Selbstwertübungen - Susanne Annies - E-Book

Selbstwertübungen E-Book

Susanne Annies

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Beschreibung

Interventionen zur Förderung eines positiven Selbstkonzeptes Gut zu wissen: Einführung in das Konzept des Selbst und Selbstwertgefühls Praxis: Psychotherapeutische Interventionen nach Therapiephasen und Altersindikation Online: Übungen, Kurzgeschichten & Audio-Aufnahmen mit Selbstwertgeschichten Im Sinne eines entwicklungspsychologischen und transdiagnostischen Ansatzes stellt das Arbeitsbuch praktische Interventionen zur Etablierung eines positiven Selbstwertgefühls vor. Die Übungen stammen aus der kognitiven Verhaltenstherapie und bewegen sich auf den Ebenen Kognition, Physiologie, Emotion sowie Motorik und beziehen im Sinne eines systemischen Ansatzes Bezugspersonen mit ein. Identität, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl werden früh geprägt. Sie gelten als Vulnerabilitätsfaktoren für psychische Erkrankungen. Im Kindes- und Jugendalter sind Selbstkonzept und Selbstwertgefühl entwicklungsbedingt vulnerabel und im Erwachsenenalter häufig Mitverursacher einer Erkrankung. Interventionen zur Stärkung eines positiven Selbstkonzeptes können in jedem Lebensalter erfolgreich eingesetzt werden. 

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Seitenzahl: 385

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Dies ist der Umschlag des Buches »Selbstwertübungen« von Susanne Annies

Susanne Annies

Selbstwertübungen

Ein Arbeitsbuch für die Psychotherapie von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

Schattauer

Die digitalen Zusatzmaterialien haben wir zum Download auf www.klett-cotta.de bereitgestellt. Geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Suchcode ein: OM40180

Impressum

Dr. Susanne Annies

Psychologische PsychotherapeutinAdalbert-Stifter-Str. 9494145 Haidmü[email protected]

Besonderer Hinweis:

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer:innen aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Herstellerfirmen zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall Spezialist:innen zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Die Benutzer:innen selbst bleiben verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Schattauer

www.schattauer.de

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltungskonzept: Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von adobe stock / Valerii Honcharuk

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Lektorat: Miriam Seifert-Waibel, Hamburg

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

ISBN 978-3-608-40180-6

E-Book ISBN 978-3-608-12279-4

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20667-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Dank

1 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in Psychologie, Psychotherapie und Neurowissenschaften

1.1 Einführung ins Thema

1.2 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der Entwicklungspsychologie

1.3 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der Philosophie und frühen Psychologie

1.4 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der Psychoanalyse

1.5 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der humanistischen Psychologie

1.6 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der Systemischen Therapie

1.7 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der Kognitiven Verhaltenstherapie und deren dritter Welle

1.7.1 Verhaltenstherapie

1.7.2 Kognitive Therapie

1.7.3 Dritte Welle der Kognitiven Verhaltenstherapie

1.8 Exkurs: Allgemeine und prozessbasierte Psychotherapie

1.9 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in den Neurowissenschaften

1.10 Ein kurzes Resümee

2 Zur praktischen Umsetzung von Selbstwertarbeit

2.1 Depressive Störungen

2.1.1 Behandlung

2.2 Borderline-Persönlichkeitsstörung

2.2.1 Behandlung

2.3 Fazit zur Selbstwertarbeit bei psychischen Störungen

3 Selbstwertübungen

3.1 Therapiephasen und Wirkfaktoren

3.1.1 Die sieben Phasen der Selbstmanagement-Therapie

3.1.2 Wirkfaktoren der Psychotherapie

3.2 Übungen zu Beziehungsaufbau und Diagnostik

3.2.1 Fragenbögen, um über den Selbstwert zu sprechen

3.2.2 Sätze, um über den eigenen Selbstbezug nachzudenken

3.2.3 Das Selbstkonzept als Baum, der sich aus den Wurzeln entwickelt

3.2.4 Psychoedukation zum Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl: Die Säulen des Selbstbilds – Teil 1

3.3 Übungen zu kognitiver Vorbereitung und Therapieplanung

3.3.1 Verhaltensanalyse des Selbstwertgefühls und das Modell der Aufrechterhaltung

3.3.2 Die Exploration des Selbstkonzepts über die Säulen des Selbstbilds mit Ressourcen- und Zielanalyse: Die Säulen des Selbstbilds – Teil 2

3.3.3 Das Pflänzchen Selbstmitgefühl hegen und pflegen

3.3.4 In guter Partnerschaft mit uns selbst

3.3.5 Das Grundgesetz als Wertekompass für unseren Selbstwert

3.3.6 Der Glaube als Wertekompass für den Selbstwert

3.3.7 Akzeptanz von negativen Gefühlen

3.3.8 Marie: Eine Geschichte über Selbstunsicherheit bei Kindern und deren Bewältigung

3.3.9 Ben: Eine Geschichte zur Auswirkung von Depressionen auf das Selbstwertgefühl bei Jugendlichen

3.3.10 Hassan: Eine Geschichte über die Bedeutung von sozialem Lernen und Aktivitäten als Selbstwertstärkung bei Kindern und Jugendlichen

3.3.11 Paul: Eine Geschichte über Selbstzweifel und den Körper im Jugendalter

3.3.12 Leni: Eine Geschichte über Traumata im Kindesalter, Selbstzweifel und Narrative Rekonstruktion

3.3.13 Lea und Cheyenne: Eine Geschichte über die Einzigartigkeit des Selbst

3.3.14 Eddie und Rocky: Eine Geschichte über Selbstzuschreibungen und Selbstwert

3.3.15 Angelika: Eine Geschichte über Traumata, Selbstunsicherheit und Expressives Schreiben

3.3.16 Andreas: Eine Geschichte über Selbstzweifel, körperliche Erkrankung und Neuorientierung mittels Akzeptanz

3.3.17 Ida: Eine Geschichte über die eigene Wichtigkeit und die Kürze des Lebens

3.3.18 Fallkonzeptualisierung für Psychoterapeut:innen

3.4 Übungen der Interventionsphase

3.4.1 Manuelo Maus und Sarah Spitzmaus: Eine Geschichte über mangelndes Selbstwertgefühl und Verhaltensmodifikation

3.4.2 Mein Selbstbild und Selbstwertgefühl – alt und neu. Kognitive Arbeit: Die Säulen des Selbstbilds – Teil 3

3.4.3 Schreiben Sie sich eine Smiley-Karte: Selbstwertsätze finden

3.4.4 Tipps für Eltern

3.4.5 Ein Verstärkerplan für Kinder

3.4.6 Die Spiegel im Schloss: Eine Geschichte über die Unzuverlässigkeit von Schönheitsidealen

3.4.7 Werden Sie ärgerlich: Eine Aufforderung zur kritischen Distanzierung von Schönheitsidealen

3.4.8 Zuspruch, Dankbarkeit und Mitgefühl für den eigenen Körper

3.4.9 Der Papagei: Eine Geschichte zum Umgang mit der selbstkritischen Stimme

3.4.10 Die Eisenkugel: Über den Umgang mit dem negativen Selbstbild

3.4.11 Bunter denken: Die eigenen Gedanken prüfen

3.4.12 Selbstkonzept-Puzzle: Die Vielfalt des Selbst entdecken

3.4.13 Ich bin eine Schatzkiste: Den eigenen Selbstwert regelmäßig unterstützen

3.4.14 Selbstwertliste: Eine Sammlung hilfreicher Sätze zum Selbst

3.4.15 Unsere Ohren und unser Kopf hören uns zu: Eine Aufforderung zu einem achtsamen inneren Dialog

3.4.16 Seien Sie mit sich allein: Zeit zur Selbstreflexion finden

3.4.17 Metta-Meditation: Selbstmitgefühl fördern

3.4.18 Der dreibeinige Windhund: Eine Geschichte über Fairness im Umgang mit sich selbst

3.4.19 Mitfühlende Pausen: Zeit zum Üben

3.4.20 Der Esstisch der Seele: Anteilsarbeit

3.4.21 Narrative Rekonstruktion: Eine konstruktivistische Perspektive auf das Selbst und die Bewältigung von Lebensherausforderungen

