Serafina Black – Der Ruf der Verwandlung - Robert Beatty - E-Book

Serafina Black – Der Ruf der Verwandlung E-Book

Robert Beatty

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Serafina steht zwischen zwei Welten: Sie ist zu menschlich für das Leben im Wald mit ihrer Mutter, die sich in eine Silberlöwin verwandeln kann, und zu wild für das Leben auf dem herrschaftlichen Biltmore-Anwesen mit ihrem Vater und ihrem Freund Braeden. Doch aus den Tiefen des Waldes zieht eine Gefahr heran, die beide Welten zu zerstören droht. Sämtliche Tiere fliehen, als eine führerlose Kutsche sich Biltmore in der Nacht nähert. Ihr entsteigt ein mächtiger Zauberer, begleitet von blutrünstigen Wolfshunden. Um ihr Zuhause und alle, die sie liebt, zu retten, muss Serafina kämpfen wie nie zuvor. Und sie muss ihr besonderes Schicksal als Gestaltwandlerin annehmen.Der zweite Band der erfolgreichen »Serafina Black«-Serie, die Leser und Leserinnen weltweit begeistert!Außerdem von Robert Beatty bei FISCHER KJB:Serafina Black – Der Schatten der Silberlöwin (Band 1)Willa of the Wood – Das Geheimnis der WälderWilla of the Wood – Die Geister der Bäume

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 432

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Robert Beatty

Serafina Black

Der Ruf der Verwandlung Band 2

Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Weingran

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungAsheville, North Carolina12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152Eine Einladung nach BiltmoreDanksagung

Dieses Buch widme ich Euch, liebe Leser, denn mit Eurer Begeisterung für Serafina Black – Der Schatten der Silberlöwin habt Ihr wesentlich dazu beigetragen, dass dieser zweite Band überhaupt möglich wurde.

 

Außerdem widme ich es Jennifer, Camille, Genevieve und Elizabeth, meinen Mitverschwörerinnen und -autorinnen. Eine jede von Euch ist die Liebe meines Lebens.

Biltmore-Anwesen

Asheville, North Carolina

Drei Wochen nach dem Sieg über den Mann im schwarzen Umhang

1

Serafina pirschte geduckt durch das Unterholz des mondhellen Waldes, den Blick fest auf die Beute gerichtet. Wenige Schritte von ihr entfernt nagte eine große Buschratte an einem Käfer, den sie soeben ausgebuddelt hatte. Während Serafina geräuschlos auf die Ratte zukroch, schlug das Herz ruhig und gleichmäßig in ihrer Brust. Ihre Muskeln waren in Erwartung des bevorstehenden Sprungs zum Zerreißen gespannt, aber sie überstürzte nichts. Sie schwang auf der Stelle vor und zurück, um den besten Winkel für den Angriff zu bestimmen, und wartete auf den richtigen Moment. Als die Ratte sich vorbeugte, um einen weiteren Käfer aufzulesen, schlug Serafina zu.

Die Ratte sah sie aus den Augenwinkeln heranfliegen. Es überstieg Serafinas Verstand, warum so viele Waldtiere vor Angst erstarrten, wenn sie zuschlug. Wenn der Tod in Gestalt von Reißzähnen und Klauen aus dem Dunkel auf sie zugeflogen wäre, hätte sie um ihr Leben gekämpft. Oder sie wäre davongerannt. Irgendetwas hätte sie jedenfalls getan. Kleine Waldtiere wie Ratten, Kaninchen und Streifenhörnchen waren nicht gerade bekannt für ihre Tapferkeit, aber was brachte es, vor Angst zu erstarren?

Sich auf die Ratte zu stürzen, sie zu schnappen und mit eisernem Griff zu umklammern, war eine Sache von Sekundenbruchteilen. Erst jetzt, da es viel zu spät war, begann das Rattenmännchen sich zu wehren, zu beißen und zu kratzen. Sein kleiner behaarter Körper wurde zu einer sich windenden Schlange, das winzige Herz schlug rasend schnell. Na endlich, dachte Serafina, als sie das wilde Klopfen seines Herzens an der Handfläche spürte. Endlich beginnt der Kampf! Ihr Puls beschleunigte sich. Mit ihren geschärften Sinnen nahm sie plötzlich alles um sich herum sehr viel deutlicher wahr: das Geräusch, mit dem ein Baumfrosch auf einem Ast zehn Meter hinter ihr entlangkroch, das schilfige Rascheln einer einsamen Waldschnepfe in der Ferne und den Schatten einer Fledermaus, die über den Baumwipfeln den sternenbedeckten Himmel entlangglitt.

