Senor Rui - Simone Dark - E-Book

Senor Rui E-Book

Simone Dark

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Beschreibung

Adán erwacht. Die Narbe schmerzt. Er denkt an Eva. Ein letztes Mal schläft er ein. Ein roter Traum. Sie lächelt. Sie betet. Sie blutet. Neben ihr das Messer. Vor ihm sein Bruder. Vor ihm sein Ebenbild. Vor ihm Draco.

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Simone Dark, Jahrgang 1982, ist in der Nähe von Freiburg aufgewachsen, studierte Italienisch und Französisch im Raum Mainz. Seit 2008 lebt sie in Südtirol. Bisher erschienen die Romane „Annes Schwester“, „Die Young“, „Die Rache der Schmetterlinge“, „Offene Rechnungen“ und „Das zweite Leben“.

Nach einer Idee von Christian Kranauer

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Prolog – Juli 2014

Kapitel 1 - Mai 2003

Kapitel 2 - Juni 2003

Kapitel 3 – Juli 2003

Kapitel 4 – August 2003

Kapitel 5 – September 2003

Kapitel 6 – Oktober 2003

Kapitel 7 – November 2003

Kapitel 8 – Dezember 2003

Kapitel 9 – Januar 2004

Kapitel 10 – Februar 2004

Kapitel 11 – März 2004

Kapitel 12 – April 2004

Kapitel 13 – Mai 2004

Kapitel 14 – Juni 2004

Kapitel 15 – Juli 2004

Epilog – Juli 2014

Prolog – Juli 2014

Ruì erwacht von einem stechenden Schmerz im Oberarm. Nicht einmal an diesem Morgen lässt die zehn Zentimeter lange Narbe ihn in Frieden ruhen. Er verzieht das Gesicht, noch bevor er die Augen öffnet. Dann berührt er seinen Oberarm, seine Haut ist wund und die Verletzung pulsiert rhythmisch. Eine Träne lockert sich aus seinem linken Augenwinkel und läuft ihm über die Wange, bis sie mit einem zarten, klopfenden Geräusch auf die harte Liegefläche tropft. Ein früher Sonnenstrahl fällt durch das winzige Fenster und wärmt seine Stirn, wie es einst Eva tat, wenn er die Schmerzen nicht mehr ertrug. Er hatte Glück mit diesem Zimmer, immerhin musste er in den letzten Jahren nicht ständig nach der Uhrzeit sehen, um zwischen Tag und Nacht unterscheiden zu können. Ruì hebt die Hand, um sich die Träne von der Wange zu wischen. Niemand soll ihn weinen sehen. Nicht an diesem letzten, so besonderen Tag.

Er glaubt, das Läuten der Kirchenglocken zu hören, dabei ist es in diesem Raum unmöglich. Noch einmal eine Kirchenglocke zu hören, es wäre nur allzu schön. Er lauscht dem Ticken der Uhr an der Wand, folgt der Bewegung des Sekundenzeigers. Fünf Uhr und drei Minuten. Noch eineinhalb Stunden, dann wird man ihn wecken. Zeit genug, noch einmal die Augen zu schließen und sich den Gedanken hinzugeben. Ruì dreht sich auf die Seite, der Druck lindert die Narbenschmerzen. Nach so vielen Jahren hat er Freundschaft mit diesen Schmerzen geschlossen. Er kann mit ihnen umgehen, selbst in den letzten Jahren, als sie immer stärker und häufiger auftraten, hat er sie nie verflucht. Vielleicht auch, weil so viele Erinnerungen in ihr stecken, auf die er nicht verzichten will. Spürt er das Stechen, spürt er seine Familie.

Seine Augen kämpfen gegen das frühe Sonnenlicht. Obwohl die Liege viel zu hart ist, nimmt er das Kissen und schützt seine geschlossenen Augen vor dem hellen Licht. Augenblicklich wird es kühl und dunkel. Er entspannt sich innerhalb weniger Sekunden. Zunächst fällt es ihm schwer, sich die Gesichter seiner Lieben in Erinnerung zu rufen, sind doch schon gut zehn Jahre seit jenen schlimmen Monaten vergangen.

