Der Bozen-Krimi: Verspieltes Glück - Simone Dark - E-Book + Hörbuch

Der Bozen-Krimi: Verspieltes Glück E-Book und Hörbuch

Simone Dark

4,5

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Der Holzschnitzer Vitus Höllrigl liegt erstochen in seiner Werkstatt. Doch offenbar hat jemand versucht, ihn noch zu retten. Also Mord im Affekt? Kommissarin Sonja Schwarz und ihr Kollege Jonas Kerschbaumer müssen nicht lange nach Verdächtigen suchen, denn durch seine Spielsucht brachte Höllrigl viele gegen sich auf. Beim Hotelier Staffler hatte der Ermordete hohe Schulden. Auch Höllrigls Tochter Edith, die sich und ihren schwer kranken Sohn nur mühsam über Wasser hält, hätte ein Motiv. Und welches Geheimnis verband Vitus Höllrigl mit der Hebamme Valeria Meixner? Privat entfremdet sich Sonja immer mehr von Riccardo, da dieser bereit ist, sehr weit – für Sonja zu weit – zu gehen, um den entscheidenden Schlag gegen den Mafiaboss Lagagna zu führen.

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Seitenzahl: 148

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Zeit:3 Std. 52 min

Sprecher:Victoria Schaetzle

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VERSPIELTES GLÜCK

SIMONE DARK

Nach einer Idee von Corrado Falcone

Mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur in der Südtiroler Landesregierung

© Edition Raetia, Bozen 2022, Lizenz durch Merfee Film- und Fernsehproduktions GmbH

1. Auflage

ISBN: 978-88-7283-808-2

ISBN E-Book: 978-88-7283-822-8

Cover: Philipp Putzer, www.farbfabrik.it

Coverfoto: Roberto Moiola, Alamy

Lektorat: Silvia Oberrauch, Katharina Preindl

Anregungen an

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Fünfzig

Einundfünfzig

Eins

Vitus Höllrigl zwängte seinen Zeigefinger in die Münztasche seiner zerschlissenen Jeanshose. Mit der Fingerkuppe ertastete er drei Ein-Euro-Münzen, zog sie heraus und ließ sie in die Schlitze der drei Spielautomaten fallen. Wie im Chor ratterten die Walzen, nach einigen Sekunden kamen sie zum Stehen. Game over, und noch einmal Game over, sagten zwei von ihnen. Der dritte Automat zeigte Erbarmen und spuckte eine Handvoll Münzen aus. Enttäuscht krallte Höllrigl sich den kleinen Gewinn, der gerade mal für ein großes Bier reichte.

Er sah sich in der Bar um, um diese Uhrzeit war hier wenig los. Zwei Männer tranken hektisch ihren Espresso, spülten mit einem kleinen Glas Wasser nach, zahlten und verließen das Lokal. Der Barkeeper war damit beschäftigt, die Spülmaschine einzuräumen und den klebrigen Tresen zu putzen. Über einen kleinen Bildschirm wurde das Pferderennen übertragen, eigentlich völlig unnötig, fand Höllrigl. Schließlich hörte man den echten Lärm der Rennbahn ja bis hierher in die Bar, außerdem ertönte immer wieder die Ansage über den Lautsprecher. Höllrigl hörte nun genauer hin. Ein neues Rennen wurde angekündigt und damit wurde es für ihn Zeit hinauszugehen.

Die Meraner Luft roch nach frisch gemähtem Gras, Pferdemist und Reichtum. Die High Society hatte sich wieder einmal hier am Pferderennplatz versammelt: Louis-Vuitton-Taschen, Kostüme von Prada, Herrenanzüge von Trussardi wurden zur Schau getragen, die Traditionsbewussten trugen Luis-Trenker-Janker, der neueste Tratsch wurde ausgetauscht. Wussten Sie schon …? Haben Sie schon gehört …? Wie dieses Getue ihn anödete. Warum hielten sie nicht einfach ihren Mund, schließlich ging es ihnen ja doch nur ums Geld. Höllrigl stellte sich die Summen vor, die diese Schnösel hier verwetteten. Waren es einige Hunderttausend Euro oder eher Millionen? Wohl eher Letzteres, sie hatten ja schließlich genug Geld auf ihren ausländischen Konten und konnten den Hals doch nicht vollkriegen.

