeit ist und dass diese Erkenntnis erst recht für Schüler zutrifft.

Aber beim Frühstück muss man darüber nicht jedes Mal davon anfangen, denn ihre 14-jährige Tochter Martina kann dieses Mantra schon singen. Wenn Mutter wieder einmal in diese Kerbe schlägt, verdreht Marty, wie sie liebevoll genannt wird, die Augen, blickt kurz an die Decke und beißt lautstark, um gehört zu werden, in ihr Brötchen.

Das entgeht natürlich ihrem Vater nicht und er holt tief Luft und sagt, dass er schließlich den soundsovielten Beitrag in der Homburger Tageszeitung verfassen kann, um den verantwortungslosen Eltern ins Gewissen zu reden.

Dann wird es langsam wieder still und alle Gesichter überzieht ein ruhiges Lächeln, denn bald wollen sie starten.

Karl erhebt sich als Erster, denn er holt aus dem Gartenhaus ihre Fahrräder. Als routinierter Radler kontrolliert er bei allen Rädern den Reifendruck. Das ist besonders wichtig bei den E-Bikes von Anita und ihm. Marty hat zwar keinen elektrischen Hilfsantrieb, doch dafür eine wirksame 8-Gang-Schaltung. Sie ist damit zufrieden und möchte sich auf keinen Fall von ihren Mitschülerinnen dadurch abheben, dass sie ein E-Bike fährt.

Mutter Anita hat in ihr Picknick-Körbchen schon eine kleine Wanderverpflegung eingepackt und kommt heraus zu Karl, um den Korb auf dem Fahrrad zu befestigen, dass er bloß nicht verloren geht.

Jetzt erscheint auch Marty und schon kann die Tagestour beginnen. Sie verlassen ihr Zuhause und fahren auf dem Güldensöllerweg in Richtung Nordwesten, um erst einmal aus der Kleinstadt herauszukommen. Ihr Tagesziel ist der Herzberg. Aber Karl kennt sich hier perfekt aus und kennt kleine Waldwege, die ihm besser gefallen, als breite Straßen mit vielen Urlaubern. Nach knapp 200 Metern führt ein schmaler, aber fester Weg in den Wald hinein. In diesen biegen sie ab. Karl schaut gelegentlich auf das kleine Display seines Fahrrad-GPS-Gerätes, das ihm den momentanen Aufenthaltsort anzeigt. Am unteren Rand sind noch die Zahlenwerte der beiden Koordinaten angeführt. Eigentlich ist das eine Spielerei, die dazu angetan ist, das kleine Gerät in die edle Form der Mountainbike-Computer einzuordnen. Allerdings kann man in einem Notfall diese Koordinaten einem anderen mitteilen, der dann sofort den genauen Standort ermitteln kann. Manche Männer brauchen so etwas eben.

Im Wald ist kein Lüftchen zu verspüren und es ist angenehm still. Vereinzelt hört man einen Vogel zwitschern, wie gerade jetzt, als ein Eichelhäher die ‚Eindringlinge‘ durch heftiges Zetern anzeigt. Dann aber ist es wieder totenstill.

Ruhig, ohne ein Wort zu sagen, fahren sie fast lautlos durch den Morgen. Zwischen den Baumkronen sieht man feine Nebelschwaden aufsteigen. Sie zeigen an, dass es heute angenehm warm werden wird.

Plötzlich ertönt ein gellend lauter Schrei. Aber allmählich wird er leiser und schließlich verstummt er ganz. Alle drei bleiben stehen, steigen ab und bewegen sich keinen Millimeter. Was war das? Welches Tier stößt solche beängstigenden Laute aus? Jetzt herrscht wieder diese beklemmende Ruhe und Karl sagt:

„Bleibt hier, rührt euch nicht von der Stelle, ich möchte wissen, was das war. Ich gehe jetzt langsam los, Schritt für Schritt in die Richtung, aus der wir den Schrei vernommen haben. Aber ihr bleibt hier auf der Stelle stehen und sagt kein einziges Wort!“

Allmählich verschwindet Karl im Unterholz zwischen den niedrigen Bäumen und Büschen. Nun ist er nicht mehr zu sehen. Sekunden des stillen Verharrens vergehen. Dann taucht langsam Karl wieder auf, hält sich dabei seine rechte Hand auf den Mund und kommt näher. Jetzt greift er wortlos in seine Tasche, nimmt das Smartphone heraus, wählt die 110 und wartet ab.

„Polizeikommissariat Bad Homburg, weshalb rufen Sie an?“

„Ich möchte einen Leichenfund melden und schicke Ihnen per WhatsApp die GPS-Koordinaten.“

Nun bedrängt Anita ihn:

„Karl, was hast du da gesehen? Erzähle es, bitte!“

Hinter ihnen liegt ein Baum, der vom starken Sturm der letzten Tage umgeworfen wurde. Alle drei setzen sich nebeneinander auf diesen Stamm. Beide Frauen schauen auf Karl, der immer noch schweigt und nur mehrmals den Kopf schüttelt. Schließlich beginnt er mit leiser Stimme zu erzählen:

„Noch nie zuvor habe ich in meinem Leben einen solch brutalen Mord gesehen. Es ist eigentlich weit mehr als ein Mord, es ist eine brutale Hinrichtung. Nur aus historischen Erzählungen weiß ich von dieser Art, einen Menschen auf schlimmste Weise zu bestrafen.

Marty, du darfst es auf keinen Fall sehen, denn diesen Anblick würdest du über Jahre hinweg nicht vergessen können. Er wäre immer in deinem Kopf und würde dich verfolgen, wo du auch sein würdest.

