Schwöre, dass du schweigst - Simone Dark - E-Book

Schwöre, dass du schweigst E-Book

Simone Dark

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Beschreibung

"Schwöre, dass du mit niemandem darüber sprichst. Sonst muss ich dich auch in der Etsch versenken." Verena Psenner macht einen grausigen Fund, als sie ihr Handy aus dem ausgetrockneten Brunnenschacht der Burgruine Maultasch bei Terlan birgt: Im Halbdunkel stößt sie auf einen Totenschädel! Die herbeigeeilten Bozner Ermittler um Filippo Magnabosco und Carmela Pasqualina legen bald ein Frauenskelett frei. Wer ist die Tote? Wie kam sie dorthin und weshalb wurde sie nicht schon früher entdeckt? Bei der Spurensuche im malerischen Meraner Land zwischen Schloss Tirol und Schenna rollen Magnabosco und Pasqualina einen 20 Jahre alten "Cold Case" neu auf. Die Verdächtigen befinden sich mangels Beweisen noch immer auf freiem Fuß …

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Seitenzahl: 203

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Simone Dark

Schwöre, dass du schweigst

SIMONE DARK

SCHWÖRE,DASS DUSCHWEIGST

EIN KRIMI AUS SÜDTIROL

DER DRITTE FALL FÜR MAGNABOSCO UND PASQUALINA

Gedruckt mit Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur

Sämtliche Figuren und Handlungen dieses Krimis sind frei erfunden.

Alle Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen sind deshalb rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Auflage

© Edition Raetia, Bozen 2024

Projektleitung: Felix Obermair

Lektorat: Katharina Preindl

Korrektur: Helene Dorner

Umschlaggestaltung: Philipp Putzer, www.farbfabrik.it

Umschlagfotos:

Vorderseite: Dorothea Pomarolli, Tourismusverein Terlan

Rückseite: Alla Khananashvili, Shutterstock

Grafik und Druckvorstufe: Typoplus, Frangart

Printed in Europe

ISBN: 978-88-7283-859-4

ISBN E-Book: 978-88-7283-891-4

Unseren Gesamtkatalog finden Sie unter www.raetia.com.

Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an [email protected].

Inhalt

Prolog

Kapitel 1: 15. November 2000

Kapitel 2: 4. Dezember 2022

Kapitel 3: 17. November 2000

Kapitel 4: 6. Dezember 2022

Kapitel 5: 20. November 2000

Kapitel 6: 7. Dezember 2022

Kapitel 7: 23. November 2000

Kapitel 8: 10. Dezember 2022

Kapitel 9: 25. November 2000

Kapitel 10: 12. Dezember 2022

Kapitel 11: 26. November 2000

Kapitel 12: 13. Dezember 2022

Kapitel 13: 1. Dezember 2000

Kapitel 14: 16. Dezember 2022

Kapitel 15: 6. Dezember 2000

Kapitel 16: 16. Dezember 2022

Kapitel 17: 1. Januar 2001

Kapitel 18: 19. Dezember 2022

Kapitel 19: 7. Januar 2002

Kapitel 20: 19. Dezember 2022

Kapitel 21: 20. Dezember 2022

Epilog: Januar 2023

Danksagung

Literatur

Magnaboscos erster Fall

Magnaboscos zweiter Fall

Simone Dark

Prolog

„Liebe Agnes, meine allerliebste Agnes.

Mein Herz, nun ist es bald so weit. Hab noch ein paar Wochen Geduld, dann werde ich bei dir sein. Es dauert ganz sicher nicht mehr lange, das verspreche ich dir. Ich habe nur noch ein paar Dinge zu erledigen, dann werden wir uns wiedersehen. Es wird wundervoll und unbeschwert, sei dessen gewiss, liebste Agnes.

Natürlich will ich dich nicht auf die Folter spannen. Du sollst schließlich wissen, warum ich noch hier bin und dir noch nicht folgen konnte. Sie ist aufgetaucht, Magdalena ist hier. Ja, ich spreche von deiner Schwester. Die, die dich um dein Erbe betrogen hat. Die Magdalena, die sich bei deinen Eltern eingeschmeichelt und sie hintergangen hat, die es geschafft hat, dass all die Milliarden aus dem Erbe dieser grausamen Margarete Maultasch an sie weitergegeben wurden statt an dich, die du immer ehrlich warst. Dir hätte das Erbe zugestanden, du hättest es verdient, nicht sie!