Natürlich war alles nur Übung, das Heranpirschen und Zuschlagen, das Verfolgen der Beute und das Zupacken. Serafina brachte die wilden Tiere nicht um, die sie jagte, dazu bestand kein Grund, aber das wussten die doch nicht, verflixt nochmal! Sie war der Schrecken! Sie war der Tod! Also warum erstarrten sie im Moment ihres Angriffs? Warum flohen sie nicht?

Serafina setzte sich mit dem Rücken an eine knorrige, mit Efeu überwucherte Eiche gelehnt auf den Waldboden. Die um die Ratte geballte Faust ruhte in ihrem Schoß.

Dann öffnete sie die Hand langsam.

Die Ratte schoss so schnell davon, wie sie konnte, aber Serafina schnappte sie sich und hielt sie wieder in ihrem Schoß fest.

Sie ließ die Faust einige Sekunden geschlossen, dann öffnete sie ihre Hand erneut.

Dieses Mal rannte die Ratte nicht weg. Sie saß zitternd und hechelnd auf der Hand, zu verwirrt und erschöpft, um erneut loszusprinten.

Serafina hob den verängstigten Nager etwas näher an ihr Gesicht, neigte den Kopf zur Seite und studierte ihn. Die Buschratte sah nicht so aus wie die fiesen grauen Kanalratten, die sie üblicherweise im Keller des Biltmore-Anwesens fing. Diese spezielle Ratte hatte einen vernarbten Riss am linken Ohr. Sie war also schon mal in einen Kampf verwickelt gewesen. Und mit den dunklen Knopfaugen und den bebenden Schnurrhaaren an der langen spitzen Nase besaß sie mehr Ähnlichkeit mit einer niedlichen, pummeligen braunen Maus als mit den üblen Schädlingen, deren erfolgreiche Bekämpfung Serafina ihren Titel als Oberste Rattenfängerin eingebracht hatte. Sie sah die Ratte fast mit einem kleinen Hut auf dem Kopf und zugeknöpfter Weste vor sich. Serafinas schlechtes Gewissen meldete sich, weil sie sie gefangen hatte, aber sie wusste auch, dass sie instinktiv zuschnappen würde, falls die Ratte erneut zu fliehen versuchte. Es war keine Entscheidung, die sie hätte treffen können. Es war ein Reflex.

Während die kleine Ratte wieder zu Atem kam, schoss ihr Blick auf der Suche nach einem Ausweg hierhin und dorthin. Aber sie wagte es nicht. Sie wusste, dass Serafina sie schnappen würde, sobald sie zu fliehen versuchte; dass es ihre Natur war, mit ihr zu spielen, mit der Pfote nach ihr zu schlagen und sie mit den Krallen zu verletzen, bis sie schließlich tot wäre.

Aber Serafina sah die Ratte an und setzte sie dann auf den Waldboden. »Entschuldige, kleiner Knirps, ich trainiere nur meine Fähigkeiten.«

Die Ratte blickte verwirrt zu ihr hoch.

»Lauf schon«, sagte Serafina sanft.

Die Ratte warf einen Blick zum Distelgestrüpp.

»Ich habe nicht vor, dich hereinzulegen«, versprach Serafina.

Die Ratte schien ihr keinen Glauben zu schenken.

»Geh schon nach Hause«, sagte Serafina auffordernd. »Renn nur nicht zu schnell los – so kommst du davon. Und halte das nächste Mal Augen und Ohren offen, selbst wenn du an einem leckeren Käfer kaust, verstehst du? In diesem Wald existieren sehr viel gemeinere Wesen als ich.«

Verblüfft fuhr sich die Buschratte immer wieder mit den kleinen Händchen durch das Gesicht und nickte mit dem Kopf, beinah so, als wolle sie sich verbeugen. Serafina schnaubte lachend, was die Ratte endlich in Bewegung versetzte. Sie huschte ins Gestrüpp.