Auch du, Anita, musst es nicht sehen, es wäre für dich ein schreckliches Erlebnis, das auch dich über lange Zeit begleiten würde. Lasst uns das vergessen und unseren Ausflug fortsetzen. Vielleicht schenkt uns dieser Weg im Wald noch einige andere und schöne Eindrücke, die unsere Stimmung wieder aufhellen können.“

Anita ermahnt Karl:

„Du hast doch eben die Polizei angerufen und gebeten, dass sie hierherkommen. Dann ist es deine Pflicht, zu warten, um ihnen den Fundort zu zeigen.“

In diesem Augenblick hören sie von Ferne das Martinshorn des Polizeifahrzeuges. Wenig später kommt mit Blaulicht ein Pkw, dahinter ein Rettungswagen und ein hellgrauer Kleinbus, der offensichtlich die Mitarbeiter der KTU hierher bringt.

Karl erhebt sich und gibt mit der rechten Hand ein Zeichen, in welche Richtung die Fahrzeuge fahren sollen. Sie verschwinden hinter den kleinen Bäumen und Büschen. Wenig später kommen zwei junge Frauen in Polizeiuniform auf die drei zu und eine Polizistin stellt sich vor:

„Guten Tag, ich bin Kommissarin Brügge und das ist Polizeischülerin Christa Hanke.“

Dann wendet sie sich an Karl und sagt:

„Ich vermute, dass Sie uns angerufen und von dem Vorkommnis berichtet haben. Liege ich da richtig?“

„Ja, ich habe angerufen und berichtet, dass ich eine Leiche entdeckt hatte.“

„Bitte, dann nennen Sie uns zuerst Ihren Namen und schildern, was Sie gesehen haben. Diese junge Frau neben mir ist eine angehende Kollegin und sie soll lernen, wie praktische Polizeiarbeit aussieht. Ich darf annehmen, dass Sie nichts dagegen haben. Wenn dem so ist, dann bitte beginnen Sie Ihren Bericht!“

Jetzt fängt Karl an, haarklein alles zu erzählen, wie die drei zu diesem Ort gelangt sind und was sie hier erlebt haben. Er weiß als Journalist genau, welche Details in einem solchen Fall von Bedeutung sind und formuliert ganz klar und unmissverständlich, was er gesehen hat.

Als er damit fertig ist, bedankt sich Kommissarin Brügge und bittet die drei, ihren Weg fortzusetzen und sich aus der Umgebung des Tatortes zu entfernen.

Wortlos nehmen sie ihre Fahrräder und fahren auf dem langen geraden Waldweg davon.

Die Kommissarin fasst die Schülerin an die Hand und beide nähern sich dem Tatort. Der grausame Anblick erschüttert sie. Währen die Kommissarin einmal tief durchatmet, bekommt die Polizeischülerin Christa weiche Knie und sackt förmlich in sich zusammen. Schon liegt sie bewusstlos auf dem moosbewachsenen Waldboden. Ein Sanitäter, der in der Nähe steht und sieht, wie die junge Frau umfällt eilt gleich auf sie zu. Da streckt Brügge ihren Arm aus und spricht den Sanitäter an:

„Bitte warten Sie einen Moment, sie ist nur ohnmächtig, aber solche Situationen werden ihr zukünftiger Alltag sein. Da muss sie durch!“

Kommissarin Brügge beugt sich zu ihr herunter und schlägt mit beiden Händen der Ohnmächtigen rechts und links vorsichtig auf die Wangen und sagt:

„Aufwachen, Christa, es gibt Arbeit. Komm, steh auf und beschreibe mit deinen Worten ganz genau, was du siehst!“

Der Sanitäter entfernt sich wieder und geht näher an die Leiche heran. Die Schülerin richtet sich auf und beginnt:

„Auf dem Waldboden liegt eine leblose männliche Person, geschätztes Alter zwischen 50 und 60 Jahre. Er trägt dunkelblaue, leicht schmutzige Jeans, die aber bis kurz über seine Knie heruntergezogen sind, ein Turnhemd und darüber, halb aufgeknöpft ein grünbraun groß kariertes Oberhemd.

Sein Geschlechtsteil ist mit einem grau-blauen Slip bedeckt, seine Hände sind mit einem Kabelbinder gefesselt und befinden sich unter seinem Rücken. Ebenso sind seine Füße mit einem Seil sehr fest verbunden, da man dort noch Abdrücke des Seils auf der Haut erkennen kann.

In seinem Unterbauch, etwa 10 cm unter seinem Bauchnabel, steckt ein etwa 5–6 cm dicker Pfahl in seinem Körper. Der Pfahl hat die Bauchhaut so weit aufgerissen, dass man sogar Teile des Darms sehen kann. Der Pfahl ist oben verformt, weil man mit einem harten Gegenstand offensichtlich mehrfach darauf geschlagen hat. Bei genauerem Hinsehen entdecke ich, dass mit Kugelschreiber auf die Längsseite des Pfahls Namen geschrieben wurden. Ich lese: Hansi und dahinter ist ein Kreuz gezeichnet, dann steht da Susi und ebenfalls ein Kreuz, dann Lisa mit einem Fragezeichen dahinter und schließlich noch der Name Gitte, aber ohne ein zusätzliches Zeichen.“

Kommissarin Brügge lobt die Schülerin für ihre detailgetreue Beschreibung. Dann tritt ein älterer Mann an den Leichnam, zieht das Thermometer heraus, das er ihm vorher unter die Achsel eingestochen hat und liest die Temperatur ab. Als der Pathologe, Dr. Edgar Linde von dem kuriosen Leichenfund erfahren hatte, ließ er es sich nicht nehmen, zusammen mit den Mitarbeitern der KTU zum Tatort zu fahren. Das war gut so, denn gerade stellt er mit seinem elektronischen Einstichthermometer fest, dass die Körpertemperatur von 35 °C darauf schließen lässt, dass das Massaker erst vor etwa drei Stunden stattgefunden haben muss.

Dann kniet er sich wieder dicht neben die Leiche und versucht, den Pfahl zu entfernen. Dieser steckt aber nicht nur in dem menschlichen Körper, sondern auch in dem Waldboden darunter. Deshalb rutschen seine Handschuhe immer wieder ab, weil er mit Leibeskräften versucht den Pfahl zu entfernen, wobei er ihn dabei leicht hin und her bewegt. Schließlich gelingt es ihm und der Marterpfahl wird zusammen mit der Leiche von zwei Bestattern in eine Transportwanne gelegt. Kommissar Kunze, der zusammen mit Kommissarin Brügge und der Polizeischülerin gekommen ist, hatte aus Erfahrung sofort die Bestatter von dem neuen Vorfall in Kenntnis gesetzt und diese zum vermutlichen Tatort gebeten.