Höllrigl verfolgte das Rennen und blickte immer wieder auf seinen Wettschein. Seine Nummer 19 war zwar für ein paar Sekunden in Führung, doch der Abstand zu den anderen Pferden wurde zusehends geringer. Der Wettschein zitterte ein wenig in seiner Hand, Höllrigl war sich nicht sicher, ob es an seiner Aufregung, dem Alkoholkonsum oder dem leichten Wind lag, der gerade aufkam. Die Nummer 19 hatte es verbockt – auf der Zielgeraden wurde sein Gaul von der Nummer 8 überholt und verlor. Zweiter Platz, dachte Höllrigl, wäre ja auch zu schön gewesen. Er zerknüllte den Wettschein und warf ihn in einen Mülleimer. Immerhin hatte der dritte Automat ihm drei Euro geschenkt, er hatte sie noch immer in seiner linken Hand. Und seine Armbanduhr hatte er ja auch noch. Die war sicher einiges wert, auch wenn sie nicht mehr die neueste war.

Höllrigl betrat wieder die Bar. Die leicht stickige Luft behagte ihm mehr als die gekünstelte Atmosphäre auf der Pferderennbahn. Er ging direkt zum Tresen und schob dem Kellner wortlos seine Uhr hin, der Barkeeper nahm sie an sich und betrachtete sie kurz. Ohne die Miene zu verziehen, sagte er: „Fünfhundert“, mehr sei nicht drin.

Höllrigl hatte Helmut Staffler nicht kommen hören, plötzlich war er wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht und hatte die Uhr an sich genommen.

„Das könnte dir so passen, Vitus. Die behalt ich. Als Anzahlung für die Schulden, die du bei mir hast.“

Höllrigl drehte sich zu Staffler um, blickte in sein wettergegerbtes, faltiges Gesicht und die schmalen, braunen Augen. Was bildete sich dieser Möchtegern eigentlich ein, sich hier in seine Geschäfte einzumischen? Er griff nach seiner Uhr, doch Staffler schlug ihm die Hand weg.

„Finger weg! Ich könnte die Jungs hier auch daran erinnern, dass du eigentlich Hausverbot hast. Aber so wie ich das sehe, hast du eh keinen Grund mehr zu bleiben.“

Damit wandte er sich zum Gehen. Höllrigl ging ihm nach, griff nach seiner Schulter und riss ihn herum.

„Glaubst du, ich bin der Einzige, der hier Schulden hat?“, fuhr er seinen Gläubiger an und zog ihn am Revers zu sich. „Dein Zahltag kommt, Staffler. Und zwar schneller, als dir lieb ist.“

Staffler konnte diese Drohung nicht einordnen. Irritiert sah er in das bärtige Gesicht seines Gegenübers und kam nicht umhin, seine Bierfahne einzuatmen. Staffler verzog das Gesicht – was wollte dieser stinkende Abschaum von ihm?

„Uns beide verbindet mehr, als du denkst, Staffler“, zischte Höllrigl nun leiser.

Der Versuch, Staffler die Uhr wieder abzunehmen, misslang Höllrigl gründlich. Staffler wehrte sich und schlug zu. Höllrigl verpasste seinem Kontrahenten einen linken Haken, Blut floss aus dessen Lippe. Kaum hatte er sich wieder gefangen, waren auch schon der Barkeeper und ein Sicherheitsmann bei Höllrigl und zerrten ihn zum Ausgang, wo er unsanft auf dem Asphalt landete. Staffler folgte ihnen. Ein paar Spaziergänger waren stehen geblieben und beobachteten die Szene. „Und das am helllichten Tage“, entrüstete sich eine Frau, um ihr schönes Meran sei es wirklich schlecht bestellt. Aus den Augenwinkeln erkannte Vitus Höllrigl, wie Staffler sich verächtlich über die blutige Lippe fuhr und die Uhr zu Boden schmiss. Als Höllrigl sie aufheben wollte, trat Staffler auf das teure Stück und zermalmte es mit seinem schwarzen Lackschuh.

