Sein oder Nichtsein - Klaus Pohl - E-Book
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Sein oder Nichtsein E-Book

Klaus Pohl

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Beschreibung

»Ist dieses Buch ein Theaterroman? Natürlich, aber weit mehr! Ist dieses Buch ein Liebesroman? Auch das. Ist dieses Buch ein Tagebuch, eine Komödie, eine Tragödie? All das.« Joachim Meyerhoff. Es ist und bleibt ein großes Geheimnis: Wie entsteht ein Kunstwerk? Klaus Pohl ist es mit seinem grandiosen Roman »Sein oder Nichtsein« gelungen, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Denn er erzählt in seinem Buch von der Entstehung eines wirklich großen Kunstwerks, der denkwürdigen »Hamlet«-Inszenierung des Starregisseurs Peter Zadek aus dem Jahr 1999 mit der Schauspielerin Angela Winkler als Hamlet. Mit zu diesem kleinen Wunder hat sicher beigetragen, dass der Autor Klaus Pohl als Schauspieler in der Rolle des Horatio selbst Teil der Inszenierung war und so an den monatelangen Probenarbeiten in Straßburg teilgenommen hat. Und so erlebt der Leser, wie sich eine Gruppe der besten Theaterschauspieler der letzten Jahrzehnte – Angela Winkler, Ulrich Wildgruber, Otto Sander, Eva Mattes u. a. – auf eine Reise ins Unbekannte begibt. Dabei erlebt er ein Abenteuer nach dem anderen, heftige Kämpfe und zarte Liebesgeschichten, Wut und Hingabe, Konkurrenz und Freundschaft, Hysterie und Selbstzweifel, Tragödien und Komödien und am Ende das unvergleichliche Glück des Entdeckens und Gelingens. Und dies nicht nur auf der Probebühne, sondern im Leben aller Beteiligten vom Regie-Zampano bis zum Bühnenbildner und der Souffleurin … Zugleich ist Klaus Pohls Roman dieser Inszenierung nicht nur ein kulturhistorisches Dokument, sondern selbst ein poetisches Kunststück voller überraschender Wendungen und intimer Portraits.

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Klaus Pohl

Sein oder Nichtsein

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Klaus Pohl

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

Angela Winkler, Erinnerung

Hamlet

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Für Sanda, Marie und Lucie

Inhaltsverzeichnis

1

An einem sonnigen Montag im Februar 1999 versammelte sich das gesamte Schauspielerensemble von Peter Zadeks Hamlet-Produktion in der Straßburger Wohnung des Regisseurs und seiner Frau, der Autorin Elisabeth Plessen, um mit der Probenarbeit zu beginnen. Zu der Truppe gehörten die Besten, die ein deutscher Regisseur damals unter seine Finger bekommen konnte.

Zweiundzwanzig Jahre nach der berühmten Bochumer Hamlet-Aufführung, dem Glanz- und Endpunkt seiner furiosen Shakespeare-Schlachten, brach der gefeierte Zampano Peter Zadek, inzwischen 73 Jahre alt, noch einmal auf in das Abenteuer Hamlet. Ulrich Wildgruber war Zadeks umjubelter Bochumer Hamlet gewesen. Dieses Mal sollte er die Hofschranze Polonius spielen, neben einer Frau, die der Regisseur als Hamlet besetzt hatte, der Schauspielerin Angela Winkler. Diese Konstellation sollte der Ausgangspunkt eines so komischen wie tragischen Schauspielerdramas werden.

Viele Monate waren verstrichen seit Zadeks erster Anfrage, ob ich die Rolle von Hamlets bestem Freund Horatio übernehmen würde, denn immer wieder waren neue Widerstände aufgetaucht, immer wieder musste der Beginn der Arbeit verschoben werden, doch schließlich stand die Produktion. Hamlet oder nicht Hamlet? Zu der Zeit lebte ich mit meiner Familie in New York, und die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Da erinnerte ich mich an meine Anfänge am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.

Uli Wildgruber spielte in Shakespeares Stück Der Sturm den bösen Erdgeist Caliban und ich Ariel. Ariel! Dieser allen Vögeln davonfliegende Luftgeist wurde meine erste große Rolle. Unfassbar war mein Glück! Und so spielte ich die Rolle auch: unfassbar glücklich. Ariels Schicksal war mein Schicksal. Ich hatte es mit viel Chuzpe binnen weniger Jahre vom Obst- & Gemüsehändlerlehrling auf Deutschlands größte Sprechbühne geschafft.

Als ich damals mit Ulrich Wildgruber auf der Bühne stand, war ich ein blutjunger Anfänger, und er beachtete mich nicht weiter. Doch dann passierte während einer ausverkauften Vorstellung etwas, was uns zu verschworenen Freunden machte.

In der Szene, in der Ariel sämtliche gegen den Inselherrn verschworenen Typen mithilfe echter reißender Wolfshunde, die an langen Seilen über die Szene jagten, in den Wahnsinn treibt, riss sich ein Hund los und stürzte sich auf Ulrich Wildgruber.

Der Inselherr hatte sich sofort auf einen Berg Kisten am Bühnenrand gerettet, während sich seine beiden Komiker in der Bühnenmitte eng aneinanderklammerten, die Köpfe vergrabend wie Kinder, die hoffen, dass wenn sie selbst nichts sehen, auch nicht gesehen werden.

In eine Harpye verwandelt, rannte ich auf hohen Stelzen, mit riesigen Brüsten und Angst einflößenden Flügeln zwischen den Hunden herum, die der Regisseur, um die Wirkung zu steigern, in Wolfspelze gesteckt hatte. Über meinem glatt rasierten Schädel, von dem eine blutrote Narbe den nackten Körper hinunterlief, trug ich eine Drachenmaske. Die riss ich mir jetzt herunter und stürzte mich, dabei selbst wie ein Hund kläffend, dem rasenden Tier entgegen, das sich immer wieder mit gefletschten Zähnen in Wildgrubers lehmverschmiertes Kostüm verbiss.