Ein wirrer Traum holt ihn ein. Wie oft hat er ihn schon geträumt in den letzten Jahren, seit diese wenigen, kalten Quadratmeter zu seinem Zuhause wurden?

Er sieht sich selbst als jungen Mann, der Mann, der er damals war. Er ist nackt wie Adam im Paradiese, ungeschützt. Er schämt sich seiner Nacktheit nicht. Er geht glücklich durch sein Haus, in dem er mit seiner Frau Eva wohnte. Sie erwartete ein Kind. Im Oktober sollte es auf die Welt kommen. Er sucht sie, lacht über ihr Versteckspiel. Er ruft sie, Eva, Eva, wo bist du? Wo hast du dich versteckt? Nun komm schon, zeig dich! Doch Eva reagiert nicht, sie antwortet nicht, kein Wort, kein Laut. Er geht durch alle Zimmer, rennt in den Keller, in den Dachboden, in die Küche, sieht zum Fenster heraus, das über die Terrasse in den blühenden Garten führt. Nichts, er kann sie nicht finden. Er beginnt, sich zu sorgen, sein Atem geht schneller, schließlich rast sein Puls. Der Traum wird immer hektischer, er stürzt zum Schlafzimmer, betritt es, einen Moment lang sieht er seine eigenen, vor Entsetzen aufgerissenen Augen. Das Zimmer hat eine rote Farbe angenommen: die elfenbeinfarbenen Wände, der hölzerne Boden, die hellen Möbel, das Bett, alles ist in dunkelrote Farbe getaucht. Selbst die Fenster sind rot. Es ist die Farbe Evas, die Farbe ihrer Leidenschaft, ihres Herzens, ihres Blutes. Eva liegt auf dem Bett, ihr Leib wurde aufgeschnitten, das Blut fließt in langsamen Strömen über ihren Körper. Sie liegt lächelnd auf dem Bett und betet. Ihr Blick durchdringt ihn. Er kann nicht aufhören zu schreien. Sie lächelt weiter, beendet ihr Gebet, dann nimmt sie ein Messer auf, das neben ihr auf dem dunkelroten Bett liegt. Sie sieht es an und hält es ihm hin. Er spricht auf sie ein, geht langsam auf sie zu, um ihr zu helfen, um die furchtbaren Blutungen zu stillen. Als er an ihrem Bett steht, erkennt er sich selbst auf der gegenüberliegenden Seite. Er sieht sich wie in einem absurden Spiegel. Der Mann, der ihm gegenüber steht, ist angezogen, nicht nackt und schutzlos wie er selbst. Er lacht hämisch, zeigt mit seinem Finger auf ihn und seine verblutende Frau. Er lacht und lacht und lacht, er kann sich nicht beruhigen. Ruì schreit ihn an, voller Wut, befiehlt ihm, aufzuhören. Je mehr er schreit, je wütender er wird, desto lauter wird das Lachen seines Gegenübers. Das Lachen wird durchs Evas Stimme übertönt. Irritiert blickt er seine Frau an. Sie hat erneut begonnen zu beten. Ihre Stimme wird immer lauter, sie fällt in Trance, lächelt durch ihn hindurch.

Kapitel 1 - Mai 2003

Ich liebe Adán. Er ist mein Mann, mein Ein und Alles, mein Leben. Er behandelt mich respektvoll, liebevoll. Wir haben ein gutes Leben. Er sorgt für mich, er sorgt sich um mich, es fehlt mir an nichts. Manchmal glaube ich, wir leben im Paradies. Wir streiten nur selten, und wenn, dann nur kurz, um uns so schnell wie möglich wieder zu versöhnen. Seit ich siebzehn Jahre alt war, bin ich in ihn verliebt, also seit fast zehn Jahren. Von den anderen Männern in meinem Leben wollte ich nichts wissen. Ich wollte ihn, er war der erste und sollte auch der letzte Mann in meinem Leben sein.

Ich betrachte das Schwarzweißbild an unserer Wand. Nicht, dass es im Jahr unserer Hochzeit keine Farbbilder gegeben hätte, doch wir waren beide einfach furchtbar nostalgisch. Texas macht nostalgisch, man kommt mit unserer Mentalität einfach nicht darum herum, sich in Erinnerungen zu suhlen und dabei wohler zu fühlen als in der schmuddeligen Gegenwart. Zu viel Gewalt, zu viele Drogen, zu viele Gangs, zu viele korrupte Politiker bestimmen unseren Alltag. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre in eine andere Generation hineingeboren, in der die Menschen noch ehrlich zueinander waren und nicht nur an sich selbst dachten.