Zwei

Sonja Schwarz mochte diesen kleinen, feinen Ort am Haflinger Hochplateau namens St. Kathrein in der Scharte, fernab von den vielen Touristen, die täglich ins beliebte Wander- und Skigebiet Meran 2000 pilgerten, die Innenstädte bevölkerten und für Stau auf den Bergstraßen sorgten. Dann musste sie über ihre eigenen Gedanken lächeln: Sie selbst war ja auch nicht von hier, der Beruf hatte sie von Frankfurt nach Südtirol gebracht. Sie ging ein paar Schritte, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, immer darauf bedacht, keine Wiesenblume zu zertreten. Wie wunderschön das Licht der Abendsonne war. Der Himmel wurde glasklar, die Berge um sie herum färbten sich erst hell-, dann dunkelrosa. Oder sollte man es eher pfirsichfarben nennen? Sonja kannte keinen Begriff für diese unnachahmlich schöne Abendstimmung. In der Ferne hörte sie eine Kuhglocke läuten, wieder musste sie schmunzeln, so langsam wurde es ihr fast ein wenig zu kitschig.

Sie ging weiter, betrachtete die Kirche St. Kathrein, die hier schon seit vielen Jahrhunderten stand. Hatte sie nicht kürzlich erst von der Sage gelesen, die diese Kirche umwob? Angeblich wollten die Bewohner damals hier auf dem Plateau eine christliche Kirche errichten lassen. Zwei Riesen hatten sich angeboten, ihnen die Steine für den Bau zu beschaffen. Allerdings waren die Riesen keine Organisationstalente und wollten zugleich die Kirche im nahe gelegenen Langfenn bauen. Das Problem: Die beiden Riesen besaßen nur einen einzigen Hammer und den mussten sie notgedrungen teilen. Wie es sich für Riesen gehörte, entbrannte um den Hammer dann ein wilder Streit, sodass der Baumeister von Langfenn einen Felsen aufhob und diesen bis nach Hafling warf.

Plötzlich wurde Sonja aus ihren Gedanken an die streitenden Riesen gerissen. Vor ihr stand Riccardo Riello, mit dem sie sich hier verabredet hatte. Der Anblick der Natur hatte sie alles andere vergessen lassen. Vielleicht, dachte Sonja sich, sollte sie viel öfter hierher nach Hafling kommen und an zwei streitende Riesen denken.

„Was ist los?“, fragte Riello sie unumwunden.

Riello war im Laufe der Dienstjahre bei der Bozner Polizei wie eine Konstante für sie geworden. Damals, als die Ermittlungen sie ins süditalienische Bari geführt hatten, war sie ihm zum ersten Mal begegnet. Er hatte sich als Taxifahrer ausgegeben und sie zunächst bei der Suche nach ihrer Ziehtochter Laura tatkräftig unterstützt. Dann hatte er sie verführt, verwöhnt und zuletzt zu ihrem eigenen Schutz vor der Mafia bei sich zu Hause eingesperrt. Erst spät hatte er zu erkennen gegeben, dass er als verdeckter Ermittler arbeitete. Ihre Gefühle für Riello waren zwiegespalten: Er machte Sonja rasend, jedes Mal, wenn sie ihn sah, stieg Wut in ihr hoch und sie wollte ihn am liebsten zum Teufel schicken. Gleichzeitig war die Anziehung zu ihm so heftig, dass sie sich ihm kaum zu entziehen wusste. Sonja blickte ihm fest in die Augen. Es war an der Zeit, Klartext mit ihm zu sprechen.

„Ich wüsste gern, wie weit du noch gehen willst für deinen Plan. Hat dein Versuch, die Vorsitzende des Ausschusses zu verführen, um sie dann zu erpressen, nicht geklappt?“

Riello sah kurz zu den Bergen hinüber, die nun langsam eine dunkelblaue Farbe annahmen.