3.4.22 Expressives Schreiben: Bewältigung von Traumata und Belastungen

3.4.23 Mithilfe von Imagination ein Selbstbild verändern: Kognitiv-imaginative Rekonstruktion

3.4.24 Ich hänge mir den Selbstwertumhang um: Geistiges Einüben

3.4.25 Fragen an mich selbst: Zeit zur Selbstreflexion

3.5 Übungen zum Selbstmanagement und der Therapiebeendigung

3.5.1 Lebensaufgaben: Langfristiges Üben

3.5.2 Im Fluss des Lebens für uns selbst sorgen: Trotz Krisen auf uns selbst aufpassen

3.5.3 Ein mitfühlender Brief zum Abschied: Eine Erinnerungshilfe schaffen

4 Zu den Fallbeispielen

4.1 Fallbeispiel 1: Soziale Ängstlichkeit des Kindesalters und niedriger Selbstwert

4.2 Fallbeispiel 2: Bipolare Störung und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

4.3 Fallbeispiel 3: Rezidivierende Depression und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung

Literatur

Dank

Zu großem Dank bin ich Frau Dr. Nadja Urbani vom Schattauer Verlag verpflichtet, die sich des Projekts angenommen und es mit zielgerichteten Fragen und Anmerkungen in die richtigen Bahnen gelenkt hat.

Familie und Freund:innen unterstützten dieses Projekt mit fachlichem Rat, Korrekturen, Rückmeldungen, Probelesen und einem langen Wochenende mit Photoshop-Arbeiten. Ein Riesendank geht dafür vor allem an Attiya, Bettina, Graziella, Hendrik, Jannis, Joshua, Max, Meison, Nicole, Regina und Sebastian!

1 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in Psychologie, Psychotherapie und Neurowissenschaften

1.1 Einführung ins Thema

»In its widest possible sense, however, a man’s Self is the sum total of all that he CAN call his, not only his body and his psychic powers, but his clothes and his house, his wife and children, his ancestors and friends, his reputation and works, his lands and horses, and yacht and bank-account.«

(William James 2001 [1892], S. 44)

William James (1842–1910)1, einer der amerikanischen Urväter der Psychologie, beschrieb bereits 1890 das Selbst (»Self«) als das Wissen um unsere eigene Person. Er unterschied zwischen dem Ich (»I«) und dem Mich (»Me«). Es geht hier unter anderem um die Frage, wer spricht, wenn jemand sagt: »Ich halte mich nicht für wertvoll.« Das Ich gilt bei James als reflektierendes, selbstaufmerksames Bewusstsein, währenddessen das Mich das Selbstkonzept umfasst, mit all seinen Gefühlen, Körperempfindungen, Erinnerungen und Gedanken.

Der dtv-Atlas zur Psychologie nennt das Selbst unser individuelles Vergegenwärtigungssystem. Die Entwicklung eines Selbst im Sinne von Selbstbild, Selbstwertgefühl usw. sei ein lebenslanger Prozess (vgl. Benesch 1987, S. 468). Das Lexikon der Psychologie – Dorsch (Wirtz 2021) definiert das Selbst als selbstbezogenes Wissen. Das Selbstkonzept wird definiert als ein System aus kognitiven und affektiven Einstellungen zu sich selbst. Es geht also um die Frage, wer ich bin, was ich über mich denke und glaube, was ich fühle, was ich mag, was ich kann, was ich gerne mache und wovon ich träume. Das Wissen über unser Selbst, respektive das, was wir von uns glauben, ist eine Art Informationssammlung, die sich durch unsere Interaktionen mit unserer Umwelt, unseren Mitmenschen, unserem Körper und unserem Bewusstsein entwickelt (vgl. Bukowski 2019; Neisser 1988).

Fallbeispiel 1

Mia2 ist 9 Jahre alt, als die Grundschullehrerin auf dem Elternsprechtag der Mutter mitteilt, dass sie glaubt, Mia sollte der Schulpsychologin vorgestellt werden. Mias Mutter ist zwar erschrocken, aber nicht überrascht. Bereits im Kindergarten wurde deutlich, dass Mia ein schüchternes und ängstliches Mädchen ist, welches sich schwertut, mutig und selbstsicher zu agieren. Sie steht hinter anderen Kindern zurück, bleibt oft stumm, obwohl ihre sprachliche, motorische und intellektuelle Entwicklung unauffällig ist. Sie verweigert den Sportverein, weil sie zu viel Angst hat. Auch in der Grundschule und im Klassenzimmer ist Mia zurückhaltend und traut sich nicht, sich zu melden. Wenn ihre Mutter oder ihr Vater sie fragen, warum sie sich nicht melde, sagt Mia: »Ich sage vielleicht etwas Doofes und dann lachen die anderen Kinder. Ich kann nicht so gut erklären wie die anderen.«

Das Selbstkonzept eines Menschen entwickelt sich bereits im Säuglingsalter, wenn Babys bemerken, dass sie Gegenstände bewegen können und sich daran erfreuen. Mit zunehmenden Monaten sind Kleinkinder in der Lage, sich im Spiegel zu erkennen, und haben eine Vorstellung von Geschlecht und Alter. Das Kindergarten- und Vorschulalter ist in der Regel dadurch geprägt, dass sich Kinder unrealistisch positiv wahrnehmen (z. B.: »Ich kann schon bis 100 zählen!!! Hör mal: 1, 2, 3, 4, 5, 7, 8, 10, 11, 13, 14, 20, 30, 40, 100!«). Im Grundschulalter setzt dann zumeist eine differenzierte Wahrnehmung des Selbst, seiner Attribute und Fähigkeiten, ein (vgl. Siegler et al. 2021).

Vor diesem Hintergrund ist einerseits verständlich, dass Mia als Grundschulkind einen kritischen Blick auf sich und ihre Fähigkeiten hat. Andererseits wird deutlich, dass Mias kritisches Selbstkonzept bereits sehr früh, vermutlich im Kindergartenalter, entstanden ist und sie sich schon lange nicht traut, mutig und selbstbewusst zu agieren. Hier behindert ihr kritisches Selbstkonzept ein unproblematisches Agieren in der Schule und ihre Schullaufbahn. Viele unserer kleinen und großen Patient:innen hadern mit dem Selbstwert, und das oft schon einige Jahre.

Fallbeispiel 2

Martin ist 17 Jahre alt, als er das erste Mal entscheidet, in Psychotherapie zu gehen. In den letzten Monaten war er oft sehr niedergeschlagen und dachte sogar über Selbstmord nach. Er geht in die zwölfte Klasse eines Gymnasiums, was er unproblematisch schafft. In seiner Freizeit zockt er gerne und geht vier Mal die Woche ins Fitnessstudio. Das macht er schon mehrere Monate und isst besonders eiweißreich, um endlich mehr Muskeln aufzubauen. Martin hat zwei Onlinekumpel, mit denen er ein Fantasyspiel zockt, zu seinen Klassenkamerad:innen oder Fitnessstudiokolleg:innen hat er aber wenig Kontakt. Er hatte noch keine Freundin, obwohl er sich seiner Heterosexualität sicher ist und sich auch schon öfter verliebt hat. In der psychotherapeutischen Exploration erweist sich seine langjährige Schüchternheit, Scham und sein Rückzugsverhalten als problematisch. Er sagt über sich: »Ich bin viel zu lang und dünn. Ich kann den Mädels nichts bieten. Was soll ich denn auch sagen?!« Martin möchte gerne selbstbewusster werden und träumt davon, auch mal auf ein Musikfestival zu gehen, wo er mit anderen jungen Männern und Frauen ausgelassen tanzen und feiern kann – was er sich bisher nicht zutraut.

