Selektiver Mutismus bei Kindern - Nitza Katz-Bernstein - E-Book

Selektiver Mutismus bei Kindern E-Book

Nitza Katz-Bernstein

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Beschreibung

Warum redet das Mädchen nicht im Kindergarten? Warum schweigt der Junge in der Schule? Selektiv mutistische Kinder besitzen die Fähigkeit zu sprechen, setzen diese aber in fremden Situationen oder gegenüber bestimmten Personen nicht ein. Eine Kommunikation mit ihnen ist z.T. gar nicht mehr oder nur noch über Gesten und schriftliche Mitteilungen möglich. Nitza Katz-Bernstein führt in ihrem Buch die Erscheinungsbilder dieser Störung auf und erläutert die Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten. Sie integriert dabei therapeutische Bausteine aus unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen und verschiedenen Fachdisziplinen wie Logopädie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.

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Nitza Katz-Bernstein

Selektiver Mutismus bei Kindern

Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie

Mit 2 Abbildungen und 5 Tabellen

6., aktualisierte Auflage

Ernst Reinhardt Verlag München

Prof. Dr. Nitza Katz-Bernstein, Beraterin, Supervisorin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (SPV, CH) und Logopädin, leitete das Zentrum für Beratung und Therapie und zusammen mit Dr. Katja Subellok das Sprachtherapeutische Ambulatorium an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund.

Im Ernst Reinhardt Verlag ebenfalls erschienen:

Katz-Bernstein/Meili-Schneebeli/Wyler-Sidler (Hg.): Mut zum Sprechen finden. Kinder mit selektivem Mutismus in der Therapie (4. Aufl. 2021; ISBN 978-3-497-03085-9)

Katz-Bernstein/Subellok (Hg.): Gruppentherapie mit stotternden Kindern und Jugendlichen. Konzepte für die sprachtherapeutische Praxis. (1. Aufl. 2002; ISBN 978-3-497-01622-8)

Hinweis:Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autorin große Sorgfalt darauf verwendet hat, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03238-9 (Print)

ISBN 978-3-497-61808-8 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61809-5 (EPUB)

6., aktualisierte Auflage

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Reihenkonzeption Umschlag: Oliver Linke, Augsburg

Covergestaltung unter Verwendung von Fotos von Familie Katz-Bernstein, Bülach/Schweiz.

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de Mail: [email protected]

Inhalt

Eine kleine Vorgeschichte

Einleitung

Teil I Theoretische Zugänge

1 Was ist (selektiver) Mutismus?

1.1 Definition und Erscheinungsbild

1.2 Diagnostische Kriterien

1.3 Mutismusarten

1.4 Epidemiologie, Co-Morbidität und Risikofaktoren

1.5 Beitrag zur Ätiologie: Warum schweigen Kinder?

Die Unfähigkeit, die Fremdheit zu überwinden

2 Linguistische und entwicklungspsychologische Zugänge

Wie sich das Sprechen und das (selektive) Schweigen entwickeln

2.1 Warum ein entwicklungspsychologischer Zugang?

2.2 Spracherwerb und Sprachentwicklung

Sozial-interaktive Position

2.2.1 Kommunikations- und Dialogstrukturen

Wie lernt man zu kommunizieren?

2.2.2 Trianguläre Prozesse

Anforderungen meistern können

2.2.3 Innere Repräsentation

Die Kraft der Vorstellung und der Bewertung

2.2.4 Symbolisierung und narrative Organisation

Erwerb narrativer Kompetenzen

2.2.5 Trennung zwischen innerem und äußerem Dialog

Strategien der Konversation

2.2.6 Verinnerlichte Wertmaßstäbe

Regulierung des eigenen Verhaltens (= Mentalisieren)

2.3 Zusammenfassung

Teil II Diagnostik und Koordination der Therapie

1 Diagnostische Erhebungen

Wie kann ein (selektiver) Mutismus erfasst werden?

2 Setting und „Case Management“

Wer, was, wo, wann und wozu?

3 Erhebung von therapierelevanten Daten

Teil III Therapeutische Zugänge und Wirkfaktoren

1 Therapeutische Haltung

1.1 Druck ausüben oder gewähren lassen?

Die Gestaltung der therapeutischen Beziehung als „Scaffolding“-Prinzip

1.2 Beziehungsgestaltung und Motivation

1.3 Modelle, Techniken, Trainingsprogramme

1.4 Integrative Prinzipien für die therapeutische Arbeit

2 Therapiegestaltung

2.1 Klärung des Therapieauftrages

Umgang mit ambivalenten Botschaften

2.2 Trennung von Bezugspersonen

Mama bleibt draußen!

2.3 „Safe Place“

Der sichere Ort als Ausgangspunkt

2.4 Stärkung des „Alter Ego“

„Beweise mir, dass ich okay bin, so wie ich bin!“

2.5 Durchhaltevermögen

Arbeit ohne Response

Teil IV Nonverbal kommunizieren

1 Aufbau eines kommunikativen Verhaltens

„Turn-taking“

2 Arbeit mit Puppen und Übergangsobjekten

Eine Hütte für den Bären

3 Das Märchenheft mit den Sprechblasen

„Jaul, Kabumm, Seufz . . .“

4 Sprachtherapeutische Maßnahmen

Sprachaufbau ohne Sprechen

5 Symbolisierung und narrative Verarbeitung

Erzählen ohne Sprache

5.1 Das Symbolspiel als therapeutische Intervention

5.2 Die Aktualität des therapeutischen Symbolspiels

5.3 Die therapeutische Rolle beim Symbolspiel

5.4 Exkurs: Entwicklungsdiagnostik des Symbolspiels

6 Aggressionen zähmen im Symbol- und Rollenspiel

Teil V Aufbau der verbalen Kommunikation

1 Lärmend kommunizieren

2 Erste Worte

2.1 Das erste Wort des Vorschulkindes

Die Kunst der Unterstellung

2.2 Das erste Wort des Schulkindes

Hierarchie des Ortes, der Personen und der Sprechweise

3 Arbeit mit dem Tonband

4 Schattensprechen und Zugzwänge

5 Die Arbeit mit „Ego-States“, „inneren Stimmen“ oder „Introjekten“

6 Hausaufgaben

7 Transfer: Die Generalisierung des Sprechen-Könnens

8 Krise und Widerstand

9 Ende der Therapie: Evaluation und Abschied

Teil VI Zusammenarbeit mit Angehörigen und Fachleuten

1 Familie und Schweigen

2 Die Zusammenarbeit mit Eltern und Angehörigen

2.1 Grundsätze für die Arbeit mit Eltern

2.2 Besonderheiten in der Zusammenarbeit

2.3 Themen, die Eltern oft beschäftigen

2.3.1 Umgang mit Wutausbrüchen und aggressivem Verhalten des Kindes

2.3.2 Beratung bezüglich einer begleitenden Medikation

2.3.3 Wenn Gewalt oder Missbrauch vermutet wird

3 Mutismus und Schule

4 Zusammenarbeit mit weiteren Fachleuten

Teil VII Fallbericht

Lui, die Klasse und ich

Der gemeinsame Weg aus dem Schweigen

Von Ruth Marosi

Zusammenfassung der Fallbeispiele

Literatur

Sachregister

Eine kleine Vorgeschichte

Als ich meine therapeutische Arbeit nach 22 Jahren zugunsten der Arbeit an der Universität Dortmund aufgab, nahm ich mir vor, ein Buch über die Therapie von (selektiv) mutistischen Kindern zu schreiben. Zu sehr hat mich die Arbeit mit ihnen beeindruckt, geprägt und fasziniert, um nicht die Erfahrungen weitergeben zu wollen. Die Arbeit in Dortmund nahm mich sehr in Anspruch. Neben der Routine der Hochschule musste das Sprachtherapeutische Ambulatorium umziehen und der neue, modularisierte Diplomstudiengang „Pädagogik und Rehabilitation bei Sprach-, Kommunikations- und Hörstörungen“ musste etabliert werden. Durch Kooperationen mit dem Ausland kamen neue Forschungen und Projekte zustande.

Seit Beginn meiner Leitung des Sprachtherapeutischen Ambulatoriums begleitete mich der Traum, eine Anlaufstelle für Kinder mit (selektivem) Mutismus zu verwirklichen. Ich wusste, dass es für diese Kinder zu wenig informierte und spezialisierte Stellen gibt. Ich wusste aber auch, wie anspruchsvoll und intensiv sich die Therapie der Kinder und die Zusammenarbeit mit Angehörigen und Therapeuten gestaltet.

Einige Erhebungen von Lehramtskandidatinnen über die Verbreitung des Mutismus in öffentlichen Schulen in NRW brachten einen neuen Aufschwung mit sich. Der Bedarf an Informationen und Therapien war offensichtlich. Daraufhin veranstalteten wir an der Universität Dortmund im Rahmen des Sprachtherapeutischen Ambulatoriums einen Informationsabend für Fachleute und betroffene Eltern. Es erreichten uns erste gezielte Anfragen nach Informationen und Therapie. Die Zeit war reif, motivierte und geschulte Mitarbeiterinnen waren da, und so wurde die Anlaufstelle „Mutismus-Netz“ im Ambulatorium gegründet. Mittlerweise kann das Sprachtherapeutische Ambulatorium der Universität Dortmund bis ins Jahr 2019 auf eine therapeutische und beraterische Tätigkeit bei über 400 Fällen von selektivem Mutismus bei Kindern und Jugendlichen und eine rege Forschungstätigkeit zurückblicken. Viele der therapeutischen Bausteine, die in diesem Buch beschrieben werden, wurden in Weiterbildungen und Supervisionen an die zuständigen Therapeuten vermittelt und fließen nun in die praktische Arbeit mit den Kindern ein. Das Konzept wurde weiterentwickelt, „DortMuT“ entstand.