*

Ich sehe aus dem Küchenfenster, sehe, wie er die Straße herunter schlendert. Sein Overall ist schmutzig, er sieht müde aus, aber glücklich. Er ist ein schöner Mann, selbst in diesem alten Blaumann macht er einiges her. Groß ist er, hat breite Schultern, ein ausdrucksstarkes Gesicht, dunkle Locken und fast schwarze Augen. Diese Augen haben mich damals, als ich ihn an meinem siebzehnten Geburtstag zum ersten Mal sah, um den Verstand gebracht.

Ich gehe zur Haustür, öffne sie. Er winkt mir zu, schließt das Gartentor. Er duckt sich unter dem Magnolienbaum durch, ein Ast steht ihm im Weg, doch statt ihn abzureißen, steckt er ihn vorsichtig zurück. Er ist rücksichtsvoll, zu den Menschen, zur Natur.

„Wie war dein Tag, mi amór?“ fragt er fröhlich, umarmt und wirbelt mich herum. Ich lache laut auf und erwidere seine Küsse. „Meine Eltern haben uns am Wochenende zum Barbecue eingeladen. Hast du Lust?“

„Ich dachte, wir könnten ein wenig Zeit zu zweit verbringen und ein bisschen an unserer Zukunft arbeiten…“ antworte ich. Adán hat sehr nette Eltern und ich mag sie gerne. Ich mag sogar ihre altmodischen, konservativen Ansichten, obwohl ich sie nicht teile. Ich mag sie, weil sie einfach zu ihnen passen und sie sie nie abgelegt haben. Was ich hingegen nicht mag, ist, dass die gemeinsamen Nachmittage meistens zu gemeinsamen Wochenenden verwandeln und wir die Zweisamkeit nur mehr nachts miteinander genießen können und zudem auch noch mucksmäuschenstill sein müssen, weil es ja niemand mitbekommen soll, wenn wir versuchen, ein Kind zu bekommen.

Adán trägt eine Narbe am rechten Oberarm. Sie ist lang und launisch, wie er selbst behauptet. An den meisten Tagen bereitet sie ihm kaum Probleme, zuweilen vergisst er sie sogar. Heute ist sie rosig. Vor einigen Wochen hatte sie sich jedoch sehr stark entzündet, die Schmerzen waren so schlimm, dass sogar der Arzt kommen musste. Es begann abends mit einem Ziehen, das immer heftiger wurde. Die Wunde eiterte und in der Nacht bekam er hohes Fieber und fantasierte. Nach zwei Tagen ging es ihm besser. Adán behauptet, diese Narbe schon immer gehabt zu haben und ihren Ursprung nicht zu kennen. Die Narbe ist nie wirklich verheilt. Sie hat nur gute und schlechte Zeiten. So ist es seit er sich erinnern kann, seit einigen Jahren wird es allerdings immer schlimmer, um genauer zu sein, seit etwa vier Jahren, als in meiner Familie ein schlimmes Unglück passierte.

Seine Eltern behaupten, dass er als Kind in einen alten Stacheldraht geraten war, er selbst kann sich nicht daran erinnern. Doch wer soll es besser wissen als seine Eltern? Ich gebe zu, ich habe nie an die Stacheldrahtgeschichte geglaubt. Meiner Ansicht nach steckt etwas viel Schlimmeres dahinter. Ich glaube, Adán wurde als Kind verletzt, und zwar absichtlich. Sicher nicht von seinen Eltern, dafür lieben sie ihn viel zu sehr. Es muss jemand anderes gewesen sein, der ihm sehr, sehr tief ins junge Fleisch geschnitten hat.

