Seine Zeit zu sterben - Albert Ostermaier - E-Book

Seine Zeit zu sterben E-Book

Albert Ostermaier

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Beschreibung

Champagnerflaschen, Wodkakübel, großzügige Ausschnitte und noch großzügigere Erinnerungslücken am nächsten Morgen: Kitzbühel zur Zeit der »Streif«, des halsbrecherischsten aller Abfahrtsrennen. Es herrscht Wildkaiserwetter in der glitzernden Welt der Alpin-Dekadenz, als plötzlich ein Kind auf der Piste spurlos verschwindet. Und mit ihm die hart erkämpfte Winteridylle. Ein Unfall? Eine Entführung? Ein Missbrauch? Inmitten von Party, Politik und Promis beginnt eine atemlose Suche. Zu allem Unglück zieht auch noch aus heiterem Himmel ein Schneesturm auf, der alle Lügen wegfegt, den Schnee von gestern aufwirbelt und den Tod anweht … In seinem rasanten neuen Roman, der aus der Kälte kommt und ans Herz geht, erzählt Albert Ostermaier von einem Wettlauf mit der Zeit und dem Tod, der wie eine Lawine alles unter sich zu begraben droht.

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Seitenzahl: 321

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Albert Ostermaier Seine Zeit zu sterben

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erste Auflage 2013

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

eISBN 978-3-518-73414-8

www.suhrkamp.de

 

 

»Alles hat seine Zeit und jegliches Vornehmen unter dem Himmel seine Stunde. Geborenwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit; (…) Töten hat seine Zeit, und Heilen hat seine Zeit; (…) Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit; Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit; (…) Umarmen hat seine Zeit, und sich der Umarmung enthalten hat auch seine Zeit. Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit; (…) Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit. Lieben hat seine Zeit, und Hassen hat seine Zeit; (…)«

Prediger 3, 1–11

 

 

I STREIF

1

»Für die Nacht zum 20. Jänner ist im Gebirge mit heftigen Schneefällen zu rechnen.«

»Pass doch auf!«, schrie Yvonne und griff fast ins Lenkrad. Christoph überfuhr um ein Haar einen Hund, der Wagen schlitterte beim Bremsen, drehte sich leicht. Christoph hatte alles unter Kontrolle, schwor er und schaltete einen Gang höher auf der eisglatten Fahrbahn.

»Ich will nicht in den Skikurs, Mami!«, quengelte Igor aus dem Kindersitz, schlug mit seinen Skischuhen gegen den Lederrücksitz und fing schlagartig zu heulen an. »Papi, du hast einen Hund überfahren!«, schluchzte es aus seinem Mund, dessen Winkel sich wie bei einem Smiley nach unten zogen.

»Papi hat keinen Hund überfahren!«, schrie Yvonne Christoph mehr an, als den vom Schluchzen fast atemlosen Kleinen, der weiter gegen ihre Rückenlehne trampelte. »Papi ist mit dem Kopf ganz woanders, ich weiß gar nicht, warum Papi den Wauwau nicht gesehen hat. Warum hast du den Hund nicht gesehen? Das wäre ja ein toller Urlaubsbeginn. Bravo, überfährt einen Hund, weil der Herr mal wieder weiß Gott wo oder mit …«

»Hör sofort mit dem Getrampel auf«, brüllte Christoph in den Rückspiegel und versuchte mit einer Hand das Skischuhstakkato zu stoppen, wobei er sich an einer Schnalle ein Stück Haut aufriss, die zu bluten anfing.

»Der Junge kann nichts dafür«, griff Yvonne ein, während Christoph das Bluten mit dem Mund zu stillen versuchte und sich überlegte, wie er die Flecken am Lenkrad von dem beigen Leder bekäme. »Du kommst doch zu den roten Teufeln, mein kleiner Pistenschreck. Und mittags holt dich Papi ab, wenn er es nicht vergisst und im Lift …«

»Warum ich, wir …«

»Kannst du dir nicht ein einziges Mal etwas merken? Ich hatte dir doch gesagt, dass ich Petra auf dem Sonnbühel treffe!«

Igor fing wieder zu trommeln an, überprüfte zwischen den Heulschüben, ob es klug wäre, weiterzuheulen, zog es aber vor, seinen Helm überzustreifen.