Die Wanne wird in das Fahrzeug geschoben und in die Gerichtsmedizin gebracht. Dr. Linde nimmt die Gelegenheit wahr und fährt mit. Dort wird er sich die Leiche genau und gründlich ansehen, um einen sachlich gut fundierten Befund zu erstellen.

Hier am vermeintlichen Tatort beginnen die Kollegen der KTU zusammen mit den Kommissaren Spuren und Beweisstücke zu sichern. Sie stellen aber schnell fest, dass der Fundort mit Sicherheit nicht der alleinige Tatort ist. Es sind jedoch weder Schleifspuren noch Fahrzeugspuren zu finden. Man nimmt daher an, dass die gefesselte Person hierher getragen wurde. Bei einem geschätzten Körpergewicht von 80 - 95 kg dürfte es für eine Person zu schwer gewesen sein, sodass eine weitere geholfen haben muss.

Dem äußerst gründlichen Suchen der Kommissare ist es zu verdanken, dass im Gebüsch und in der Umgebung Abdrücke von Pferdehufen auszumachen sind. Daraus schlussfolgern sie, dass sehr wahrscheinlich die Leiche auf einem Pferd hierher gebracht wurde. Leider verlieren sich die Hufspuren, weil der Boden in der Umgebung sehr fest ist.

Aber die raffinierten Fahnder werden ein zweites Mal fündig, indem sie im Gebüsch ein Beil entdecken, dessen Klinge in den vergangenen Tagen noch nachgeschärft wurde. Allein mit bloßem Auge ist noch keine Spur von Rost zu entdecken. Jedoch genauere Aussagen erhofft man sich von der Untersuchung im Labor der KTU.

Nachdem sie glauben, alle Spuren gefunden und gesichert zu haben, verlassen sie wieder den Tatort und fahren zurück zur Polizeistation Bad Homburg von der Höhe.

Hier werden die beiden Kommissare und die Schülerin von Oberkommissar Rolf Wulff sehnsüchtig erwartet.

In seinem Büro nehmen sie Platz und berichten von dem Geschehen. Es wird auch erwähnt, dass noch nicht klar ist, ob es sich um einen oder mehrere Täter handelt. Sicher ist aber, dass als Tatbeteiligter ein Pferd in Betracht gezogen werden muss. Möglicherweise kommen sie damit an die Täter.

Wegen der Schwere des Verbrechens und der besonderen Brutalität müssen Fragen in vielfältiger Weise beantwortet werden. Dazu gründet der Oberkommissar eine Sonderkommission „Pferd“ und benennt folgende Kollegen als Mitarbeiter dieser SOKO:

Kommissarin Miriam Brügge

Kommissar Klaus Kunze

Kommissar Fritz Becken und

Kommissar Jürgen Kröger.

Als Gast: Polizeischülerin Christa Hanke.

Fritz bemerkt kess:

„SOKO ‚Schaschlik‘ hätte auch gepasst.“

Rolf:

„Fritz, ich muss doch sehr bitten. Ein wenig Pietät muss sein. Es bleibt beim Pferd!

Die SOKO trifft sich Montag früh um 8:00 Uhr im Konferenzraum. Das war es für heute und jetzt geht nach Hause.“

Dieses Team hat schon in gemeinsamer Arbeit einige Kriminalfälle gelöst. Die junge Kommissarin Brügge ist erst seit zwei Jahren bei Rolf, doch sie hat in kurzer Zeit bewiesen, dass sie eine hervorragende Polizistin ist. Man merkt es ihr nicht an, dass sie eine kritische Kindheit hinter sich hat. Beide Elternteile waren stark dem Alkohol verfallen und so wurde das Kind bereits im Alter von fünf Jahren durch das Jugendamt aus seinem Elternhaus entfernt und kam in ein Heim. Das Mädchen hat sich dort schnell ein Lebenskonzept ersonnen und es mit eiserner Selbstdisziplin realisiert. In dieser Polizeistation lernte die junge Frau bei häufiger Zusammenarbeit ihren Kollegen Klaus Kunze besser kennen. Schließlich werden beide ein Paar, leben aber noch in getrennten Wohnungen.

Während Miriam Brügge in Bad Homburg im Viktoriaweg 111 eine kleine Wohnung gemietet hat, lebt Klaus in einer geräumigen Wohnung im 1. Obergeschoss eines Altbaues

Der erfolgreichen Klärung eines Verbrechens ist es zu verdanken, dass sie auf rein privater Basis ein Ehepaar näher kennenlernte. Es entwickelte sich auf beiden Seiten ein hohes Maß an Sympathie, das darin gipfelte, dass die junge Miriam Brügge von den Eheleuten Prof. Dr. Rieckmann adoptiert wurde. Nicht nur Miriam, sondern auch Kommissar Klaus Kunze waren von der Entscheidung der Eheleute sehr überrascht und glücklich. Plötzlich und unerwartet boten sich dem jungen Paar fantastische Zukunftsperspektiven, da finanzielle Fragen in den Hintergrund gerieten.

Kommissar Klaus Kunze ist 36 Jahre alt und ein ausgezeichneter Polizist, immer korrekt und hilfsbereit. Mit seinen Urteilen ist er etwas zurückhaltend und bedenkt auch Aspekte, die nicht offenkundig sind. So passt er optimal zu der agilen Miriam, indem sich beide gut ergänzen. Ihre Büroräume grenzen aneinander und sind nur durch eine Leichtbauwand getrennt, in die sinnigerweise auch eine Tür eingebaut wurde.

Kommissar Fritz Becken ist 28 Jahre alt. Er besitzt eine abgeschlossene Lehre als Elektriker, der die Ausbildung auf der Polizeischule folgte. Seit einem Jahr untersteht er Oberkommissar Rolf Wulff. Fritz Becken ist ein Mann der Praxis, der sich vor langen Diskussionen scheut und daher schnell zum Ziel kommt. Gelegentliche kleine Flüchtigkeitsfehler korrigiert er problemlos.