In dieser Fallskizze zeigt sich die Besonderheit des Jugendalters: Der Körper, seine Attraktivität und die sozialen Vergleiche rücken mehr in den Vordergrund. Das Selbstkonzept beginnt sich auszudifferenzieren, ist oft noch ambivalent und erstreckt sich nicht nur auf persönliche und interpersonelle Fähigkeiten sowie innere Attribute, sondern zusätzlich auch auf die körperlichen (vgl. ebd.). Viele Jugendliche und oft auch Erwachsene hadern mit ihrer körperlichen Erscheinung, gerade vor dem Hintergrund unrealistischer und unerreichbarer Schönheitsideale in der westlichen Welt und in den sozialen Medien. Dies beginnt teils im Grundschulalter, wenn auch die Jugend das besonders vulnerable Alter für die Entstehung von körperbezogenen psychischen Erkrankungen, wie Essstörungen, ist. Dabei spielt der Selbstwert als Vulnerabilitätsfaktor eine entstehungsbegünstigende Rolle (vgl. Legenbauer & Bühren 2021). Das Problem am negativen Selbstkonzept und in der Folge am niedrigen Selbstwertgefühl sind der Zusammenhang mit einem verminderten Wohlbefinden und psychischen Störungen, gerade Depressionen, Angst- und Essstörungen (vgl. Potreck-Rose & Jacob 2016; Hilbert et al. 2019; Sarubin et al. 2020; Orth & Robins 2014, 2022).

Fallbeispiel 3

Frau Meier ist 63 Jahre alt und kommt zum ersten Mal in ambulante Psychotherapie, nachdem sie aufgrund einer rezidivierenden depressiven Erkrankung, einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer chronifizierten Schmerzstörung in einer stationären psychosomatischen Klinik behandelt wurde. Dort habe sie ihr inneres Kind entdeckt, ein sehr verletztes Wesen, so beschreibt es die Patientin. Frau Meier ist schwer rheumatisch erkrankt und hat chronische Schmerzen. Sie ist zum zweiten Mal verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Der Lebensweg kann als traumatisch beschrieben werden, mit diversen Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie und in den Partnerschaften. Ihre aktuelle Ehe ist trotz aller Streitigkeiten und Abwertungen relativ stabil. Frau Meier leidet darunter, dass sie ihrem üblichen Fleiß und Arbeitsstreben nicht mehr konsequent nachgehen kann. Aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen kann sie ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben und denkt über Frührente nach. Sie sagt erschöpft und traurig über sich: »Ich bin ein Nichts. Eigentlich schon immer.«

Auch in dieser Fallskizze begegnen wir dem Zusammenhang von Selbstkonzept und psychischer Erkrankung. Wir sehen eine schwer kranke Frau, die bisher gut »funktionierte« und zuvor niemals stationäre oder ambulante Psychotherapie in Anspruch nahm. Im Zusammenhang mit der Exazerbation einer körperlichen Erkrankung als Stressor brach die Patientin jedoch zusammen. Eine wichtige Ressource und Selbstwertquelle der Person, ihre Arbeit, ist weggefallen. Damit wird ihr Selbstkonzept infrage gestellt. Viele Patient:innen mit einem negativen Selbstkonzept im Sinne negativer Grundannahmen über sich (vgl. Beck 1999) haben dieses negative Bild von sich aufgrund schwieriger Erfahrungen früh erworben. Oft schaffen sie es aber über weite Strecken, dies mittels bestimmter Ressourcen, Regeln und Verhaltensweisen zu kompensieren. Stellen sich hier Veränderungen ein, zum Beispiel Verluste und Krisen, kommt es häufig zu einer psychischen Dekompensation. So kann die Patientin in diesem Fall ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen, wodurch das subjektive Erleben, ein Nichts zu sein, intensiviert wird. Die Arbeit war eine wichtige Säule des Selbstwerts und eine Kompensationsmöglichkeit für das negative Selbstkonzept.

Fazit

Selbstkonzept und Selbstwert werden früh geprägt. In jungen Jahren ist ein negatives, teils unklares oder kritisches Selbstkonzept zwar relativ normal, stellt jedoch einen Vulnerabilitätsfaktor für psychische Erkrankungen dar. Auch wenn Patient:innen Strategien entwickeln, ihr negatives Selbstkonzept zu kompensieren und zu bewältigen, stellen Entwicklungsaufgaben, Krisen und Verlusterfahrungen Herausforderungen dar. Unter diesen Stressoren kommt es häufig zu einer Dekompensation. Dies ist dann oft der Startpunkt für eine Psychotherapie.

1.2 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der Entwicklungspsychologie

»Human nature is not a machine to be build after a model […], but a tree which requires to grow and develop itself on all sides, according to the tendency of the inward forces which make it a living thing.«

(John Stuart Mill 1851, S. 107)

Der britische Philosoph John Stuart Mill (1806–1873) war ein Freiheitsdenker. Er glaubte an die freie und individuelle Entwicklungskraft eines jeden Menschen. Diese Möglichkeit zur freien Entwicklung forderte er von der Gesellschaft und der Politik. Die Entwicklungspsychologie beschreibt die Phasen dieser Entwicklung, der Selbstwerdung (vgl. Kegan 1994; Oerter & Montada 2008; Greve 2018; Thomsen et al. 2018; Lohaus & Vierhaus 2019; Siegler et al. 2021): Bereits im Säuglingsalter entwickelt sich ein erstes rudimentäres Selbstkonzept. Über die Wahrnehmung des eigenen Körpers – etwa die Fähigkeit, ein Spielzeug zu bewegen oder mittels Weinen und Schreien die Nähe der Eltern zu regulieren – erlebt sich der Säugling um den achten Lebensmonat zunehmend als eigenständige, abgetrennte Entität. Dies kann als soziale Kognition und Entwicklungsvorstufe der Theory of Mind 3 begriffen werden (vgl. Astington & Edward 2010; Sommerville 2010; Moore & Corbit 2019). Bei autistischen Kindern nimmt man hingegen ein vermindertes Selbstbewusstsein, eine verminderte Wahrnehmung des Selbst, an. Bei gesunden Kindern werden die Interaktionen mit Bezugspersonen über geteilte Aufmerksamkeit und über Objektreichungen zum Spielen zunehmend intensiver.

Sich selbst im Spiegel zu erkennen (z. B. Rouge-Test4), gelingt ungefähr ab dem 18. Lebensmonat und zeugt von der inneren Abbildung des Selbst in der Erinnerung und der Entwicklung eines Selbstkonzepts. Rochat (2003) postuliert in Bezug auf das Selbstbewusstsein und die Spiegelerkennung ein fünfstufiges Modell (Five-Levels of Self-Awareness). Aus Konfusion (Stufe 0), einem undifferenzierten Zustand, entwickelt sich das metakognitive und reflektierte Selbstbewusstsein (»Ich bin Ich. Andere nehmen mich auf eine bestimmte Weise wahr«, Stufe 5), und zwar über die Differenzierung (»Da ist ein Spiegelbild!«, Stufe 1), die Situationserkenntnis (»Ich bin das im Spiegelbild!«, Stufe 2), die Identifikation (»Ich kann mich wieder und klarer im Spiegel erkennen und identifizieren!«, Stufe 3) und die Permanenz (»Ich kann mich im Spiegel, auf Fotos von früher und auch in Videos erkennen!«, Stufe 4). Das metakognitive Ich-Bewusstsein entwickelt sich erst ab ca. dem fünften Lebensjahr. Aufgrund unterschiedlicher Ergebnisse des Rouge-Tests in unterschiedlichen Kulturen ist man sich einig, dass es einen kulturellen Einfluss darauf gibt, wie Kinder über sich selbst und ihre Umwelt denken.

Das Wiedererkennen auf Fotografien gelingt ungefähr ab 24 Monaten. Auch Autonomiewünsche, die mit Selbstbehauptung und Durchsetzung eigener Ziele einhergehen, nehmen in dieser Zeit immer mehr zu. Mit dem Spracherwerb beginnt dann die Narration der eigenen Lebensgeschichte, die zusätzlich vom Selbstbewusstsein zeugt. So wird das Selbstkonzept in der Kindheit immer komplexer. Die Interaktionen und Bindungserfahrungen mit Bezugspersonen geben den Kindern eine Rückmeldung über das, was andere von ihnen glauben, was sie für sie empfinden und welche Gefühle diese ihnen entgegenbringen. Neben diesem Einflussfaktor auf das Selbstkonzept werden jedoch auch genetische, kulturelle, geschlechtsspezifische Aspekte, körperliche Attraktivität und die eigenen Selbstzuschreibungen als weitere Einflüsse diskutiert.