„Sonja, ich muss da mitspielen, um Michele Lagagnas Vertrauen nicht zu verlieren. Das geplante Pumpspeicherkraftwerk ist für die Mafia eine perfekte Geldwäscheanlage. Wenn die Bosse ihre Millionen schicken, wird unsere Falle zuschnappen. Das wird ein Schlag der Antimafiabehörde gegen das organisierte Verbrechen, wie es ihn bisher noch nicht gegeben hat.“

„Und das rechtfertigt, immer mehr Menschen in Gefahr zu bringen?“

Riello hatte es wieder einmal geschafft: Sonjas gute Stimmung hatte sich innerhalb weniger Sekunden in Wut verwandelt. Sie musste sich zusammenreißen. Sie zeigte ihm die Tageszeitung, die sie noch immer in ihrer linken Hand hielt.

„Hier, das ist die Vorsitzende des Ausschusses, der letztendlich entscheidet, ob man das Pumpspeicherkraftwerk bauen wird, Maria Senoner. Sollst du jetzt vielleicht ihre Kinder entführen? Hat Lagagna dir das als Nächstes aufgetragen? Würde mich ja nicht wundern.“

„Nein, natürlich nicht“, antwortete Riello. „Sonja, ich verstehe, dass du Lagagna das Handwerk legen willst, aber das ist eine von langer Hand geplante Aktion der Direzione Investigativa Antimafia. Wenn du dich da einmischst, wirst du Ärger mit Rom bekommen.“

„Damit kann ich leben. Aber nicht damit, dass hier unter dem Deckmantel einer verdeckten Ermittlung Straftaten begangen werden. Mir egal, was für Anweisungen du aus Rom bekommst oder was du glaubst tun zu müssen, um weiter das Vertrauen der Mafia zu haben. Du bist trotzdem immer noch Polizeibeamter und du stehst nicht über dem Gesetz.“

Drei

Edith Höllrigl war sauer und gestresst. Sie hatte sich auf ihren Vater verlassen und dieser hatte sich nicht an ihre Verabredung gehalten, Felix von der Schule abzuholen. Das war sonst überhaupt nicht seine Art. Ihr Vater liebte Felix und war sonst immer gern dazu bereit, sich um den Buben zu kümmern. Natürlich wollte sie ihn nicht zu sehr beanspruchen, doch dieses Mal hatte sie wirklich keine andere Wahl gehabt und auf ihn gezählt.

„Mama!“, hörte sie ihren Sohn rufen, der heute seinen siebten Geburtstag feierte. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie sich zu ihm um, sah, dass er bei ihrem schnellen Schritt zurückgefallen war. Es brach ihr das Herz, dass er nicht wie andere Kinder neben ihr herspringen konnte. Sie lächelte sanft, ging zu ihm zurück und nahm seine Hand. Dann ging sie langsam mit ihm durch die Bozner Altstadt. Bei einem Spielzeugwarenladen blieb Felix stehen und betrachtete fasziniert die ausgestellten Baukästen, mit denen man Raumschiffe und Feuerwehrautos zusammensetzen konnte.

„Weißt du, was Opa mir versprochen hat? Ein Geschenk, mit dem ich um die ganze Welt reisen kann!“, sagte er laut.

„Opa und seine Versprechen. Mir hat er versprochen, dass er dich von der Schule abholt“, entgegnete Edith und zog Felix weiter, bevor dieser sich in ein neues Spielzeug verlieben konnte.

Keine zehn Minuten später standen Edith Höllrigl und Felix vor der Werkstatt für Holzschnitzarbeiten, die ihrem Vater gehörte. Ihr Ärger war verraucht, in Zukunft musste sie sich eben anders organisieren. Irgendwie würde sie es schon schaffen, sie hatte bisher alles hinbekommen, egal, wie kompliziert ihr Leben sich gerade gestaltete. Felix betrachtete das kunstvoll gestaltete Holzschild, auf dem auch sein Nachname zu lesen war: HÖLLRIGL.