Kommissar Jürgen Kröger ist 31 Jahre alt und ein gutes Gegenstück zu Fritz. Er ist gewissenhaft und jede Entscheidung bedarf bei ihm einer gewissen Zeit. Zusammen mit Fritz Becken sind sie ein gutes Team, die sich hervorragend gegenseitig ergänzen.

Auch er kann eine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen, die er als Bautischler absolviert hat. Im beruflichen Alltag eines Polizisten zeigt es sich immer als Vorteil, wenn man auf eine gewisse Berufspraxis verweisen kann.

Kapitel 2

Pünktlich um 8:00 Uhr versammelt sich die neu gegründete SOKO ‚Pferd‘ im Konferenzraum. Kommissar Wulf kommt gleich zur Sache:

„Liebe Kollegin, liebe Kollegen! Ich brauche doch sicher nicht zu betonen, dass auch ich von diesem brutalen Mord noch immer betroffen bin. Wir haben schon viel erlebt, doch diese Art, einen Menschen zu strafen, erfahre ich in meiner gesamten Dienstzeit zum ersten Mal. Es ist aber eine sehr alte Methode, Delinquenten zu bestrafen. Die ältesten Hinweise auf die Strafe des Pfählens sind bereits im Jahr 1700 vor Christus oder im ägyptischen Strafrecht zu finden. Es wurden sowohl Männer als auch Frauen derart gequält, dass ein geölter Pfahl in entsprechende Körperöffnungen eingerammt wurde, bis er an der Brust wieder austrat. Wir sehen, bereits vor mehr als 3000 Jahren waren dem Einfallsreichtum des Tötens keine Grenzen gesetzt. Aber bleiben wir sachlich und fangen an. Welche Fragen sind als Erstes zu klären?“

Miriam Brügge meldet sich zu Wort:

„Also streng genommen, wissen wir noch gar nichts. Wir kennen weder den Namen des Mannes, noch wissen wir, ob er überhaupt in unserem Amtsbereich wohnhaft ist. Ebenso wenig ist uns über den oder die Täter bekannt. Lediglich vermuten wir, dass ein Pferd als Mittäter, wenn man so sagen darf, infrage kommt. Doch bei aller Unklarheit sollten wir versuchen, mehr über den Toten zu erfahren. Vielleicht gehört er schon zu den gesuchten Personen oder er wird an einem unbekannten Ort vermisst. Am besten wäre es, nach ihm per Foto in öffentlichen Medien zu fahnden.“

Diese Art, Dinge unverhüllt beim Namen zu nennen, ist typisch für die noch junge Kommissarin. Miriam Brügge ist erst vier Jahre in dieser Polizeistation tätig und genießt vom ersten Tag an die Sympathie all ihrer Kollegen. Ihre offene, ehrliche Art und die bedingungslose Hilfsbereitschaft machen sie liebenswert. Dennoch ist sie bis heute ungebunden und übt in ihrer Freizeit verschiedene Sportarten aus. Einmal wöchentlich nimmt sie teil am Training der Kampfsportgruppe der Polizeistation.

Über ihr Privatleben spricht sie fast nie, doch es ist bekannt, dass sie zwar mit Klaus Kunze liiert ist, doch noch immer in ihrer kleinen Wohnung allein lebt. Nur gelegentlich trifft sie sich mit Freundinnen, die nicht zu ihrer Berufsgruppe gehören, geht aus und feiert manchmal sogar ausgelassen.

Aber auch dabei bleibt sie sich treu, wenngleich sie liebend gern flirtet. Sie passt jedoch auf, dass sie keinem jungen Mann Hoffnungen macht, die sie nicht erfüllen kann oder auch nicht möchte. Dennoch oder vielleicht gerade wegen dieser disziplinierten Haltung ist sie in ihrem Freundeskreis stets willkommen. Dass Miriam unter keinen Umständen zu einer Droge greifen oder sich zu einem einmaligen Versuch verleiten lassen würde, steht außer Frage.

Rolf greift Miriams Vorschlag auf und überträgt Fritz Becken den Auftrag, sich mit Dr. Linde von der Gerichtsmedizin in Verbindung zu setzen, damit er ein Foto bekommt, das man auch veröffentlichen kann. Es soll in verschiedenen Tageszeitungen und im Fernsehen gezeigt werden.

Damit erhoffen sie sich einen Erfolg, vielleicht den Namen und den ehemaligen Aufenthaltsort des Toten zu erfahren.

Kommissar Jürgen Kröger greift das nächste Problem auf:

„Wir wissen doch, dass auf dem Pfahl mit einem Kugelschreiber Namen geschrieben waren. Mir fiel auf, dass fast alle mit einem ‚i‘ enden. Sollte es sich um Namen von Kindern handeln, denen er vielleicht Leid zugefügt hat? Auch diese Kinder oder Personen müssen wir versuchen zu finden. Mir ist aber momentan nicht klar, wie wir das anstellen könnten.“

Rolf:

„Wir müssen nachforschen, ob Personen mit diesen oder ähnlichen Vornamen vermisst werden. Das ist eine Aufgabe für dich, Klaus.

Erst wenn wir den Namen des Toten kennen, wird es uns möglich sein, seinen Aufenthaltsort herauszufinden oder, wenn er uns bereits bekannt ist, diesen gründlich zu untersuchen.

Nun hat jeder seine Aufgabe und wir beenden damit die erste Zusammenkunft der neuen SOKO.“

Während seine Mitarbeiter den Konferenzraum verlassen, lehnt Rolf sich kurz zurück und erweckt damit den Anschein, intensiv nachzudenken.

Oberkommissar Wulff hat noch zehn Jahre vor sich, bevor für ihn das Rentendasein beginnt. Allerdings kann er es sich nicht vorstellen, ganz ohne Betätigung zu sein. Er ist zwar ein hervorragender Familienvater und Ehepartner und tut alles, damit es seinen Lieben gut geht, doch das allein wird ihn wahrscheinlich nicht ausfüllen.