*

Es ist ein herrlicher Samstagnachmittag. Adáns Eltern sind bester Laune, als er ein Witzchen reißt, lacht sein Vater herzhaft auf und klopft seinem Sohn auf die Schultern. Es ist schön, dass sie so gut miteinander auskommen. Ohne meinen Schwiegervater hätte Adán keine Arbeit gefunden. Er hat ihn als jungen Burschen gelehrt, wie man Autos repariert. Und auch wenn es sicher nicht Adáns Leidenschaft ist, alte Karren wieder zum Laufen zu bringen, so bringt es doch zumindest das nötige Geld in die Haushaltkasse. Adáns Mutter ist eine freundliche Dame, stets um das Wohl ihrer Gäste besorgt. Ich möchte sie als zurückhaltend bezeichnen, ich habe sie nie überschwänglich erlebt. Sie gibt nicht viel von sich preis und ich muss zugeben, dass ich nur wenig von ihr weiß. Doch Diskretion muss ja nicht nur von Nachteil sein, die Leute im Dorf reden schließlich schon mehr als genug und kümmern sich mit Vorliebe um die Probleme der anderen, statt um ihre eigenen.

Maria Ruì hat aufgetischt, als gäbe es kein Morgen. Etwa drei Stunden lang haben wir gegessen, ich beobachte meinen Bauch, er sieht aus wie der einer Schwangeren im dritten Monat. Wenn es doch nur wirklich so wäre… Besser ich denke nicht darüber nach. Vielleicht sollte ich mich später mit einer Freundin verabreden, um einen Verdauungsspaziergang zu machen. Oder ich führe den Hund aus. Er ist immer ein guter Vorwand, um eine Runde an der frischen Luft durchs Dorf zu machen.

Eine Stunde und sieben Anekdoten später schließe ich das Gartentörchen hinter mir. Der Hund ist nicht zum Aufstehen zu bewegen, er bevorzugt seinen Schattenplatz und döst weiter. Die Nachbarinnen sind bereits ausgeflogen, jedenfalls war keine von ihnen zu erreichen. Nun, dann bewege ich mich eben alleine. Ich bin es gewöhnt, alleine zu sein. Es macht mir nichts aus, ich bin mir selbst eine gute Gesellschaft. Das Dorf ist wie ausgestorben. Ich drehe eine Runde um die Kirche bis zum Friedhof, eine Ordensschwester steht vor einem Grab und gießt sorgfältig die Blumen. Ich beobachte sie einen Augenblick, doch sie bemerkt mich nicht. Sie bekreuzigt sich mehrmals, küsst das grobgeschnitzte Kreuz, das sie an einer langen Halskette trägt und geht langsam weiter. Ich betrete den Friedhof, beschließe, das Grab meiner Eltern zu besuchen. Sie liegen weit hinten, ich muss fünf Minuten über den staubigen Weg laufen, bevor ich vor ihrer letzten Ruhestätte stehe. Ich bete kurz, dann entferne ich einige welke Blumen und halte kurze Zwiesprache mit Vater und Mutter. Sie fehlen mir sehr, und auch dieses Mal bleibt die Traurigkeit über ihren unerklärlichen Tod nicht aus. Es war vor vier Jahren, im Herbst. Sie waren in ihrem Auto unterwegs. Sie wollten zu einem Empfang fahren, Vaters Vorgesetzter hatte sie zum Dinner eingeladen. Meine Mutter, die nur selten ausging, war furchtbar nervös, ich musste ihr helfen, das passende Kleid auszusuchen, sich zurechtzumachen, ihr die Haare richten und sie schminken. Als sie fertig war, betrachtete sie sich im Spiegel und war plötzlich von ihrem eigenen Anblick völlig verzaubert. Mein Vater kam hinzu und war hin und weg von der Schönheit seiner Frau. Er küsste sie vor mir auf den Mund, das hatte er vorher nie getan. Ich war gerührt, an ihrem Glück teilhaben zu können. Sie setzten sich ins Auto und fuhren davon. Das Auto war alt, aber noch gut in Schuss. Ich verließ mein Elternhaus und ging nach Hause. Zweieinhalb Stunden später rief eine Kollegin meines Vaters an und fragte, wo meine Eltern denn blieben. Ich erschrak, sie hätten längst dort sein sollen. Meine Eltern hatten kein Mobiltelefon. Adán und ich fuhren die Strecke ab, kamen zu einer Polizeisperre. Ein Wagen war gegen einen Brückenpfeiler geknallt und hatte die Insassen eingeklemmt. Ich sah den Wagen aus der Ferne, viel war nicht von ihm übrig. Er sah aus wie eine hässliche, rauchende Blechkugel. Ich durfte nicht hingehen, doch man zeigte mir die Papiere, die man im Auto gefunden hatte. Meine Eltern seien auf der Stelle tot gewesen, sagte man mir. Sie mussten nicht lange leiden. Als weinend ich nach der Unfallursache fragte, sagte man mir, dass die Bremsen wohl nicht richtig funktioniert hatten, es war schließlich ein altes Auto, da könne so etwas schon einmal passieren…