Stell dir vor, liebste Agnes, was ich gehört habe: Magdalena will das Johanneum mit dem Geld kaufen und es in ein Mädcheninternat verwandeln. Und was geschieht mit dem Lehrer, den nun niemand mehr braucht? Man versetzt ihn auf seine alten Tage hinauf an den kalten Brenner. Dort, wo die Sonne keine Stunde am Tag scheint und der Schneefall schon im Juli wieder einsetzt, nachdem er im Mai aufgehört hat. Was soll ich denn dort oben? Wenn du wenigstens noch bei mir wärst, Agnes, und du diese letzten Jahre mit mir teilen könntest, dann wäre alles halb so schlimm und ich könnte sogar über diesen infamen Betrug deiner Schwester hinwegsehen.

Doch so ist es nicht. Du bist gegangen, weil du traurig warst, so unendlich traurig und gebrochen. Sie hat dich gebrochen. Sie hat dir die Liebe deiner Eltern geraubt, dich um sie betrogen, dir viel Geld gestohlen, dich belogen und Unglück über dich gebracht. Hätten wir sie doch nur vorher durchschaut, vielleicht hätte ich dann eine Wahl gehabt.

Es gibt nun keinen anderen Weg mehr, es muss sein. Ich werde Rache an Magdalena üben. Ich habe schon jemanden ins Auge gefasst, der dieses Unterfangen mit Leichtigkeit erledigen wird. Sobald es geschafft ist, bin ich bei dir, liebste Agnes. Für immer.

In ewiger und aufrichtiger Liebe,

dein Peter“

Kapitel 1

15. November 2000

„Wer war Margarete von Tirol-Görz?“

Er las die Zeile noch einmal.

„Wer war Margarete von Tirol-Görz?“

Was wollte der Alte eigentlich von ihm? Dass er Geschichtsbücher studierte und sich mit einer potthässlichen Gräfin aus dem 14. Jahrhundert beschäftigte, während seine Freunde Fußball spielten und Bier tranken? Georg atmete tief durch, hustete, die Erkältung hatte immer noch nicht nachgelassen. Der Kugelschreiber, den er gerade noch in der Hand gehalten hatte, flog bei dem Hustenanfall unter den Tisch. Er ließ ihn dort liegen und klappte das Heftchen zu, das sein Lehrer ihm nach der letzten Unterrichtsstunde fast schon feierlich überreicht hatte. Dann schmiss er es wütend gegen die Wand, es flatterte auf und landete auf dem Boden.

„Hast du die erste Frage beantwortet, bekommst du die nächste von mir. Ich werde dir insgesamt fünf Fragen zu Margarete Maultasch stellen. Damit helfe ich dir bei der Vorbereitung auf die Matura und du solltest diese Hilfe annehmen“, hatte sein Geschichtslehrer Peter Schlosser ihm mit ernster Miene unterbreitet. Er selbst hatte nichts erwidert, nur das Heftchen in die Bauchtasche seines Hoodies gestopft und das Klassenzimmer verlassen. Hätte er die Wahl, würde er auf diese Hilfe verzichten, genau wie auf die Matura. Aber die Eltern wollten unbedingt, dass er die Schule abschloss, Widerrede war zwecklos. Also würde er den Deal eingehen, sich diese verstaubte Materie aneignen, seinen Lehrer zufriedenstellen und seinen Eltern keine Chance geben, ihn von seinem weiteren Lebensweg abzuhalten. Sobald er diesen Fetzen Papier mit der Aufschrift „Matura bestanden“ in den Händen hielt, konnte er sich endlich ein ordentliches Beil und eine Motorsäge kaufen und Waldarbeiter werden. Auf die Meinung seiner Eltern würde er ab dem Tag, an dem er seinen ersten Baum in den Wäldern um Meran fällen würde, schlicht pfeifen.