Ich ärgerte den Hund so lange, bis er von Wildgruber abließ und sich auf mich stürzte. Das Publikum hielt den Atem an. Das Ablenkungsmanöver funktionierte. Der Hund hetzte bald nur noch mir und meinen Kostümfetzen hinterher, er biss nach den Stelzen, auf denen ich wie ein Urvogel daherkam, er schnappte zähnefletschend nach der Drachenmaske, die ich ihm vor die Schnauze stieß. Unter furchterregendem Heulen und Wahnsinnsgebell schleppte ich das Vieh schließlich ins Off.

Als ich auf die Bühne zurückkehrte, empfing mich das Hamburger Publikum mit tosendem Szenenapplaus. Nach dieser unvergesslichen Vorstellung lud mich Ulrich Wildgruber auf ein paar Gläser Glenfiddich in die benachbarte Reichshof-Bar ein. Ich war jetzt sein Lebensretter. Wir tranken Blutsbrüderschaft, bis wir einen sitzen hatten und glückselig das Lokal verließen.

Von solchen Erinnerungen erfüllt sagte ich Peter Zadek zu. Ich wollte noch einmal mit dem genialen Regisseur arbeiten, noch einmal mit Uli Wildgruber Glenfiddich trinken, noch einmal mit der berühmten Schauspielertruppe spielen, mit Hamlet als dessen bester Freund Horatio auf der Bühne stehen.

Ich packte meine Sachen. Auf nach Straßburg. Auf in das große Abenteuer. Ich sagte meiner Frau, meinen beiden Töchtern und dem Broadway ade. Ade Sanda. Ade Marie und Lucie! Ade New York. Bis Weihnachten – ade!

War schon das Zustandekommen der Produktion für Peter Zadek ein unvergleichlicher Kraftakt gewesen, so verliefen die Straßburger Probenmonate noch um einiges dramatischer und brachten sein Unternehmen immer wieder an den Rand des Scheiterns. Von dieser abenteuerlichen Expedition in ungewöhnlicher Besetzung erzähle ich hier anhand meiner Tagebücher aus jener Zeit in wohltemperierter dichterischer Freiheit.

Inhaltsverzeichnis

2

Uli Wildgruber wollte bei dieser zweiten Hamlet-Inszenierung von Peter Zadek eigentlich nicht dabei sein, er wollte nicht noch einmal in den alten Kahn steigen, schon gar nicht als Hofschranze Polonius. Er war doch in Bochum der gefeierte, der umjubelte, der aberwitzige, der einsam unerreichte Prinz gewesen. Es wäre in seinen Augen einem Verrat gleichgekommen, einen anderen Hamlet über sich zu akzeptieren. Noch dazu eine Hamlet-Frau – auch wenn diese Frau Angela Winkler hieß. Er sah in den Spiegel, in seinen Augen loderten Flammen. Hamlet konnte für ihn niemals eine Frau sein. »Sarah Bernhardt – gewiss! Aber Angela Winkler ist nicht Sarah Bernhardt, selbst wenn sie sich ihr rechtes Bein abnehmen ließe.«

Schnell blickte er um sich, irgendetwas zitterte in ihm, sobald er die Stimme gegen die Einfälle seines Meisters erhob. Er hatte das Gefühl, dass er diesen Meister niemals loswerden würde, solange er lebte. Oft meinte er, Peter Zadek hätte sich in seinem Kopf einquartiert mit Shakespeare zusammen, den Zadek seinen Shakespeare nannte.

»Mensch«, sagte Zadek einmal, »ich bin in London zur Schule gegangen.«

Als ob das irgendetwas erklären würde.

Die beiden Männer in seinem Kopf.

Wildgruber dachte an Rainer Werner Fassbinder in Bochum. Fassbinder war Zadek doch ebenso wie er ergeben gewesen. Aber Fassbinder hat sich dann dagegen aufgelehnt. Er hatte sich gegen Peter Zadek einen Hund zugelegt und ihn »Zadek« genannt. Immer rannte Fassbinder hinter dem Hund her durch das Bochumer Theater und rief: »Zadek, hierher!« – »Zadek, Fuß!« – »Zadek, sitz!« – »Zadek, aus!«

Fassbinder war Peter Zadek mithilfe eines Hundes entkommen: »Zadek, kusch!« – und er jagte hinaus zu seinen ersten Filmen. Uli aber? Er hat noch nicht einmal ein Kaninchen gehabt, das auf den Namen »Peter« hörte.

Freilich: In seiner guten Zeit hatte er den Teufel Zadek in seinen Rollen überwunden. Vielleicht konnte es ihm noch einmal gelingen, Zadeks Liebe zurückzugewinnen?

Inhaltsverzeichnis

3

Er wohnte nicht wie alle anderen aus der Hamlet-Truppe in Straßburg, er wohnte auf der deutschen Seite des Rheins, in einem Landhotel. Das war seine Bedingung gewesen. Er wollte das Gesetz des Regisseurs durchbrechen – alle immer anwesend, alle immer in seiner Nähe. Wildgruber wollte alleine sein. Nicht mit der Truppe. Der tägliche Weg über den Rhein sollte die tägliche Erinnerung seiner Entfernung sein. Er brauchte Abgeschiedenheit.

Einen Tag vor Probenbeginn kam Wildgruber mit dem Mittagszug aus Berlin in Kehl an. Sieben Stunden Zugfahrt hatte der Schauspieler hinter sich, zwei Mal umsteigen. Büchersack über der Schulter. Ein Koffer mit Wäsche und Medikamenten.

Die Stadt lag schon im Laternenlicht da, ein paar frierende Kinder standen auf dem Bahnsteig – wie in einem alten Film. Durchsagen hallten über die Gleise und verstummten wieder. »Versammlung im Bistro!« Die Kinder lachten und kreischten. Es kamen drei dicke Ordensschwestern mit Bonbontüten zu den Kindern gelaufen.

»Bonbons? Mich reißt es im Bein!«, sagte Uli.

Ein Taxi brachte ihn in das Landhotel. Zimmer egal. Storchennest auf dem Dach. Hauptsache, ein Storchennest.