Als ich einer Schulpsychologin von dem entstehenden Buch berichtete, erzählte sie mir begeistert von einer Lehrerin, die durch pädagogisch geschickte Interventionen ein selektiv mutistisches Kind bei sich in der Klasse zum Reden brachte. Diesen Bericht wollte ich unbedingt in mein Buch aufnehmen, da er meine interdisziplinäre Einstellung in Bezug zum Mutismus auf die beste Weise unterstützte und zeigte, dass ein geschickter Umgang mit pädagogischen Maßnahmen zum Ziel führen kann. Diese Interdisziplinarität ist mit den Jahren zum Merkmal therapeutischen Vorgehens geworden. Den Bericht von Frau Marosi finden Sie am Ende dieses Buches. An dieser Stelle möchte ich Frau Marosi sehr danken. Ein ganz besonderer Dank gebührt der Leiterin des Ambulatoriums PD Dr. Katja Subellok, Kerstin Bahrfeck-Wichitill sowie Prof. Dr. Anja Starke und dem gesamten Team, die die Arbeit mit selektiv-mutistischen Kindern und Jugendlichen in Forschung, Lehre, Therapie und Beratung mit Engagement und Begeisterung auch ohne mich weiterführen, da ich in der Zwischenzeit seit über fünfzehn Jahren im Ruhestand bin.

Seit 2005, dem Erscheinungsjahr der 1. Auflage dieses Buches, hat sich im Bereich des selektiven Mutismus viel getan. Ein aktuelles Thema in der Forschung bezieht sich auf die Frage, ob selektiver Mutismus als ein Phänomen zu betrachten ist, das zur Gruppe der sozialen Phobien oder Angststörungen gezählt werden kann. Hierzu werden in der vorliegenden 6. Auflage aktuelle Literaturquellen mit einbezogen. Rege internationale Forschungstätigkeit ist zu verzeichnen, die sich Fragen der Co-Morbidität, der Differentialdiagnostik, des familiären und kulturellen Hintergrunds bei Selektivem Mutismus annimmt (Starke 2018). Zu vermerken ist auch die Mitgestaltung von zwei Fachzeitschriften zum Thema durch Katja Subellok und Anja Starke (2017). In den aktuellen Forschungen und Publikationen wird die Komplexität und Co-Morbidität des Störungsbildes bestätigt, ja sogar vertieft. Die Haltung, auf Methodenvielfalt und Interdisziplinarität zu setzen, hat sich seitdem noch verstärkt (Melfsen et al 2021, Kearney/Rede 2021, Katz-Bernstein et al. 2024).

Die hier vertretene therapeutische Intention, selektiv-mutistische Kinder in Handlungen, Rollen und Interaktionen einzubinden, wird durch ältere und neuere Spracherwerbstheorien, wie sie von Eisen (1993), Tomasello (2009; 2010; 2020) und Pellegrini (2009; 2010) sowie im deutschsprachigem Raum von Andresen (2002; 2005) vertreten werden, weiter bekräftigt.

Eine weitere erfreuliche Nachricht: Die 3. Auflage dieses Buches ist auch in englischer Sprache erhältlich. Damit ist dieses Werk für weitere Sprachräume zugänglich.

Grundlegende Erkenntnisse führen das Entwicklungsrisiko von selektiv-mutistischen Kindern deutlich vor Augen und bestätigen sowohl, die Sprachtherapie als zuständige Fachdisziplin einzubeziehen, als auch den hier vertretenen interdisziplinären und integrativen Ansatz, den wir im Team des Sprachtherapeutischen Ambulatoriums der Technischen Universität Dortmund seit 1995 praktizieren. Diesen Ansatz haben wir kürzlich auf DortMuT getauft – Dortmunder Mutismus-Therapie (Subel-lok et al. 2011). In unserem fallbezogenen Buch „Mut zum Sprechen finden“ (Katz-Bernstein et al. 2021) wird diese interdisziplinäre Ausrichtung konkretisiert.

Im Ambulatorium an der Technischen Universität Dortmund, seit meinem Ruhestand nun unter der Gesamtleitung von PD Dr. Katja Subellok, hat sich das Netzwerk-Mutismus für Forschung, Weiterbildung und Therapie unter der Leitung von Kerstin Bahrfeck-Wichitill stark ausgeweitet und etabliert.

Auch in Fachkreisen, mit denen wir in Dortmund in Verbindung stehen, sind erfreuliche Entwicklungen zu verzeichnen; Studienstätten integrieren vermehrt den selektiven Mutismus in ihre Studienprogramme, Studienstätten und Praxen verzahnen sich in Forschungs- und Weiterbildungsaktivitäten. Eine beachtliche Zahl neuerer, deutschsprachiger Literatur ist erschienen (Brand 2009; Garbani 2009; Hartmann 2019 u. a.), eine neue Fachzeitschrift „Mutismus.de“ für Therapie, Forschung und Selbsthilfe der Mutismus Selbsthilfe Deutschland e. V. (www.mutismus.de) wird herausgegeben, federführend durch B. Hartmann und M. Lange. Auch in der Schweiz hat sich die IG-Mutismus (unter www.mutismus.ch erreichbar, unter der Leitung von Sandra Melliger und Beat Schweizer) gut etabliert. Dazu kommen weitere Übersichten zu unterschiedlichen Ländern im Heft mutismus.de, 2014/6. All diese Entwicklungen tragen zu neuen Erfahrungswerten bei und verankern den selektiven Mutismus im Handlungsfeld der Sprachtherapie im Einklang mit internationalen Entwicklungsbestrebungen als unverzichtbare Fachdisziplin neben Psychotherapie und Psychiatrie (Übersicht dazu im Cleator 2015).

Zuletzt noch zwei Bemerkungen: Die Literatur der Wirkfaktoren in der Psychotherapie, mit der ich mich in den letzten Jahren intensiv beschäftigte, kann meine langjährigen therapeutischen Erkenntnisse sowie die Entwicklungs- und Spracherwerbstheorien, auf die ich mich stütze, auf faszinierende Weise bestätigen. Deshalb habe ich vor manchen Kapiteln Zitate aus der Literatur zu aktuellen Wirkfaktoren der therapeutischen Beziehungsgestaltung eingestreut, um den Zusammenhang mit selektivem Mutismus zu verdeutlichen und mit therapeutischen Erfahrungen zu vernetzen (siehe auch die Befragung zu den Wirkfaktoren, Katz-Bernstein et al. 2024).

Die zweite Bemerkung betrifft die Berufsbezeichnungen: Ich verwende die weibliche Form im Text, wenn mehr Frauen in dem Beruf arbeiten, die männliche Form, wenn mehr Männer in einem Beruf tätig sind. Ist die Verteilung gleich, verwende ich die weibliche und die männliche Form abwechselnd.

Zürich, im Mai 2023

Nitza Katz-Bernstein

Einleitung

Dieses Buch hat den Anspruch, allgemeine Informationen über (selektiven) Mutismus bei Kindern zu vermitteln. Sein Hauptanliegen ist es aber, Therapeuten unterschiedlicher Fachrichtungen und Pädagoginnen, die mit (selektiv) mutistischen Kindern verschiedener Altersstufen therapeutisch arbeiten bzw. diese unterrichten oder betreuen, vielfältige, konkrete therapeutische und rehabilitative Zugänge und Arbeitsinstrumente zu eröffnen. Es erläutert Therapiebausteine, Prozesse sowie störungsbildbezogene Spezifitäten. Je nach individuellem Bedarf und Indikation des Kindes, gemäß den erworbenen Kompetenzen, Möglichkeiten und Zuständigkeiten des Psychotherapeuten, Logopäden oder Sprachtherapeuten sowie der Erzieherin oder der Lehrerin, die für das Kind zuständig ist, soll die Therapie bzw. Förderung abgestimmt werden können.

Für Therapeutinnen und Therapeuten mit mehr Erfahrung soll das Buch eine Erweiterung ihrer eigenen Zugänge, oder aber eine Bestätigung, Vertiefung und/oder Einordnung der eigenen Interventionen ermöglichen. Denn wie Hartmann (2007), Bahr (2015; 2016), Schoor (2002) sowie Kearney und Rede (2021) betonen, sind die Kasuistik und die Einzelfall-Dokumentation bei dieser Störung besonders wichtig und wertvoll. Nur sie können das therapeutische Vorgehen konkretisieren und zur Überwindung von Ratlosigkeit, Rückschritten und Stagnation, die in der Natur des therapeutischen Weges mit diesen Kindern liegen, beitragen (siehe auch Katz-Bernstein et al. 2024).

Jahrelange praktische Erfahrung, die in diesem Buch zum Ausdruck kommt, sowie supervisorische Begleitung und Beratung von Therapeuten, Erzieherinnen und Lehrern bei ihren therapeutischen und pädagogischen Bemühungen zeigen, wie krisen- und störanfällig sich die Arbeit mit diesen Kindern gestalten kann. Daher sind gesicherte Informationen sowie eine fachliche Begleitung und Unterstützung zumindest dann, wenn wenig Erfahrung mit der Arbeit mit (selektiv) mutistischen Kindern vorhanden ist, unerlässlich. Dieses Buch soll einen Baustein einer solchen fachlichen Begleitung bilden.

Darüber hinaus soll dieses Buch ein Beispiel für integrative Zugänge sein über jeglichen Schulenstreit und über unterschiedliche Fachkompetenzen hinaus (im Sinne von Miller et al. 2000; Metzmacher et al. 1996; Wampold et al. 2018; Schwarz/Fink 2019; Flückiger et al. 2020). Der (selektive) Mutismus als konkretes Störungsbild im Kindesalter meldet in seiner Vielschichtigkeit und Komplexität einen Handlungsbedarf an, an dem die Notwendigkeit der Integration und Interdisziplinarität deutlich wird.

Meine langjährige therapeutische und supervisorische Arbeit mit Kindern mit (selektivem) Mutismus ließ in mir die Überzeugung wachsen, dass diese Kinder spezifische Zugänge brauchen. Die folgenden Faktoren sprechen dafür.