Er legte sich auf sein Bett. Mit dem rechten Fuß entledigte er sich seines linken Schuhs, mithilfe des linken Fußes schlüpfte er aus dem rechten. Ihm war heiß und kalt zugleich. Vielleicht sollte er doch noch einmal zu Schwester Christiane gehen und sich auf der Krankenstation pflegen lassen. Vielleicht würde sie ihn, wenn er einen ordentlichen Hustenanfall bekam, sogar vom Unterricht und dem Klassenausflug auf Schloss Tirol befreien. Eigentlich, dachte Georg, gab es keinen Grund, nicht zur Krankenstation zu gehen. Die Matratzen waren weicher, das Essen besser und man hatte, neben Christianes schützender Hand, vor allem eines: Ruhe vor den Mitschülern.

Es klopfte, er brummte: „Herein!“

Martin Hilber steckte den Kopf durch die Tür.

„Kommst du? Die warten schon alle. Schlosser will los.“

„Nein. Ich bin krank“, antwortete er.

„Komm schon, Georg, wir müssen wirklich los.“

„Lass mich in Ruhe“, entgegnete Georg, zog dann aber missmutig seine Schuhe wieder an. Er nahm den teuren MP3-Player, den er im Elektronikladen geklaut hatte, die Kopfhörer und das am Boden liegende Heftchen und verließ mit Martin das Zimmer. Zur Not würde er ihm seine Aufgaben unterschieben und dafür versprechen, ihn für den Rest des Schuljahres nicht mehr zu mobben. Dabei würde es ihm bestimmt fehlen, Hilber zu hänseln, einzuschüchtern und vor den Mitschülern bloßzustellen.

*

Der Weg nach Schloss Tirol oberhalb von Meran roch süßlich nach Kastanien, feuchtem Laub und dem nahenden Winter. Georg hatte keine Lust, mit der Klasse Schritt zu halten, und fiel weiter hinter seine Mitschüler zurück. Im Tunnel überkam ihn erneut ein Hustenanfall, das Echo dröhnte lauter als die Stimmen der Touristen, die den Herbstnachmittag damit verbrachten, das mittelalterliche Schloss zu besichtigen. Als er endlich den letzten Anstieg geschafft hatte, musste er sich kurz an das Geländer vor dem Schloss lehnen, so schwindlig war ihm.

„Dir geht’s echt nicht gut“, sagte Martin.

„Hör auf zu schleimen“, brummte Georg.

„Ich meine ja nur“, gab Martin zurück.

„Hast wohl Schiss, dich anzustecken“, entgegnete er und hustete, ohne die Hand vor den Mund zu halten.

„Ruhe bitte“, rief Schlosser, der Geschichtslehrer. „Los jetzt. Du auch, Martin.“

„Schloss Tirol ist etwa eintausend Jahre alt“, erklärte der junge Mann, der sich als David vorgestellt hatte und die Klasse durch die alten Gemäuer führte. „Um 1141 wurde das Schloss erbaut und von den ersten Tirolern, die wir kennen, bewohnt. Unter Meinhard II., dem Großvater von Margarete von Tirol, wurde es dann noch erweitert. Das Schloss wurde aufgrund der strategisch günstigen Lage hier gebaut. Außerdem war der Talkessel, den ihr hier unten seht, Sumpfgebiet.“

Georg sah sich um. Hinter ihm die riesigen, weißgrauen Wände von Schloss Tirol, der Residenzburg, in der so viele Grafen gelebt und regiert hatten. Unter ihm das nasse, kaputte Gras, das unter den heftigen Regenfällen der letzten Wochen gelitten hatte. Vor ihm der Meraner Talkessel, der Zenoberg, gegenüber die Gemeinde Schenna. Er atmete ein, die kalte Herbstluft reizte seine Schleimhäute und rief einen neuen Hustenanfall hervor. Die Sonne kam kurz hervor und blendete ihn, seine Augen tränten.