Er blieb in seinem Zimmer, er ging die Ecken ab, er wäre am liebsten auf der Stelle wieder zurückgefahren. Er fürchtete sich vor der ersten Leseprobe, er fürchtete sich vor dem Zusammentreffen mit der alten Truppe, er fürchtete sich vor Peter Zadek. Er dachte zaghaft an Eva Mattes – jedoch mit einem ausgesprochen sinnlichen Gefühl, immer ging es ihm bei Eva Mattes zwischen Herz und Kopf heillos durcheinander. Er fürchtete sich auch vor der jungen Frau, die seine Tochter Ophelia spielen würde. Hübsch, zart und ganz weiß, wie von einer Wolke geboren, er würde sie zerbrechen im Spiel, dies ätherische Geschöpf. Vielleicht gut, vielleicht sogar sehr gut für meine Figur, dachte er, wenn die Ophelia wie aus Spinnenweben und ich dagegen ein eifriger Tollpatsch bin. Die Rolle der Ophelia ist unerhört schwer.

Er fürchtete sich vor der Dunkelheit im Zimmer, aber er mochte kein Licht machen. Er fürchtete sich vor den anderen Hotelgästen, er fürchtete sich vor dem Hinuntergehen, er fürchtete sich ganz besonders vor herumstreunenden Hunden.

Es führt nie zu etwas, sagte er sich, wenn man sich von seinen vielfältigen Ängsten einkesseln lässt. Im Übrigen irrst du dich, wenn du denkst, ein Hundebiss oder ein betrunkener Hotelgast, der dich schlägt, weil er dich für Churchill hält, könnte deinen Auftritt in dieser Inszenierung verhindern. Wenn du es selbst nicht schaffst, Peter Zadek nein zu sagen, wird auch kein Hundebiss für dich nein sagen.

Wildgruber wollte die Rückkehr in die Naivität versuchen. Er wollte eine Vorfreude entfachen in sich, Vorfreude auf den ersten Probentag – wie früher, während seiner heiteren, seiner Erfolgszeit. Er wollte nicht länger miesepetrig, er wollte schaffensfroh wie Mozart sein.

Er steckte Geld ein, er zog eine Grimasse, er ging aus dem Zimmer.

In der Gaststube merkte er, wie allein sie alle waren in seinem Inneren, die alten Theaterfiguren, die ihn berühmt gemacht hatten: Othello, Hamlet, Lear, Ekdal, Lövborg, der auf dem Gipfel seiner Weltverdrossenheit balancierende Menschenfeind, Wedekinds Schön, König Ödipus – sie alle lagerten in ihm auf schäbigen Kissen, die Köpfe in schweres Sinnen verloren, lauter vor- und vorvorgestrige Varieténummern bettelten um ihren täglichen Brei.

Er hatte Angst, angesprochen zu werden, gleichzeitig aber hätte er sich über eine Unterhaltung gefreut, am liebsten wäre ihm ein Gespräch mit dem Wirt über das Wetter oder über den VfL Bochum gewesen oder mit der jungen Köchin, die ihm auffiel mit ihren nackten Armen. Mit ihr ein Gespräch über fangfrische Fische, über karamellisierte Zwiebelringe, über Flusskrebse in Weißwein, über Spinatstrudel.

Spinatstrudel!

Die Gäste an den Tischen waren mit ihrem Zeug beschäftigt. Kein Mensch hob den Blick nach ihm. Ein junges Ehepaar, schweigend. Er weinte, sie zählte Geldscheine.

Er verzehrte eine Portion Forelle blau. Dazu trank er Rheinwein. »In Rheinwein und Austern schlampampen.« Nun, diese muntere Zeit war dahin. Er war allein mit seiner glorreichen Vergangenheit und den Überlebten in sich. Da hörte er erregte Stimmen.

Sie flogen vom Stammtisch zu ihm herüber. Dort saßen ein paar Männer zusammen, und Wildgruber – ob er wollte oder nicht, denn die Männer sprachen sehr laut und immer erregter – folgte ihrem Gerede. Er war ja Verhaltensforscher. Jede seiner Rollenschöpfungen lebte von Beobachtungen, er suchte die Wahrheit in jedem Ton, in jedem unterdrückten Weinen.

Sie redeten davon, dass sie den Bahnhof von Kehl kaufen und in ein modernes Paradies mit Büros und schicken Geschäften und irren Bars umwandeln wollten, mit einem riesigen Aussichtsturm. So klang also Zukunftsmusik, dachte Uli und verzehrte sein Gericht. Das Alte zerfiel, das Neue kam – es kam besinnungslos auftrumpfend. Geld wurde gedruckt.

Seine junge Geliebte, die er als Schauspielerin unterrichtet hatte, wie er überall herumerzählte, machte dank seiner Schauspielstunden eine blendende Karriere. Er liebte sie, sie liebte ihn – sie hatte ihn aber verlassen müssen. Sie hatte Hollywood erreicht. Er sah sie auf allen Tischen tanzen, unwahrscheinlich schön und exotisch erschien sie ihm in diesem urdeutschen Ambiente.

Dazu die erregten Stimmen vom Stammtisch. »Friedrich? Hast du mir überhaupt zugehört?« Und, unterstrichen von einer heftigen Handbewegung, rief der Mann: »Donnerwetter. Friedrich! Wir reißen den vermoderten Bahnhof ab, wir räumen alles fort, bis der ganze Flecken Land nackt vor uns liegt, und dann stellst du uns dort was darauf, Friedrich, was die Stadt Kehl und der Alt-Rhein noch nie gesehen haben.«

»Alles klar«, hörte er die andere Stimme. »Eine Minute, dann klotz ich hier einen neuen Bahnhof hin – der steht zweihundert Jahre, der kriegt jedes Jahr Junge, jedes Jahr kriegt der einen neuen Bahnhof.«

Brüllendes Gelächter. »Jawohl! Schifferscheiße! Mit Aussichtsturm! So wird es gemacht, Friedrich. Einzigartigkeit mit Aussichtsturm!«

Wildgruber hinkte hinauf auf sein Zimmer. Das laute Reden der Männer am Stammtisch kam ihm hinterher. Ich möchte doch nur meine Ruhe haben, schlafen, dachte er. Er hinkte stark. Eine abendliche Laune der Hüften. Ersatzhüften kamen aber nicht infrage.

Ein Treppenhausfenster flog plötzlich auf, Krähengeschrei.

»Was ist passiert?«, rief eine Stimme, und eine andere Stimme antwortete: »Herbert hat mit dem Luftgewehr eine Krähe abgeknallt.«

Das Leben dauert einen Augenblick. »Ich schwänze keinen Schmerz. Ich zeige meine Wunden«, murmelte Wildgruber.