Ich knie nieder, streiche über den von der Sonne gewärmten Grabstein und verabschiede mich leise. Dann erhebe ich mich und trete den Rückweg an, die welken Blumen in der Hand.

Nach ein paar Metern kann ich einen Mann erkennen, der ebenfalls an einem Grab steht. Von hinten sieht er aus wie Adán, doch er trägt andere Kleider. Adán trägt heute ein weißes Hemd und Bluejeans, er hingegen ist gänzlich schwarz gekleidet. Ich bleibe stehen, um sicherzugehen, dass es sich nicht um meinen Mann handelt. Wieso sollte er sich umziehen und mir folgen? Ich sehe ihm nach. Die Ähnlichkeit ist wirklich unfassbar. Dieselbe Gestalt, dasselbe schwarze, wellige Haar, derselbe Gang und dieselbe Art, den einen Arm anzuwinkeln. Nur, dass dieser Mann nicht den rechten, sondern den linken Oberarm am Körper hält. Er geht schnellen Schrittes davon, ich bleibe unschlüssig stehen und sehe zu, wie er sich immer weiter von mir entfernt. Plötzlich erschrecke ich, eine schwarze Katze streift um meine Beine. Sie miaut, ich beuge mich herunter, um sie zu streicheln. Dann entdecke ich, dass sie etwas im Maul hat. Sie hat ein Vögelchen gejagt. Sie legt es mir vor die Füße, sie hat dem Vogel den Nacken gebrochen. Die Federn stehen unnatürlich von dem kleinen Körper ab. Es war eine Nachtigall. Der Jäger hat mir seine Trophäe geschenkt, doch ich empfinde keine Dankbarkeit. Ich richte mich auf und gehe weiter in Richtung Ausgang des Friedhofs. Der schwarzgekleidete Mann ist nirgends zu entdecken. Befremdet von den Eindrücken der letzten Minuten mache ich mich auf den Weg nach Hause.

Als ich den Garten der Schwiegereltern betrete, sitzt niemand mehr am Esstisch. Ich klopfe an die Küchentür, José und Maria stehen in der Küche, sie sprechen miteinander, es sieht fast aus, als würden sie streiten. Maria öffnet die Tür, lässt mich eintreten. Ich sehe in ihre Gesichter, scheinbar habe ich mir den falschen Moment ausgesucht. Ihre Gesichter sind angespannt, José zieht kräftig an seiner Zigarette.

„Adán geht es nicht gut. Sein Arm tut weh“, erklärt er stimmlos.

„Ich habe seine Salbe dabei. Die hilft ihm.“

Ich gehe ins Wohnzimmer, er liegt im kühlen Halbdunkel auf dem Sofa und hält sich den Arm. Ein Schweißfilm liegt auf seiner Stirn.

„Was ist denn passiert? Hat sie sich entzündet?“, frage ich ihn sanft. Er kneift die Augen zusammen, seine Stirn legt sich in Falten, er muss starke Schmerzen haben.

„Ich weiß nicht. Es kam sehr plötzlich, es hat vor einer halben Stunde angefangen. Erst hat sie nur gejuckt, als ich dann das Hemd ausgezogen habe, habe ich das ganze Blut bemerkt. Es war, als wäre sie von einem Moment auf den anderen einfach aufgegangen. Zuvor ging es mir wunderbar.“

Ich suche in meiner Tasche nach der Salbe, trage sie auf und muss mich bei ihrem Anblick tatsächlich zusammenzureißen. Sie hat sich dunkelrot verfärbt, der Narbenhof ist rissig und blutet. Bei jeder Berührung zuckt er zusammen. Dann lege ich ein Stück Mull auf die wunde Stelle und verbinde ihn. Ich bette sein Haupt auf meinem Schoß und lege ihm zärtlich die Hand auf die Stirn. Er schließt die Augen und schläft wenige Minuten später ein. Sein Vater wirft einen vorsichtigen Blick herein.