David führte die Gruppe hinauf zum Haupteingang des Schlosses. „Viele Männer buhlten übrigens um Margarete Maultasch, weil sie Tirol als Herrschaftsgebiet in die Ehe mitbrachte. Außerdem lag das Schloss hier sehr günstig, nämlich am Transitweg von Österreich über den Reschen nach Italien, Margarete galt also praktisch als ‚der Schlüssel zum Süden‘. Von hier oben konnte man gut Italienpolitik betreiben. Die Luxemburger, Habsburger und Wittelsbacher feilschten schon in ihrer Kindheit um sie. Gewonnen hat dann Johann von Luxemburg.“

„Und das im Alter von acht Jahren“, ergänzte Martin und rückte seine Brille zurecht. „Margarete war damals gerade mal zwölf.“

Georg gähnte. Es hatte ihm gerade noch gefehlt, dass sein Klassenkamerad mal wieder den Streber heraushängen ließ und der Ausflug noch länger dauerte. Als die Klasse den Burggarten verließ, rempelte er Martin an, sodass dieser zur Seite stolperte und beinahe hinfiel.

„He“, machte Martin, „was soll das?“

„Lass die Klugscheißerei“, warnte Georg ihn. „Ich habe keine Lust, den ganzen Nachmittag in diesem Gemäuer zu verbringen.“

„Entschuldige mal, aber ich finde diese Kinderhochzeiten echt krass. Die arme Margarete hatte von Anfang an ein ziemliches Scheißleben“, gab Martin ihm zu bedenken.

„Ihr Problem“, winkte Georg ab. „Los jetzt, je eher wir hier durch sind, desto besser.“

„Wir stehen hier im sogenannten Tempel“, erklärte der Schlossführer. „Erst war er die Schatzkammer, dann wurde er zur Rumpelkammer umfunktioniert.“

Martin konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, was Georg sofort mit einem kurzen Tritt vors Schienbein quittierte.

„Du hast dich jetzt genug eingeschleimt, oder?“, raunte er so, dass nur Martin es hören konnte. „Wenn du so weitermachst, landet dein Kopf heute Abend in der Kloschüssel.“

„Einige dieser Holzbalken hier stammen tatsächlich noch aus der ersten Bauphase. Um 1300 brannte das Schloss ab und musste dann mehrere Jahrzehnte lang renoviert werden. Wir gehen übrigens davon aus, dass Margarete ihre ersten Lebensjahre auf der Zenoburg und nicht hier auf Schloss Tirol verbrachte. Ab 1330 lebte sie dann mit Johann hier.“

Georg sah hinauf zu den dicken Deckenbalken, die das Feuer in jenem schicksalhaften Jahr kohlschwarz gefärbt hatte. Endlich wurde diese Führung auch für ihn einigermaßen interessant. Er schloss die Augen und versuchte fasziniert, sich vorzustellen, welche Panik ausgebrochen war, als man den Rauch und die Hitze wahrgenommen hatte. Mit Holzeimern voller Wasser hatten die Bewohner versucht, der Flammen Herr zu werden, ohne Erfolg. Wie viele Menschen dabei wohl gestorben waren? Fast konnte er ihre verzweifelten Schreie und ihr Husten hören. Als er die Augen wieder öffnete, waren die Mitschüler bereits weitergegangen. Er hörte ihr Murmeln und schleppte sich ihnen langsam hinterher. Ihm schwindelte, er fröstelte und begann gleichzeitig, kalt zu schwitzen.

Die Gruppe blieb vor einem weißen Steinbogen, der in einen großen, lichtdurchfluteten Saal führte, stehen. Martin strich ehrfürchtig mit seinen Fingerspitzen über die eingemeißelten Tierkörper.

„Das ist das Palasportal“, erklärte David nun. „Es entstand in der ersten großen Bauphase des Schlosses. Hier drinnen befindet sich der Rittersaal, wo alle Feste, Bankette und Verhandlungen stattfanden. Dieses Portal wird auch Machtportal genannt. Wir sehen einen Löwen und einen Widder, die den Gästen Furcht einflößen und ihnen zeigen sollten, wer der Herr im Hause ist. Links und rechts des Eingangs sind ein Mann und eine Frau eingemeißelt. Wir gehen davon aus, dass sie die Erbauer darstellen, die damit ihre absolute Macht und Herrschaft demonstrieren wollten.“

„Absolute Macht und Herrschaft“, wiederholte Georg stimmlos. Wie gut sich diese Worte anhörten. Er blickte ins Leere und stellte sich die bewaffneten Männer vor, die ihren Untertanen zeigten, dass sie nichts, aber auch gar nichts in diesem Schloss zu melden hatten.