Kinder im Kindergarten- und Vorschulalter haben in der Regel eine überaus positive Sicht auf sich selbst, wobei dies eine gute, motivierende Grundlage zur Exploration des eigenen Lebensraums darstellt. Warum diese positive Selbstsicht vorhanden ist, ist nicht abschließend geklärt. Eine unvollständige Theory of Mind (vgl. Knopf & Mack 2007) kann als Ursache vermutet werden, sodass die eigene Vorstellung mit der Realität verwechselt wird. Selbstbeschreibungen in diesem Alter sind oft sehr konkret und beziehen sich auch auf Vorlieben (z. B. »Ich bin sehr groß und ich kann super Fußball spielen«). Erst im Grundschulalter wird die Selbstwahrnehmung langsam differenzierter und damit kritischer (z. B. »Ich kann gut lesen und schreiben, aber Rechnen verstehe ich nicht so gut. Da sind meine Noten schlechter. Mein Freund kann das viel besser als ich. Er ist auch beliebter als ich«).

Mit zunehmendem Alter können Kinder Konzepte höherer Ordnung bilden, im Teenageralter zunehmend abstrakt denken und damit ein umfassendes und zusammenhängendes Bild von sich selbst entwickeln. Auch der soziale Vergleich sowie das sich Ausprobieren in verschiedenen Lebensbereichen nehmen immer mehr zu. Diese Entwicklung hin zu einem kritischen, differenzierten Selbstkonzept, welches für unterschiedliche Lebensbereiche unterschiedlich aussehen kann (z. B. für Leistung, Freundschaften, Werte, Elternbeziehung), setzt sich über die Adoleszenz fort. Man spricht auch von erarbeiteter Identität, einer Art idealem Endpunkt des Selbstkonzepts. Im Gegensatz dazu stehen eine übernommene, eine kritische/unentschiedene oder eine diffuse Identität (vgl. Erikson 1979, 1981; Marcia 1980). Die Selbstfindung, das Bilden eines Selbstkonzepts beziehungsweise einer eigenen Identität, gerade in Abgrenzung und Verbundenheit zu anderen, kann zu emotionalen und kognitiven Identitätskrisen führen. Negative oder verwirrende Selbstwertgefühle gehören in der Adoleszenz dazu, genauso wie ein starker Egozentrismus und das Beschäftigt-Sein mit den Wirrungen des Selbst und seiner Außenwirkung. Durch ein einfühlsames und erklärendes Umfeld kann es leichter gelingen, die Komplexität des menschlichen Selbst und Seins zu verstehen und in das eigene Selbstkonzept zu integrieren. Als erschwerende Bedingungen der Identitätsfindung gelten Faktoren wie: einer ethnischen oder ausgegrenzten Minderheit anzugehören oder in einem gewaltbereiten Umfeld groß zu werden. Erst mit den Jahren, im Erwachsenenalter, wird das Selbstkonzept stabiler und differenzierter (vgl. Orth & Robins 2014). Dabei sind sich Erwachsene ihrer verschiedenen Anteile und Säulen der Identität (vgl. Petzold 2012) zunehmend bewusster. Der Selbstwert stabilisiert sich sukzessive bis zum 30. Lebensjahr, bis er mit zunehmendem Alter wieder etwas sinkt. Die möglichen Selbstbilder, Konzepte und Ressourcen, die Lebensentwürfe und Möglichkeiten können bis zum eigenen Tod reflektiert, umgesetzt oder als Ausgleich für schwächer werdende Anteile benutzt werden (vgl. Hannover & Greve 2012).

Als Herausforderungen für die Entwicklung des Selbst werden vielfältige soziokulturelle und biopsychosoziale Faktoren diskutiert. Das Temperament eines Kindes wird als trait-Variable gesehen und ist mit verschiedenen Entwicklungsherausforderungen assoziiert (vgl. Kristal 2005). Die Langzeitstudie der Universität von Otago in Neuseeland, auch Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study genannt, untersucht bis zum heutigen Tag über 1000 Menschen, die 1972/73 in der Stadt Dunedin in einem bestimmten Krankenhaus geboren wurden (vgl. Belsky et al. 2020). In Interviews werden ihre psychologische und physiologische Entwicklung und Gesundheit untersucht. Ein Ergebnis der Studie, welches sich auch auf die Langzeitstudien von Thomas & Chess (1977) und Bronfenbrenners ökosystemischen Ansatz (1981) bezieht, besagt, dass sich die vermutlich genetisch determinierten Temperamenteigenschaften gerade der gehemmten und der untersteuerten Kinder (in Bezug auf Impulse und Affekte) als Persönlichkeitsanteile langfristig manifestierten und bis ins Erwachsenenalter größtenteils als stabil erweisen. Gleiches zeigte sich im Hinblick auf die damit zusammenhängende Selbstkontrolle. Warum jemand die Richtung, die ihm genetisch, biologisch oder sozial vorgegeben wurde, verlassen kann, ist nicht geklärt. Es gibt Hinweise darauf, dass frühe positive intime Beziehungen und Interaktionen auch das Verhalten und seine Richtung ändern können (vgl. Belsky et al. 2020).

Gilt das Jugendalter, wie oben erwähnt, als herausfordernde Phase für die Entwicklung des Selbstkonzepts, so sind mit zunehmendem Alter – einhergehend mit möglichen Erkrankungen, Ausscheiden aus dem Arbeitsleben, dem näher rückenden Tod, Stressoren und Verlusten – das Selbstkonzept und der Selbstwert erneut Herausforderungen ausgesetzt. Eine Erkrankung kann beispielsweise dazu führen, dass bestimmte Interessen und Wertvorstellungen nicht mehr verfolgt werden können oder gar von einer verkürzten Lebensperspektive ausgegangen werden muss. Das bisherige Selbstkonzept muss eventuell angepasst oder flexibilisiert werden, wenn die Veränderungen nicht marginalisiert oder akzeptiert werden können. Vielfältige Ressourcen scheinen diesen Prozess der Anpassung zu erleichtern. In Carl Gustav Jungs Modell der Individuation, auch Individuationsprozess genannt (vgl. Fromm et al. 2018, S. 144 ff.; Kast 2019), geht es hingegen nicht um Anpassung, sondern um Integration und Werdung, die Reifung zum und Bewusstwerdung des wahren Selbst als Höhepunkt der menschlichen Entwicklung im Alter.

Fazit

Vielfältige – biologische, soziale und psychologische – Faktoren wirken auf unser Selbst ein. Bereits im Säuglingsalter beginnt die Entwicklung eines Selbstkonzepts über die Interaktionen mit dem eigenen Körper, den Bezugspersonen und der Umwelt. Während in der frühen Kindheit das Selbstkonzept eher sehr positiv ausgeprägt ist, beginnt im späteren Kindes- und Jugendalter mit zunehmenden sozialen Vergleichen und abstrakterem Denken eine erste kritische Phase seiner Entwicklung. Mit dem Erwachsenenalter kann sich mehr Stabilität einstellen, aber durch Krankheit, Verluste und nahenden Tod ergeben sich erneut kritische Phasen für das Selbstkonzept und den Selbstwert. Psychotherapeutisch bieten sich damit verschiedene Ansatzpunkte. Ein vielfältiges, konstruktives, integratives Selbstkonzept kann erarbeitet und unterstützt werden, die Ressourcen und das Selbstwirksamkeitserleben können über Handlungsorientierung, Akzeptanz oder Reflexion gestärkt werden.

1.3 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der Philosophie und frühen Psychologie

»[…] But when it comes to being DeLa it’s just me, myself and I.«

(De La Soul 1989)

Die US-amerikanischen Hip-Hop-Band De La Soul rappte 1989 auf ihrer Single Me, Myself and I über das Selbst – und trägt damit einen Diskurs weiter, der tief verwurzelt ist. Bereits vor 2000 Jahren wurde schon über das Selbst nachgedacht. Im Hinduismus und den vedischen Schriften (ca. 2000 v. Chr.) wird der oder das Atman oder Atma als das ewige Selbst definiert (vgl. Müller 1879; Dimock et al. 2023). Das Wort ist mit dem deutschen Atem verwandt. Atman ist Bewusstsein und verbunden mit Brahman, dem göttlichen Urgrund. Hiervon unterschieden wird Jiva als individuelle Persönlichkeit und unsichtbarer Körper. Im Buddhismus hingegen wird die Existenz eines unabhängigen, aus sich heraus bestehenden Selbst bezweifelt, da alles als veränderlich und vergänglich angesehen wird. Das Nicht-Selbst heißt Anatta oder Anatman. Aber tief in jedem Menschen gebe es die Buddha-Natur, das wahre Selbst, zugänglich in der Erleuchtung (vgl. Dalai Lama 1996; Oldenberg 1993; Schittko 2019). Allein an diesen kurzen Beschreibungen sehen wir, dass das Nachdenken über unser Selbst und unser Bewusstsein eine jahrtausendealte Tradition hat.