Eine alte Frau in dunkelblauen Kleidern schloss das Fenster gegen das Geschrei der Vögel. Uli blieb gefangen in seinem Selbstgespräch. »Hamlet – ein schauerromantisches Stück. Das kleine Fläschchen Wein am Ende kann’s ja nicht gewesen sein.«

Inhaltsverzeichnis

4

Er hörte den Telefonapparat schnarren. Er hielt sich die Ohren zu. Als es nicht aufhören wollte, kroch er mit einem Buch unter die Bettdecke. Ich kann alles sein, dachte er. Ich habe ein solches Gesicht, auf dem jeder Gedanke sichtbar wird. Noch einmal klingelte es, dann kroch er wieder hervor und las laut, um die Stimme zu trainieren für die bevorstehende Leseprobe.

»Der süße Brei. Es war einmal ein armes, frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald, und ihm begegnete da eine alte Frau, die wusste seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollte es sagen: ›Töpfchen, koche!‹, so kochte es guten, süßen Hirsebrei, und wenn es sagte: ›Töpfchen, steh!‹, so hörte es wieder auf zu kochen. Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und nun waren sie ihrer Armut und ihres Hungers ledig und aßen süßen Brei, sooft sie wollten. Auf eine Zeit war das Mädchen ausgegangen, da sprach die Mutter: ›Töpfchen, koche!‹, da kochte es, und sie isst sich satt; nun will sie, dass das Töpfchen wieder aufhören soll, aber sie weiß das Wort nicht …«

Immer noch hört er die Stimmen vom Stammtisch. »Wir reißen das ganze alte Gerümpel ab.« Die neue Zeit – grell und mit ungeheuren Versprechungen. Töpfchen, koch! Noch zehn Monate blieben ihm von dem Jahrhundert, mit dem zugleich ein Jahrtausend zu Ende ging, das Jahrtausend Shakespeares, seines. Er wollte von den Verheißungen nichts wissen. Es geschah ohne ihn, er, Wildgruber, hatte alles geleistet, was er zu leisten vermochte. Er war ein Mann des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Wegstrecke hatte er abgeschritten.

Es kommt alles auf den Schauspieler an, aus dem Erlebnis des Schauspielers entsteht die Rolle. Das hatte er mit jeder seiner Rollen bewiesen. Man ist Schauspieler, wie man Prinz ist: von Geburt.

Als er endlich eingeschlafen war, klingelte das Telefon wieder und riss ihn hoch aus dünnem Schlaf. Er wartete. Es konnte nur seine Geliebte sein. Ein Satz fiel ihm ein, den er ihr in einer Comedy-Serie zugeworfen hatte. Sie zeigte ihm ihren neuen BH. »Und die Füllung aus dem Osten.« Jetzt war sie in Hollywood angekommen. Wie spät mochte es jetzt dort sein?

»Ich habe die Steigerung des Lebens gesucht und gefunden, jetzt kehre ich zurück in die Ebene. Ich sehe den schwarzen Ritter heransprengen. Ich stecke zwischen zwei Toren. Kann weder vor noch zurück und befinde mich in einer heiklen Lage. Straßburg oder Hollywood? Oder doch ins Irrenhaus? Ob das der Ausweg ist?«

Kein Schlaf. Er war zu aufgewühlt. Das ungekannte Meisterwerk – wie der Maler dieses Meisterwerkes in Balzacs Novelle verschwand auch er in seiner Meisterschaft. Er verlor sich in den Tiefen seines Talents, er spielte so gut und so unerhört lebensecht, bis es nicht mehr als Spiel zu erkennen war, bis nur noch ein Fuß aus den unendlich vielen Übermalungen herausschimmerte – allerdings so lebensecht, wie selbst ein lebendiger Fuß niemals lebensecht sein konnte.

Er wälzte sich hin und her. Die Erinnerungen liegen in Fetzen. Die Scheinwerfer zerbrennen täglich meine Haut, das Publikum klebt kein Pflaster darüber, ich finde keine Ruhe, mein Leben ist eine Stichflamme.

Er brüllte das Wort Stichflamme mehrere Male, bis gegen die Wand geklopft wurde über dem Kopfende seines zerwühlten Bettes. Eine Frauenstimme kreischte: »RUHE!!«

Die Nerven lagen bloß, er schluckte den in ihm kreisenden Monolog hinunter. Dann atmete er schnell, schnell, schneller – bis ihm schwindlig wurde. Er taumelte ins Badezimmer. Dort sprach er mit seinem Spiegelbild, er flüsterte: »Eine der schwersten Künste auf dem Wege, ein guter Clown zu werden, ist die Dosierung der Lautstärke, wobei Lautstärke nicht nur akustisch verstanden sein will, das heißt, es muss eine Möglichkeit geben, den eigenen Anspruch mit dem Anspruch des Publikums geschickt zu … zu …« Es fiel ihm das Wort nicht ein.

Er tappte zurück ins Zimmer – Zimmer egal! –, er presste ein Ohr gegen die Wand über dem Kopfende des Bettes. Einmal ein kurzes Pfeifen. Natürlich läuft eine sehr starke Persönlichkeit viel mehr Gefahr, missverstanden zu werden, als ein mittelmäßig begabtes Individuum, denn der Eindruck, den die starke Persönlichkeit auslöst, kann oft so verwirrend sein, dass die Schockwirkung, die sie erzielt, sehr rasch in Ablehnung umschlägt, und das bedeutet Misserfolg.

Misserfolg aus zu viel Qualität. »Schubert!«, schrie er, »Schubert!« Die Frauenstimme aus dem Nachbarzimmer schrie zurück: »DU SAU!«

Morgen Leseprobe. Es ist eine Familiengeschichte. Langsam beruhigte er sich. Die Krone auf dem Schneidezahn wackelte.

Endlich dämmerte es. Aus verregnetem Nachtgrau wagte sich ein neuer Tag hervor. Wie ein nasses, frisch geworfenes Tierchen kroch es über die kahlen Obstbäume – das erste Morgenlicht.