»Einen schönen Abend noch«, wünschte Serafina. Sie nahm an, die Tapferkeit des Rattenmännchens würde in seiner Erinnerung mit jedem Meter, den es sich von ihr entfernte, zunehmen, und am Ende würde es eine gute Geschichte zu erzählen haben, wenn es zum Abendessen bei seiner Frau und seinen Kindern eintraf. Sie lächelte bei der Vorstellung, wie es im Kreis seiner Familie von seiner Heldentat berichten würde. Wie es im Wald friedlich an einem Käfer genagt hatte, als eine erbarmungslose Jägerin sich auf es gestürzt hatte und es gezwungen war, um sein Leben zu kämpfen. Serafina fragte sich, ob sie in der Geschichte eine mächtige, wilde Bestie sein würde. Oder nur ein Mädchen.

In dem Moment hörte sie über sich ein Geräusch, das klang, als würde eine Windböe die Blätter der Baumwipfel zum Rascheln bringen. Aber da war keine Böe. Die mitternächtliche Luft war kühl und still und regte sich nicht, so als hielte Gott den Atem an.

Serafina hörte ein zartes, beinah hauchfeines Murmeln, nicht mehr als ein Flüstern. Sie sah nach oben, entdeckte aber nichts weiter als die Äste der Bäume. Im nächsten Moment war sie auf den Beinen und klopfte das schlichte grüne Arbeitskleid ab, das Mrs. Vanderbilt ihr tags zuvor geschenkt hatte. Dann lief sie auf das Geräusch horchend durch den Wald. Sie bemühte sich, die Richtung zu bestimmen, aus der es an ihr Ohr drang. Zuerst neigte sie den Kopf nach links, dann nach rechts, aber das Geräusch schien keinen klaren Ursprung zu haben. Sie begab sich zu einer Felszunge, von der es steil bergab in ein bewaldetes Tal ging. Von hieraus vermochte sie kilometerweit zu sehen, quer über den Dunstschleier, der über dem Tal hing, bis hin zu den Silhouetten der Blue Ridge Mountains auf der gegenüberliegenden Seite. Ein dünner Schleier aus hell schimmernden silberweißen Wolken zog langsam am Mond vorbei. Die Leuchtkraft des Mondes versah die Federwolken mit einem Strahlenkranz, sein Licht durchdrang sie und warf einen langen zerklüfteten Schatten auf die Erde hinter Serafina.

Sie stand auf der Felszunge und ließ den Blick suchend über das Tal schweifen. In einiger Entfernung hoben sich die spitzen Türme und schiefergedeckten Dächer des edlen Biltmore-Anwesens vor dem dunklen Wald ab. Die hellgrauen Kalksteinmauern wurden von Wasserspeiern, Fabelwesen und Skulpturen von Kriegern vergangener Tage geschmückt. In den Fensterscheiben spiegelten sich die Sterne, und die gold- und kupferfarbene Verkleidung des Dachfirstes glänzte im Mondlicht. Dort, im ersten Stock des großen Hauses, schliefen Mr. und Mrs. Vanderbilt sowie ihr Neffe Braeden, der Serafinas Freund war. Die Gäste der Vanderbilts – Familienmitglieder von außerhalb, Geschäftsleute, Würdenträger, berühmte Künstler – schliefen im zweiten Stock in luxuriös ausgestatteten Zimmern.

Serafinas Pa kümmerte sich um die Zentralheizung, den elektrischen Dynamo, die Waschmaschinen und all die anderen neumodischen Geräte des Anwesens. Ihr Vater und sie lebten in der Werkstatt, die sich im Untergeschoss des Hauses befand, noch hinter den Küchen, Waschküchen und Lagerräumen. Doch während alle Menschen, die sie kannte und liebte, bei Nacht schliefen, blieb Serafina wach. Sie schlummerte mehr oder weniger den ganzen Tag, zusammengerollt auf einer breiten Fensterbank oder versteckt in einem dunklen Schlupfwinkel im Keller. Bei Nacht durchstreifte sie die Flure von Biltmore, obere wie untere Etagen, eine stille, unbemerkte Wächterin. Sie erkundete die verschlungenen Pfade der ausgedehnten Gärten des Anwesens und die dunklen Täler der umliegenden Wälder, und sie ging auf die Jagd.

Sie war ein zwölfjähriges Mädchen, doch sie hatte nie das geführt, was gemeinhin als normales Leben bezeichnet wurde. Sie hatte ihre Zeit damit verbracht, durch die endlosen Korridore des Kellergeschosses zu streifen und Ratten zu fangen. Ihr Vater hatte sie beinah scherzhaft die O.R.F. getauft, die Oberste Rattenfängerin. Aber sie hatte den Titel voller Stolz angenommen.