Das Orakel von Delphi war im antiken Griechenland eine wichtige Stätte kultischer Weissagung. Am Apollontempel gab es laut Überlieferung folgende altgriechische Inschrift: gnothi seauton (ins Deutsche übersetzt: Erkenne Dich selbst). Die Bedeutung des Satzes wird als Aufforderung zur Selbsterkenntnis, zur Erkenntnis der eigenen Fähigkeiten und Begrenztheit gedeutet. Diese Inschrift respektive ihre Nachwirkungen in den Schriften griechischer Philosophen, etwa bei Sokrates, bezeugen den uralten Wunsch des Menschen, sein Selbst zu verstehen (vgl. Carrera 2020; Fröhlich 2018, 2021).

Die Psychologie ist ursprünglich eine Geisteswissenschaft gewesen und zunehmend eine Naturwissenschaft geworden. Die ihr zugrundliegenden Denkströmungen wurzeln in der indoasiatischen Philosophie und der Antike. Kein Wunder, dass sich Albert Ellis (1913–2007), Begründer der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie, auf Ideen des stoischen Philosophen Epiktet berief. Der hatte gesagt, dass es nicht die Dinge selbst sind, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen. Auch Aaron T. Beck (1921–2021), Begründer der Kognitiven Therapie, berief sich auf antike Denker wie Platon, Sokrates und die Stoiker (vgl. Evans 2012, S. 18 ff.). Carl Gustav Jung (1875–1961) wiederum brach 1937 zu einer spirituellen Reise nach Indien auf und forschte in Asien und im Buddhismus zum Selbst und zu Ähnlichkeiten dieser Konzepte mit jenen der Psychoanalyse (vgl. Wilhelm & Jung 2005). Der Psychoanalytiker Erich Fromm (1900–1980) wiederum verglich die Transformation des Bewusstseins in der Psychoanalyse mit dem Zen-Buddhismus (vgl. Fromm et al. 1971 [1960]).

In ihrer wunderbaren wissenschaftshistorischen Betrachtung des Selbstbegriffs in Psychologie und Psychotherapie beschreibt Christiane Ludwig-Körner (1992) die lange Tradition der Betrachtung des Selbst. Hierzu greift sie auf die Wurzeln der Psychologie zurück, nämlich auf die griechisch-römische und die moderne Philosophie seit René Descartes (1596–1650). Im Folgenden stellt sie den Selbstbegriff in der Psychologie des 19. und 20. Jahrhunderts dar. Wir begegnen Begriffen wie Selbst, Person, Identität, Bewusstsein, Ich und Seele. Es gab und gibt Streitigkeiten, ob der Begriff des Selbst notwendig sei (vgl. Allport 1983, S. 40), gar eine erspürbare Entität vorgaukele, die es so gar nicht gebe. In den philosophischen Schulen seit Descartes steht die Frage im Raum, ob und wie das Selbst von der transzendenten Seele, dem Körper und seinen Sinnesempfindungen, dem Bewusstsein und den Interaktionen mit anderen und der Welt zu trennen sei. Descartes plädierte für Entität. Für Immanuel Kant (1724–1804) bildete dagegen der Verstand im Zusammenspiel mit den Sinnen die Grundlage von Erkenntnis. Das transzendentale Selbstbewusstsein, ein abstrahiertes Bewusstsein für das eigene Denken, ist nach Kant die Grundlage des eigenen Denkens (Kant 2016 [1787]). Er forderte einen kritischen Verstand, wie er zum Beispiel im kategorischen Imperativ als ethischer Handlungsmaxime deutlich wird (Kant 1990 [1900 ff.], AA IV, S. 421). Philosophen wie Friedrich Nietzsche (1844–1900) als Vertreter des Nihilismus, Sören Kierkegaard (1813–1855) als Vertreter der Existenzphilosophie und Arthur Schopenhauer (1788–1860) als Vertreter des Idealismus beschäftigten sich mit der Suche nach dem wahren Selbst in einer eher kollektivistisch geprägten Zeit (vgl. Rathgeb 2022).

In den Anfängen der Psychologie begegnen wir dann wieder William James, der zwischen dem Ich, unserem Selbstbewusstsein, und dem Mich, unserem empirischen Selbstkonzept, trennt (James 1890, S. 291 ff.). Das Ich erscheint als unser pures Selbst, unser Selbstbewusstsein – unteilbar, transzendent, wurde es auch mit dem Begriff der Seele assoziiert. Das Mich ist das, was als zugehörig zum Ich begriffen wird. Zum Mich gehören Bereiche wie das Körper-Selbst, das soziale Selbst und das geistige Selbst als empirische Bereiche des Mich, die wir als Teil von uns begreifen. James, der mit Sigmund Freud bekannt war, gilt heute als Urvater der amerikanischen Psychoanalyse. Die Psychologie und Psychotherapieschulen haben sich in ihren diversen Fachbereichen mit dem Begriff des Selbst beschäftigt (vgl. Ludwig-Körner 1992, S. 9). Aus heutiger psychologischer Sicht haben sich das Selbst und das Selbstkonzept gegen Begriffe wie Seele, Ich oder Person als Modelle durchgesetzt. Dies ist eine Kombination aus phänomenologischer und naturwissenschaftlicher Betrachtung.

Wie in Kapitel 1.1. beschrieben, wird das Selbst als unser Bewusstsein für uns und das Wissen über uns definiert (vgl. Benesch 1987, S. 468; Thomsen et al. 2018; Wirtz 2021), das Selbstkonzept als unser Selbstbild. Es geht also um unsere Einstellungen zu und Ideen über uns selbst, zu unseren Eigenschaften und Fähigkeiten, unserem Körper, unseren sozialen und geistigen Möglichkeiten und Erfahrungen. Dies kann etwas Generelles sein (z. B. »Ich bin ein hilfsbereiter Mensch«) oder etwas Spezifisches (z. B. »Ich kann Englisch sprechen«). Der Selbstwert wird als unsere subjektive Bewertung unseres Selbstbilds beschrieben (z. B. »Ich mag mich« oder »Ich kann mich nicht akzeptieren, wie ich bin. Ich lehne mich ab«). Das Selbstwertgefühl ist die damit zusammenhängende Gefühlskomponente, die aus der Bewertung unseres Selbstbilds entsteht. Das Selbstwertgefühl wird oft gleichgesetzt mit Selbstsicherheit oder Selbstvertrauen.

Fazit

Der Mensch denkt schon lange über sich selbst nach, wer, wie und was er ist, welches Bewusstsein, welche Grenzen und Möglichkeiten ihm innewohnen. Seit Tausenden von Jahren beschäftigt sich die Philosophie und seit dem 19. Jahrhundert die Psychologie mit dem Begriff des Selbst, des Selbstkonzepts und des Selbstwerts. Das Selbst hat sich gegen Begriffe wie Seele, Ich oder Person durchgesetzt. Das Selbstkonzept oder Selbstbild ist hingegen die kognitive Selbstkonzeptualisierung unseres Selbst, das Selbstwertgefühl die affektive Komponente.