»Musst du gleich an unserem ersten Ferientag Petra treffen, können wir nicht …«

»Ach, willst du sie lieber alleine treffen?«, schnitt ihm Yvonne das Wort ab. »Fahr nicht so dicht auf! Mir wird schlecht, wenn du fährst. Kannst du nicht gleichmäßig fahren? Kannst du nicht irgendetwas ausgewogen machen? Ist das zu viel verlangt?«

Christophs Lippen sprachen synchron mit, er kannte jedes ihrer Worte, jede Wendung, die folgen würde. Er konnte diese Gespräche längst alleine führen, er brauchte sie dazu nicht mehr, es war egal, ob sie neben ihm saß oder nur in seinem Kopf neben dem Schmerz in der Schläfe. Manchmal dachte er, sie sei ein Tumor in seinem Kopf, und wenn er sie ansah, war es nichts als eine Täuschung seines Hirns, das, was es zerstörte, nach außen stülpte und ihm den Körper seiner Frau zeigte, die langen blonden Haare, die ihr über die schmalen, verhärteten Schultern fielen.

Er liebte sie immer noch, liebte sie, wie man einen Feind liebt, ohne den man nicht leben kann, bis er einen umbringt. Er hatte keinen Augenblick aufgehört, verrückt nach ihr zu sein, sie nicht einmal eine Sekunde in Gedanken betrogen, hätte sie eher erschlagen als betrogen. Auch wenn sie besessen war von der Idee, er betrüge sie, betrüge sie mit Babette, betrüge sie fortwährend und am liebsten eben mit ihren Freundinnen, die sie so ansah, als hätten sie gerade mit ihrem Mann geschlafen, als würden sie noch nach ihm riechen, wenn sie ihnen zur Begrüßung die Wange küsste. Dabei hätte Christoph mehr Grund gehabt, den Spuren auf ihren Schulterblättern nachzugehen, die sie von ihren Sportstunden heimbrachte und die er in seinem naiven Begehren überblendete, wenn sie im Bad nebeneinander standen und ihre elektrischen Zahnbürsten alles waren, was von ihrem Gleichklang geblieben war.

Christoph wollte, dass in diesem Winterurlaub alles anders würde, dass sie die Kurve kratzten und ihre Gewohnheiten sie nicht wie eine Lawine begruben. Ja, wie ein Lawinenhund suchte er ihre Liebe. Er hätte ihr am liebsten einen Piepser für Touren gekauft und zuletzt einen dieser Rucksäcke, die sich aufbliesen, wenn die Schneemassen einen den Hang hinunterjagten, bevor sie die immer wieder hin und her geschleuderten Wundkörper in ihren weißen Beton einschlossen und die letzte Luft aus den Lungen pressten. Er wollte sie keine Touren mehr gehen lassen.

»Dann bring du mich doch auf Touren«, hatte sie ihn stehen lassen. Aber dieser Urlaub würde anders werden, er spürte es.

»Yvonne, lass uns zusammen die Streif fahren«, es klang fast zärtlich, wie ein Liebesschwur.

»Du hättest mich wohl gern in der Mausefalle, oder?«, aber ihre Antwort klang schon nicht mehr so hart. »Gut, wir holen Igor zusammen ab, ich schreib Petra.« Christoph strich, um ihr zu zeigen, wie ihn das freute, mit der Hand über ihre weiße Skihose. »Blut, du blutest ja, meine Skihose, du versaust mir meine Hose!«, schrie sie und Christoph bremste vor Schreck.

»Mir ist schlecht, Mami«, winselte Igor von hinten, »ich muss brechen.«

»Wirklich?«, fragte Christoph nach.

»Schnell, halt an, halt an, fahr rechts ran!« Yvonne hielt Igor sofort Christophs Kaschmirmütze hin, in die der Kleine sich übergab, als der Wagen zum Stehen kam. Yvonne sprang heraus und riss sofort die Hintertür auf, befreite Igor aus dem Gurt und hob ihn aus dem Wagen, woraufhin er den Rest des Frühstücks in den Schnee spuckte.

»Ich mag nicht in die Skischule«, flehte er, als Yvonne ihm mit einem Taschentuch den Mund abwischte.

»Meine Mütze, warum hast du ihm nicht das Taschentuch …«, Christoph beobachtete wie unter Schockstarre das vertraute Szenario.

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben, wenn du abrupt bremst. Geht’s wieder, Igor, mein kleiner Schatz?«

»Wenn er nicht in die Skischule will, dann fahr ich mit ihm, ich kann ihm doch auch etwas beibringen«, versuchte Christoph die Situation zu retten.