Ihr Pa hatte sie stets geliebt und tat auf seine raubeinige Weise sein Bestes, um sie aufzuziehen. Und sie war keinesfalls unglücklich darüber gewesen, jeden Tag mit ihrem Vater zu Abend zu essen und sich des Nachts durch die Dunkelheit zu schleichen, um das große Haus von Ungeziefer zu befreien. Wer wäre das schon? Doch tief in ihrem Innern war sie ganz schön einsam gewesen und ziemlich verwirrt. Sie hatte nie verstanden, warum die meisten Menschen im Dunkeln eine Laterne mit sich trugen und warum sie beim Gehen so viel Lärm machten und was sie dazu brachte, die ganze Nacht über zu schlafen, wenn so viele Dinge ihre größte Schönheit entfalteten. Sie hatte genug Kindern hinterherspioniert, um zu wissen, dass sie keins von ihnen war. Wenn sie in den Spiegel blickte, sah sie ein Mädchen mit großen bernsteinfarbenen Augen, hohen Wangenknochen und einer wilden Mähne, die in verschiedenen Gold- und Brauntönen schimmerte. Nein, sie war kein normales, alltägliches Kind. Sie war überhaupt kein Kind des Tages. Sie war ein Geschöpf der Nacht.

Während sie dort am Rand des Tals stand, hörte sie erneut das Geräusch, das sie hergeführt hatte, ein sanftes Flattern, gleich einem Raunen, das mit dem Wind hoch über ihr dahinströmte. Die Sterne und Planeten funkelten am Himmel, als lebten in ihnen die Geister Zehntausender Seelen, aber des Rätsels Lösung offenbarten sie ihr nicht.

Ein schmaler dunkler Umriss zog am Mond vorbei und verschwand. Serafinas Herz setzte einen Schlag aus. Was war das gewesen?

Eine weitere Gestalt erschien vor dem Mond und dann noch eine. Zuerst hielt Serafina sie für Fledermäuse, doch Fledermäuse flogen nicht auf solch geraden Strecken.

Serafina war gleichermaßen verwundert wie fasziniert.

Ein winziger Umriss nach dem anderen hob sich vor dem Mond ab. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah die Sterne verschwinden. Ihre Augen weiteten sich erschrocken. Aber dann wurde ihr langsam klar, was sie da sah. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie in die Dunkelheit und entdeckte große Schwärme von Singvögeln, die über das Tal hinwegflogen. Nicht bloß einen oder zwei oder gar ein Dutzend, sondern Schwarm um Schwarm. Sie verschmolzen zu einem langen, schier endlosen Strom aus gefiederten Wolken. Die Vögel füllten den Himmel. Das Geräusch, das Serafinas Aufmerksamkeit erregt hatte, war das sanfte Rauschen Tausender winziger Flügel von Spatzen, Zaunkönigen und Seidenschwänzen auf ihrem Herbstzug. Sie erinnerten an Juwelen, grün und golden, gelb und schwarz, gestreift und getupft, Tausende und Abertausende. Das Jahr schien für ihre Reise viel zu weit fortgeschritten zu sein, dennoch waren sie da. Sie schossen mit wild flatternden kleinen Flügeln über den Himmel, zogen für den Winter gen Süden, reisten heimlich im Schutze der Nacht, um den Falken zu entgehen, die bei Tag Jagd auf sie machten, nutzten die Kammlinien der unter ihnen liegenden Berge und die Position der Sterne, um sich zu orientieren.

Die federleichten, zuckenden Bewegungen der Vögel hatten Serafina schon immer fasziniert, hatten stets ihren Puls beschleunigt, aber was sie nun sah, war etwas völlig anderes. In dieser Nacht ließ die Schönheit des Singvogelzugs ihr Herz überfließen. Ihr war, als würde sie einem einmaligen Ereignis beiwohnen, doch dann erkannte sie, dass die Vögel dem Weg folgten, den Eltern und Großeltern ihnen gezeigt hatten, dass sie diesem Weg schon seit Millionen von Jahren folgten. Das einzig Einmalige daran war, dass sie Zeugin des Ganzen wurde. Und das ließ sie staunen.