1.4 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der Psychoanalyse

»Die Psychoanalyse ist ein Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll.«

(Sigmund Freud 1992 [1923], S. 292)

Der Selbstbegriff in der psychoanalytischen Theorie kann als dynamisches Konstrukt verstanden werden, welches sich über die Lebensphasen entwickelt und die Identität und die Erfahrungen des Individuums umfasst. Die vielfältige und lange Geschichte der Psychoanalyse (vgl. Kriz 1989; Ludwig-Körner 1992), die hier nur in kurzen Ausschnitten über das Selbst dargestellt werden kann, hat ihren Ursprung in Österreich und wurde von dort über die Emigrations- und Fluchtbewegungen durch die Aggression und Judenverfolgung Nazideutschlands in die USA und Großbritannien getragen. Der österreichische Mediziner Sigmund Freud (1856–1939) kann als ihr Vater bezeichnet werden. Auf ihn geht auch das Strukturmodell der Psyche zurück. Freud entwickelte über die Hypnose, das unzensierte Sprechen (freie Assoziation) und die Traumdeutung die psychoanalytische Behandlung zur Bewusstwerdung des Unbewussten, um Traumata, Konflikte und Affekte auszudrücken, zu verstehen und zu heilen. Träume interpretierte er als Begegnung mit und als Wunscherfüllung des Unbewussten, das während des Traums in kreativer und entfremdeter Weise deutlich wird. Traumdeutung sei demnach auch der Weg zum Verständnis unseres Unbewussten, das in unserem Selbst ein Zuhause hat (Freud 1971).

In Freuds Strukturmodell der Psyche mit den drei Instanzen Ich, Es und Über-Ich finden das Selbstbewusstsein, die Selbsterkenntnis und das Selbstbild des Menschen zusammen, der sich in seiner kindlichen Entwicklung als abgetrennt von anderen identifizieren lernt (Freud 1975, 1984). Teils beschrieb Freud das Ich auch als Ich-Selbst. Das Ich hat nach Freud eine Vermittlerrolle zwischen den Einflüssen und Anforderungen der Umwelt und den Reaktionen des Es und Über-Ich. Letztlich kann von einem Kräftespiel dieser drei Instanzen gesprochen werden. Im Es seien die Triebe, die Bedürfnisse und Affekte als Unbewusstes beheimatet. Im Über-Ich, welches dem Bewusstsein teils zugänglich, teils verborgen sei, fänden sich die Gebote und Verbote der Eltern und der Gesellschaft sowie die Angst des Kindes. Durch diese Gefühlskomponente sei das Über-Ich auch Teil des Es.

Sigmund Freuds Tochter Anna Freud (1895–1982) führte sein Werk fort und prägte die Kinderpsychoanalyse und die Ich-Psychologie (Freud 1980). Sie überwarf sich mit der österreichisch-britischen Psychoanalytikerin Melanie Klein (1882–1960), die auch die Spieltherapie weiterentwickelte. Klein formulierte eine psychoanalytische Entwicklungstheorie und die Objektbeziehungstheorie mit Fokus auf die prägenden unbewussten Anteile (Objekte) des Kindes in der Interaktion mit der Mutter. Diese Objekte sind die Repräsentanten der Affekte und Bedürfnisse des kindlichen Selbst (vgl. Kohrs & Boll-Klatt 2019).

Der Selbstbegriff durchlief in der weiteren Geschichte der Psychoanalyse durch ihre zahlreichen Protagonist:innen eine Vielzahl an Definitionen und theoretischen Beschreibungen (vgl. Ludwig-Körner 1992). Eine Weiterentwicklung der Ich- und Selbst-Psychologie erfolgte durch die österreichisch-amerikanischen Psychoanalytiker Heinz Hartmann (1894–1970) und Heinz Kohut (1913–1981). Hartmann (1977) etwa prägte die Ich-Psychologie, indem er zwischen dem Selbst und dem Ich differenzierte. Das Selbst ist nach Hartmann das Gesamtsystem des Menschen, seines Körpers und seines psychischen Apparats. Es wird auch als Person benannt. Das Ich beschreibt er hingegen als ein Teilgebiet der Persönlichkeit, das durch seine Funktionen bestimmt wird (ebd., S. 120). Das Ich als Instanz bleibt bei Hartmann bestehen. Ich-Funktionen sind zum Beispiel Wahrnehmung, Realitätsprüfung, Kontrolle, Charakter, Handeln und Denken.

Kohut wiederum sah das Selbst als Zentrum der psychologischen Erfahrungen eines Menschen, welches sich sukzessive aus Selbstkernen in der Interaktion mit Bezugspersonen und Bedürfniserfahrungen als kohärentes System entwickelt (vgl. Strozier et al. 2021). Ein starkes Selbst und ein starker Selbstwert ergeben nach Kohut einen gesunden Narzissmus. Er ging über die Triebtheorie Freuds hinaus und formulierte die Bedeutung der Bedürfnisse nach Spiegelung, Bestätigung und Zugehörigkeit des Kindes durch die Eltern (»Glanz im Auge der Mutter«; vgl. Ludwig-Körner 1992, S. 276). Ein autonomes, gesund-narzisstisches Selbst, ein gesundes Selbstwertgefühl und eine gute Selbstregulation entwickelten sich aus einer bestätigenden, regulierenden Interaktion mit den Eltern, wodurch die Fähigkeit zur Selbstregulation der genannten Bedürfnisse ausgebildet werden könne. Ein pathologischer Narzissmus entsteht nach Kohut über die fehlende Bedürfnisbefriedigung und die dadurch gehemmte Entwicklung des Selbst, was auch als Strukturdefizit beschrieben wird (Kohut 1976, 1981; vgl. Siegel 1996).

Mit dem österreichisch-amerikanischen Psychiater Otto Kernberg entstand die Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy; vgl. Yeomans et al. 2017; Caligor et al. 2018). Fokus der Therapie ist die Integration von abgespaltenen Teilen des Selbst und der Objekte in die Selbstrepräsentation. In Abgrenzung zu Sigmund Freud entwickelten sich ab 1912 die tiefenpsychologischen Strömungen (= in die Tiefen der Seele, ins Unbewusste; vgl. Wirtz 2021). Besonders prägend waren der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung und der österreichisch-amerikanische Mediziner Alfred Adler (1870–1937). Jung entwickelte die analytische Psychologie. Seines Erachtens umfasst das Selbst das Bewusste, das Unbewusste und das Potenzial, die Anlagen, eines Menschen (Jung 2022). Das Selbst könne als ein Strukturprinzip gesehen werden, welches die gesamte Psyche, die Person an sich mit ihrem Bewusstsein, dem Unbewussten und den prägenden Archetypen umfasst. Es strebe zur Selbstverwirklichung im Sinne eines Individuationsprozesses zum wahren Selbst. Jung vergleicht das Selbst mit dem indischen Atman. Das Ich hingegen könne das Selbst nie ganz erfassen und sei jener Teil, der vom Selbst bewusst werde. Persona und Schatten repräsentieren demnach das Ich-Ideal, dem die Schattenseiten der Persönlichkeit gegenüberstehen. Die Integration dieser Schattenseiten in das Ich sei wiederum ein Teil der Selbstverwirklichung.

Adler begründete die Individualpsychologie (Adler 1982, 2008). Ihm zufolge ist der Mensch ein soziales, unteilbares Individuum aus Körper und Seele/Psyche mit einer freien schöpferischen Kraft. Sogenannte positive Minderwertigkeitsgefühle des Kindes durch seine biologische Hilflosigkeit sind nach Adler der Ursprung für Wachstumsprozesse, die Selbstentwicklung und das Verfolgen von Zielen. Sollten diese Minderwertigkeitsgefühle in der frühen Kindheit nicht gut kompensiert werden können, entstünden Minderwertigkeitskomplexe im Sinne eines negativen Selbstwerterlebens. Adler setzte sich für die Erziehungsberatung als Präventionsmaßnahme und die Therapie von Kindern und Jugendlichen ein und kann als Brückenbauer zwischen Psychoanalyse und Verhaltenstherapie gesehen werden, da er kognitive Kompensationsstrategien und negative Selbstbilder fokussierte.

Fazit

Psychoanalyse und Tiefenpsychologie definieren das Selbst und seine Instanzen mit Fokus auf die frühen Beziehungs- und Motiverfahrungen, die uns als Menschen prägen. Es gibt Struktur- und Prozessdefinitionen des Selbst. Auch wenn die Definitionen nicht einheitlich sind, kann das Selbst als übergeordnetes Konstrukt – mit dem Ich, den Selbst- und Objektrepräsentanzen, mit bewussten, unbewussten und vorbewussten Anteilen des Menschen – beschrieben werden. Das Selbst und sein Unbewusstes fanden so ihren Weg in das Denken der Psychotherapeut:innen. Psychotherapeutisch wurde damit die Anteilsarbeit mit dem Selbst begründet, genauso wie die therapeutische Beziehung als Nachreifungsraum für das Selbst der Patient:innen.