„Alles in Ordnung?“ fragt er besorgt.

Ich nicke und deute ihm an, still zu sein. Leise schließt er die Tür. Ich lehne mich zurück und denke an den heutigen Nachmittag, an das Grab meiner Eltern, an den Fremden, der mein eigener Mann zu sein schien, die schwarze Katze und die tote Nachtigall.

*

„Adán war fast vier Jahre alt und spielte auf dem Hof“, erzählt seine Mutter, als wir gemeinsam den Abwasch erledigen. „Ich stand genau dort, wo du jetzt bist. Ich konnte ihn von dem Fenster aus beobachten. Dann musste ich mich um das Essen kümmern und hatte ihn nur wenige Momente nicht im Auge. Als ich wieder hinaussah, war er nicht mehr da. Ich ging hinaus, dachte, er sei vielleicht in den Ziegenstall gegangen. Also suchte ich ihn dort, doch er war nicht zu finden. Ich begann, mir Sorgen zu machen und suchte den gesamten Hof nach ihm ab, doch ich konnte ihn nirgends entdecken. Ich rief nach ihm, fragte die Nachbarn, ob sie ihn irgendwo gesehen hatten, aber keiner wusste etwas. Ich war verzweifelt. Ich schickte die anderen Kinder der Straße los, um ihn zu suchen. Schließlich fand Pedro ihn am Feldrand. Er schrie wie am Spieß, weil er sich in einem alten Stacheldraht verfangen hatte und natürlich nicht alleine loskam. Ich näherte mich ihm, versuchte, ihn zu beruhigen und befahl Pedro, mir eine Zange zu besorgen. Zehn Minuten später kam er mit dem Werkzeug zurück und ich konnte Adán befreien. Er hatte sich nur am Arm verletzt, aber dafür ganz besonders tief. Die Wunde wurde genäht, aber sie wollte einfach nicht verheilen. Zudem hatten wir in den Achtzigerjahren auch nicht so gute Medizin hier in Texas wie heute. Der Arzt war wohl auch nicht der Beste, doch einen anderen konnten wir uns nicht leisten. Und so wurde unser kleiner Adán eben nur notdürftig versorgt und leidet noch heute an einem dummen Unfall, der vor fast dreißig Jahren passiert ist.“

Sie schrubbt heftig an der Pfanne, als wolle sie ihre Worte mit der kräftigen Hin- und Herbewegung ihres Schwammes unterstreichen. Wie immer, wenn meine Schwiegermutter diese Geschichte erzählt, treten ihr Tränen in die Augen. Glauben schenken kann ich ihr dennoch nicht. Sie erzählt die Geschichte jedes Mal auf dieselbe Art und Weise, als habe sie sie wie ein Gedicht auswendig gelernt.

„Bist du denn sicher, dass es sich um einen Unfall handelte? Nicht, dass Adán vielleicht weggelockt wurde und jemand ihm absichtlich wehgetan hat?“

Ich lasse nicht locker. Ich will endlich die Wahrheit erfahren. Maria sieht mich an. Ihre sonst so milden Augen sind starr auf mich gerichtet.

„Nein, Eva!“, bellt sie mich an. „Es war ein Unfall. Wer sollte denn ein vierjähriges Kind in einen Hinterhalt locken? Und nun frag bitte nicht mehr.“

Ich resigniere. Ich sollte Pedro fragen. Er ist etwa zehn Jahre älter als Adán, er muss damals also etwa vierzehn Jahre alt gewesen sein. Trotz des Altersunterschiedes ist Pedro Adáns bester Freund, er ist unser Trauzeuge, unser Vertrauter. Und nicht nur das, er ist auch der Anwalt der Familie. Er wird mir die Wahrheit verraten, auch wenn sie unangenehm sein sollte.