Fritz hat inzwischen recherchiert, welche Tageszeitungen im Taunus und dem näheren Umfeld verlegt und gelesen werden. Er findet den Taunus Wochenblick, das Frankfurter Wochenblatt, die Hanauer Wochenpost und last, not least die Taunus-Nachrichten.

Weil er nichts unversucht lassen will, setzt er sich mit den Redaktionen dieser Zeitungen in Verbindung. Man verspricht ihm, diese polizeiliche Suchmeldung in den jeweils nächsten Ausgaben zu veröffentlichen. Seinem kurzen Text fügt er das Foto hinzu, das er bei Dr. Linde in der Gerichtsmedizin aufgenommen hatte.

Ein wenig später klingelt bei Fritz das Telefon und eine freundliche Frauenstimme meldet sich:

„Hallo, hier spricht Jutta Taube von den Taunus Nachrichten. Sie hatten uns soeben eine polizeiliche Suchmeldung übersandt. Wir danken Ihnen dafür, doch ich habe dazu noch eine persönliche Bemerkung, die für Sie nicht uninteressant sein wird. Ich hatte vor einiger Zeit, genau genommen am 4. Februar in der ‚Taunus Zeitung, Ausgabe für Königstein gelesen, dass ein Frührentner einen Fünfer im Lotto erzielt hat, mit einem Wert von 364.000 EUR. Dazu war sein Foto abgebildet und es ist die gleiche Person, deren Bild Sie uns eben geschickt haben. Ist das nich sonderbar?“

„Danke zunächst Frau Taube für Ihre Bereitschaft, unsere Suchmeldung zu veröffentlichen. Aber auch ich empfinde es als komisch, dass unsere gesuchte Person ein Lottogewinner sein soll. Noch fragwürdiger finde ich aber Ihre Behauptung, dass Sie sich an das Datum erinnern können und auch an die abgebildete Person.“

„Klar klingt das etwas eigenartig, wenn man über Monate hinweg ein Datum und das Foto einer bestimmten Person im Kopf hat. Doch dafür gibt es einen ebenfalls kuriosen Grund, der zugleich ein Zufall ist. Mein Vater hat am 4. Februar Geburtstag und er sieht genau so aus, wie der abgebildete Mann, dessen Foto Sie uns geschickt haben. Allerdings wird mein Vater nicht polizeilich gesucht, denn er ist leider schon vor drei Jahren verstorben.“

„Frau Taube, wenn dem so ist, werde ich mich sofort mit der Lokalredaktion der ‚fnp‘, Ausgabe für Königstein in Bad Homburg in Verbindung setzen. Ich danke Ihnen für Ihre Mitarbeit. Auf Wiederhören!“

Das alles empfindet Kommissar Fritz Becken als recht seltsam, doch unmöglich ist gar nichts. Also bleibt ihm nur die naheliegende Lösung, sich persönlich bei der Redaktion zu melden.

Er informiert Rolf nur mit wenigen Worten, setzt sich in sein Auto und fährt zu besagter Lokalredaktion. Dort trifft er auf die schwarzhaarige Hanna Lichte, die sich ihm als Lokalredakteurin vorstellt. Fritz sieht man nicht an, dass er Polizist ist und er sagt es aus gutem Grund auch nicht, sondern stellt sich einfach als Fritz Becken vor.

„Mein Herr, was kann ich für Sie tun?“

„In der Ausgabe für Königstein stand am 4. Februar die Meldung, dass ein Frührentner einen Fünfer im Lotto erzielt hat. Ich hätte gern gewusst, wo ich mich mit diesem Glückspilz unterhalten kann.“

„Ich ahne schon, Sie wollen wissen, welche Zahlen er gesetzt hat, weil Sie klamm sind und auch gern einen Fünfer im Lotto hätten. Oder etwa nicht?“

„Nein, weder bin ich schwach bei Kasse noch will ich seine Zahlen wissen, da ich meine eigenen habe. Aber ich möchte etwas anderes von ihm erfahren. Also, können Sie mir sagen, wo der Glückliche wohnt?“

„Ja, das könnte ich zwar, doch ich tue es nicht, weil es gemäß einer internen Festlegung nicht erlaubt ist.“

„Dann möchte ich einen Leserbrief verfassen und darin den Herrn um ein Treffen bitten, weil ich für ihn Neuigkeiten habe.“

„Mein Herr, das geht schon gar nicht. Der Platz in unserer Zeitung ist sehr gefragt und fast immer mit eigenen Beiträgen belegt.“

„Das glaube ich Ihnen nicht, weil ich kürzlich einen privaten Bericht über eine Eigenentwicklung eines Bastlers gelesen habe, in dem er einen elektrisch beheizten Bienenkorb vorstellt. Warum war das denn möglich?“

„Das ist ganz einfach eine Sache der Ökonomie. Der Besagte war hier bei meiner Kollegin und stellte seinen Artikel vor. Da musste sie ihm sagen, dass leider gerade an der Stelle, wo sein Artikel hinpassen könnte, ein redaktioneller Beitrag meiner Kollegin stehen soll. Allerdings wäre sie bereit, ihren eigenen Artikel später einzusetzen, wenn sie dazu einen kleinen materiellen Anreiz bekäme. Das hat er verstanden und es fielen aus seiner Geldbörse versehentlich vier Scheine. Der Beitrag erschien in der nächsten Ausgabe. War das klar genug, für Sie als Erläuterung?“

„Junge Dame, dann besorge ich mir über meinen Anwalt eine richterliche Verfügung und schon bekomme ich den Namen des Lottogewinners!“

„Junger Mann, die ‚junge Dame‘, mit der Sie mich netterweise bezeichnen, hat nämlich vor ihrer Anstellung bei der Zeitung zwei Semester Jura studiert und weiß sehr genau, wann es eine richterliche Verfügung geben kann und wann nicht.