1. Komorbidität, Komplexität und daher Interdisziplinarität der Störung

2. Ansiedlung der therapeutischen Maßnahmen zwischen Psychiatrie, Psychotherapie, Sprachtherapie, Sonder- und/oder Integrativer Pädagogik

3. Notwendige Berücksichtigung unterschiedlicher theoretischer Ansätze für die Therapie

4. Erforderlicher Einsatz von besonderen therapeutischen Medien

5. Arbeit mit dem fast immer vorhandenen Widerstand

6. Spezieller Umgang mit kindlichen Angststörungen und Ambivalenzen

7. Besonderheit sprachtherapeutischer Diagnostik und sprachaufbauender Arbeit mit nicht-sprechenden Kindern

8. Notwendigkeit von „idiographischen“, interaktiven, psychodynamisch sowie verhaltensmodifikatorisch-orientierten Zugängen

9. Gestaltung bzw. Abgrenzung der Arbeit mit Eltern und Angehörigen, der Hilfen bei Milieuwechsel, bei Heim- oder stationärer Unterbringung

1. Komorbidität, Komplexität und daher Interdisziplinarität der Störung: (Selektiver) Mutismus liegt an der Schnittstelle von Medizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Sprach- und Kommunikationstherapie, Pädagogik, Sonderpädagogik, Sozialpädagogik und Sozialarbeit (Hartmann 2007; Sharkey/McNicholas 2008). Die jeweilige Entscheidung, welche therapeutischen, pädagogischen und/oder psychiatrischen Interventionen vorgenommen werden sollen, wie sie zu konkretisieren und zu koordinieren sind, bedarf eines abgestimmten Case Managements. Sein Fehlen vermindert wesentlich die Chancen für Rehabilitation und Therapieerfolg, die als Prävention vor der Pubertät von großer Bedeutung sind (Melfsen/Walitza 2017; Melfsen et al. 2021; Schwenk/Gensthaler 2017).

2. Ansiedlung der therapeutischen Maßnahmen zwischen Psychotherapie, Sprachtherapie, Sonder- und/oder Integrativer Pädagogik: Eine der Schwierigkeiten in der Gestaltung der Therapie liegt in der Abgrenzung zwischen den Fachdisziplinen, die als rehabilitative und therapeutische Maßnahmen zu wählen sind. Der Kinder- und Jugendpsychiater, bei dem ein (selektiv) mutistisches Kind vorstellig wird, ist darauf angewiesen, mit unterschiedlichen Fachleuten zusammenzuarbeiten. In einem weiteren Schritt ist der Arzt darauf angewiesen zu wissen, ob der Therapeut sich eine Arbeit mit dem (selektiv) mutistischen Kind und seinen Angehörigen zutraut und ob er bereit ist, die Verantwortung zu übernehmen. Dazu kommen Schwierigkeiten bei der Diagnose. Zu Beginn der Therapie eines Psychotherapeuten ist eine Diagnostik notwendig, die den Stand der Sprachentwicklung und/oder des Sprachverständnisses ermittelt durch Befragung der Eltern und/oder häusliche Aufnahmen. Eine genaue Diagnostik und Abgrenzung der Störung ist meistens schwierig und bedarf oft des Einbezugs eines Sprachtherapeuten. Damit neben dem (selektiven) Mutismus eine zusätzliche Sprachentwicklungsverzögerung oder/und eine andere Sprachstörung diagnostiziert werden kann, was laut unterschiedlicher Quellen häufig der Fall sein kann (Rösler 1981; Lempp 1982; Kristensen 2000; Cunningham 2004; McInnes 2004; Manassis et al. 2007; Sharkey/McNicholas 2008), ist die Berücksichtigung des sprachtherapeutischen Aspekts während der Psychotherapie unerlässlich.

Die Sprachtherapeutin hingegen sieht sich mit psychischen und entwicklungspsychologischen Besonderheiten und Auffälligkeiten konfrontiert, die sie in diesem Ausmaß und Schweregrad selten therapeutisch zu berücksichtigen hat. Auch die systemische Arbeit, d. h. der Einbezug der Eltern, Erzieherinnen und Lehrpersonen, stellt die Sprachtherapeutin vor besondere, transdisziplinäre Ansprüche. Gegebenenfalls muss sie die Beratungsarbeit mit den Eltern abgeben (siehe dazu Katz-Bernstein/Subellok 2009; Subellok et al. 2012; Katz-Bernstein et al. 2024).

Um ein (selektiv) mutistisches Kind in der Schule optimal fördern zu können, sind die zuständigen Schulbehörden und Lehrkräfte auf die oben genannte, psychologische und sprachtherapeutische Diagnostik angewiesen. Ohne eine aktive, abgestimmte Zusammenarbeit mit den Lehrern ist es undenkbar, das Symptom anzugehen oder die in der Therapie errungenen, kommunikativen und sprachlichen Verhaltensmuster zu manifestieren und zu generalisieren. Daher sind der gegenseitige Informationsaustausch und vor allem die Koordination von kontinuierlichen Interventionen sowie die Aneignung von Spezialwissen aus anderen Fachdisziplinen nicht zu umgehen. Eine neuere Publikation aus dem angloamerikanischen Raum zeigt erweiterte Möglichkeiten der schulischen Betreuung dieser Kinder auf (Kearney 2010; 2021).

3. Notwendige Berücksichtigung unterschiedlicher theoretischer Ansätze für die therapeutischen Methoden: Anders als bei vielen anderen Störungen muss die Therapie von Kindern mit (selektivem) Mutismus unterschiedliche Bausteine umfassen, um erfolgreich zu sein (Katz-Bernstein 2002; Teil III–VI dieses Buch). Ungeachtet der fachlichen Zuständigkeiten sollen mögliche Therapieebenen vorgestellt werden, damit die Erwägungen für Therapie- und pädagogischen Alltag sowie Fördermaßnahmen gezielter vorgenommen werden können.

In diesem Buch sollen therapeutische Bausteine integriert werden, die sowohl unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen als auch unterschiedlichen Fachdisziplinen wie der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie als auch der Logopädie/Sprachheilpädagogik entstammen. Eine solche Integration wird heute, angesichts des Standes der Forschung von psychotherapeutischen Wirkfaktoren, fortwährend propagiert (Miller et al. 2000; Wampold et al. 2018). Dabei wird kein Plädoyer für Kurztherapien gehalten, da diesen modern gewordenen Therapieformen keine wissenschaftliche Überlegenheit gegenüber anderen Methoden, was zeitliche Ressourcen betrifft, nachgewiesen werden konnte (Miller et al. 2000, 24). Für die Therapien von (selektiv) mutistischen Kindern bleibt zu hoffen, dass sie der Forderung nach immer kürzeren Interventionen standhalten können.

Vielmehr strebt dieses Buch durch unterschiedliche Zugänge und gezielte Methodenintegration an, eine möglichst hohe Effizienz der Therapie zu erreichen.

Die prozessualen Erhebungen von diagnostischen Daten umfassen sowohl Daten aus Beobachtungen in der Schulklasse, als auch solche, die durch schulärztliche, schulpsychologische, psychotherapeutische oder logopädische Fachpersonen erhoben werden.

Das Case Management kann in einem interdisziplinären Team verwirklicht werden. Die Klärung des Therapieauftrages, die Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung beinhaltet Elemente aus der systemisch-orientierten Psychotherapie. Sie wird jedoch in ein prozesshaftes, dialogisches Geschehen eingebaut und dadurch tiefenpsychologisch fundiert.

Der Safe Place ist eine Therapietechnik, die auf dem Konzept des „Sicheren Ortes“ beruht. Sie stammt aus einer Übung, die durch Violett Oaklander bekannt geworden ist (1981), stützt sich auf die Theorie des intermediären Raumes von Winnicott (2002) und wurde als Konzept für die Arbeit von schwer traumatisierten Patienten ausgearbeitet (Reddemann 2017; Tinker/Wilson 2006). Das Konzept des „Safe Place“ wurde bei ängstlichen, mutistischen Kindern und/oder bei Kindern mit Sprachstörungen eingesetzt und für die Integrative Kinderpsychotherapie praxeologisch ausgearbeitet (Katz-Bernstein 1996; Melfsen et al. 2021).

Die Stärkung des „Alter Ego“ ist der Individualpsychologie Adlers (1974) entlehnt, die die „Ermutigung“ als wichtigen Teil der therapeutischen Arbeit erachtet.

Der Aufbau eines kommunikativen Verhaltens ist eine direktiv-übende, kognitiv-behaviorale, jedoch nichtverbale Art der Therapie, wie sie seit langen Jahren in der sprachtherapeutischen Arbeit mit sprachverzögerten (Franke 1996) oder mit stotternden Kindern erprobt worden ist (Katz-Bernstein 1982; 2003b).

Die Arbeit mit Puppen und Übergangsobjekten (Petzold 1983, Tarr Krüger 1995) entstammt der „Integrativen Therapie“ und wurde für die psychotherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen entwickelt (Petzold/Ramin 1991). Die neuen Spieltheorien bestätigen ihre Effizienz (Pellegrini 2010). Sie ist vor allem einsetzbar bei Kindern im Vorschulalter und in der unteren Primarschulstufe.

Die sprachtherapeutischen Maßnahmen entstammen der logopädischen Arbeit mit sprachentwicklungsverzögerten Kindern. Eine tiefenpsychologisch fundierte Sicht aus der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen ermöglicht den Einbezug der Ebene der Symbolisierung und eine narrative Verarbeitung (Schröder et al. 2014; Katz-Bernstein/Schröder 2017). Auf diese Weise kann die Therapeutin zentrale Themen des schweigenden Kindes mit Hilfe des Symbolspiels deuten, psychodynamisch in das Geschehen eingreifen und behutsam zu einer dialogischen Interaktion mit dem Kind gelangen.

Der Aufbau der verbalen Kommunikation (inkl. Transfer), die sich Schritt für Schritt des Symptoms annimmt, entstammt den kognitiv-behav-ioral orientierten Therapierichtungen und bedient sich beispielsweise der Erstellung von Sprech- und Schweigehierarchien, Desensibilisierungsübungen, u. a. m.

Die Arbeit mit inneren Stimmen ist eine Technik aus der Gestalttherapie (Perls 2002), (Watkins/Watkins 2003). Vorwiegend für Menschen mit traumatischen Erfahrungen wurde die Arbeit mit Ego-States entwickelt (Fritzsche/Hartman 2010). Durch den Einsatz von kreativen Medien wird diese Technik kindgemäß und spielerisch und kann in der therapeutischen Arbeit mit (selektiv) mutistischen Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden.