*

Ich kann nicht einschlafen. Der Mann auf dem Friedhof lässt mir keine Ruhe. Wäre ich ihm doch nur nachgelaufen, hätte ich mir doch nur sein Gesicht angesehen. Sicher ähnelt er Adán nur aufgrund seiner Größe und des schwarzen Haares, dunkelhaarige Männer gibt es hier bei uns schließlich wie Sand am Meer. Die Glocken läuten schon wieder, es ist bereits ein Uhr nachts. Vorsichtig schleiche ich mich aus dem Gästezimmer und gehe ins Badezimmer, um mich zu erleichtern. Aus dem Schlafzimmer der Schwiegereltern ertönt leises Schnarchen. Sie scheinen beide tief zu schlafen. Ich denke an Maria, ihre Erzählung und frage mich, ob ich ihr mit meinem Misstrauen vielleicht Unrecht tue. Vielleicht stimmt diese Stacheldrahtgeschichte ja doch. Ich schüttle den Kopf, ein Tick, der mich immer wieder einholt, wenn ich einen Gedanken verscheuchen möchte. Ich gehe zurück ins Bett, liege noch lange wach. Endlich, um drei Uhr morgens, döse ich ein. Meine Träume sind wirr, ich sehe den Mann in schwarz wieder, er dreht sich um und hat eine Narbe wie Adán, die sich jedoch über sein gesamtes Gesicht zieht. Ich erschrecke und wache schweißgebadet auf. Adán dreht sich zu mir herum. Der Morgen graut bereits und ich kann sein Gesicht erkennen.

„Hast du schlecht geschlafen?“, fragt er leise und streichelt mir über die Wange.

„Ja, aber es war nur ein dummer Traum. Geht es dir besser?“ „Ja, die Salbe hat geholfen, danke. Ich spüre fast keine Schmerzen mehr. Komm her.“

Ich lege mich in seine Arme, sein Atem kitzelt ein wenig an meinem Ohr. Minuten später nicke ich wieder ein.

Kapitel 2 - Juni 2003

Ein heißer Sommer bricht an. Bereits jetzt klettern die Temperaturen tagsüber auf fast vierzig Grad im Schatten, ich frage mich, wie es im August sein wird. Heute Abend feiert das Dorf den ersten Tag des Sommers, ein schöner Brauch und auch eine Gelegenheit, endlich einmal wieder unter Leute zu kommen. Ich suche ein hübsches Kleid und ein paar hochhackige Sandalen heraus, auch wenn Adán es nicht gutheißt, dass ich mich für ein Dorffest herrichte. Er meint, ich ziehe die Augen sogar auf mich, wenn ich einen Pyjama trage. „Nun sei doch nicht so streng, ich bleibe ja auch die ganze Zeit in deiner Nähe und werde nur mit dir tanzen, versprochen, mein Liebster!“, umgarne ich ihn, in der Hoffnung, dass ich das Kleid doch tragen darf. Er legt den Kopf schief und schaut mich skeptisch an.

„Na gut. Aber weich mir nicht von der Seite!“

Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und küsse ihn zärtlich.

„Natürlich nicht. Ich gehöre doch dir.“

Als wir ankommen, ist das Fest bereits in vollem Gange. Es riecht nach gegrilltem Fleisch, Straßenmusiker spielen um die Wette, ein paar Halbstarke sind schon jetzt angetrunken und werden morgen früh sicherlich mit einem heftigen Kater aufwachen. Meine Freundinnen sitzen an einem Tisch, ich drängele mich zu ihnen durch, um sie zu begrüßen. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen, es sind sicher schon sechs oder sieben Wochen vergangen. Sie umarmen mich fröhlich, geben Adán die Hand. Sie halten leider nicht viel von meinem Ehemann, sie sagen, er sei altmodisch und immer darauf aus, mich einzusperren. Nun, es mag schon sein, dass ich in einem Käfig lebe. Doch lieber ein Käfig voller Liebe als gar kein Zuhause. Nach einem kurzen Hallo ziehen wir weiter, finden den letzten freien Tisch und kaufen uns etwas zu Essen. Schon bald setzen sich Adáns Freunde um uns herum und die Bande beginnt zu trinken, Adán ebenso. Ich kenne das bereits und genauso gut weiß ich, dass nun der Moment gekommen ist, an dem ich mich an den Tisch zu den Mädchen setzen kann. Ich finde jedoch nur noch Clara vor. Sie sitzt einsam vor ihrem Glas, starrt es durch ihre roten Brillengläser an.