„Diese Brigantine hier wurde unter dem Kettenhemd getragen. Im Jahr 1347 kam es zur Belagerung des Schlosses durch Karl IV., den Bruder Johanns. Das war eine Racheaktion, nachdem Margarete ihren Mann nicht mehr ins Schloss gelassen hatte. Wir gehen davon aus, dass dieses Kleidungsstück tatsächlich bei dem Kampf getragen wurde.“

„Viel ist von dem ledernen Unterhemd ja nicht übrig“, kommentierte Martin leise und sah sich ängstlich nach Georg um, der ihn sofort mit einem finsteren Blick ermahnte, still zu sein.

„Sicher Dutzende“, antwortete Lehrer Schlosser mit verbissener Miene, „nur die Maultasch selbst nicht.“

„Margarete Maultasch war zweimal verheiratet, einmal mit Johann von Luxemburg, später mit Markgraf Ludwig I. Bei ihrer zweiten Hochzeit trug sie einen Jungfernkranz, was bedeutete, dass die erste Hochzeit nie vollzogen wurde. Beide durften übrigens nur deshalb wieder heiraten, weil aus ihrer Ehe keine Kinder entstanden waren.“

„Ich habe irgendwo gelesen, dass auch Johann wieder heiratete. Und dass er ein uneheliches Kind hatte“, meldete sich Martin erneut zu Wort.

„Das stimmt“, bestätigte der Schlossführer. „Aus Margaretes zweiter Ehe gingen übrigens drei Kinder hervor. Zwei Mädchen, die aber schon im Kindesalter an der Beulenpest starben, und Meinhard, der auch sehr jung verschied.“

Schlosser bedankte sich bei David und führte die Klasse aus der Burg.

„Ihr habt jetzt noch eine Viertelstunde, dann gehen wir zur Bushaltestelle zurück“, verkündete er. „Wir treffen uns unten an der Tabaktrafik.“

Georg beobachtete Martin, der sich wie immer an die Fersen seines Lehrers heftete, um ihm möglichst viele Fragen zum Schloss und den damaligen Herrschern zu stellen. Er sollte Martin wirklich den Deal vorschlagen, den er sich ausgedacht hatte. Er selbst wollte einfach nur Waldarbeiter werden und dort sein Leben verbringen, wo die wenigsten Menschen hinkamen. Dafür musste er weder Mathematik noch Philosophie und Bürgerkunde und ganz gewiss nicht das späte Mittelalter studieren. Langsam ging er zurück in Richtung des Weges, der nach Dorf Tirol hinunterführte. In der Bauchtasche seines Kapuzenpullovers hatte er noch immer das Heftchen mit der Frage, wer Margarete Maultasch gewesen war. Was sollte er denn darauf antworten? Er nahm es heraus, schlug es auf, starrte auf das Blatt, das mit Ausnahme der Frage leer war, und stopfte es wieder in die Tasche zurück. Nun, Martin würde sich über diese neue Aufgabe bestimmt freuen.

Kapitel 2

4. Dezember 2022

Filippo Magnabosco nahm das Puderdöschen aus dem Badezimmerschrank und verteilte den Inhalt auf Edoardos nacktem Hintern. Der Kleine gluckste belustigt, Magnabosco kitzelte ihn am Bauch, woraufhin Edoardo nach seinen Fingern schnappte und sie nicht mehr losließ. Edoardo war ein Findelkind; vor einigen Monaten hatte Magnaboscos Ex-Freundin Clara Chiocchetti das schreiende Bündel einfach vor seine Haustür gelegt und war ohne weitere Erklärungen getürmt. Nachdem Magnabosco den ersten Schock überwunden hatte und seine Lebensgefährtin Carmela Pasqualina sofort in die unerwartete Mutterrolle geschlüpft war, hatte er sich mit dem Gedanken angefreundet, nun der Ziehvater des kleinen Wonneproppens zu sein. Der Zorn auf Claras Verhalten war jedoch längst nicht verraucht.