Aber wenn Sie mich für ein Wochenende nach Paris einladen, fällt mir bestimmt der Name des Lottogewinners ein und auch seine Adresse.

Wenn Sie mich bitte entschuldigen könnten, ich habe noch wichtigere Angelegenheiten zu erledigen.“

„Guten Tag!“

knallt Fritz ihr an den Kopf und sie zwitschert ihm ein melodisches

„Auf Wiedersehen!“

entgegen. Schnell setzt er sich in sein Auto und saust zurück zur Polizeistation. Dort stürmt er gleich zu Jürgen ins Büro, bei dem auch sein Kollege Klaus Kunze sitzt.

Fritz beginnt sofort, von seiner Odyssee zu berichten. Seine Kollegen hören sich das alles in Ruhe und Gelassenheit an. Dann stellt Jörg eine Frage:

„Sag mal Fritz, war das die Kleine mit schwarzen

Haaren?“

„Ja, warum?“

„Ich wollte auch einmal einen Beitrag loswerden, in dem ich von meinem Erfolg berichtete, für Ostern in meinem Schrebergarten Kaninchen mit dottergelben Fell gezüchtet zu haben.“

„Und ist der Artikel erschienen?“

„Ja!“

„Wie teuer?“

„Ein Wochenende in Kopenhagen!“

„Ok, ich habe verstanden!“

Fritz hat es klugerweise sein lassen, Rolf nach einer richterlichen Verfügung zu bitten. Er rief stattdessen noch einmal die Redakteurin an und sagte:

„Ok, Freitag früh hole ich Sie ab und am Sonntagabend sind wir wieder aus Paris zurück. Wo darf ich Sie abholen?“

„Du kannst doch schon am Donnerstagabend kommen und wir fahren am Freitag früh gemeinsam los.“

„Auf gar keinen Fall. Also wo darf ich Sie Freitag früh abholen?“

„Königstein, Klosterstraße 4. - Oh, Gott, das wird bestimmt eine Trauerfahrt. Soll ich gleich in ‚schwarz‘ kommen?“

Um alles perfekt zu machen, geht Fritz zu Rolf:

„Ich hätte gern am Freitag einen Urlaubstag aus privat-dienstlichen Gründen.“

Rolf stutzt:

„Also was nun: privat oder dienstlich?“

„Privat!“

„Genehmigt!“

Nach Dienstschluss setzt sich Fritz zu Hause sofort an den PC und sucht sich die Fahrstrecke nach Paris heraus. Für den Rest des Abends ist er damit beschäftigt, ein kleines Tagesprogramm für den Kurzurlaub zusammenzustellen. Es fällt ihm nicht leicht, zumal er weder die Frau noch die Stadt Paris kennt. Alles wird ein gewagtes Unterfangen.

Es ist Freitag, 5:00 Uhr in der Frühe. Das Smartphone reißt Fritz aus dem Tiefschlaf, denn von der Nacht blieb zum Schlafen nicht viel übrig. Drei Tage mit einer fremden Frau in Paris erfordern eine gründliche Vorbereitung. Die Fahrtroute hat er sich bereits angesehen und erfahren, dass es knapp 600 km sind, die er in sieben Stunden bewältigen will. Für ein Hotel wollte er sich noch nicht entscheiden, denn dazu sollte sich seine Reisebegleiterin äußern dürfen. Wie sich schließlich der Aufenthalt dort gestalten wird, werden beide vor Ort entscheiden.

Die französische Hauptstadt Paris ist mit gut zwei Millionen Einwohnern eine der bedeutendsten Großstädte Europas und zählt zu den führenden Zentren für Kunst, Mode, Gastronomie und Kultur weltweit. Das Stadtbild ist geprägt von der Architektur des 19. Jh. sowie von breiten Boulevards und der Seine. Fritz weiß aber schon, welche Höhepunkte ihm nicht entgehen sollten: Der Eiffelturm mit über 300 m Höhe, die gotische Kathedrale Notre-Dame, soweit sie nach dem verheerenden Feuer wieder hergestellt ist und was Frauen mit Sicherheit faszinieren wird, sind die Modeboutiquen in der Rue du Faubourg Saint-Honoré.

Er ist schon sehr gespannt, worauf er sich da eingelassen hat. Die nahe Zukunft wird es ihm zeigen.

Kapitel 3

Wie jeden Tag sind an diesem Montag bereits um 8:00 Uhr alle Mitarbeiter von Oberkommissar Wulff an ihren Arbeitsplätzen. Auch Fritz Becken ist pünktlich, obwohl er gelegentliches Gähnen nicht zurückhalten kann.

Rolf beginnt das Meeting und kommt auch gleich zur Sache:

„Na Fritz, was hat denn der privat-dienstliche Urlaubstag ergeben?“

„Ich hatte mich auf vollkommen privater Basis mit der jungen Journalistin zu einem Wochenendtrip nach Paris verabredet. Nachdem das Eis aufgetaut war, fing ich wieder an, nachzufragen, ob ihr denn nicht der Name des Lottogewinners einfällt. Da benahm sie sich plötzlich recht vernünftig und sagte ohne bissige Bemerkung, dass es ein ziemlich alter Vorname war, der sie an gewisse Gartengewächse erinnerte. Nun fing ich an, von Apfel bis Zucchini alles aufzuzählen und ließ auch die unzähligen Büsche nicht aus. Als ich schließlich bei der Johannisbeere angekommen war, rief sie:

„Stopp. Ich erinnere mich schwach, es war ; Johannes.“

Was ich aber sonst noch von dem eigenartigen Ausflug mitbringe, ist der Name des Journalisten Björn Koogmann, der den Lottogewinner damals interviewt hat. Bedauerlicherweise war er aber einer Coronainfektion zum Opfer gefallen und leidet noch immer an einem Long Covid. Um sich auskurieren zu lassen, befindet sich der genesende Reporter in der Reha-Klinik in Bad Nauheim.“

Rolf:

„Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen: Fritz, dein heutiges Tagesziel ist es, Koogmann aufzusuchen und ihn zu befragen, wer der Mann war, der das Lottoglück nach Hause getragen hat. Jürgen, du fährst mit. Für dieses Vorhaben erhaltet ihr ‚grünes Licht‘“.