Die Arbeit der Geführten Imagination ist eine Technik von Leuner, bekannt als „katatymes Bilderleben“ (1986). Sie wird in der systemisch-orientierten Hypnotherapie mit Kindern (Mrochen 2001) sowie in der Integrativen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (Katz-Bernstein 2003b) angewandt.

Die Zusammenarbeit mit Angehörigen und Fachpersonen leitet sich wiederum aus den systemisch-orientierten Strategien ab und zeigt sowohl Ideen und Besonderheiten in der Arbeit mit Eltern mutistischer Kinder, als auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Lehrern und Sozialpädagogen, ärztlichen und behördlichen Fachpersonen (dazu Katz-Bernstein 2010b, Subellok/Katz-Bernstein 2006).

Andere Ideen und Anregungen stammen aus der eigenen langjährigen Arbeit mit Kindern sowie aus supervisorischer Arbeit, die mir Einblicke in hunderte von Therapien verschaffte. Sie entstanden auf der Suche nach Zugängen zu schwierig zu erreichenden Kindern. Viele dieser Anregungen wurden gemeinsam innerhalb von Supervisionsgruppen, die ich viele Jahre in mehreren Ländern und Kulturen leitete, erarbeitet. Die Supervisionsgruppen betrafen die Bereiche Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Logopädie/Sprachtherapie sowie Bewegungs- und Musiktherapie.

All diese Facetten, Techniken und Anregungen sind hier weniger additiv gemeint und sollen nicht zu einem mechanistischen, fragmentierten Vorgehen führen. Der sorgfältige Einbezug der kognitiven, behavioralen und emotionalen Prozesse der Therapeuten soll die Arbeit psychodynamisch-fundiert werden lassen. Dies soll den einzelnen Bausteinen der Therapie zu einem verbindenden und verbindlichen Rahmen verhelfen.

4. Einsatz von besonderen therapeutischen Medien: Die Arbeit mit einem sprachverweigernden Kind stellt einen Anspruch, der sowohl für Psychotherapeuten als auch für Sprachtherapeuten oft (noch) ungewöhnlich ist. An Fallbeispielen soll dem Leser der Einsatz von speziellen Medien und Techniken verdeutlicht werden.

5. Spezielle Arbeit mit dem fast immer vorhandenen Widerstand: Ein Therapeut, der mit (selektiv) mutistischen Kindern arbeitet, befindet sich oft in schwierigen Gemütsverfassungen, die aus der Resonanz („Gegenübertragung“) eines körpersprachlichen Widerstands und der Verweigerung, die durch das Kind kommuniziert wird, entstehen. Um diese Interaktionsmuster und Prozesse zu erkennen und zu verstehen, sind besondere therapeutische Qualitäten notwendig, die zum großen Teil lernbar sind. Durch Literatur, Kasuistik und Supervision kann die Sensibilität für den Umgang mit diesen Kommunikationsmustern entwickelt werden. Ich erachte die Berücksichtigung dieser Ebene im Umgang mit mutistischen Kindern als unerlässlich.

6. Wissen, wie man mit kindlichen Ängsten und Ambivalenzen umzugehen hat: (Selektiver) Mutismus wird in der vorhandenen Literatur auch als Angststörung bezeichnet (Spasaro/Schaefer 1999) bzw. als deren co-morbides Symptom (DIMDI 2014; DSM 2013; Muris/Ollendick 2015; Chavira et al. 2007; Cunnigham et al. 2006; Gensthaler et al. 2016; Kearney 2010; Kristensen 2000; Manassis et al. 2007; Melfsen/Walitza 2017; Melfsen et al. 2021; Steinhausen et al. 2006; Vecchio/Kearney 2005; Yeganeh et al. 2003). Der Umgang mit Angststörungen bedarf eines therapeutischen Wissens sowie besonderer therapiedidaktischer Zugänge. Es handelt sich immer wieder um eine Ambivalenz zwischen dem Befreit-werden-Wollen von dem Symptom und dem Verharren-Wollen im eigenen, vertrauten Verhaltensmuster. Denn dieses eingespielte, vertraute Verhalten stellt eine Angstbewältigungsstrategie dar, eine Lösung für Entwicklungsanforderungen, die das Kind nicht anders zu lösen weiß (Perednik 2011). Durch detaillierte Fallvignetten und Beispiele sollen Möglichkeiten zum therapeutischen Umgang mit den Ängsten und Ambivalenzen, die in der Natur dieses Phänomens liegen, nachvollziehbar werden.

7. Besonderheit sprachtherapeutischer und sprachaufbauender Arbeit mit nicht-sprechenden Kindern: Die Sprachdefizite, Sprachentwicklungsverzögerungen und -störungen, die, wie die Forschung auch immer wieder belegt, oft hinter einem mutistischen Verhalten stehen können (Bar-Haim et al. 2004; Cohan et al. 2006; Kearney 2010), bedürfen einer Spezialisierung, die Ähnlichkeiten mit der Arbeit mit nicht-sprechenden Menschen (AAC – Alternative Augmentative Communication) aufweist. Anders jedoch als bei nicht-sprechende Menschen mit ausgeprägten körperlichen oder kognitiven Einschränkungen, erfordert die sprachtherapeutische Arbeit mit mutistischen Kindern, eine eigene Ausprägung und eine besondere therapeutische Didaktik, die in diesem Buch besprochen und exemplarisch ausgeführt werden soll.

Zu erwähnen ist die Ermittlung von Grad und Umfang des Sprachverständnisses, des passiven (und aktiven) Wortschatzes, des Stands der syntaktisch-morphologischen Entwicklung, des Redeflusses und der Artikulation. Ebenso sind die Symbolisierungs- und Erzählfähigkeit zu prüfen. Diese „Diagnostik unter verlängerten, erschwerten Bedingun-gen“ ist notwendig, um Wesen und Umfang der Störung festzustellen und um therapeutische Interventionen zwischen unterschiedlichen Fachleuten zu koordinieren.

Jede sprachliche Entwicklungsverzögerung und -störung kann primärer oder potenzierender Faktor für diese sekundäre Störung sein (vgl. Kearney 2010). Ist eine sprachliche Auffälligkeit ermittelt worden, so kann die sprachliche Förderung ein wichtiger Baustein zur Überwindung des Mutismus werden. Bei solch einer Kommunikations-, Symbolisierungs- und Sprachförderung ist zunächst mit wenig Response zu rechnen, und sie wird erst einmal „ins Leere“ vorgenommen. Es bedarf daher einer nicht-direktiven Art der Sprachförderung, die mit anderen Bausteinen der Therapie verbunden wird.

8. Notwendigkeit von „idiographischen“, integrativen, sowohl kognitiv-behavioralen als auch interaktiven und psychodynamisch orientierten Zugängen: (Selektiver) Mutismus ändert sich ständig durch gegebene, äußere Faktoren, durch interne, entwicklungsbedingte Verläufe sowie durch die Wechselwirkung zwischen ihnen. Daher ist eine „idiographische“ (Motsch 1992), einzelfallorientierte Vorgehensweise (Grohnfeldt 1996; auch Petermann 1996) fast unumgänglich. Diese verlangt den Einbezug von quantifizierenden, objektivierenden Kriterien, die mit Kriterien und Verläufen qualifizierender Art in Verbindung gebracht werden müssen. Dies kann bedeuten, dass eine fortwährende Reflexion und eine kontinuierliche Adaptierung der Therapieplanung vorgenommen werden muss. In den meisten Fällen ist es sinnvoll, einen verhaltensmodifikatorischen Plan zu verfolgen und den Kindern eine Struktur anzubieten, wie sie aus dem Schweigen herausfinden können, Schritt für Schritt und ganz konkret. Die Schritte werden mit den Kindern vorbesprochen, abgestimmt und durch sie reguliert. Um beispielsweise unterscheiden zu können, ob eine flexible Änderung oder ob Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen therapeutisch sinnvoller sind, bedarf es jedoch fallbezogener Einblicke in individuelle Fallverläufe, die ein solches, differenziertes Vorgehen veranschaulichen und in der Beziehungsgestaltung der Therapie ihren Niederschlag finden (siehe dazu Katz-Bernstein 2008; Bennett et al. 2013; Bergmann et al. 2013; Kristensen/Oerbeck 2013).

9. Gestaltung bzw. Abgrenzung der Arbeit mit Eltern und Angehörigen, der Hilfen bei Milieuwechsel, bei Heim- oder stationärer Unterbringung: Die Berücksichtigung der Angehörigen und der systemischen Dimension ist bei dieser Störung unerlässlich (Chavira et al. 2007; Kristkeitz 2011).

Der nicht gelungene, soziale Übergang des Kindes vom Elternhaus zum sozialen Kontext des Kindergartens und/oder der Schule kann selten ohne Unterstützung der Eltern und den Einbezug der Lehrpersonen aufgehoben werden. Wenn dieser Umstand für die meisten psychisch bedingten Störungen sowie für Sprachstörungen gültig ist, so verlangen die Spezifität und die Komplexität des (selektiven) Mutismus sowie seine folgeträchtigen Konsequenzen besondere Zugänge zu den Angehörigen (Katz-Bernstein 1993; 2000; Katz-Bernstein/Subellok 2009; Katz-Bernstein et al. 2024). Im idealen Fall kann eine kooperative und gelungene Zusammenarbeit die Therapie bedeutend positiv beeinflussen.

Manchen Eltern mutistischer Kinder fällt es schwer, die Therapie des Kindes durch eine Mitarbeit zu unterstützen. Sie benötigen Geduld und Zeit seitens des Therapeuten. Dieser muss sich neben der guten Zusammenarbeit mit kooperativen, motivierten und besorgten Eltern, in manchen Fällen mit einer minimalen Mitarbeitsbereitschaft begnügen und sich dennoch uneingeschränkt dem Kind widmen. Manche Eltern las-sen sich durch unvermutete Fortschritte des Kindes zur Mitarbeit ermuntern.