Das Telefon vibrierte, Magnabosco befreite seine Finger, nahm das Smartphone vom Rand des Waschbeckens auf und meldete sich. Es war Nothdurfter, sein Vorgesetzter.

„Guten Tag, Magnabosco. Es tut mir leid, Sie am Sonntag zu stören, aber ich brauche Sie in Terlan auf Burg Neuhaus. Wir haben einen Skelettfund.“

„Wo?“

„Terlan, Magnabosco. Westlich von Bozen, im Etschtal. Kennen Sie eigentlich Ihre Heimat?“

„Natürlich kenne ich meine Heimat, aber Burg Neuhaus sagt mir beim besten Willen nichts.“

„Magnabosco, da hätten Sie im Geschichtsunterricht wohl besser mal Ihre Ohren gespitzt. Ich meine die Burgruine Neuhaus über Terlan, auch Burg Maultasch genannt. Klingelt es jetzt?“

Magnabosco brummte ein Ja ins Telefon und versuchte gleichzeitig, Edoardos Windel zu schließen.

„Wie auch immer“, fuhr Nothdurfter fort. „Zwei Spaziergängerinnen haben dort in einer Zisterne einen menschlichen Schädelknochen gefunden. Fahren Sie bitte hin und sehen Sie sich das Ganze an. Frau Pasqualina nehmen Sie am besten gleich mit. Sie ist doch bei Ihnen, schätze ich mal, oder?“

„Das geht Sie zwar nichts an, Herr Nothdurfter, aber ja, wir kommen gemeinsam. Ist die Spurensicherung schon da?“

„Natürlich, ich habe schon die ersten Bilder vom Fundort hereinbekommen.“

Magnabosco verabschiedete sich gereizt und legte auf. Etwas hastig fixierte er nun Edoardos Windel, zog ihm einen frischen Strampelanzug an und trug ihn zu Carmela.

„Wir müssen nach Terlan“, erklärte er ihr.

„Terlano? Was ist in Terlano? Gehen wir zum mercatino di Natale?“, fragte Carmela freudig überrascht. „Wir können vin brulé trinken.“

„Nein“, entgegnete Magnabosco, „der Glühwein muss leider warten. In der Burgruine wurde ein Schädel gefunden.“

„Oh“, machte Carmela. „Nur der Kopf? Wo ist der Rest?“

„Mehr weiß ich auch nicht. Komm, bevor es dunkel wird“, sagte Magnabosco und sah auf die Uhr. Es war drei Uhr nachmittags und er hatte keine Lust, bei Eiseskälte im Finstern durch eine Burgruine klettern zu müssen.

„Va bene, also geht Edoardo zur Nachbarin und wir gehen zum Burggespenst“, beschloss Carmela.

„Schlossgespenst“, verbesserte Magnabosco sie.

„Aber es ist eine Burg, nicht ein Schloss“, erwiderte Carmela.

„Ja, aber es heißt Schlossgespenst.“

„Ihr Deutschen seid so … ach, egal.“

„Ich bin Südtiroler“, maulte Magnabosco.

„Und du musst immer recht haben, immer korrigieren. Bei uns in Calabria ist alles nicht so severo … wie sagt man?“

„Streng!“, nannte Magnabosco ihr das Wort mit gespielt finsterer Miene.

*

Filippo Magnabosco und Carmela Pasqualina fuhren auf den Parkplatz, der sich unterhalb der Burgruine kurz vor der Ortseinfahrt nach Terlan befand. Zwei Streifenwagen waren bereits vor Ort, einer der Beamten in Uniform kam direkt auf sie zu.

„Wir haben Frau Psenner im Wagen Platz nehmen lassen, oben in der Ruine war es einfach zu kalt. Ich fürchte, sie steht unter Schock.“

Magnabosco bedankte sich und öffnete vorsichtig die linke Hintertür des Autos. Die junge Frau hatte auf dem Rücksitz Platz genommen und starrte ins Leere, erst nach einigen Sekunden blickte sie in Magnaboscos Gesicht. Sie war sehr blass.