»Das nennst du also Erziehung, oder?« Sie zog Igor den Reißverschluss hoch. »Du gehst in die Skischule, keine Widerrede. Aber heute Nachmittag gibt es einen Skipreis.«

»Was für einen Preis? Und darf ich zu Onkel Ludwig und Gustav gehen?«, beruhigte sich der Kleine.

»Ludwig, Ingrid und Gustav sind dieses Wochenende nicht da.« Ihr Blick streifte kurz Christoph, bevor sie sich erneut zu Igor drehte. »Das hat dir Papa doch schon hundertmal erklärt, dass sie nicht kommen. Aber du darfst dir eine Playmobilfigur aussuchen!«

»Oh ja, mit Pistolen. Einen Räuber!«

Sie stiegen wieder ein. Eine eigentümliche Stille herrschte plötzlich zwischen ihnen. Yvonne strich mit ihrem Handrücken über Christophs Wange. »Wir bekommen Neuschnee«, hauchte sie, als wäre es ein Versprechen auf Küsse in der Nacht. Christoph drehte die Musik lauter, er liebte dieses Lied, ›Killing for Love‹, alles würde gut werden, er spürte es, ganz fest, tief in seinem Herzen, bis der Song von einem Warnton unterbrochen wurde:

»Wir unterbrechen die Sendung für eine dringende Meldung. Der mutmaßliche Sexualstraftäter …«

Christoph würgte die Stimme ab, scrollte den Lautstärkeregler nach links bis zum Anschlag, bis es still war. Als könnte er den Augenblick retten, ihn lebendig aus der Lawine bergen, die ihn überrollt hatte.

2

Das Phantom lag mit gebrochenem Hals neben dem Couchtisch. Der schneeweiße Teppich hatte das Rot geschluckt und streckte Bonnie seine Fransen wie Hunderte von Zungen entgegen. Schneite es? Sie konnte ihren Blick nicht vom Boden lösen. In den über den Boden verstreuten Scherben vor ihr klebten die Flocken fest. Bonnie fror. Bei jedem Schritt war ihr, als fiele sie. Als könne sie nicht mehr aufhören zu fallen. Sie war barfuß, sie stand im Blut.

Zuerst hatte sie gedacht, der Nagellack, der rote Nagellack. Wo war nur der Nagellackentferner? Sie musste zurück ins Bad. Nein, nicht ins Bad, da hatte alles begonnen letzte Nacht. Du wirst in einem Scherbenhaufen erwachen, hatte er ihr prophezeit. Und da lag er, das Phantom, in Scherben, und ihr standen ein Haufen Probleme ins Haus. Der Teppich ist hinüber, sagte sie sich. Vielleicht, wenn ich Champagner darübergieße? Sollte ich nicht eine Flasche Champagner köpfen?

Wenn sie sich jetzt im Spiegel sehen würde, würde sie sich selbst eine knallen. Ihre beste Freundin hatte ihr gesagt, jeder Rotweinfleck ginge weg, wenn man ihn mit Weißwein überschüttet, ausreibt. War ihr Herz nicht rot? »Dein Herz muss leuchtend rot sein«, hatte er ihr gesagt. »Wie dein Hundeband im Dunkeln«, hatte sie ihm antworten wollen, aber da hatte er sich schon in ihre Lippen verbissen und sie gegen die Scheibe gedrückt, als bräuchte er Sex mit Aussicht. In einem ersten Reflex wollte sie ihm das Knie in die Eier knallen, aber das hier war ja Liebe, überzeugte sie sich im Bruchteil einer Sekunde, um dem Alkohol und seinen Händen den Rest zu überlassen. Während sie gestöhnt hatte wie eine Slalomläuferin, die Stangen zur Seite schiebt, hatte sie gleichzeitig die Lichter auf der Piste gezählt, saß, die Arme um die Knie geschlungen, am Boden und hatte hinausgeschaut. Obwohl es gar nicht schneite, war kein einziger Stern zu sehen und der Himmel schien, im Vergleich zu der weißen Schneefläche vor ihr, ungewöhnlich tief und schwarz zu sein.