Die Gefahr der Enttäuschung angesichts idealtypischer, systemisch-familiärer Interventionen, für die in vielen systemisch orientierten Konzepten plädiert wird, ist in der Arbeit mit Familien von (selektiv) mutistischen Kindern beachtlich. Häufig gehören die Eltern einer anderen Kultur oder sozialen Schicht an, bei der der Umgang mit der Störung und deren Bedeutung eine andere Relevanz haben als die öffentlich-institutionale Norm. Es ist auch möglich, dass die Eltern die Landessprache nur dürftig beherrschen. Dies kann die Einstellung zur Therapie beeinflussen oder zu Missverständnissen und gegenseitigem Argwohn bezüglich Erwartungen und Abmachungen führen. Auch sind Fragen der schulischen Förderung, die Wahl des geeigneten Förderorts zu klären, in seltenen Fällen auch eine Heimeinweisung oder ein stationärer Aufenthalt des Kindes zu empfehlen und mit den Angehörigen abzustimmen. Vor allem wird hier auf die kindzentrierte, therapiebegleitende Zusammenarbeit eingegangen (Katz-Bernstein 2000; Subellok/Katz-Bernstein 2006). Diese Art der Zusammenarbeit scheint die häufigste, oft die einzig mögliche und realisierbare Art, um mit den Eltern umzugehen.

Wie schon erwähnt, sind in diesem Buch sowohl die verhaltensmodifikatorische, als auch die interaktive, psychodynamische Dimension berücksichtigt worden. Das Aufgreifen der körpersprachlich kommunizierten, psychodynamischen Strategien gehört zum integrativen, therapeutischen Selbstverständnis, das hier präsentiert wird (Katz-Bernstein et al. 2002). Der Einbezug dieser Strategien ist anspruchsvoll und nicht immer einfach, benötigt Übung und Erfahrung, um nicht additiv, sondern integrativ zu wirken. Er ist aber dennoch m. E. trainierbar. Für die Therapie von (selektiv) mutistischen Kindern scheint mir eine solche Kombination in den meisten Fällen sinnvoll und angebracht. Es wäre ein Verlust, wenn eine Treue zu gewissen „psychotherapeutischen Ideologien“ die Sicht auf Zugänge zu den Kindern verstellen würde (Miller et al. 2000; Fiedler 2000; Schwarz/Fink 2019).

Teil I

Theoretische Zugänge

1 Was ist (selektiver) Mutismus?

1.1 Definition und Erscheinungsbild

Das Wort „Mutismus“ stammt von „mutus“ (lat.) und bedeutet Schweigen. Für das seit langem bekannte Phänomen des beharrlichen Schweigens findet man in der Fachliteratur folgende Bezeichnungen:

Aphasia Voluntaria (Kussmaul 1877)

Freiwillige Stummheit (Gutzmann 1894)

Totaler / elektiver Mutismus (Tramer 1934)

Elektiver Mutismus (ICD-10, F94.0)

selective mutism (SM) – Selektiver Mutismus (DSM-IV)

Partielles / Universelles Schweigen (Schoor 2002)

Mutistische Kinder besitzen meist die Fähigkeit zu sprechen. Sie setzen diese jedoch in für sie fremden Situationen, an bestimmten Orten und/oder gegenüber einem bestimmten Personenkreis nicht ein. Sie verstummen, erstarren oder verständigen sich ausschließlich und konsequent mittels Gesten, Mimik oder schriftlichen Mitteilungen (Hartmann 2007).

„Selektiver Mutismus ist eine Störung der Kindheit, die als eine umfassende Sprachlosigkeit in mindestens einer spezifischen Situation auftritt, trotz der Fähigkeit, in anderen Situationen zu sprechen.“ (Dow et al. 1999, 19, Übersetzung v. d. Autorin)

In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist die folgende Definition gegeben:

„Beim elektiven Mutismus handelt es sich um eine emotional bedingte Störung der sprachlichen Kommunikation. Sie ist durch selektives Sprechen mit bestimmten Personen oder in definierten Situationen gekennzeichnet. Artikulation, rezeptive und expressive Sprache der Betroffenen liegen in der Regel im Normbereich, allenfalls sind sie – bezogen auf den Entwicklungsstand – leicht beeinträchtigt.“ (Castell, Schmidt 2003)

Hartmann (2007 gestützt auf Tramer 1934; Böhme 1983) unterscheidet zwischen totalem Mutismus und elektivem Mutismus. Beim totalen Mutismus besteht eine völlige Verweigerung der Lautsprache bei erhaltenem Hörvermögen, die jedoch öfter als sekundäres Symptom von psychotischen Erkrankungen, schweren depressiven Störungen u. a. auftritt. Jeg-liches Sprechen sowie Geräusche, die im Mund erzeugt werden, wie Räuspern, Husten oder Niesen wird gegenüber allen Personen vermieden. Totaler Mutismus tritt bei Kindern äußerst selten auf. Beim elektiven Mutismus (Tramer 1934) werden bestimmte, fest umschriebene Personen oder Kontexte gewählt, mit denen bzw. in denen nicht gesprochen wird (Friedman/Karagan 1973; Biesalski 1983).

Der elektive Mutismus ist die häufigere und geläufigere Störung, bei dem „eine nach vollzogenem Spracherwerb erfolgte Verweigerung der Lautsprache gegenüber einem bestimmten Personenkreis“ erfolgt (Hartmann 2007, 57). Castell und Schmidt empfehlen, da der totale Mutismus selten vorkommt, ihn nicht als eine Sondergruppe, sondern als eine besondere Ausprägung des Mutismus gelten zu lassen (2003).

In diesem Buch wird vor allem von Kindern mit selektivem Mutismus die Rede sein. Um Kinder mit einem totalen Mutismus nicht auszuschließen, wird fast durchgehend von (selektivem) Mutismus die Rede sein, wobei bei Wiederholungen lediglich der Begriff „Mutismus“ verwendet wird.

Der Übergang vom elektiven zum selektiven Mutismus, der sich in der Fachliteratur in den letzten vierzig Jahren vollzogen hat (Hartmann 2007, 22f) bedarf einer zusammenfassenden Erklärung.

Der Begriff elektiv suggeriert eine Freiheit der Wahl, mit welchen Personen, in welchen Situationen und an welchen Orten geschwiegen bzw. gesprochen wird. Beim selektiven Mutismus ist, subjektiv gesehen, eine solche Entscheidungsfreiheit nicht gegeben. Wenn ein Vorschulkind oder ein Grundschulkind einer Situation begegnet, in der es als „Bewältigungsstrategie“ (Bahr 1996) konsequent das Sprechen verweigert und schweigt, dann kann nicht von einer Freiwilligkeit im herkömmlichen Sinne gesprochen werden (Spasaro/Schaefer 1999, 2). Es bedarf oft beachtlicher Anstrengungen, tagtäglich gegen die Verlockungen des Sprechens anzukämpfen, um das Schweigen durch- und auszuhalten. Auch kann beim Frühmutismus (4–6 Jahren) und beim Spätmutismus (6–8 Jahren) nicht von einer bewussten Wahl einer Verhaltensstrategie gesprochen werden, sondern eher von einer intuitiven Lösung. In der fremden sozialen Situation wird gemäß des zur Verfügung stehenden Verhaltensrepertoirs (i. S. v. Roth 2001; Roth et al. 2010), das generalisiert worden ist, reagiert. Daher könnte der Name elektiv zur Verharmlosung der Hartnäckigkeit und des Schweregrades der Störung führen. Bei Erzieherinnen, Lehrern und Angehörigen löst diese Ohnmacht angesichts des eisernen Schweigens Ärger aus (Kearney 2010). Dieser Ärger führt in der Regel eher zu einer Verstärkung und Aufrechterhaltung des Verhaltens.

Die Frage der Freiwilligkeit wird in neueren Literaturquellen aus dem angloamerikanischen Raum auch mit einer Angststörung in Form einer sozialen Phobie, einer kindlichen Depression oder einer Zwangshandlung beantwortet (Hayden 1980; Dow et al. 1999; Kristensen 2000; Hartmann/Lange 2010; Yeganeh et al. 2003; Sharp et al. 2007; Carbone et al. 2010). Bei dieser Art von Störungen stehe das Kind wie unter einem „Bann“ bzw. unter dem Zwang, das Sprechen an bestimmten Orten oder in bestimmten Situationen einzustellen und keinen Laut von sich zu geben. Ein solcher Zwang scheint nicht zugänglich für eine willentliche Kontrolle zu sein.

Des Weiteren wird in der neuen angloamerikanischen Literatur ein neurologischer Aspekt diskutiert, weshalb für eine therapiebegleitende medikamentöse Behandlung plädiert wird. Dabei handelt es sich um Medikamente aus der Gruppe der antidepressiven, zwang- und angstlösenden Mittel wie beispielsweise „Clomipramine“, „Fluvoxamine“ und „Prozac®“ (Black/Uhde 1994; Rapoport 1989; Wright et al. 1999). Die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie sowie ihre Langzeitfolgen sind umstritten. Es bedarf sicherlich weiterer, verantwortungsbewusster Forschung, auch über Langzeitwirkungen, um diese Zusammenhänge weiter zu klären (vgl. dazu Manassis et al. 2016).

Was ist demnach selektiver Mutismus? Folgende Definition ist im ICD–10 zu finden (Dilling/Freyberger 2014, 331):

F94.0: elektiver Mutismus

Dieser ist durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens charakterisiert, so dass das Kind in einigen Situationen spricht, in anderen definierbaren Situationen jedoch nicht. Diese Störung ist üblicherweise mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Sozialangst, Rückzug, Empfindsamkeit oder Widerstand verbunden.

Dazugehöriger Begriff:

  selektiver Mutismus

Ausschluss:

  passagerer Mutismus als Teil einer Störung mit Trennungsangst bei jungen Kindern (F93.0)

  Schizophrenie (F20)

  tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84)

  umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (F80)

(Entsprechend Dilling/Freyberger 2014, 331: Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend)

In der Literatur wird der Mutismus vermehrt den Angststörungen und den sozialen Phobien zugeordnet (Übersicht in Smith/Sluckin 2015, 21) aktuell aber auch als eine komplexe Störung mit multimodaler Diagnostik betrachtet (Kearney/Rede 2021).