Bereits kurz nach acht Uhr sitzt Fritz in seinem Dienstwagen und neben ihm, so hat es Rolf gewünscht, hat sein Kollege Jürgen Kröger Platz genommen.

Die Fahrt von Bad Homburg bis nach Nauheim dauert nur eine halbe Stunde. Aber die Zeit vergeht schneller, als es Jürgen gewünscht hat, denn nun ergibt sich eine passende Gelegenheit, Fritz förmlich auszuquetschen, wie sich sein erstes Liebesabenteuer in Frankreich entwickelt hat.

Unentwegt bohrt Jürgen und interessiert sich selbst für kleinste Details, zumal er nicht weiß, ob er sich einmal selbst in eine ähnliche Situation hinein manövriert. Vor der Klinik angekommen, atmet Fritz tief durch und parkt den Dienstwagen am Rande des großen, langgestreckten Parkplatzes in der Parkstraße.

Weil Bad Nauheim reich an heilkräftigen Quellen ist, erhielt es den Beinamen ‚Gesundheitsstadt‘. Die Anerkennung als Heilbad hat die Stadt schon seit 1869.

Beide Kommissare betreten die Empfangshalle des gewaltigen Gebäudes und erkundigen sich bei einer Dame an der Rezeption, wo sie einen Herrn Koogmann antreffen könnten. Da sagt sie ihnen:

„Bitte nehmen Sie in einer unserer gemütlichen Nischen Platz. Ich werde den Herrn Koogmann informieren, dass er hier von Ihnen erwartet wird.“

Es dauert nicht lange, da kommt in flottem Schritt ein Herr mit grau meliertem Haar auf die Kriminalbeamten zu und stellt sich vor. Das erwidern die Kommissare. Herr Koogmann setzt sich zu ihnen und beginnt:

„Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie mich in einer Klinik aufsuchen müssen und ich mich noch dazu in einem so desolaten Gesundheitszustand befinde. Aber an einem unbekannten Ort hatte ich mir diesen Coronavirus eingefangen und lag drei Wochen darnieder. Jetzt sollte man annehmen, es sei alles vorbei, doch das ist es nicht. Bezogen auf meinen Geist trifft es aber traurigerweise zu. Aber ich will Sie nicht mit meinen Wehwehchen konfrontieren, denn Ihr Kommen hat gewiss einen anderen Grund.“

„Ja, Herr Koogmann, so ist es. Uns ist bekannt, dass Sie einmal die Ehre hatten, einen Lottogewinner zu interviewen. Wir hätten gern gewusst, wer der Glückliche war und wo er wohnt. Können Sie uns dazu etwas sagen?“

„Ich erinnere mich schwach, dass ich in einem Café einem ungepflegt aussehenden Mann gegenübersaß, dessen Fingernägel schwarze Ränder hatten oder dass sich Schmutz darunter festgesetzt hatte. Wir sprachen über Geld und Anlagemöglichkeiten. Mein Gegenüber wiederholte immer wieder den Satz:

„Endlich beginnt das schöne Leben!“

Aber beim besten Willen kann ich mich nicht an seinen Namen erinnern und auch nicht an das Café, in dem wir uns verabredet hatten. Doch immer, wenn ich an dieses Treffen denke, fällt mir das Wort „Kirche“ ein. Aber ich kann mir nicht erklären, warum. Sicher weiß ich nur noch, dass mir der Wiener Apfelstrudel gut geschmeckt hat.

Noch ist meine eigene Vergangenheit wie hinter einem Nebelschleier versteckt. Nur kleine Lichtblicke gelingen mir und ergeben auch nur ein unvollständiges Puzzle. Das ist eine der vielen Erscheinungsformen des Long Covid. Eigentlich ist es deprimierend, wenn ich für Rechenaufgaben des kleinen Einmaleins das Smartphone strapazieren muss.

Meine Herren, es tut mir aufrichtig leid, dass ich Ihnen nicht mehr Informationen bieten kann, aber schon wieder spüre ich, dass mir kalt wird und das bedeutet Schwäche. Leider muss ich mich verabschieden und mich zurückziehen. Alles Gute für Ihre Ermittlungsarbeit oder was Sie gerade tun. Auf Wiedersehen!“

„Herr Koogmann, bevor Sie uns verlassen, würde ich gern ein Foto von Ihnen machen. Ist das für Sie in Ordnung?“

„Aber natürlich, tun Sie alles, was der Wahrheitsfindung dient.“

Die beiden Polizisten sind dennoch vom plötzlichen Abbruch der Unterhaltung überrascht und verabschieden sich von dem kranken Herrn Koogmann.

Schnell sind sie wieder aus Bad Nauheim zurück und brennen darauf, Rolf von dem Besuch und den gewonnenen Erkenntnissen zu berichten.

Aber schon, nachdem Fritz die ersten Sätze ausgesprochen hat, stoppt ihn Rolf und meint, dass das gesamte Team der SOKO es erfahren sollte. Auf seinem speziellen ‚kurzen Dienstweg‘ wissen alle, dass er sie in 10 Minuten im Konferenzraum zu einer SOKO-Sondersitzung erwartet. Unverzüglich kommen sie zur Tür hereingestürzt und nehmen Platz.