Edith Höllrigl bemerkte erstaunt, dass die Tür nur angelehnt war. Sonst schloss ihr Vater doch immer die Tür, egal, ob er im Haus oder in der Werkstatt war.

Mit einem unguten Gefühl durchquerte Edith Höllrigl mit ihrem Sohn an der Hand den Eingangsbereich der Werkstatt. Felix blieb abrupt stehen, er hatte sein Geschenk entdeckt und sah es mit großen Augen an.

„Papa!“, rief Edith.

Sie bekam keine Antwort und rief erneut nach ihrem Vater. Inzwischen hatte Felix sich über das Geschenk hergemacht und angefangen, das Papier wegzureißen. Eigentlich hätte sie ihn zurechtweisen sollen, doch die Sorge um ihren Vater war größer. Sie ging allein weiter bis zur Werkstatt, machte die Tür auf und erschrak furchtbar: Regungslos fand sie Vitus Höllrigl dort liegen, auf seinem Hemd hatte sich ein riesiger dunkelroter Fleck gebildet. Neben ihm lagen ein blutiges Schnitzmesser und ein Handtuch, ebenso blutgetränkt wie das Hemd ihres Vaters. Edith Höllrigl konnte einen Schrei unterdrücken, presste ihre Hände vors Gesicht und schlug die Tür zu. Ihr Herz pochte bis zum Hals, ihr wurde übel, kalt und schwindlig. Sie suchte nach Halt, fand einen alten Stuhl und wählte mit zitternden Händen den Polizeinotruf.

Vier

Sonja Schwarz betrat den Tatort, der sich in einer kleinen, versteckten Straße der Südtiroler Landeshauptstadt befand. Höllrigls Werkstatt, in der die berühmten Krippenfiguren entstanden, zeigte sich in einem heillosen Durcheinander: Überall standen Farbtöpfe, lagen schmutzige Wischlappen, Pinsel, Sägen und Schnitzwerkzeug aller Art herum. Es roch nach einer Mischung aus Staub, Lösungsmitteln, Farbe und frisch geschnittenem Holz. Aus Versehen stieß Sonja gegen ein heruntergefallenes Holzscheit und widerstand der Versuchung, es mit dem Fuß wegzuschieben.

„Was haben wir?“, fragte sie ihren Kollegen Peter Kerschbaumer, der bereits begonnen hatte, Spuren zu sichern, und die ersten Beweismittel gesammelt und dokumentiert hatte. Solange sie denken konnte, war Peter immer als Erster am Tatort gewesen. Sie schätzte den erfahrenen Kollegen sehr, vor allem auch, weil er hier wirklich jeden zu kennen schien. Sonja hatte noch keinen Fall erlebt, bei dem er ihr keine Insiderinformationen hätte geben können.

„Der Mann heißt Vitus Höllrigl, ist zweiundsechzig Jahre alt. Gestorben an einer Verletzung im Brustbereich. Das war scharfe Gewalt.“

Sonja sah sich weiter um. Auf einem Regal standen fertige Krippenfiguren in Reih und Glied, es schien fast so, als lebten sie in einer anderen Sphäre und überblickten das Chaos in der Werkstatt mit einem seligen Lächeln.

„Schon meine Eltern haben Höllrigl-Figuren gesammelt. Für die Weihnachtskrippe“, erklärte Peter.

Sonja erkundigte sich nach dem Todeszeitpunkt. Laut Rechtsmedizin, sagte Peter, sei der Tod am heutigen Morgen zwischen sieben und neun Uhr eingetreten.

Sonja sah zu Jonas Kerschbaumer hinüber, ihrem jüngeren Kollegen. Jonas war Peter Kerschbaumers Sohn, beide waren Polizisten und zudem in derselben Abteilung beschäftigt. Zwar waren die beiden nur selten einer Meinung, doch die Zusammenarbeit mit ihnen klappte erstaunlich gut. Jonas kniete und betrachtete eingehend das Schnitzmesser mit der scharfen, blutverkrusteten Klinge, das neben dem Toten lag. Er deutete auf das blutverschmierte Handtuch.