1.5 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der humanistischen Psychologie

»Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation gestaltet dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten, das man als Weib bezeichnet. Nur die Vermittlung eines Anderen vermag das Individuum als ein Anderes hinzustellen.«

(Simone de Beauvoir 2018, S. 334)

Die französische Schriftstellerin, Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir (1908–1986) beschreibt die Sozialisation und Selbstwerdung als Frau im Kontext von Zivilisation und Gesellschaft. Sie ist eine Vertreterin des Existenzialismus und repräsentiert damit eine Wurzel der humanistischen Psychologie.

Der Selbstbegriff in der humanistischen Psychologie bezieht sich auf ein organismisches Modell, in dem das Sein und das Werden des Selbst eines Menschen auf eine Selbstaktualisierungstendenz zurückgeführt werden. In Amerika geprägt, fußt die humanistische Psychologie auf philosophischen, organismischen, phänomenologischen, gestaltpsychologischen, psychoanalytischen und behavioristischen Konzepten. Die Persönlichkeit ist als eine Gestalt zu verstehen, die ihrer Selbstbestimmung folgt. Charlotte Bühler (1893–1974), die mit anderen Lehrenden wie Abraham Maslow (1908–1970) und Carl Rogers (1902–1987) die American Association for Humanistic Psychology gründete, spricht von einem Kernselbst, einer Art Kern und Prozess der Persönlichkeit, und einem phänomenalen, selbstbewussten Selbst. Die humanistische Psychologie strebt nach einer Stärkung des Selbst der Patient:innen, danach, ihr Potenzial und ihre Selbstakzeptanz zu stärken, in ihrer ganzen Kraft zu entfalten und zur Erfüllung zu bringen.

Viele Forschende und Praktizierende prägten die humanistische Psychologie (vgl. Ludwig-Körner 1992; Kriz 1989). Dazu gehören im engeren und weiteren Sinn Kurt Goldstein (1878–1965), Charlotte Bühler (1893–1974) mit ihrem Mann Karl Bühler (1879–1963), Abraham Maslow, Viktor E. Frankl (1905–1997) mit der Logotherapie, Jacob Moreno (1889–1974) mit dem Psychodrama, das Ehepaar Fritz (1893–1970) und Lore Perls (1905–1990) mit Paul Goodmann (1911–1972), die zusammen die Gestalttherapie prägten, Hilarion Petzold mit der Integrativen Therapie und Carl Rogers mit der klientenzentrierten Psychotherapie, die in Deutschland auch Gesprächspsychotherapie heißt.

Mit Maslow rückten die basalen Bedürfnisse und die Bedürfnisse von Selbstverwirklichung in den Vordergrund. Unter guten Bedingungen könne das gesunde Wachstumsbedürfnis zur Selbstverwirklichung führen. Mit Moreno und dem Psychodrama kamen soziologische Konzepte dazu, die sich in den verschiedenen Rollen des Individuums ausdrücken. Auch hier geht es um das Entwicklungspotenzial des Selbst, und zwar im Sinne von Rollenvielfalt, die therapeutisch, erlebniszentriert, szenisch, auf der Bühne oder mit Stühlen ausgedrückt wird.

In Frankls Logotherapie wird das Sein des Menschen als leiblich, geistig und seelisch beschrieben. Der geistige Aspekt ermögliche Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz (Frankl 2010, 2020). Frankl glaubte an die Entwicklung des Individuums im Sinne seiner Werte und Sinnvorstellungen.

In der Gestalttherapie nach Perls und Goodman ist der Gestaltgedanke verinnerlicht. Das Selbst wird als Gestalt gesehen, als strukturelle Einheit, die mehr ist als die Summe ihrer Teile und durch das Gewahrsein in der therapeutischen Arbeit aktiviert werden kann (Perls 1978, S. 209; Perls et al. 1981). Nach der Gestalttherapie entwickelt der Mensch zunehmend ein Selbstbild, ein Ich, welches seine Möglichkeiten reflektiert und auslotet. Dem Selbst innewohnend sei ein Strukturbildungsprinzip, die Gestaltwerdung, aber auch eine Kontaktfunktion, durch die das Selbsterleben möglich wird. Das Selbst sei im Fluss, in Bewegung und Entwicklung, weshalb auch vom Selbst als Prozess gesprochen wird. Perspektiv- und Rollenwechsel werden mittels Stuhlarbeit unterstützt. Das Selbst als Oberbegriff in der Gestalttherapie vereinigt Ich, Es und Persönlichkeit. In diesen Begrifflichkeiten zeigt sich auch der Einfluss der Psychoanalyse.

Mit der Integrativen Psychotherapie nach Petzold kommt das Leib-Selbst ins Spiel, dem das Rollen-Selbst folgt. Das Leib-Selbst beinhaltet das spontane Aktivitätsstreben, welches die Rollen hervorrufen kann. Die Selbstentwicklung nach Petzold gelingt in Richtung eines zunehmend bewussten Selbst. Aus dem archaischen Leib-Selbst (auch Ich) über ein Ich-Bewusstsein kann die dritte Stufe, die Identität, entwickelt werden (vgl. Kriz 1989; Petzold 2004).

Rogers’ Gesprächspsychotherapie vereinigt ebenfalls die Selbstaktualisierungstendenz, die organismische Sichtweise und die Autonomieentwicklung. Dem Menschen wird ein Gespür für diese Entwicklungsprozesse zugesprochen. Rogers sieht die Entwicklung des Selbst als ein Zusammenspiel aus Körperwahrnehmungen, Bedürfnissen und Umweltinteraktionen, aus denen sich die Gestalt des Selbst mit ihren Werten entwickelt. Mittels der Gesprächsvariablen Empathie, Akzeptanz und Echtheit unterstützen die Therapeut:innen die Patient:innen, in Kontakt mit sich, ihren Gefühlen und ihrem Selbst zu kommen. Dadurch kann eine Person sich wieder spüren und ihr wahres Selbst erfahren und wiederentdecken – ein Weg in Richtung Gesundheit (Rogers 1983a, 1983b, 2018). Eine neuere, humanistisch geprägte Therapie ist die Emotionsfokussierte Therapie (EFT) nach Leslie Greenberg und Sue Johnson (Greenberg et al. 1993; Elliott & Greenberg 2007; Sutter & Greenberg 2021). Die EFT unterstützt das emotionale Erleben, auch mit erlebnisaktivierenden Techniken wie Stuhldialogen. Ziel ist der Ausdruck von Emotionen und Bedürfnissen, die in der Biografie frustriert und verletzt wurden. Damit können Trost und Selbstakzeptanz gefördert werden. Die EFT wurde auch für Paarinteraktionen entwickelt.

Fazit

Viele Psychotherapeut:innen der humanistischen Psychologie haben dafür gesorgt, dass wir dem Selbst starke Kräfte der Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung zuschreiben dürfen. Diese Herangehensweise fußt auf einem Vertrauen in den Menschen per se, in seine Ressourcen und Kräfte, die psychotherapeutisch geweckt werden können, um zum wahren Selbst zu kommen. Die Besinnung auf die Individualität, die Identität, die Emotionen, die Bedürfnisse, das Selbst und seine Akzeptanz, auch im Sinne eines gestärkten Selbstwertgefühls, sind der humanistischen Psychologie immanent.

1.6 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der Systemischen Therapie

»We are the Borg. Lower your shields and surrender your ships. We will add your biological and technological distinctiveness to our own. Your culture will adapt to service us. Resistance is futile.«

(Star Trek – First Contact 1999 [1996])

Die Spezies Borg assimiliert in den Star-Trek-Filmen Individuen, ob Menschen oder andere Wesen, in die Gruppe der Borg, notfalls unter Zwang. Das Individuum ist nur noch Teil der Gesamtheit, geht darin auf.