Beim Anblick der Vögel musste sie an Braeden denken. Er liebte Vögel und Tiere jeglicher Art.

»Ich wünschte, du wärst hier«, flüsterte sie, als läge er wach in seinem Bett und könnte sie über die kilometerweite Entfernung hinweg hören, die sie trennte. Sie sehnte sich danach, die Erfahrung mit ihrem Freund zu teilen. Sie wünschte sich, er stünde neben ihr, um zu den Sternen und Vögeln und silbernen Wolkenumrissen und dem prachtvollen leuchtenden Mond emporzublicken. Sie würde ihm natürlich davon erzählen, wenn sie sich das nächste Mal sahen. Doch bei Tag geäußerte Worte vermochten die Wunder der Nacht nicht einzufangen.

Einige Wochen zuvor hatten sie und Braeden den Mann im schwarzen Umhang besiegt. Sie und Braeden waren Verbündete gewesen und gute Freunde, aber ihr wurde wieder einmal bewusst, und dieses Mal stärker als zuvor, dass sie ihn schon einige Nächte nicht gesehen hatte. Sie rechnete jede Nacht mit seinem Besuch in der Werkstatt. Doch Morgen um Morgen ging sie enttäuscht zu Bett und das hinterließ nagende Zweifel in ihr. Was machte er? Hielt ihn etwas davon ab, zu ihr zu kommen? Ging er ihr absichtlich aus dem Weg? Sie war so froh gewesen, endlich einen Freund gefunden zu haben. Die Sorge, dass sie vielleicht nur so lange interessant für ihn gewesen war, wie sie etwas Neues war, nagte an ihr, und sie befürchtete, jetzt zu ihren einsamen Streifzügen durch die Nacht zurückkehren zu müssen. Sie waren Freunde. Dessen war sie gewiss. Aber sie machte sich Sorgen, dass sie nicht ins Tageslicht und die oberen Etagen passte. Dass sie nicht dorthingehörte. Konnte er sie so schnell vergessen haben?

Als die Vögel nur noch vereinzelt vorbeizogen und der Moment vorüber war, blickte Serafina grübelnd auf das Tal. Seit sie den Mann im schwarzen Umhang besiegt hatte, betrachtete sie sich als eine Wächterin, wie die Marmorlöwen, die rechts und links des Eingangsportals von Biltmore standen und es vor Dämonen und bösen Geistern beschützten. Sie verstand sich als Oberste Rattenfängerin, und ihre Aufgabe war es, das Biltmore-Anwesen und seine Bewohner vor Eindringlingen und Schädlingen jeglicher Art zu schützen. Ihr Vater hatte sie stets vor der Welt gewarnt, vor ihren Gefahren und Verführungen, und nach allem, was passiert war, war Serafina davon überzeugt, dass da draußen noch mehr Dämonen lauerten.

Seit Wochen wartete und wachte sie nun bereits wie ein Posten auf seinem Wachturm, aber sie hatte keine Ahnung, wann oder in welcher Gestalt der Dämon kommen würde. Wenn sie ehrlich mit sich war, bestand ihre größte, schwärzeste Angst darin, dass sie nicht wusste, ob sie stark und klug genug sein würde, wenn es so weit war – ob sie als Jägerin oder Gejagte enden würde. Vielleicht wussten die kleinen Tiere wie die Buschratte oder die Streifenhörnchen, dass der Tod nur einen Tatzenhieb entfernt war. Sahen sie sich als Beute? Vielleicht rechneten sie fast damit zu sterben, waren bereit zu sterben. Aber das war Serafina keineswegs. Sie hatte noch viel vor.

Ihre Freundschaft mit Braeden war gerade erst entstanden, und sie würde sie nicht aufgeben, nur weil es momentan schwierig zwischen ihnen war. Und sie hatte gerade erst begonnen, ihre Verbindung zum Wald zu verstehen, herauszufinden, wer und was sie tatsächlich war. Gleichzeitig übte ihr Pa Druck auf sie aus, sich wie ein anständiges Tageslichtmädchen zu benehmen, seit sie den Vanderbilts von Angesicht zu Angesicht begegnet war. Mrs. V. hatte sie mit offenen Armen in den Haushalt aufgenommen und stets ein nettes Wort für sie. Jetzt verfügte Serafina über den Keller und den Wald und die oberen Etagen – statt zu wenig Verwandtschaft, wie bisher, hatte sie nun zu viel und wurde in drei Richtungen gleichzeitig gezerrt. Aber nachdem sie, mal abgesehen von ihrem Pa, jahrelang ohne Familie hatte auskommen müssen, war es ein gutes Gefühl, ein neues Leben zu beginnen.