1.2 Diagnostische Kriterien

a.Andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen (in denen das Sprechen erwartet wird, z.B. in der Schule), obwohl Sprechen in anderen Situationen möglich ist.

b.Es kommt zu Beeinträchtigungen in Ausbildung, Beruf oder sozialer Kommunikation durch die Störung.

c.Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach Schulbeginn beschränkt).

d.Die Störung kann nicht besser durch eine Sprechstörung (wie Stottern) erklärt werden, ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt und tritt nicht im Zusammenhang mit Autismus-Spektrums-Störungen, Schizophrenie oder weiteren psychotischen Störungen auf.

DSM-5 (312, 23)

Häufige Begleiterscheinungen zum selektiven Mutismus sind soziale Phobien sowie Angststörungen.

Komorbiditäten:

  Störungen des Sozialverhaltens, mit oppositionellem Verhalten

  Phobische Störungen

  Sonstige Angststörungen

  Anpassungsstörungen als Reaktionen auf schwere Belastungen

  Depressive Symptomatik

  Regulationsstörungen wie Schlaf, Essen, Ausscheidungsfunktionen

Wie im DSM-IV erwähnt, sehen wir oft Kinder, deren andere Sprachstörungen vom Mutismus überlagert werden. Der Stand der Forschung lässt, wie schon erwähnt, keine lineare, klar abgegrenzte Ätiologie zu. Vielmehr werden organische und neurologische Komponenten (Rapoport 1989), Alterationen prä-, peri- und postnataler Natur, sowie exogene Faktoren, Modelllernen, Traumata und/oder Kulturwechsel sowie Erschwerungen des Spracherwerbs als sich gegenseitig beeinflussende, potenzierende und begünstigende Risikofaktoren der Störung angenommen (Hartmann 2007; Bahr 2006; Dow et al. 1999; Schoor 2002; Spasaro/Schaefer 1999; Kristensen 2000; Manassis et al. 2007; Nowarowski et al. 2009; Starke 2018).

Betrachtet man die drei Formen der kindlichen Ängste, nämlich Trennungsangst (extreme Angst vor der Trennung von vertrauten Bezugspersonen), Vermeidungsverhalten (übermäßiges Zurückschrecken vor unbekannten Personen, so dass soziale Beziehungen eingeschränkt werden; Schüchternheit sowie Mangel an Sozialkontakt) und Störung mit Überängstlichkeit (übermäßige und unrealistische Befürchtungen, gekoppelt mit Gefühlen extremer Beklommenheit, Nachdenken über Leistungen und allgemeine Angespanntheit bis zur Erstarrung), so stellt man fest, dass all diese Merkmale auf markante Weise auch beim Mutismus anzutreffen sind (angelehnt an Thyer 1991, zit. in Petermann/Petermann 1996, 11f). In der aktuellen Diskussion zur Klassifikation des selektiven Mutismus als Angststörung bringen Carbone et al. (2010, 1058) folgende zusammengefasste Argumente, die dafür plädieren:

  Die hohe Co-Morbidität beider Störungen,

  die hohe Rate der Angststörungen bei den Angehörigen,

  ähnliche Temperamentsmerkmale beider Störungsarten,

  die Ähnlichkeit der therapeutischen Maßnahmen.

Dennoch soll vor allzu schneller Taxierung und Stigmatisierung durch eine monokausale Diagnostik im frühen Kindesalter gewarnt werden. Förderlich sind ätiologische und diagnostische Feststellungen dann, wenn sie zur Einleitung von therapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen dienen und als Unterstützung zur Bewältigung von Belastungsfaktoren für Eltern und weitere Personen, die mit Erziehungsaufgaben des jeweiligen Kindes beauftragt sind, relevant sind.

Dieser „idiographische“ Aspekt (Motsch 1992) soll hier in theoretischen und praktischen Überlegungen und Zugängen eine besondere Berücksichtigung finden und die Notwendigkeit von interdisziplinärer Zusammenarbeit und Transdisziplinarität in Diagnostik, Therapieplanung und -verlauf hervorheben.

1.3 Mutismusarten

Es gibt verschiedene Vorschläge, wie man den Mutismus in Untergruppen einteilen kann. Die erste wesentliche Unterscheidung ist die zwischen dem totalen und dem elektiven Mutismus (Tramer 1934 siehe 1.1).

Wallis (1957) ordnete die Mutismusarten nach ätiologischen Gesichtspunkten:

  Mutismus infolge einer Psychose

  Mutismus infolge einer hirnorganischen Auffälligkeit

  Mutismus infolge einer psychogenen Störung

Biesalski (1973) nimmt eine Mischung zwischen gradueller Erscheinung und Ätiologie vor. Interessant ist hierbei der Zusammenhang von Redeflussstörungen und Mutismus, der später noch aufgegriffen wird.

  Totaler Mutismus

  Elektiver Mutismus

  Mutismus infolge einer Redeflussstörung

  Mutismus infolge einer Psychose

Schmidbauer (1971) ordnet die Mutismusarten nach dem Entstehungszeitpunkt:

  Initial-Mutismus

  Reaktiver Mutismus

Spoerri (1986) zeigt die Notwendigkeit einer Abgrenzung in Kindes- und Erwachsenenalter auf:

  Mutismus im Kindesalter (Regression)

  Mutismus bei Erwachsenen (Schizophrenie, katatone Zustände, depressive Zustände, Paranoia und Hysterie)

Dies ist eine Unterscheidung, die sowohl für die Erwachsenenpsychiatrie als auch für die Kinderheilkunde und Pädagogik unerlässlich ist. So ist der Mutismus im Kindesalter aus entwicklungspsychologischen und sprachentwicklungsrelevanten Gründen sowohl diagnostisch als auch therapeutisch ganz anders einzuordnen. Dabei handelt es sich noch um eine entwicklungsbedingte, oft angemessene, in den allermeisten Fällen passagere, wenn auch als Risikofaktor ernstzunehmende Störung. Dagegen ist Mutismus ganz anders zu gewichten je länger er anhält und je älter das Kind ist. Das Alter, in dem der Mutismus auftritt, wird in zwei Gruppen geteilt:

  der Frühmutismus (ab 3;4–4;1 Jahre)

  der Spät- / Schulmutismus (ab 5;5 Jahre)

Diese Einteilung zeigt, dass die Störung immer mit einem Übergang verknüpft ist – von einem vertrauten, familiären Kreis zu einem Exponiert-Sein verbunden mit der Anpassung und der Integration in eine neue soziale Gruppe (Bahr 2006, 37ff; Hartmann 2007, 67f).

Lesser-Katz (1988) unterscheidet bei Kindern zwei Hauptgruppen:

  compliant, timid, anxious, dependent, insecure

(gefügig, scheu, ängstlich, anhänglich, unsicher)

  noncompliant, passive-aggressive, avoidant

(nicht-einfügsam, passiv-aggressiv, vermeidend)

Therapeutisch relevant und hilfreich ist eine Einteilung von Hayden (1980), amerikanische Spezialistin für mutistische Kinder, die 68 mutistische Kinder untersuchte. Sie unterscheidet vier Typen von Mutismus, die das Erscheinungsbild, die Verhaltensauffälligkeit und die psychosozialen Ursachen näher beschreiben:

„Symbiotic mutism characterized by a symbiotic relationship with a caregiver and a manipulative and negativistic attitude towards controlling adults.“

[Symbiotischer Mutismus ist als eine symbiotische Beziehung zu einer Bezugsperson und als eine manipulative, negativistische Einstellung gegenüber verantwortlichen Erwachsenen charakterisiert.]

„Speech phobic mutism characterized by a fear of hearing one’s voice accompanied by obsessive-compulsive behaviors.“

[Sprechangst-Mutismus ist durch die Angst, die eigene Stimme zu hören, charakterisiert und wird von Zwangsgedanken und/oder -handlungen begleitet.]

„Reactive mutism caused by a single depression and withdrawal.“

[Reaktiver Mutismus wird durch eine einmalige Depression und Rückzug verursacht.]

„Passive-aggressive mutism characterized by a defiant refusal to speak and the use of ,silence as a weapon.‘

[Passiv-aggressiver Mutismus ist durch eine aufsässige Verweigerung zu sprechen und eine Anwendung des ‚Schweigens als eine Verteidigungswaffe‘ gekennzeichnet.]

(Hayden 1980; zit. in Grayson et al. 1999, 91f, Übersetzung v. d. Autorin)

Diese Einteilung macht deutlich, dass (selektiver) Mutismus das gemeinsame Merkmal des Schweigens aufweist. Die Ätiologie und die begleitenden Verhaltensmerkmale können jedoch unterschiedlicher Herkunft sein. Diese Gruppenbildung von Hayden wird hinsichtlich ihrer Eignung als Differentialdiagnostik in Frage gestellt (Kolvin/Fundudis 1981, 220; Bahr 2006, 22). Sie verhelfen jedoch zur Differenzierung von therapeutischen Schwerpunkten und ermöglichen Erwägungen, die zu wirkungsvollen Zugängen zu diesen Kindern führen. Auch kann diese Einteilung in der Zusammenarbeit mit Angehörigen und anderen Fachleuten hilfreich sein.