Er lag noch eine Weile auf dem Bett. Er hatte eine Erscheinung: eine blonde Assistentin verteilte Hamlet-Textbücher – die Übersetzung ist von Elisabeth Plessen, sagte die blonde Assistentin immer wieder. Und da hatte er einen Augenblick lang Dialoge und Monologe auf dem ganzen Körper wie in einem Tattoo-Studio auf sich liegen, und in raschen Stichen wurden einmal hier und einmal dort Hamlet-Dialoge dazutätowiert oder weggeätzt. Sein allzu festes Fleisch aber zerging nicht, es bekam mit Schmerz alle Augenblicke Worte. Worte. Worte. Von innen heraus wurden sie über den Körper tätowiert, bis seine ganze Haut verbraucht war für Hamlet-Worte. War das die Rache dafür, dass er, als geborener Prinz, nun den Kanzler spielte?

Ihm war kalt, er fror. Aber wo sollte er rein? Es gab kein Hinein mehr in seinem Leben, es gab für ihn nur noch ein Hinaus. Ein Immer-weiter-Hinaus. Ins Freie. Ins Freie.

Er hörte das Meer. Er sah im Mondschein einen Maler, der die mondbeschienene Flut malte. Über einer großen Leinwand brannte eine Karbidlampe. Es war zunächst nicht zu erkennen: In den träge bewegten Wellen trieben Tote?

Plötzlich wollte er nur noch leben. In Frauenhaaren und in weicher Wäsche wühlen. Er wollte nicht frieren, er wollte auf seinen eigenen Anspruch spucken, er wollte, wenn’s anders nicht ging, ein mittelmäßiger Komiker sein mit Wackelbauch, loser Zahnkrone und vergessenem Text, ein einfacher Schauspieler, keine Sensation. Sensation bedeutet Einsamkeit.

Am frühen Morgen verließ Ulrich Wildgruber in einem weiten Mantel, den Büchersack über die Schulter geworfen, seinen Landgasthof und machte sich auf den Weg nach Straßburg zur Leseprobe.

Inhaltsverzeichnis

5

Ein Junge mit Schulranzen stand am Wegrand, er weinte, herzzerreißend. »Warum weinst du, mein Junge? So früh schon am Tag?« Der Junge antwortete: »Die Lichtmaschine im roten Golf meines Papas ist kaputt!«

Auf dem Rhein kippelte ein Schiff dahin, fing auf den weißen Planken die ersten Sonnenstrahlen ein, die plötzlich zart durch die Wolken stachen. An der frischen Luft begann er sich besser zu fühlen. Regelrecht munter erreichte Ulrich Wildgruber den Bahnhof von Kehl.

Er wartete. Er fühlte, wie sich der Griff um den Hals lockerte. Wo war er? Vor ihm, in nicht zu fassender Ausdehnung, das Meer? – Ach, eine schwarze Regenwasserpfütze. Zitternd vom kleinen Morgenwind, zeigte die Oberfläche ihm sein Spiegelbild, von mittlerer Größe, etwas untersetzt, grotesk verformt. Die langen grauen Haare wie Zöpfe aus Eis. Er sah sich als Däumling am Arbeitstisch seines Vaters Reisebeschreibungen und Romane, Lust und Leid schlabbern. Macbeth lag in seiner Hand, er lauschte den Worten, Shakespeares Worten, er verstand kein Wort. Ein Däumling war er noch, aber er lauschte, denn er war beutelüstern. Von jenem Lauschen als Däumling behielt er ein fernes Grummeln im Ohr von Shakespeare, das ihm mit jedem neuen Tag verständlicher wurde.

Sein Vater war Buchbindermeister gewesen, er hatte auf einem Haufen Flatterzeug aus Papier und Pappe gethront, welches er zu setzenstellenfalzenglättenrichten hatte, der Buchbindersohn hoffte auf das Mysterium, hoffte auf den Blick in den Himmel shakespearescher Dichtung.

»Und als ich ein winziges Bübchen war, / hopp heisa bei Regen und Wind! / Da machten zwei nur eben ein Paar: / denn der Regen, der regnet jeglichen Tag!« Mit diesem Lied des Clowns aus Was ihr wollt rumpelte er los, der Däumling Uli, in seiner kleinen Geisterbahn zu dem unbekannten Stern, der unter dem vielzackigen Namen Shakespeare mit enormer Leuchtkraft die Strahlen wirft, in denen sich die Welt verfängt.

Er sah sich zwanzig Jahre später in einem Saal in London vor sämtlichen Figuren Shakespeares eine Rede halten. Überall herumwirbelnde Stimmen, Lachen, Klirren von Messern und Bechern. Durch das Gelärm begann er seine Rede. Keineswegs ängstlich, mutig erhob er seine Stimme:

»Der Wind, der durch die Welt die Jugend treibt, / Sich Glück woanders als daheim zu suchen – nur mühsam ächzt mein Schifflein vorwärts, das meine paar Perücken durch Klippen – und Klappentexte steuerte, von einem übermächtigen Herrn Prospero mit sehr beträchtlichen Zauberkräften hierher gelenkt. Da seid ihr nun, ihr großen finsteren Gestalten, nach denen sich eigentlich so ziemlich alle Minenhälse recken. Und hui! – Mich dünkt, ich sehe meinen Vater. Wo, mein Prinz? In meines Geistes Aug’, Horatio!«

Wildgruber ging laut sprechend hin und her auf der Bahnsteigkante. Wie ein Schauspieler an einer Bühnenrampe. Da hörte er hinter sich das helle Klack-Klack von Pfennigabsätzen. Er drehte sich nicht um, das Klack-Klack stöckelte kess vorbei, er hob den Blick und sah in den anmutigen Rücken einer Frau.

O dieser Puck, der konnte nicht bloß ein Esel, der konnte alles, der konnte Desdemona und Emilia und sicher auch die schöne Martina sein. Himmel! Ein heller, den Frühling lockender Mantel, darüber tanzte duftig blondes Haar – ganz eine Hollywood-Erscheinung. Sie hatte doch aber braunes Haar! Wieder so ein Puck-Einfall. Aus Braun macht er Blond.

Plötzlich drehte sich die Frau nach ihm um und kam, klack-klack, zurück. Bis sie vor ihm stand. Er sah in ein verbranntes Gesicht. Die Anmut der ganzen Erscheinung zerriss. Er erschrak.