Rolf beginnt:

„Fritz und Klaus sind gerade aus Bad Nauheim zurück und haben mit Koogmann gesprochen. Klaus wird euch in Kürze die wesentlichen Fakten nennen.“

„Koogmann ist infolge seiner Long Covid sehr angeschlagen, konnte aber einiges berichten:

Der Lottogewinner Johannes ist ein ungepflegter Mensch mit schwarzen Fingernägeln

Koogmann erinnert sich an ein Treffen mit ihm in einem Café, das ihn an eine Kirche erinnert

Er erinnert sich ferner, in diesem Café einen vorzüglichen Apfelstrudel gegessen zu haben.“

Rolf:

„Das sind schon einmal drei wichtige Fakten, die uns weiterhelfen können. Allerdings tue ich mich schwer, das Wort „Kirche“ in einen Zusammenhang mit „Wiener Apfelstrudel“ und einem Café zu bringen.“

Miriam:

„Meines Wissens wird nur in wenigen deutschen Cafés der Wiener Apfelstrudel angeboten. Wäre das nicht ein Hinweis, in dem vermuteten Umkreis nach einem Café zu suchen, das dieses Gebäck anbietet?“

Jürgen Kröger:

„Also, wenn ich meine Augen schließe und das Wort ‚Kirche‘ höre, fallen mir folgende Attribute ein: Kalte Füße, großer Raum, Echo und Widerhall, hohe Decke, ungestörte Stille.“

Fritz:

„Da gebe ich dir recht, Jürgen, aber ich muss dazu nicht die Augen schließen!“

Klaus:

„Jetzt kommt mal langsam auf den Punkt: Wir suchen eine Art ‚Wiener Caféhaus‘, mit einem großen Raum und einer ziemlich hohen Decke. Es ist wenig besucht und es gibt Apfelstrudel.“

Rolf:

„Klaus, du recherchierst bitte, wo es ein solches Café gibt kann und außerdem gehst du einige Melderegister durch, um herauszufinden, ob an beliebiger Stelle ein Mann mit dem Vornamen ‚Johannes‘ eingetragen ist.

Miriam, du begibst dich in die Gerichtsmedizin und verfolgst mit Dr. Linde die Untersuchung der Leiche.

So, Leute, nun frisch ans Werk!“

Damit ist auch schon die Sondersitzung beendet und alle verlassen den Konferenzraum, um die abrupt abgebrochene Arbeit fortzusetzen.

In der Gerichtsmedizin hat sich bereits Miriam häuslich niedergelassen und ihr Tablet mitgebracht. Sie benützt es gern, um damit Fotoaufnahmen zu machen, die sie dann gleich kommentieren kann. Diese Vorgehensweise hat sich bei ihr schon mehrfach gut bewährt.

Nun aber beobachtet sie Dr. Linde, der ohne viel zu sagen, sich ganz genau den leblosen Körper anschaut, als würde er ihn rastern. Keine auch noch so kleine Stelle lässt er aus. Besonders sucht er nach Einstichen, denn er vermutet, dass das Opfer betäubt worden ist. Diese Vermutung hat auch Miriam und fragt deshalb nach:

„Herr Dr. Linde .....“

Weiter kommt sie nicht, denn er unterbricht sie:

„Frau Brügge, Sie sind zwar eine Frau, doch da ich wesentlich älter bin, lassen es die Regeln guten Benehmens zu, dass ich Ihnen das ‚Du‘ anbiete. Ich bin ‚Edgar‘ oder ganz einfach ‚Edi‘, wie gute Freunde zu mir sagen.“

„Danke, Edi, ich bin Miriam und eine kürzere Form hat noch keiner gefunden.

Edi, nun habe ich folgende Überlegung:

Dem Mann hatte man die Füße und Hände gefesselt. Dabei lagen die mit Kabelbinder zusammengebundenen Hände hinter seinem Rücken, als wir ihn antrafen. Den Marterpfahl hatte man ihm in den Bauch gerammt. Das dauert einige Sekunden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dabei bei vollem Bewusstsein war, dagelegen und die Schmerzen erduldet hat. Sonst hätte eine Person ihm seine Schultern nach unten drücken, eine zweite Person die Füße festhalten und eine dritte Person den Pflock halten und eine vierte Person hätte die wuchtigen Schläge ausführen müssen. Oder wie denkst du darüber?“

„Miriam, ich gebe dir recht. Diesen unsagbaren Schmerz auszuhalten, wenn man einen angespitzten Holzpfahl in den Bauch gerammt bekommt, ist bei vollem Bewusstsein nicht vorstellbar. Ich werde daher eine Blutprobe auf Narkotika hin untersuchen lassen.

Allerdings muss die Wirkung nachgelassen haben, als der Spaziergänger diesen gellenden Schrei vernommen hat. Schließlich ist der Tod durch den immensen Blutverlust eingetreten, der letztlich zu einem Herzstillstand geführt hat.“

„Edi, bei der Zusammenkunft der SOKO, die gerade vorhin endete, berichteten die Kommissare Fritz und Jürgen, dass der Journalist Koogmann bei einem Treffen mit dem Lottogewinner einem ungepflegt aussehenden Mann mit schmutzigen Fingernägeln gegenübergesessen hat. Wenn ich mir aber die Leiche anschaue, liegt hier ein hervorragend gepflegter Mensch, mit sauberen Fingernägeln und ordentlicher Frisur. Mehr oder weniger passt das nicht zusammen.

Es sieht ganz und gar nicht so aus, als wäre es die Person, die den Lottogewinn empfangen hat.“

„Miriam, ich sehe es auch so. Doch kann ich mir genauso gut ein anderes Szenario vorstellen: Der Lottogewinner hat Angst, mit dem übergebenen Geld überfallen zu werden und schickt einen Komplizen, der nicht so aussieht, wie ein Mann mit Geld.“

„Edi, kann sein. Aber wenn ich jemanden bitte, für mich eine solche hohe Summe in Empfang zu nehmen, dann muss ich zu dieser Person in einem sehr zuverlässigen Vertrauensverhältnis stehen. Ich kann mir keine solche Beziehung zwischen diesen beiden unterschiedlichen Typen vorstellen.“

„Miriam, ist es denn tatsächlich so, dass dem Gewinner im Café diese hohe Summe in Form von Bargeld übergeben wurde? War es vielleicht auch nur ein Scheck? Bitte kläre das ab!“

Miriam bittet um eine kurze Pause, denn sie sieht noch einmal auf ihrem Tablet nach, was bezüglich des Lottogewinns gesagt wurde. Da stellt sie fest, dass es nicht um die Übergabe eines Lottogewinns ging, sondern um ein Interview mit dem Gewinner. Sie hatte sich einfach geirrt.