1.4 Epidemiologie, Co-Morbidität und Risikofaktoren

Obwohl (selektiver) Mutismus nicht häufig auftritt, erreichen uns im Sprachtherapeutischen Ambulatorium der Technischen Universität Dortmund zahlreiche Anmeldungen, seitdem bekannt wurde, dass wir ein Forschungs- und Therapieprojekt lanciert haben (siehe dazu Mutismus Netzwerk: www.fk-reha.tu-dortmund.de/zbt/de/spa/mutismus/index.html, neuerdings auch IMF – Interdisziplinäres Mutismus Forum). Eine ähnliche Erfahrung konnte ich in der Schweiz in den Jahren zwischen 1975–1990 machen: Sobald eine Anlaufstelle öffnet, häufen sich die Anfragen und bestätigen den Bedarf an einer spezialisierten, interdisziplinären Therapie- und Informationsstelle. Ähnliche Erfahrungen vermelden die Selbsthilfe- und Fachgruppen Selbsthilfe Mutismus Deutschland e.V. (www.mutismus.de), StillLeben e.V. (www.selektiver-mutismus.de) und IG Mutismus Schweiz (www.mutismus.ch). Inzwischen sind in den deutschsprachigen Ländern ein reger fachlicher Austausch sowie Weiterbildungs- und Beratungstätigkeiten zu verzeichnen. Dazu zählt auch die neu gegründete Zeitschrift „Mutismus.de“ (Zu weiteren Ländern Smith/Sluckin 2015, 289f.).

In der Literatur schwanken epidemiologische Angaben zwischen weniger als 0,1% (Fundudis et al. 1979) und 0,7% (Kos-Robes 1976) der klinisch erfassten Kinder. Steinhausen nennt 0,5% mutistische Kinder unter den psychiatrischen Auffälligkeiten (Steinhausen 2000; Steinhausen et al. 2006; weitere Studien dazu bei McInnes et al. 2004).

Bei einer ersten, von uns geleiteten Erhebung in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2003 wurden schriftlich und per E-Mail 170 Schulen angeschrieben und um die Ermittlung von mutistischen Kindern in der Schule gebeten. Der Rücklauf von 50 Schulen brachte folgende Resultate:

In den ersten Klassen (ca. 1000 Kinder bei der Einschulung) wurden drei Kinder mit selektivem Mutismus ermittelt. Dies entspricht einem ungefähren Wert von 0.3% (Kunze/Konrad 2003).

In den übrigen Klassen (ca. 5000 Kinder) gab es weitere vier Kinder mit selektivem Mutismus, davon zwei in der Regelschule (3. bzw. 4. Klasse) und zwei in der Schule für Lernbehinderte (7. bzw. 8. Klasse) (Kunze/ Konrad 2003). Diese Erhebung zeigt einen der untersten Mittelwerte von ähnlichen epidemiologischen Erhebungen in der Literatur. Selbstverständlich sind dabei alle Einschränkungen und Relativierungen, wie beispielsweise die Interpretation der Rücklaufquote (wir vermuten, dass die betroffenen Schulen eher motiviert waren, sich zu melden) oder die Häufung in den ersten Klassen zu berücksichtigen.

Ob überwiegend Mädchen oder Jungen vom (selektiven) Mutismus betroffen sind, lässt sich nicht eindeutig klären. Es finden sich Quellen, die eine Prävalenz von Mädchen (in einer Relation von 1,6:1 bis 2,6:1) proklamieren (Wright et al. 1985; Lebrun 1990; Cline/Baldwin 2004; weitere aktuelle Quellen dazu: Capozzi et al. 2017; Geusthaler et al. 2016).

Die ermittelte Dauer der Störung seit ihrer Erfassung beträgt bei Mädchen 5;6, bei Jungen 4;0 Jahre (Hartmann 1997, 69), ungeachtet der therapeutischen Versorgung. Das zeigt wiederum die Notwendigkeit der Koordination der Maßnahmen. Denn der pädagogische Bildungsprozess muss – wenn auch unter erschwerten Bedingungen – weiter gewährleistet und gesichert werden, die Kulturtechniken müssen dennoch erworben werden, damit der nahtlose Anschluss an Berufswahl und soziale Integration im Moment der Auflösung der Störung erfolgen kann.

Oft wird auch für stationäre Aufenthalte plädiert. Studien über die Besserung der Störung bei einer solchen Maßnahme sprechen bei Kindern zwischen drei und acht Jahren von 62%, (Lowenstein 1979), bei einer Gruppe von Kindern zwischen sechs und acht Jahren von 46% (Kolvin/Fundudis 1981). Das zeigt, dass eine stationäre Unterbringung je nach Kind sehr sorgfältig erwogen werden muss, da sie nicht immer effizient erscheint und sogar zu einem Misserfolgserlebnis führen kann. Die kann sich negativ auf weitere therapeutische Maßnahmen auswirken.

Zusätzliche Auffälligkeiten (Co-Morbidität) bei selektiv-mutistischen Kindern

Bei dem Phänomen des (selektiven) Mutismus ist die Co-Morbidität mit anderen Verhaltensauffälligkeiten und psychiatrischen Störungsbildern bekannt (Luchsinger/Arnold 1970; Rösler 1981; Lempp 1982; Funke et al. 1978; Lesser-Katz 1988; Hartmann 2007; Kristensen 2000; Bar-Haim et al. 2004; Henkin/Bar-Haim 2015; Manassis et al. 2007 u. a.).

Castell und Schmidt (1999; 2000, 2) zählen folgende co-morbide, psychiatrische Begleiterscheinungen auf:

  Soziale Ängstlichkeit,

  Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten,

  Depressive Symptomatik,

  Regulationsstörung von Schlaf, Essen, Ausscheidungsfunktion oder Verhaltenskontrolle.

Rösler (1981, 188) fand bei einer Untersuchung bei 32 selektiv-mutistischen Kindern folgende zusätzliche psychopathologische Auffälligkeiten sowie weitere Merkmale:

Psychopathologische Auffälligkeiten

  Angstsymptome (90,6%)

  Passives Rückzugsverhalten (63%)

  Stimmungsschwankungen (37,5%)

  Konzentrations- und Leistungsstörungen (37,5%)

  Aggressivität (28,1%)

  Hypermotorik (28,1%)

  Markante Mimik und Gestik (28,1%)

  Hartnäckigkeit (18,8%)

  Bettnässen (Enuresis) (31,2%)

  Tics, Jactation, Stereotypien (21,9%)

  Zwänge (21,9%)

  Enkopresis (6,3%)

  Nägelkauen (Onychophagie), Daumenlutschen und Haareraufen (Trichotillomanie) (40,6%)

Weitere Befunde bezüglich neurologischer Auffälligkeiten

  Pathologische Anamnese (50%)

  Auffällige Anamnese (34,4%)

  Unauffällige Anamnese (15,6%)

  Klinisch-neurologischer Befund (50%)

  Pathologisches EEG (50%)

Entwicklungsstörungen

  Statomotorische Entwicklungsverzögerung (31,3%)

  Sprachentwicklungsverzögerung (65,6%)

  Sprachstörung (46,6%)

  Visu-motorische Störung (40,6%)

  Linkshändigkeit (12,5%)

  Lese-Rechtschreibschwäche (15,6%)

Steinhausen und Juzi (1996) fanden zusätzlich Trennungsangst, Schlaf- und Essstörungen im frühen Kleinkind- und Vorschulalter; Wittchen nennt weitere Merkmale:

„Extreme Schüchternheit, soziale Isolierung und Rückzug, Anhänglichkeit, Schulverweigerung, Zwangsverhalten, Negativismus, Wutausbrüche oder andere manipulative oder oppositionelle Verhaltensweisen können insbesondere zu Hause beobachtet werden.“ (Wittchen 1989, 124)

Relevant für dieses sind vor allem folgende „Nebenmerkmale“ des selektiven Mutismus:

„Begleitende Sprechstörungen wie eine Entwicklungsbezogene Artikulationsstörung, eine Expressive oder Rezeptive Sprachentwicklungsstörung oder eine körperliche Störung, die die Artikulationsfähigkeit beeinträchtigen, können vorhanden sein.“ (Wittchen et al., DSM-III-R 1991, 124)

Weitere „Characteristics“ sind in der angloamerikanischen Literatur zu finden:

  excessive shyness (ekzessive Scheu)

  anxiety (Angststörung)

  social isolation and withdrawal (soziale Isolation und Rückzug)

  maternal overprotection (mütterliche Überbehütung)

  symbiotic relationship with a parent (usually the mother) (symbiotischer Bezug zu einem Elternteil, besonders zur Mutter)

  language difficulties (sprachliche Erschwernisse)

  early hospitalisation (frühe Hospitalisierung)

  memory span deficits (Defizite der Gedächtnisspanne)

  deficits in auditory efferent activity (Defizite der auditiven Aufmerksamkeitsspanne)

  trauma (Trauma)

  global severity in parents

  fear of strangers (Fremdenangst)

  depression (Depression)

  manipulative, controlling or aggressive interpersonal style (manipulativer, kontrollierender oder aggressiver interpersoneller Umgangsstil)

(Hayden 1980; Kolvin/Fundudis 1981; Lesser-Katz 1986; 1988; Meyers 1984; Rutter, Garmezy 1983; Wilkins 1985; Wright et al. 1985; cite. Grayson et al. 1999, 91f.; Mac Gregor et al. 1994, Übersicht in Kearney 2010; Smith/Sluckin 2015). Der selektive Mutismus wird neu den Angststörungen zugeordnet (Capozzi et al. 2017; Gensthaler et al. 2016; Melfsen/Walitza 2017).

Diese Aufzählung zeigt, dass sprachliche Störungen und Defizite als primärer Grund – oder zumindest als Risikofaktor – für den selektiven Mutismus angesehen werden können. Mehrere ältere, aber vor allem aktuelle Studien vermögen, sprachliche Auffälligkeiten bei selektiv-mutistischen Kindern (Steinhausen/Juzi 1996; Kristensen 2000) oder Beeinträchtigungen weiterer Basiskompetenzen, die mit der Sprachentwicklung interagieren, wie der auditiven Aufmerksamkeitsspanne (Bar-Haim et al. 2004; Henkin/Bar-Haim 2015) zu belegen. Auch fällt selektiver Mutismus gehäuft mit sprachlicher Unsicherheit infolge von Migration zusammen (Elitzur/Perednik 2003; Kristensen/Oebeck 2006; Manassis et al. 2007; Toppelberg et al. 2005; Yeganeh et al. 2003, Starke 2018). Weitere neuere Studien zeigen Defizite und Verzögerungen der pragmatischen, sozialen, kommunikativen, und/oder der narrativen Kompetenzen (Cunnigham et al. 2004; McInnes et al. 2004; Carbone et al. 2010; Cleator 2015). Diese letzteren Befunde bestätigen meine eigenen langjährigen Erfahrungen in Diagnostik, Therapie und Beratung in diesem Bereich und rechtfertigen den Einbezug von Sprachtherapie/Logopädie in der Versorgung selektiv-mutistischer Menschen (Katz-Bernstein/Subellok 2009; dazu auch Johnson/Wingens 2004). Diese pragmatischen, kommunikativen und narrativen Defizite werden im hier vorgestellten Therapieansatz berücksichtigt. Eine weitere Unsicherheit besteht über die Differentialdiagnose Mutismus/tiefgreifende Entwicklungsstörungen (Autistisches Spektrum) (dazu auch Kramer 2006). Die langjährige Erfahrung sowie Berichte von Eltern in den neu entstandenen Selbsthilfegruppen legen nahe, Mischformen anzunehmen. Ein Blick in die Literatur zeigt Forschungsbedarf auf.