„Seltsam, oder?“, sagte er und runzelte nachdenklich die Stirn. „Sieht so aus, als hätte das jemand als Druckverband benutzt, um die Blutung zu stoppen.“

Höllrigl selbst konnte es nicht gewesen sein, bemerkte Peter. Schließlich hatte er kein Blut an den Händen. Sonja betrachtete die blauen Flecken im Gesicht des Toten und die Abschürfungen an seinen Händen.

„Sind das Kampfspuren?“, fragte sie.

„Vermutlich.“

„Wer hat ihn gefunden?“

Peter erklärte ihr, dass Höllrigls Tochter Edith die schreckliche Entdeckung gemacht hatte. Sonja wollte direkt zu der Zeugin in die Wohnung gehen, als ihr Kollege sie darauf hinwies, dass sie ihren Sohn dabeihatte, der heute seinen siebten Geburtstag feierte. Das arme Kind, dachte Sonja, und es ist nicht mal klein genug, um den Vorfall gleich wieder zu vergessen.

Fünf

Edith Höllrigl empfand in diesem Moment, als sie ihren weinenden Sohn auf dem Schoß hielt, gar nichts. Mechanisch wiegte sie ihn hin und her, strich ihm über das Haar und machte immer wieder leise: „Sch, sch, sch.“ Sie fühlte sich leer und wie in einem dichten Nebel, völlig desorientiert. Als sie ihren Kopf zur Seite drehte, fiel ihr Blick auf einen Brief der Banco Isarco. Sie schaute kurz zur Tür und ließ den Brief in ihre Handtasche gleiten. Wieder fuhr sie Felix übers Haar und versuchte, ihn zu beruhigen. Er schniefte.

Sonja betrat Höllrigls Wohnung. Die Unordnung seiner Werkstatt setzte sich fort, nur dass es hier nicht nach Farbe und Holz roch. Sonja betrachtete die Küchenmöbel, ihr Holz war mit der Zeit und der Sonne, die durch das Fenster hereinschien, dunkel geworden. In der Spüle stapelte sich ungewaschenes Geschirr. Als sie einen Schritt zur Seite machte, wäre Sonja fast auf ein Spielzeugauto getreten. Anscheinend war Höllrigls Enkel oft hier gewesen. Auf dem Küchentisch türmten sich Zeitschriften, auf denen Pferderennen abgebildet waren. Es waren Wettzeitschriften. War er spielsüchtig gewesen? Zwischen den Magazinen lugten Flyer und Ergebnislisten von Pferderennen hervor. Hier und da lag ein ungeöffneter Brief. Sonjas Bauchgefühl sagte ihr, dass der Mann Schulden hatte. Sie näherte sich der Wand hinter dem Tisch. Hier hingen Bilder, die sicher der kleine Felix gemalt hatte, und einige Fotos des Jungen.

„Hallo, Felix. Ich bin Sonja. Du hast heute Geburtstag, richtig?“

Felix sah Sonja mit verweinten Augen an und nickte. Dann schaute er unsicher zu Peter hinüber und fragte Sonja:

„Bist du auch von der Polizei?“

„Ja, das bin ich. Und wir werden alles tun, um den zu finden, der deinem Opa wehgetan hat. Versprochen. Frau Höllrigl, wo wohnen Sie?“

„Außerhalb von Bozen. Etwa zwanzig Minuten mit dem Bus.“

Sonja bot Edith Höllrigl und ihrem Sohn an, sie nach Hause zu fahren. Edith nickte und sagte leise Danke. Sie setzte ihren Sohn ab, nahm ihre Tasche und sie verließen gemeinsam die Wohnung. Gerade als sie aus der Tür traten, wurde Sonja plötzlich zurückgerissen. Felix war gestolpert und hatte sich mit seinen kleinen Händen an ihrer Lederjacke festgekrallt.

Sechs