Das alles war schön und gut. Wenn Gefahren drohten, wollte sie kämpfen, wollte sie leben. Wer nicht? Aber was war, wenn die Gefahr so schnell über sie hereinbrach, dass sie sie nicht kommen sah? Was, wenn Klauen vom Himmel stürzten und sie umbrachten wie eine Eule die Maus, bevor sie überhaupt realisierte, dass sie da waren? Was, wenn die wahre Gefahr nicht in der Bedrohung selbst bestand, sondern darin, sie nicht erkannt zu haben, bevor es zu spät war?

Je länger Serafina über die Vogelschwärme nachdachte, die sie gesehen hatte, desto unruhiger wurde sie. Es war ziemlich warm, aber sie überlegte immer wieder, dass der Dezember ein viel zu später Zeitpunkt für den Vogelzug war. Sie runzelte die Stirn und suchte am Himmel nach dem Polarstern. Als sie ihn gefunden hatte, erkannte sie, dass die Vögel nicht einmal in die richtige Richtung geflogen waren. Serafina fragte sich sogar, ob es sich bei ihnen überhaupt um Zugvögel gehandelt hatte.

Während sie dort hoch oben auf der Felszunge stand, stahl sich das Grauen einer düsteren Vorahnung in ihre Glieder.

Sie hob den Blick dorthin, wo die Vögel vorbeigezogen waren, und sah dann in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie spähte über die Wipfel des dunklen Waldes. Ihr Verstand war bemüht, alle Eindrücke zu verarbeiten. Und dann wurde ihr klar, was geschehen war.

Die Vögel zogen nicht gen Süden.

Sie waren auf der Flucht.

Serafina holte tief Luft, während ihr Körper sich bereit machte. Ihr Herz begann, das Blut schneller durch den Körper zu pumpen. Arm- und Beinmuskeln spannten sich an.

Was immer es war, es kam auf sie zu.

Und es kam jetzt.

2

Einen Moment später drang aus der Ferne ein Geräusch an Serafinas Ohren. Es war kein Flügelschwirren, sondern etwas Erdverbundenes. Sie neigte den Kopf und horchte auf das Geräusch. Es schien aus dem Tal zu kommen.

Sie wandte sich ihm zu und legte die Hände hinter die Ohren, ein Trick, auf den sie durch das Nachahmen einer Fledermaus gekommen war.

Sie hörte das schwache Klimpern eines Geschirrs und das Klipp-Klapp von Hufen. Ihre Kehle schnürte sich zu. Mitten in der Nacht auf diese Geräusche zu treffen war merkwürdig. Eine Kutsche, die von vier Pferden gezogen wurde, bewegte sich über die fünf Kilometer lange, kurvige Straße auf das Anwesen zu. Bei Tag wäre daran nichts Ungewöhnliches gewesen. Doch niemand traf mitten in der Nacht auf Biltmore ein. Da stimmte etwas nicht. War es ein Bote, der eine schlechte Nachricht überbrachte? War jemand gestorben? Würde der Norden erneut Krieg gegen den Süden führen? Welche Katastrophe war über die Welt hereingebrochen?

Serafina verließ die Felszunge, eilte ins Tal hinab und lief durch den Wald zu einer der Ziegelsteinbrücken, die über den Fluss führten. Sie beobachtete von ihrem Versteck hinter einem Lorbeerbusch aus, wie eine alte zerschrammte Kutsche vorbeirollte. Die meisten Kutschen waren Ein- oder Zweispänner, doch diese wurde von vier dunkelbraunen Hengsten gezogen, deren starke Muskeln sich deutlich unter dem Fell abzeichneten. Ihr Fell glänzte im Licht des Mondes vor Schweiß, und sie blähten die Nüstern.

Serafina schluckte. Das war kein Bote.

Braeden hatte ihr erzählt, dass Hengste wild und schwer zu beherrschen waren – sie traten ihre Pfleger und bissen die Menschen und hassten ganz besonders andere Hengste –, aber diese vier zogen einmütig eine Kutsche.