„Hallo, Frau Psenner“, begrüßte er sie freundlich. „Danke, dass Sie hier gewartet haben. Geht es denn einigermaßen? Wir werden Sie auch gleich heimbringen. Ich bitte Sie nur, mir genau zu erklären, wie Sie den Schädel gefunden haben.“

„Na ja, meine Freundin und ich haben einfach nur einen Spaziergang gemacht. Wir wollten über dem Schacht mit dem Gitter ein Selfie machen. Mir ist dann das Handy aus der Hand gerutscht und durch die Gitterstäbe hindurch in die Zisterne gefallen“, erklärte sie leise und atmete dabei immer wieder tief durch. „Wir haben eine Leiter gefunden, und das Gitter ließ sich zu zweit auch relativ leicht hochheben. Ich bin dann hinuntergestiegen, und als ich das Handy gefunden hatte, habe ich diesen grausigen Schädel gesehen. Ich bin erschrocken – mir ist immer noch ganz schlecht von dem Anblick.“

„Das kann ich mir vorstellen. Haben Sie vorhin Handschuhe getragen?“

Sie nickte.

„Gut, ich frage nur wegen der Fingerabdrücke. Wohnen Sie hier in der Nähe?“

„Ja, gleich hier in Terlan.“

„Geben Sie bitte meiner Kollegin Ihre Personalien, falls wir Sie noch mal brauchen. Wo ist eigentlich Ihre Freundin?“

„Sie hat es nicht ausgehalten und ist gegangen.“

„Wie? Sie hat Sie einfach so allein gelassen?“

„Na ja, ihr geht es heute nicht so gut, sie hat Kopfschmerzen. Eigentlich sind wir an die frische Luft gegangen, damit sie sich etwas erholt. Ich habe ihr gesagt, dass sie heimgehen soll und ich hier warten würde. Ist ja eh nicht weit, gerade mal zehn Minuten zu Fuß von hier. Wir sind Nachbarinnen und gehen oft miteinander spazieren.“

„Danke, dass Sie uns sofort gerufen haben, Frau Psenner. Wir melden uns in den kommenden Tagen noch einmal bei Ihnen, falls wir Fragen haben. Wie hieß noch gleich Ihre Freundin?“

„Natascha Delmonego.“

Magnabosco bedankte sich bei ihr und bat einen der Beamten, sie nach Hause zu fahren.

Carmela und Magnabosco gingen langsam durch den kahlen Eichenwald und näherten sich Kehre um Kehre der Burgruine. Es dämmerte bereits, die Luft hier oben war eiskalt. Dennoch schwitzte Magnabosco in seiner Daunenjacke.

Inmitten des Burghofs befand sich die Zisterne, in der die beiden Freundinnen den Schädel gefunden hatten. Dr. Alfred Gruber, der Pathologe, stieg soeben in einem weißen Plastikanzug daraus hervor. Mit der linken Hand hielt er sich an der Aluminiumleiter fest. Den rechten Zeigefinger hatte er in die Augenhöhle gesteckt und streckte so Magnabosco den schmutzigen Schädel entgegen.

„Hier bitte“, sagte er. „Da unten sind noch die anderen Knochen, aber ich würde sagen, du siehst es dir erst mal selbst an. Und pass bitte auf, dass du mir nicht die Finger und Zehen zermalmst. Das Skelett muss schon einige Jahre da unten liegen. Die Viecher und das Wetter haben ganz schön daran genagt.“

Magnabosco nickte und sah nach unten in den dunklen Brunnenschacht.

„Ist nur etwa drei Meter tief und ziemlich trocken. Gut, dass es in den letzten Tagen nicht geregnet hat.“

Etwas ungelenk stieg Magnabosco auf die Leiter, die ein Beamter für ihn festhielt, und stieg vorsichtig Sprosse für Sprosse hinab. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich weich an. Er nahm sein Handy, aktivierte die Taschenlampenfunktion und leuchtete alles ab. Ein paar leere Plastikflaschen, Glasscherben, Kronkorken, benutzte Taschentücher, Laub und Holz lagen herum. Es roch modrig, nach kalter Nässe. Magnabosco hob vorsichtig etwas Braunes an, das er für einen Ast hielt, und stellte bei näherem Hinsehen fest, dass es sich um den Oberschenkelknochen handeln musste. Ein kalter Schauer überkam ihn, beinahe hätte er ihn vor Schreck wieder fallen lassen.