„Wo sind die anderen?“, frage ich.

„Oh, sie sind tanzen gegangen. Das ist nichts für mich.“

„Nun komm schon, tanzen tut nicht weh. Auf geht’s!“

Ich nehme sie bei der Hand und ziehe sie hinter mir durch die Menge. Ihr Gezeter überhöre ich gekonnt. Sie schämt sich immerzu, nur weil sie nicht ganz so grazil wie die anderen Mädchen ist. Dabei wird sie von allen gemocht: Ihre direkte Art, ihr ansteckendes Lachen und der Schalk, der in ihrem Nacken sitzt, machen sie zu einer wunderbaren Person. Doch sobald es darum geht, sich ein wenig in der Öffentlichkeit zu bewegen, wird aus der spritzigen Clara ein kleines, schüchternes Ding. Der Tanzboden ist völlig überfüllt, an Tanzen ist hier gar nicht zu denken, man bewegt sich eben im Gedränge der Menschen. Lachend bewegen wir uns zu den Liedern, ich hebe die Arme und lasse meine Hüften kreisen, schließe einen Moment lang die Augen und genieße den Rhythmus. Er erinnert mich an meine ersten Stunden in Freiheit. Es waren so wenige Stunden. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte sie besser genutzt. Ich hätte mehr Spaß mit meinen Freundinnen haben sollen. Vielleicht ein paar mehr Männer treffen sollen. Ein paar mehr Erfahrungen machen sollen. Doch was soll ich denn mit den ganzen Erfahrungen? Ich habe doch alles was ich brauche. Ich öffne die Augen, ich muss wohl recht ausschweifend getanzt haben, jedenfalls haben die Leute Abstand genommen. Ich nehme die Arme herunter und werde langsamer. Ich beobachte die Menge, sehe ein paar meiner Freundinnen, die sich tatsächlich in die Arme von mir völlig unbekannten Kerlen geworfen haben. Ein altes Pärchen tanzt. Es ist süß, die beiden zu beobachten. Plötzlich halte ich inne, ich kann es nicht glauben. Ich sehe Adán, und er tanzt. Er ist gute zehn Meter von mir entfernt und das Licht ist schummrig, doch ich erkenne seine Bewegungen. Die Eifersucht packt mich, mir treten wütende Tränen in die Augen, ich beiße die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzt. Eine Frau schmiegt sich an ihn, ich kenne sie nicht. Was fällt ihr ein, und vor allem, was fällt ihm ein?! Na, der kann was erleben. Ich will schon schreien, doch die Musik ist viel zu laut. Ich bewege mich durch die Menge auf ihn zu, als mir jemand von hinten die Hand auf die Schulter legt. Ich erschrecke und wirbele herum. „Wo wolltest du denn hin?!“

Adáns schwarze Augen leuchten wütend.

„Aber… du warst doch da vorne!“

Ich verstehe die Welt nicht mehr.

„Nein“, ruft er und versucht, die Musik zu übertönen, „Ich bin hier, was soll ich denn da vorne? Ich war bei Pedro. Mein Arm tut weh, ich musste ihn um eine Tablette bitten. Komm bitte mit.“

„Aber… ich verstehe das nicht… Ich habe dich doch gesehen… Da war eine Frau bei dir…“

Er nimmt meine Hand und zieht mich aus der Menge. Ich drehe mich um, doch der andere Mann ist nirgends zu entdecken.

„Hast du getrunken?“, fährt Adán mich an und baut sich vor mit auf, als wir die Tanzfläche verlassen. Die Ader an seinem Hals pulsiert.

„Nein, habe ich nicht!“

Er steht vor mir und starrt mich an. „Ist ja auch egal. Lass uns gehen. Ich will nach Hause. Und lass dich bitte nicht mehr so gehen.“

Er ist so ungerecht. Ich bin doch nicht verrückt. Wer war der andere? Doch nicht etwa der Mann, den ich Wochen zuvor auf dem Friedhof beobachtet hatte? Ich laufe schweigend neben Adán her.

„Verzeih mir. Ich wollte dich nicht so anfahren. Diese immer wiederkehrenden Schmerzen machen mich ganz verrückt.“

Ich bleibe stehen, schmiege mich an ihn.