Kurz bevor er fertig war, kroch sie mit ihrem Höhepunkt in ihren Körper zurück, um ihn hinauszustoßen, seinen Samen abzuwehren, der kalt wie Schnee auf ihren weißen Schenkeln geklebt hatte. Sie hatte ihn zu heftig zurückgestoßen. Er war zu lange in ihr gewesen, er hatte in ihr kommen wollen, sie wusste es, er hatte ihr Herz wundgerieben mit dem Kreuz, das auf seiner Brust gebaumelt hatte, der Gekreuzigte wie ein Gehängter. Und dann hatte sie ihr rotes Herz mit Weißwein reinwaschen wollen, this is not a love song. Es waren viele Waschgänge nötig. Schleudergänge.

Und jetzt stand sie wieder vor einer Riesensauerei. So viel Weißwein hatte sie gar nicht im Haus. Diese Flecken würden ewig bleiben, auf dem Teppich, der weißen Ledercouch, auf ihrem Herzen. Da half auch kein Champagner. Sie wird dieses Geräusch nie vergessen können. Als der Hals an der Stahlkante brach, als wäre auch ihr Genick gebrochen, das Phantom, als hätte es ihr das Genick gebrochen. Sie hatte erst im Wohnzimmer gewagt, das Röhrchen aus der Jeans zu ziehen. Genauso, wie sie gelernt hatte zu ziehen.

Dann war alles ganz schnell gegangen. Zu schnell, um sich heute Morgen daran zu erinnern. Filmriss. Ihr Kopf schmerzte, schmerzte mehr als sonst. Die Tabletten lagen auf dem Nachttisch. Das Röhrchen war offen. Sie war nackt. Das Bett war mit Blut verschmiert. Kein Schmerz zeigte ihr die Wunde.

»Der mutmaßliche Sexualstraftäter …«, sie schlug den Radiowecker aus, schrie auf und entdeckte die Scherbe in ihrer Handfläche. Im nächsten Moment sprang der Fernseher gegenüber dem Bett an und zeigte die Hahnenkammwebcam. Ein Mann mit schwarzem Helm entfernte sich in dem undeutlichen Flimmern von der Bergstation. Fuhr die Gondel denn schon?, fragte sich Bonnie und vergaß für eine Sekunde, was sie im Wohnzimmer entdeckt hatte.

Heute war die Streif, durchschoss es sie, Ausnahmezustand. Kein Tag wie jeder andere.

Sie legte die Hand auf den Bauch. Sie durfte keine Zeit verlieren. Wo waren ihre Kleider? Sie musste ins Bad, zuerst ins Bad. Einen klaren Kopf, ins Bad, eine kalte Dusche, kalt duschen, das hilft, Schminke, man durfte ihr nichts anmerken. Sie drehte das Wasser auf, der harte Strahl traf die Brust, als es an der Tür läutete. Oh Gott, das hatte sie ganz vergessen. Sie verharrte in Schockstarre, als es erneut durch die Wohnung schrillte. Sie warf sich den Bademantel um und rannte zur Tür, sprang über die Scherben, lief durch das Rot, um die Kette in den Anschlag zu zwingen und die Tür einen Spaltbreit zu öffnen.

»Hey, Bonnie, wie siehst du denn aus?«, lachte Schatterer sie an. »Hast du wieder einen über die Klinge springen lassen? Der Motor läuft. Keine Zeit zu verlieren. Magst du mich nicht reinlassen?«

»Ich komm gleich«, schlug ihm Bonnie die Tür vor der Nase zu und rutschte an der Wand zu Boden.

»Ich steh vor der Einfahrt«, hörte sie ihn rufen, dann waren es nur noch Schritte und aus dem Fernsehgerät tönte es »Kitzbühel, du mein Augenstern« und vor dem Fenster explodierte ein Feuerwerkskörper. Bonnie umschlang wieder ihre Knie. »Ich werde verrückt«, murmelte sie, »ich darf nicht verrückt werden, mach dich nicht verrückt.«

Der Knoten ihres Mantels löste sich.

3

»Würdest du auch einen Mörder verteidigen?« Joseph Grünsee stand am Ufer des Schwarzsees.

»Warum, hast du jemand umgebracht?«

Wie weit würde das Eis tragen? Er inhalierte die Kälte, sog den Nebel in seine Lungenflügel und setzte den linken Fuß vorsichtig auf das Eis.

»Nein, noch nicht.«

Er hatte ihn inmitten des Lärms wegen der Tausenden von Stimmen in seinem Kopf kaum verstanden, durch seine Gehörgänge dröhnten Stiefel.