In den Anfangsjahren der Systemischen Therapie wurde der Selbstbegriff vom britischen Anthropologen und Sozialwissenschaftler Gregory Bateson (1904–1980) radikal infrage gestellt – zugunsten eines Gesamtsystems, in dem das Ich aufgehe (Bateson 1981, S. 410). Er erfuhr eine Ausweitung auf systemische Strukturen, Kontexte, Kommunikation und weist hier Parallelen zur Autopoiesis auf (vgl. Ahlers 1994; Kriz 1989; Maturana & Varela 1980). Die Person beziehungsweise das Selbst ist gemäß der Systemischen Therapie also Teil eines großen Gesamtsystems, wie der Familie, der Gesellschaft, der Stadt, des Lands. Das autonome Selbst, im Sinne des selbstaufmerksamen Ich nach William James, wird zunehmend als soziales Selbst betrachtet, wie es der amerikanische Ingenieur, Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Charles Horton Cooley (1864–1930) beschrieben hat. Cooley sprach von einem sogenannten Spiegel-Selbst. Damit ist gemeint, dass wir uns selbst durch die Augen der anderen Menschen wahrnehmen. Im Fokus steht die Vorstellung, wie wir auf andere wirken und wie andere diese Wirkung bewerten. Daraus entsteht nach Cooley unser Selbstgefühl (Cooley 1922 [1902]; vgl. Ludwig-Körner 1992). Selbstreflexion erfolgt demnach im Sinne des systemischen Denkens durch den Bezug zu anderen Menschen und die Zirkularität, also die Rückkopplungen im System. Damit entstehen Konstrukte über uns selbst im Zusammenwirken mit dem System, etwa der Familie. Deshalb wird in der Systemischen Therapie die Problemdefinition vom individuellen Selbst und seinen Eigenschaften in Richtung des Systems und seiner Strukturen verschoben und im und mit dem System gearbeitet.

Auch wenn das autonome Selbst zugunsten des sozialen Selbst zunächst aus dem Blickwinkel des systemischen Denkens geriet, so wird doch in der systemischen Einzeltherapie mit der Person, ihren Erfahrungen und Veränderungen gearbeitet, sodass in den verschiedenen Therapieschulen der Systemischen Therapie der Selbstbegriff weiter aufgegriffen wurde. Kriz (1990) nennt das Selbst den Angelpunkt für die Messung einer therapeutischen Veränderung.

Die Geschichte der Systemischen Therapie (vgl. Ahlers 1994; Kriz 1989; von Schlippe et al. 2000 [1995]; von Schlippe & Schweitzer 2016) beginnt in den 1950er Jahren durch die therapeutische Arbeit mit schizophrenen Patient:innen. Der Einfluss der Familie auf den Krankheitsverlauf stimmte die ersten systemisch arbeitenden Praktiker:innen nachdenklich. Die vorherrschende Psychoanalyse und die humanistischen Verfahren prägten die Systemische Therapie, ebenso wie Kommunikationstheorie, sozialer Konstruktivismus, Systemtheorie und Kybernetik.

Prägend für diese Denkrichtung war die berühmte Palo-Alto-Gruppe in Kalifornien, zu der auch der oben genannte Gregory Bateson gehörte. Wichtige Vertreterinnen waren zudem beispielsweise Salvador Minuchin (1921–2017), Jay Haley (1923–2007), Virginia Satir (1916–1988) und Paul Watzlawick (1921–2007). Der Fokus der Palo-Alto-Gruppe lag auf den Faktoren Kommunikation, Interaktion und Struktur in sozialen Systemen – nicht nur auf die Familie, sondern auf das gesamte Lebenssystem bezogen. Die Arbeitsgruppe um den ungarisch-amerikanischen Psychiater Ivan Boszormenyi-Nagy (1920–2007) nahm die generationenübergreifende Loyalitätsthematik und Gerechtigkeitsthematik mit dem Begriff der Beziehungskonten in den Blick.

In Europa war die Arbeitsgruppe um Mara Selvini Palazzoli (1916–1999) in Mailand prägend. Selvini Palazzoli, die ursprünglich als Psychoanalytikerin tätig war, gilt gemeinhin als radikale Vertreterin der Familientherapie, die die Bindungen des Einzelnen in seiner sozialen Welt als Ursprung der Entwicklung des Selbst sieht. Das Selbst ist nach Selvini Palazzoli das, was im Familienspiel individuell mitspielt (Palazzoli et al. 1992). Die (psychisch erkrankte) Person wird nicht als solitär gesehen, sondern im System der Familie verortet und verbunden. Das bis heute gängige zirkuläre und neutrale Fragen sind ihr besonderer Verdienst.

Helm Stierlin (1926–2021) in Heidelberg führte die Arbeiten der Palo-Alto-Gruppe weiter. Wichtige Begriffe sind bei Stierlin die Delegation von Lebenszielen der Eltern auf die Kinder und die bezogene Individuation im Familiensystem (= Selbstwerdung mit Abgrenzung und Kontakt). Stierlin sieht das starke beziehungsweise schwache Selbstwertgefühl als Ergebnis des Wachstumsprozesses des Kindes durch die Delegation der Eltern (Stierlin 1994, 2001; vgl. Ritscher 2006). Selbstwert war auch ein wichtiges Thema der amerikanischen Sozialarbeiterin Virginia Satir, die berühmt wurde mit der Transformational Systemic Therapy (vgl. Hagen & Sabey 2018). Aus einer humanistischen Perspektive arbeitete Satir an der Selbstaktualisierung und dem Selbstwert im familiären System über Faktoren wie Zuversicht, Selbstverantwortlichkeit, Akzeptanz der Vergangenheit und kongruente Kommunikation. Familienrekonstruktionen und biografische Anteilsarbeit mittels therapeutischer Skulpturen sowie der tiefe Glauben an Wachstum begleiten dies. Satir (2013, S. 13) begreift die Gefühle und Vorstellungen von sich selbst als Selbstwert, welche im familiären System erlernt und weitergegeben wurden. Mittels eines gestärkten Selbstwerts kann nach Satir eine stimmige Kommunikation und Problemlösung realisiert werden.

Neuere Entwicklungen der Systemischen Therapie sind die Lösungsorientierte Kurzzeittherapie nach Insoo Kim Berg (1934–2007) und Steve de Shazer (1940–2005) mit der Ressourcenaktivierung und Lösungssprache sowie die Systemische Entwicklungsberatung, die sich etwa in der Erziehungsberatung (nach Marte Meo) der Niederländerin Maria Aarts oder im Eltern-Coaching des Israeli Haim Omer manifestiert. Auch die narrativen rekonstruktiven Ansätze nach dem amerikanischen Psychologen Harold A. Goolishian (1924–1991) zählen zu den neueren Ansätzen, die durch den Australier Michael White (1948–2008) und den Neuseeländer David Epston weiterentwickelt wurden (White & Epston 2013). Im Sinne der Narration wird das Selbst als Autor seiner eigenen Geschichte gesehen, auch im Familienverbund.

Fazit

In der Systemischen Therapie wird auf das soziale Selbst fokussiert. Reziproke Einflüsse des sozialen Systems, der Blick über Generationen hinweg, die Einflüsse der Familie, der Gesellschaft und der Umwelt auf das Selbst und das Selbstwertgefühl sind bis heute psychotherapeutische Meilensteine, die bis in die Eltern- und Erziehungsberatung wirken. Und mit Virginia Satir kamen systemische Skulpturen und Anteilsarbeit dazu. Darüber hinaus stellen die sozial-konstruktivistischen Einflüsse auf den Selbstbegriff und den Selbstwert im Sinne des Erzählens der eigenen Geschichte eine wunderbare Ergänzung der psychotherapeutischen Methoden dar.

1.7 Selbst, Selbstkonzept und Selbstwertgefühl in der Kognitiven Verhaltenstherapie und deren dritter Welle

1.7.1 Verhaltenstherapie

»[…] In my own mind. Am I living in a box? Am I living in a cardboard box?«

(Living in a Box 1987)

Die britische Popband Living in a Box sang 1987 über das Gefühl, geistig in einem Pappkarton gefangen zu sein – und evoziert damit das Bild einer Trennung vom Außen. Das Bild des Geistes in einer Box, getrennt vom beobachtbaren Verhalten, wird auch als Black Box