Wie schon erwähnt kann jegliche Verunsicherung in der Entwicklung und im Erwerb der Sprache, sei sie linguistischer (auf der semantisch-lexikalischen, phonologischen, sowie auf der syntaktisch-morphologischen Ebene) bzw. funktioneller Art (auf der phonetischen Ebene) oder betreffen sie die Performanz der Sprache (auf der pragmatischen Ebene), einen Risikofaktor für den Mutismus darstellen. (Spasaro/Schaefer 1999; Katz-Bernstein/Subellok 2009; Melfsen/Walitza 2017). Folgende weitere Sprachstörungen wurden gefunden:

  Stottern, Poltern-Stottern

  partielle/multiple Dyslalie

  Dysarthrophonie, Dysarthrie, Dyspraxie

  stark eingeschränkter Wortschatz, semantische Störungen

  grammatische (syntaktisch-morphologische) Störungen

  Sprachentwicklungsstörung bei Zweisprachigkeit

Versteht man den selektiven Mutismus als eine Potenzierung von einigen Faktoren, die sich zu diesem Störungsbild verdichten, so werden weitere Risikofaktoren relevant.

Weitere Risikofaktoren:

  Migration und Bilingualität (28% bzw. 22%)

  Psychische Störungen, Persönlichkeitsstörungen der Eltern (10,5%)

  Mutistischanmutende Verhaltensweisen der engsten Angehörigen (72,2%, Kontrollgruppe: 17,6%)

  Prä-, peri-, postnatale Komplikationen (75%)

  Störung der pragmatisch-kommunikativen Kompetenz

  Temperamentsmerkmale (Rückzug, Scheu, Ängstlichkeit, Schweigsamkeit) (Steinhausen/Juzi 1996, zit. n. Hartmann 2002)

  Geschwister- oder Zwillingskonstellation (Subellok et al. 2011)

  Allg elterliche Strenge (Capozzi et al. 2017)

Diese lange Liste der Befunde bestätigt, dass der Mutismus eine Störung darstellt, die in Wechselwirkung und in Potenzierung mit weiteren mannigfaltigen, kindlichen Störungen auftritt. Eine interdisziplinäre Haltung ist daher gerechtfertigt

1.5 Beitrag zur Ätiologie: Warum schweigen Kinder? Die Unfähigkeit, die Fremdheit zu überwinden

„… a multidimensional model seems to be most appropriate for the explanation of SM.“ (Steinhausen et al. 2006, 751)

„. . . man (geht) in der Entwicklungspsychologie davon aus, dass es leichter Stress ist, der Entwicklung in einem konstruktiven Sinn ermöglicht: Die Anforderung, die durch eine neue Erfahrung, eine unbekannte Aufgabe an das Kind gestellt wird, wird dann zur Entwicklung neuer Fähigkeiten und Kompetenzen führen, wenn sie – vom Kind selbst oder mit Hilfe anderer Personen – zu bewältigen ist. Die Anforderung, die durch extremen Stress erlebt wird, führt zwar zu einer Bewältigungsreaktion, nicht aber zur Bewältigung. Gleichwohl werden die Folgen der Bewältigungsreaktion entwicklungsbedeutsam.“ (Welzer 2002, 65)

In der Literatur finden sich zur Ätiologie des (selektiven) Mutismus unterschiedliche Erklärungen. Der jeweilige Erklärungsansatz geht meistens aus dem Forschungs- und Therapieansatz, dem Menschenbild sowie aus der Fachdisziplin und der Ausbildung der Autoren hervor (Bahr 2006, 29). Es lassen sich im Wesentlichen folgende Modelle unterscheiden:

  Operante Konditionierung

  Lernen am Modell oder die Erfahrung der Selbstwirksamkeit (Bandura 1983) (wie im lerntheoretischen Ansatz)

  Neurotisches Verhalten infolge eines Konfliktes, der durch das Schwei-gen ausgedrückt wird, so der psychoanalytische Erklärungsansatz (Lempp 1982; Kos-Robes 1976 u. a.)

  Schweigen infolge von Heredität oder als Folge von Familie als Modell für ein schweigendes Verhalten (Lebrun 1990; Black/Uhde 1995; Steinhausen/Adamek 1997; Cohan et al. 2006; Cunningham et al. 2006; Chavira et al. 2007) (genetischer bzw. systemischer Ansatz)

  Schweigen als Bewältigungsstrategie (Bahr 2006)

  Schweigen als Symptom einer Angststörung (Yeganeh et al. 2003; Sharp et al. 2007; Carbone et al. 2010; Capozzi et al. 2017)

  Schweigen infolge von Mehrsprachigkeit (Dahoun 1995; Elitzur/Perednik 2003; Yeganeh et al. 2003; Toppelberg et al. 2005; Kristensen/Oerbeck 2007; Manassis et al. 2007; Starke 2018)

  Diäthese-Stress-Modell (Cohan et al. 2006; Hartmann 1997)

Die Relevanz solcher Sichtweisen liegt darin, dass sie pädagogischen und therapeutischen Fachpersonen zu einer Sinnkonstruktion des Mutismus verhelfen und sie dadurch handlungsfähig machen (weiter dazu siehe Hartmann 2007, 71ff.; Bahr 2006, 28ff). Jede dieser „Brillen“ ermöglicht eine weitere fruchtbare Relativierung. Auch können therapeutische Maßnahmen gezielter, im interdisziplinären Sinn koordiniert werden.

Wichtig ist m. E. ein entwicklungspsychologischer Aspekt, der als Ergänzung zu den Abhandlungen von Hartmann (2007) und Bahr (2006) eine gewisse Ausführlichkeit verdient: Die fehlende kommunikative und sprachliche Kompetenz des (selektiv) mutistischen Kindes. Diese erschwert es, einen Übergang zwischen „vertraut“ und „fremd“ vorzunehmen. Diese Perspektive aus neueren entwicklungspsychologischen Theorien der Säuglings- und Gehirnforschung liegt diesem Buch zur Beleuchtung des selektiven Mutismus zugrunde (siehe Teil II):

Die starren Grenzen, die das Kind zwischen „fremd“ und „vertraut“ zieht, verhindern einen sozialen Lernprozess. Denn eine Entwicklung im kindlichen Alter wird als eine Ausdehnung von „Umweltausschnitten“, die das Kind durch – krisenanfällige – Übergänge zu erobern vermag, gekennzeichnet (Bronfenbrenner 1980). Das Kind ist nicht in der Lage, neue Bekanntschaften zu knüpfen und so seinen Bewegungs- und Vertrautheitsradius, sowohl leiblich als auch in seiner Vorstellung und als Konstruktion des autobiographischen Gedächtnisses (Nelson 2006; Welzer 2002; Markowitsch/Welzer 2006), zu vergrößern. Dadurch fehlen dem Kind die attraktiven Kontakte zu Lehrpersonen und Peer-Gruppen, die die Autorität und die phantasierte Macht und Größe der Eltern zu relativieren vermögen und zur Ablösung von ihnen verhelfen.

Um Fremdheit zu überwinden, sollten für das Kind verschiedene Faktoren gewährleistet sein:

  Es muss eine hinreichend stabile Bindung zu den Bezugspersonen vorhanden sein.

  Dem Kind muss klar sein, dass das Anfreunden mit Fremden grundsätzlich erwünscht ist und dass die Loyalität zu den Eltern dadurch (grundsätzlich) nicht gefährdet ist.

  Das Kind sollte bereits positive, nicht-bedrohliche Vorerfahrungen mit Fremden gemacht haben.

  Es braucht Gewissheit, am fremden Ort willkommen zu sein und (grundsätzlich) gemocht zu werden.

  Fehlverhalten und Versagen am neuen Ort dürfen keine grausamen und beschämenden Konsequenzen haben.

  (Begrüßungs- und Abschieds-) Gesten und Rituale, die den temporären Charakter von Begegnungen symbolisieren, sowie soziale Regeln der Nähe- und Distanzregulierung bei fortdauernden Beziehungen sollte das Kind verinnerlicht haben.

  Eine gewisse eigene Regulierung der Beziehungen sollte gewährleistet sein.

  Das Kind sollte eine hinreichende Furchtlosigkeit, Entspanntheit und Neugier besitzen, um sich auf die sich entwickelnden kommunikativen Spielchen und Interaktionen, die durch eine gegenseitige Anpassung und ein gemeinsames Gestalten entstehen, einlassen zu können.

  Es braucht genügend sprachliche Kompetenz, um Anweisungen, Ankündigungen und Orientierungshinweise zu verstehen, um dringende Bedürfnisse und Nöte anzukündigen, um um Hilfe zu bitten und Intentionen mitzuteilen. Es sollte Erzählungen und Berichte verstehen und ein Interesse haben, das sich in typischen Merkmalen von Zuhörerverhalten zeigt (Schröder et al. 2014).

  Zuletzt sollte das Kind über narrativ-expressive Kompetenzen verfügen, um über sich und andere erzählen, nachdenken und eine eigene autobiographische Konstruktion entwickeln zu können (Andresen 2003, 2005; Fujiki et al. 1997; McInnes 2004; Quasthoff et al. 2011; Schröder et al. 2014; Katz-Bernstein/Schröder 2017).