»Aber wenn«, hatte er geschrien, »wenn, würdest du das dann für mich übernehmen?« Jetzt den rechten Fuß, die Oberfläche trug sein Körpergewicht leichter als seine Schläfen.

»Ja, ja, würde ich, wenn du nicht mich umbringst«, hatte er lachend geantwortet und versucht, hinter seinem Lachen jeden Gedanken in einer eigenen Zelle auszunüchtern. Ob er noch einen zweiten Schritt riskieren konnte?

»Und wenn es ein Kind wäre?«

»Ein Kind?«

Das Eis knisterte, wurde lauter, ein Lauffeuer unter dem Eis, Trommelschläge, als liefe ein Riss durch die Welt und mitten durch ihn hindurch. Sollte er zurückspringen oder stillstehen?

»Ein Kind«, hatte er wiederholt, als hätte er nicht recht verstanden worum es geht. »Einen Inder?«, hatte er gefragt, gehofft, er habe sich verhört. »Einen Inder willst du umbringen, keinen Russen?«

»Du hörst von mir«, hatte der Unbekannte sich verabschiedet und war auf der Tanzfläche zwischen den gebogenen Körpern verschwunden.

Joseph drehte sich und sprang zurück auf den sicheren Boden. Hatte er sich zu weit aufs Eis gewagt? Das Gespräch von gestern Nacht, oder war es heute Morgen?, ging ihm nicht aus dem schmerzenden Schädel, aus dem Bauch, der ihm gerade mitteilte, dass er fast eingebrochen wäre.

Joseph setzte sich auf die schneebedeckte Bank und tränkte seinen Mantel mit Nässe. Er spürte die Kälte unter sich nicht, nur das Echo seines Herzschlags, das unter der Eisdecke dort draußen lag. Jeden Morgen hielt er auf dem Weg in die Kanzlei am See für eine Zigarettenlänge, für ein paar Lungen- und Schwimmzüge. Das Wetter machte ihm nichts aus, er ignorierte es, es hatte nichts mit ihm zu tun, so sehr es sich auch um seine Aufmerksamkeit bemühte, wenn der Schnee ihm die Augen verklebte oder der Regen auf ihn eintrommelte, ihn von hinten überraschte oder gar golfballgroße Hagelkörner nach ihm schlug. Jedes Wetter war ihm recht, beim Stehen am See, in der Sonne, im Nebel, im Wasser, im Eis, in der Dämmerung, in der Nacht, die nicht heimwollte auf die andere Seite der Erde. Meistens war er allein hier, er und der Wilde Kaiser, über ihnen nur Himmel, die Stille, die sie mit den Tieren im lauernden Dunkel teilten. Nur im Sommer störte ihn ein aufdringlicher Immobilienmakler, der seinen Liegestuhl in der ersten Reihe aufklappte, Handtücher über die Lehne warf oder seine Schuhe auf der Sitzfläche abstellte, als würde er laufen, als wäre er gelaufen, als wollte er mehr, als nur in der ersten Reihe liegen und alle ausblenden. Joseph hatte sich oft vorgestellt, wie er ihn unter Wasser drücken würde, wie er ihn auf seinem Stuhl festband und hinaus auf den See schob, wie er ihm die Tennissocken in den Mund stopfte. Dieser Mensch war eine Umweltverschmutzung, eine Landschaftsverschandelung. Er verstand nichts von der Magie dieses Ortes und seinen Gesetzen, die die Menschen nur duldeten. Aber noch mehr hatte er Joseph gestört, wenn er die Schwimmerin beobachtete, deren Armbewegungen ihn hypnotisierten und in seinen Blicken mit den Wellen verschmolzen. An dem Tag, an dem Joseph sie ansprechen würde, würde sein Leben sich verändern, würde nichts mehr bleiben, wie es war.

Heute war er allein am See, im Winter gehörte er ihm, auch wenn er hoffte, er würde sie am Horizont auf Langlaufskiern vorbeigleiten sehn, ihre fließenden Arme und Schulterblätter.