In dem Moment fuhr der verspätete Zug mit lautem Karacho ein. Die Frau mit dem verbrannten Gesicht sagte: »Wildgruber? Ich kenne Sie aus dem Theater.«

»Das kann nicht sein«, antwortete er. »Sie kennen mich allerhöchstens aus dem Hühnerstall.«

Inhaltsverzeichnis

6

Nach kurzer Zugfahrt über den Rhein lief Uli Wildgruber vom Gare de Strasbourg über den morgendlich frisch geputzten Bahnhofsvorplatz Richtung Parc du Contades.

Als er sich ein weiteres Mal in dem Gassen-Wirrwarr verlaufen hatte, wollte er ein Taxi heranwinken.

Da trafen wir aufeinander.

Ich kam aus meinem Stadtteil Petite France – mit Aktentasche, Hut und frischer Rose. »Guten Morgen, Uli«, rief ich.

Er warf den Kopf herum.

Etwas verlegen reichten wir uns die Hände. Acht Jahre hatten wir uns nicht mehr gesehen.

»Ich glaubte, mich verlaufen zu haben«, sagte Wildgruber. »Ich freute mich bereits. Lost in Straßburg. Wie glücklich wäre ich gewesen, wenn ich mich gründlicher verlaufen hätte. Wer hätte gedacht, dass es so schwierig werden würde, anständig alt zu werden in diesem Beruf. Am liebsten möchte ich in eine lange Ohnmacht verschwinden! Meine Herzklappen sind schuld, ich brauche unbedingt drei künstliche Herzklappen, aber kein Arzt will den Eingriff wagen. Meine verbrauchen sich in meinem Herzen zu schnell, sie zerfallen. Mein angegriffenes Herz ist viel zu aktiv. Aber wie soll ich dieses Herz herunterschalten? Das Dramatischste ist der Punkt mitten im Satz, hat der Regisseur Fritz Kortner gesagt. Wer macht den Punkt mitten in meinem Satz? Ich bin erledigt, und dieser Teufel Peter Zadek erwartet und ermahnt mich: ›Uli, wir fangen noch mal von vorn an.‹ Großer Gott. Es ist furchtbar, wie er sich an mir rächt. Weil ich Mozart immer noch über ihn stelle.«

Er presste die Augen zusammen, riss den Mund auf zu einem stummen Wahnsinnslachen.

»Nicht an den Winter gedacht. Aus mir ist Polonius geworden. Lendenschwach heißt es bei Shakespeare über mich. Ich steuere nur noch den Zahnausfall bei.« Er schleuderte seinen Büchersack herum, schnaufte, schwitzte. »Ich brauche Geld! Ich muss nach Hollywood, meine sizilianische Geisha rief die ganze Nacht an, ich soll besser heute als morgen aussteigen. Aussteigen? Ich? Mein Leben lang habe ich mit Peter Zadek gearbeitet, mit ihm soll es auch zu Ende gehen. Weißt du keinen Witz? Wie mein Lehrer, wie Otto Schenk?«

Otto Schenk, Volksschauspieler, Regisseur und Autor, war drei Jahre lang, von 1960 bis 1963, Wildgrubers Schauspiellehrer gewesen auf dem Reinhardt Seminar in Wien. Eh es ihn nach Wien verschlug, hatte Ulrich Wildgruber in einer Puddingfabrik und als Aushilfspostbote gearbeitet. In Hamburg nahm er privaten Schauspielunterricht. Nachdem er wegen schlechten Benehmens davongejagt wurde, wollte er am weltberühmten Berliner Ensemble als Anfänger engagiert werden. Der blutjunge Wildgruber bemühte sich um ein Vorsprechen bei Helene Weigel. Daraus wurde nichts, also ging er 180 Nächte lang in jede Vorstellung am Schiffbauerdamm, um, wie er später sagte, in das Brecht-Geheimnis einzudringen. Schließlich wurde er am Wiener Reinhardt Seminar aufgenommen.

»Zwei Schnecken treffen sich im Wald …«, begann ich.

Wildgruber unterbrach. »Schnecklein ist gut, Schnecklein ist sehr gut, wenn sich ein Elsässer Schnecklein auf meiner Zunge ringelt, wird selbst Peter Zadek für mich genießbar.«

»Zwei Schnecken treffen sich im Wald. Die eine hat ein blaues Auge. ›Von was hast du denn das blaue Auge?‹ – ›Vom Joggen.‹ – ›Na, und wie ist das passiert?‹ – ›Ich jogg durch den Wald … auf einmal schießt ein Steinpilz vor mir in die Höhe.‹«

Uli wischte sich den Schweiß ab, verharrte einen Augenblick. Staub wirbelte auf hinter einem vorüberknatternden Moped.

»Kein Mensch zu sehen außer uns? Was ist los? Wo ist Hermann Lause? Mein Bochumer König? Wo ist Eva Mattes? Meine ewige Geliebte, sehr heimliche Mutter, ewige Lust und ewige Furcht? Wo sind sie alle? Die anderen? Wo verbirgt sich der berühmte Festzug der gut bezahlten Gaukler?«

»Sie sind schon alle oben beim Meister. Benjamin, unser Requisiteur, hat ein opulentes Frühstücksbuffet aufgebaut. Es soll die ersten Tage alles in sehr lockerer Atmosphäre ablaufen. Mit Rücksicht auf Angela will der Meister alles vermeiden, was Stress oder Anspannung signalisiert. Die ganze Truppe ist bereits seit zwei Tagen in der Stadt, das französische Flair von Petite France sorgt bei allen für Urlaubsstimmung.«

»Noch«, lachte Uli.

Im Treppenhaus hinauf zur Wohnung des Regisseurs sagte er zu mir: »Du musst verrückt sein. Warum machst du hier mit?«

»Unser Hamlet ist es.«

»Himmel! Heißt das, du bist wegen Angela hier? Ist die Rose für sie?«

Ich hielt die Rose über meiner Aktentasche fest. Ich hatte sie in einem kleinen Blumenladen neben einem Brücklein über die Ill ausgesucht.