„Ich komme hoch. Das Skelett gehört dir, Alfred. Meinst du denn, du kannst feststellen, ob die Person ermordet wurde?“

„Ich werde mein Bestes geben, Filippo“, rief er ihm zu. „Aber es wird dauern, das sage ich dir gleich.“

Magnabosco ging zu Carmela, die in der Mitte des Innenhofs stand und sich umsah.

„Affascinante“, bemerkte Carmela leise und lugte in den kleinen Keller hinein, der sich direkt unter dem Palas befand. „Wer weiß, wie sie damals hier gelebt haben.“

„Uns geht es heute sicher besser, vor allem haben wir es wärmer“, bemerkte Magnabosco nüchtern.

„Diese ganzen kleinen Zimmer, alles so verwinkelt. Hast du das Panorama gesehen? Und das Loch direkt neben dem Eingang? Ich habe reingeschaut. Ich glaube, dort lebt jemand. Überall lagen alte Kleider herum.“

„Filippo“, rief Gruber plötzlich, „ich habe hier etwas!“

Carmela und Magnabosco gingen schnellen Schritten zum Pathologen. Gruber hielt ihnen etwas hin, das früher wohl eine Halskette gewesen war. An einem einzelnen dünnen schwarzen Faden hing eine kleine Eule.

„Das lag unten im Schacht. Könnte der Person gehört haben.“

Sie betrachteten den Anhänger, es handelte sich um silbernen Modeschmuck.

„Offenbar fliegen ja ständig irgendwelche Gegenstände in den Schacht. Kann auch sein, dass er gar nicht zu dem Skelett gehört“, meinte Magnabosco. „Aber nimm ihn mal mit zur KTU, man kann ja nie wissen.“

„Ich hatte auch einmal so eine Kette. Da war ich etwa fünfzehn Jahre alt. Ein Geschenk von meinem ersten Freund“, erzählte Carmela.

„Wie lange wird die Person da unten gelegen haben?“, fragte Magnabosco, ohne auf Carmelas Bemerkung einzugehen. „Ist doch wirklich seltsam, dass das niemand bemerkt hat. Ich meine, es stinkt doch, wenn jemand verwest.“

„Na ja“, meinte Gruber, „es sei denn, man sorgt dafür, dass die Leiche immer gut zugedeckt ist.“

„Dann müsste also zumindest am Anfang alle paar Wochen jemand hergekommen sein, um immer wieder Laub und Erde hineinzuschaufeln.“

„Jetzt lass mich das Skelett erst mal obduzieren“, bat Gruber ihn. Dann nahm er die beiden Boxen, in denen er die Knochen gesammelt hatte, und verließ den Fundort.

Magnabosco setzte sich auf eine kleine Holzbank und dachte nach. Das Skelett war von einer Person, die vermutlich vor vielen Jahren gestorben war. Ob man sie hier in die Zisterne gestoßen hatte, war nicht sicher, vielleicht war der Fundort ja nicht einmal der Tatort. Hatte man sie lebendig dort unten begraben? Oder erst getötet und dann hineingeworfen, um sie dann immer wieder mit Erde und Laub abzudecken, bis sie vollständig verwest war? Hatte diese Person denn niemand vermisst? Magnabosco schüttelte ratlos den Kopf und dachte an das Halskettchen mit der Eule.

„Capo?“, fragte Carmela vorsichtig und setzte sich neben ihn. „Was denkst du?“

„Ich hoffe, dass das Kettchen nicht von unserem Opfer stammt. Dann wäre es sehr jung gestorben.“

„Alle, die ermordet werden, sterben zu früh“, sagte Carmela leise.

„Dann lass uns gehen und für Gerechtigkeit sorgen“, beschloss er, nahm Carmelas Hand und stieg mit ihr die Steinstufen hinunter zum Parkplatz.

Kapitel 3

17. November 2000