Joseph wollte bis zum Sonnenaufgang warten. »Würdest du auch einen Mörder verteidigen?« Er wiederholte wieder und wieder das Gespräch. Er isolierte den Lärm, die Beats, die Champagnerflaschen, Wodkakübel, den DJ, die schmalen Hüften und T-Shirt-Ausschnitte, die fliegenden Haare, die Knöchel, Absätze und Tattoos, um diesen Mann vors Auge und sein Gesicht zu bekommen. »Und wenn es ein Kind wäre?« Er schaffte es nicht, er hörte nur die Stimme. Er bekam kein Phantombild zusammen, sah nur die feisten, aufgeblähten durchlöcherten Schwammfressen der neureichen, gealterten Unternehmersöhnchen, die das Geld von Generationen versoffen, verrauchten, verhurten. Schwarze Anzüge, weiße offene Hemden, Seidenschals, blasierte Langweiler, die sich alle ähnelten, so unterschiedlich hässlich sie auch waren mit ihren Silikonseelen, ihren aufgespritzten Herzen und ihren Schwänzen mit Geldchip.

Joseph lächelte, denn so hätte er es nie gesagt, aber da war dieser Journalist, mit dem er auf der Party war, dem zuliebe er überhaupt hingegangen war, der aber dann nach dem gesetzten Dinner verschwunden war. Bis plötzlich dieser Mann neben ihm saß. »Ein Kind.« Joseph untersuchte seine Taschen, ob sich nicht vielleicht irgendwo eine Visitenkarte, eine Nummer fand. Ein sinnloses Unterfangen, er hatte sich umgezogen. Er war nach Hause gegangen, hatte sich unter die Dusche gestellt, rasiert, einen Löffel Chilipulver pur geschluckt, Ingwertee getrunken, sich wie jeden Morgen perfekt gekleidet, und war sofort wieder aufgebrochen, obwohl er sich ein paar Stunden Schlaf hätte gönnen können. Aber nichts konnte die Disziplin seines Rituals durchbrechen. Das Einstecktuch, der Zündschlüssel, die Zigarette am Kaiser, der Klang des Motors, der ihn auf Touren brachte. Man hätte ihn schon erschießen müssen.

 

Es würde ein unbeschreiblicher Tag werden, wusste Joseph. Der Wilde Kaiser wuchs über sich hinaus, der Himmel würde leuchten, als müsste er blau anlaufen vor Glück. Die Helikopter würden Loopings fliegen und die Münder und Herzen offen stehen. In der ganzen Welt würden sie ob dieser Schönheit den Atem anhalten, wenn die Abfahrer mit angewinkelten Beinen über die Hausbergkante sprangen, unter ihnen Kitzbühel in der Tiefe lag und sie für einen Augenblick unendlich wären, bevor sie sich weiter ins Ziel hinabstürzten und auf dem blanken Eis hinunterrasten in die Hysterie der jubelnden Menge, deren Metastasen sich über die Stadt verteilten und vermehrten.

Es würde ein Tag werden, den jeder, wäre er erfunden, als übertrieben abtun würde, als nachcoloriert, eine blühende Eisblumenphantasie. »Einen Mörder verteidigen.« Heute würde Kitzbühel in Schönheit sterben, dachte Joseph. Aber wer musste mit seinem Leben dafür bezahlen? Alle Augen werden auf die Piste gerichtet sein oder das Glas, die Flasche in der Hand, alle Blicke würden nach oben gehen.

Joseph war nicht mehr allein. Der Parkplatz füllte sich mit Bussen und die Busse spuckten Menschen aus, als wäre ihnen während der Fahrt schlecht geworden. Als Joseph zu seinem Auto ging, sah er einen Fast-Auffahrunfall. Wahrscheinlich war der Fahrer eingenickt. Sekundenschlaf, dachte Joseph, und schloss für einen Augenblick die Augen. »Die roten Teufel«, las er auf einem Plakat, das nur noch in Fetzen an der Holzwand hing, und musste an die Skikurse denken. »Und wenn es ein Kind wäre?« Die Pisten würden einsam sein heute, bis auf die Kinder, erschrak er und schloss die Wagentür auf.

4

Die Pisten waren leer. Wie leergefegt, dachte Ödön Lunge. Als wäre er der einzige Überlebende nach einer schmutzigen Bombe, ein Skifahrer mit Rucksack, der die Absperrungen überwunden hatte und in den Zielraum über die Hausbergkante hinabgerast war, wo die ersten Champagnerkorken knallten und statt Schneeflocken Konfetti durch die Luft schwebte, obwohl es noch viel zu früh zum Feiern war, denn es waren noch nicht einmal die Vorläufer auf der Piste.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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