Uli fasste sich an die Brust. »Diese Arbeit, glaube mir, wird eine furchtbare Quälerei. Ich werde alles dafür tun, dass mich Zadek umbesetzt. Am liebsten nach Indien. Reis ist das Ideale. Nur kein Theater mehr. Kein Theater mehr! Vielleicht noch einmal Kinder? In der Südsee. Kinder nur in der Südsee. Ich bin jetzt Peters übergroßer Schrecken. Ich als Kanzler Polonius – Übergroß – Das ist seine Rache!«

»Seine Rache?«

»Dafür, dass er mir jahrelang dienen musste. Jetzt kehrt sich das Gefechtsbild um! Heisa! Leider werde ich in dieser Rolle nicht gut sein. Zwei Mal Heisa! Nicht-gut-Sein ist auch eine Waffe. Ich habe keinen direkten Ton mehr, ich bin so pastoral geworden, ich bin so schrecklich gealtert, fett, ich sehe aus wie mein Onkel Theodor! Aber dieser Peter Zadek lässt nicht locker. Er überteufelt selbst den Teufel.«

Erster Stock.

»Wie hoch müssen wir noch?«

»Noch ein Stockwerk«, antwortete ich.

»Schrecklich. Entsetzlich.«

Er bekam kaum noch Luft. »Du hast den besten Satz im ganzen Stück.«

»Welchen?«, fragte ich.

»›Ich bin alter Römer mehr als Däne!‹ Ich zahle dir 100 Mark, wenn du mir diesen Satz verkaufst.«

In der Wohnung herrschte Gedränge vor dem Buffet.

Peter Zadek machte sich von Anfang an Sorgen um Angela Winkler in ihrer Doppelfunktion als Hauptdarstellerin und Mutter. Angela hatte von Anfang an gezögert. Sie fürchtete sich vor Hamlet. Je länger sie sich mit dem Kerl beschäftigte, desto fremder wurde er ihr. Sie hatte eine Mordsangst vor den vielen Worten, Hamlet hat von allen berühmten Rollen des Welttheaters den meisten Text. Und die Übersetzung war und war nicht fertig geworden. Als Angela sie endlich in Händen gehalten hatte, war sie erstarrt. Diese Textmasse würde sie niemals bis zum Beginn der Proben in den Kopf kriegen.

Deshalb wollte Peter Zadek seiner Hauptdarstellerin am ersten Tag des Abenteuers völlige Entspannung signalisieren. Die Ansage lautete: Es gibt überhaupt keinen Grund, die Nerven zu verlieren, keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen vor dieser Herausforderung: »Es gibt ja auch noch mich, nicht nur den Text. Verlasse dich auf mich!«

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7

Wir standen vor dem Buffet. »Um Gottes willen«, rief Wildgruber. »Ich sehe schon. In diesem Gefängnis werde ich verwöhnt wie in keinem bisher. Die pure Heimtücke. Raubvogel Zadek will mich als dankbaren Leckerbissen. Otto Sander spielt den König? Mit Otto hatte ich nicht gerechnet.«

Übergangslos rief er: »Mimimimim.«

Aus der hinteren Ecke der Wohnung, wo die blonde steckenlange Hospitantin Sarah aus Pinneberg ihre Sachen hütete, ließ sich ein Disput vernehmen zwischen ihr und Benjamin, dem Requisiteur, der gerne alle Trödelmärkte der Welt besessen hätte.

Sarah sagte ganz ruhig: »Hamlet ist verrückt.«

Dem widersprach der Requisiteur mit dem Traum vom weltweiten Trödelhandel ganz entschieden. »Hamlet ist nicht verrückt. Lies das Stück, es liegt doch da.«

»Hamlet ist verrückt, er ist schließlich immer überall auf allen Bühnen verrückt.«

»Er ist nicht verrückt, er stellt sich verrückt. Es ist eine schmale Brücke, über die er geht, und die ihn, wie er hofft, zur Wahrheit führt.«

Eine andere Stimme war zu hören. Es war die der Souffleuse. »Er macht bei Frauen konsequent alles falsch.«

»Wer?«, rief der Requisiteur.

»Wer? Du!«, schallte es ihm entgegen.

Sarah beharrte: »Hamlet ist geisteskrank.«

»Hamlet ist nicht geisteskrank.«

»Hamlet ist geisteskrank.«

»Hamlet spielt geisteskrank! Die bei euch den Narren spielen, lasst sie nicht mehr sagen, als in ihrer Rolle steht.«

»Wie? In meiner Rolle? Steht gar nichts!«, rief Sarah. »Da steht nichts!« Sarah stand nah vor dem Requisiteur und sagte es ihm in das demütig grinsende Gesicht. »Ich habe keine Rolle! Merk es dir!«

»Warte nur ab«, antwortete Benjamin. »Du kriegst auch deine Rolle, hier kriegt jeder seine Rolle. Unser Regisseur findet bei jeder und jedem das Fleckerl heraus, wo sie oder er kitzelig ist.«

Hermann Lause saß vor einem Glastischchen, auf dem er sein Hamlet-Textbuch aus dem Ringordner herausgenommen und ausgebreitet hatte. Er beugte sich über einen durcheinandergewirbelten Haufen Blätter.

Wie nebenbei fragte er mich: »Zahlst du auch regelmäßig in die Münchner Pensionskasse ein?«

In Richtung Uli rief er: »Weißt du, Uli, Text lernen ist so eine Scheiße, dass es mir wehtut. Es tut mir weh, körperlich weh, eine verlorene Zeit.«

Damit wandte er sich wieder den losen Textblättern zu, die ständig von der winzigen Glasfläche herunterglitten. Hermann Lause saß wie eine gnädige Kindergärtnerin inmitten der quietschvergnügten Schar ihrer schutzbefohlenen Fratzen. Er lächelte den eigensinnigen Blättern hinterher. Aus einem Heftchen zog er Blättchen mit braunen Lochverstärkern hervor. Er löste die Lochverstärker von den gummierten Blättchen und klebte sie über sämtliche Ringbuchlöcher seines Rollenbuches.

»Sag mal, du«, sprach mich der Darsteller des Laertes, Uwe Bohm, an. »Du, unser Regisseur behauptet, du bist in Angela verliebt? Du hast ihr heute Morgen eine Rose gebracht?«

»Mit der richtigen Farbe«, rief Ophelia. Ich antwortete: »Die Liebe ist die Köchin, die am meisten anrichtet in der Welt. Angela ist Hamlet, Hamlet gehört meine Liebe. Hamlet wohnt im Herzen meines Herzens.«

»Na, dich scheint es ja wirklich erwischt zu haben«, sagte Uwe ernst. »Ob du auch einmal so begeistert über mich sprechen wirst?«

»Warten wir es ab, Uwe. Du hast immerhin für diesen Laertes die perfekte Ausstrahlung.«

»So?«

»Naiv, charmant und aufgeweckt, ein süßes rundes Bubengesicht, von Sommersprossen überrieselt, durchtrieben, neugierig und tollkühn. Wenn du gut arbeitest, kann aus dir ein überzeugender Laertes werden.«

»Wie bitte? Meine Rolle ist ein Witz, ein Winzling! Ich habe exakt dreieinhalb Minuten Text, wenn ich ihn hintereinander wegspreche! Ich trete auf und verschwinde sofort nach Paris und komme erst zum Ende des Stücks wieder. Eine halbe Minute Resttext bleibt mir noch. Dann kommt das große Gefecht, das große Sterben. Atemlosigkeit und Ketchup – das ist Laertes. Keine Rolle! Kein Fleisch! Auch wenn der Kasper von Shakespeare ist!«

»Er hält gleich eine Rede«, sagte der Darsteller der Königin im Stück innerhalb des Stücks, Knut Koch. Eine Anfangspetitesse: Knut Koch gefiel der rosa BH nicht, den die Kostümbildnerin für seine Rolle herausgesucht und zur Leseprobe kichernd präsentiert hatte. Es sollte ja betont heiter und entspannt zugehen, und was ist komischer als ein rosa BH zwischen grünen Oliven, französischem Käse und italienischer Salami?

»Wer trägt bitte heute noch rosa BH?«, fragte Knut.

»Die Marktfrauen vom Viktualienmarkt«, rief mit gelber Stimme Hermann Lause.

Es wurde mucksmäuschenstill vor dem umlagerten Buffet. Peter Zadek räusperte sich. Dann sagte er: »Wenn ich morgens auf die Probe komme, und die Probe wird schön, dann bin ich glücklich. Bitte, macht mich heute und in den kommenden Tagen ganz oft glücklich.«

Applaus. Vorsichtiges Getrampel mit den Füßen.

An diesem und am folgenden Tag lasen wir mit Hingabe und Konzentration das Stück von Shakespeare: Hamlet – Prince of Denmark. In der deutschen Übertragung von Elisabeth Plessen.

Ich konnte während der Leseprobe nichts Bedrücktes beobachten. Alle lasen ihre Rollen konzentriert, wir waren mit Entdeckerlust bei der Sache. Peter Zadek lachte manches Mal, er lauschte nachdenklich, oft regelrecht verzückt den Hamlet-Versen hinterher.

Wie Angela Winkler an diesem elsässischen Morgen ihre Repliken und Monologe las, klangen sie wie zum allerersten Mal gesprochen.

Ulis Redereien, seine Verwünschungen gegen Peter Zadeks Hamlet-Frau waren also nichts als Mutwillen und schöpferische Flunkerei aus der wildgruberischen Klamottenkiste?

Es schien mir, als wäre er von Angela Winklers behutsamer Annäherung an die große Rolle, die er immer noch als seine Rolle ansah, ganz eingenommen, als würde er mit jedem weiteren Vers aus ihrem Mund seinen inneren Widerstand gegen diesen Hamlet aufgeben.

Wir waren auf den Balkon hinausgetreten, alle standen herum, schwatzten und alberten. Am kommenden Tag sollten wir umziehen auf die Probebühne an der Rue Jacques Kablé. Die Stimmung war erregt.

Angela sprang auf und jauchzte, als ich ihr mit strahlender Miene meine von Goya gefärbte Rose reichte.

»Horror«, rief sie, so nannte sie mich. »Was hast du für Überraschungen bereit!«

Zadek legte einen Arm um Wildgruber und einen um mich. »Na ihr zwei? Die Qualität meiner Inszenierung entscheidet sich schon bei der Besetzung. Ich sehe jemanden, und dann versuche ich, ihn von innen zu sehen und zu entdecken, was ich aus ihm alles herausholen kann.«

»Aus dem Pohl kannst du ’ne Menge herausholen«, rief Wildgruber.

Alle lachten, Angela Winkler schrie regelrecht auf – als hätte sie in Feuer gefasst. »Horror!«

»Wenn Uli hier bei mir auf dem Balkon herumsteht, Witzchen so wie eben macht, obwohl er ständig Angst hat vor dem Infarkt, vor Kopfschmerzen oder vor Zahnausfall, wenn er sich ständig von der Situation überfordert fühlt genauso wie sich Polonius am Hof von Dänemark überfordert fühlt und blöde Witzchen macht aus Überforderung, dann wird es echt. Und es muss mehr als echt sein. Es muss echt und dazu sehr gut gespielt sein. Echt ist noch nicht genug.«

Otto Sander kam auf den Balkon, er stellte sich in die Sonne, er zog umständlich ein großes blaues Taschentuch aus der Hosentasche und nieste laut. »I am the King.«

In der Nacht schlief ich vor Aufregung und Begeisterung nicht. Ich streifte in meinen Halbschlafträumen mit Angela durch kriegsverwüstetes Land, ich beschützte sie und wachte über ihren Schlaf, ich zündete ihr die Fackel an, ich hielt ihre Hand. Am nächsten Morgen zogen wir um in die Militärakademie an der Rue Jacques Kablé, wo eine gigantische Probebühne bereitstand, die für die kommenden drei Monate unser ultimativer Hamlet-Arbeitsplatz werden sollte.

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8

Jetzt ging es los. Die erste szenische Probe wartete auf mich. Ein schöner Wind, an der Ill ein paar erste gelbe Blütentupfer. Zu Fuß erreichte ich das große, von Kanonieren und Offizieren, Soldaten und Kommandos längst verlassene Militärareal.

Gleich vom Start an musste die gesamte Schauspielertruppe Punkt 11 Uhr im Probenkostüm bereit zum Durchlauf sein.