Als Serafinas Blick auf den Kutschsitz fiel, sträubten sich ihre Nackenhaare. Er war verlassen. Die Pferde galoppierten synchron in einem mitreißenden Rhythmus, so als hielte ein Meister die Zügel, aber es war nirgends ein Kutscher zu sehen.

Serafina knirschte mit den Zähnen. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Das spürte sie im tiefsten Innern. Die Kutsche hielt direkt auf Biltmore zu, wo alle fest schliefen und keine Ahnung hatten, was auf sie zurollte.

Sobald die Kutsche um eine Kurve bog und nicht mehr zu sehen war, nahm Serafina die Verfolgung auf.

Sie rannte hinter ihr her durch den Wald. Das Baumwollkleid, das Mrs. Vanderbilt ihr geschenkt hatte, war nicht allzu lang, daher behinderte es sie nicht beim Laufen, aber es war überraschend schwer, mit den Pferden Schritt zu halten. Sie preschte durch Gebüsch, sprang über umgefallene Baumstämme und knickte Farnwedel um. Sie setzte über Rinnsale und kletterte Hügel hinauf. Der kurvenreiche Verlauf der Straße verschaffte ihr den Vorteil, die eine oder andere Abkürzung nehmen zu können. Ihre Brust hob und senkte sich im Takt der immer schneller werdenden Atemzüge. Trotz der Beklemmung, die sie kurz zuvor gepackt hatte, brachte der Wettlauf mit den Pferden sie erst zum Lächeln und dann zum Lachen, was das Luftholen beim Rennen noch erschwerte. Sie genoss den Kitzel der Jagd, während sie durch den Wald raste und sprang.

Dann wurden die Pferde auf einmal langsamer.

Serafina bremste ihren Lauf abrupt und duckte sich.

Die Pferde blieben stehen.

Serafina verbarg sich einen Steinwurf von der Kutsche entfernt hinter einem Rhododendronbusch, und ihr Atem beruhigte sich langsam.

Warum hatte die Kutsche angehalten?

Die Pferde traten unruhig von einem Bein aufs andere, von ihren geblähten Nüstern stiegen weiße Wölkchen auf.

Serafina beobachtete die Kutsche mit klopfendem Herzen. Sie kauerte dicht am Boden.

Der Griff des Kutschverschlags bewegte sich. Dann schwang der Verschlag langsam auf.

Serafina meinte, zwei Personen im Innern zu erkennen, doch dann war da ein düsterer Strudel, wie sie noch nie einen gesehen hatte – ein Schatten, der so schwarz und flüchtig war, dass selbst ihre Augen ihn unmöglich erfassen konnten.

Ein großer, drahtiger Mann mit einem breitkrempigen Lederhut und einem dunklen, wettergegerbten Mantel stieg aus der Kutsche. Er hatte lange, zottelige graue Haare und einen grauen Vollbart, der von seinem Kinn troff wie Moos von einer zerfurchten Baumrinde. Nachdem er aus der Kutsche gestiegen war, stellte er sich mitten auf die Straße und blickte suchend in den Wald. In der Hand hielt er einen knorrigen Wanderstock.

Hinter ihm ließ sich ein bösartig wirkender Wolfshund aus der Kutsche auf die Erde gleiten. Kurz darauf folgte noch einer. Die Hunde verfügten über große, schlanke Körper, wuchtige Schädel mit schwarzen Augen und ein struppiges, dichtes schwarz-graues Fell. Zu guter Letzt waren es fünf Hunde, und sie hielten im Wald nach etwas zum Töten Ausschau.

Serafina hatte Angst, auch nur das kleinste Geräusch zu machen. Mit langsamen, flachen Atemzügen holte sie so leise sie konnte Luft. In der Brust spürte sie ihr Herz rasend pochen. Sie wäre am liebsten losgerannt. Bleib ganz ruhig, befahl sie sich. Rühr dich ja nicht. Sie war überzeugt, dass sie sie nicht bemerken würden, solange sie ihre Deckung nicht aufgab.

Serafina war nicht sicher, woher der Eindruck rührte – vielleicht von seinem langen, zerfransten Mantel und dem abgenutzten Zustand der Kutsche –, aber es schien, als wäre der Mann weit gereist. Es überraschte sie, als er den Kutschverschlag zuwarf, einen Schritt zurücktrat und die Pferde ansah. Die Hengste stürmten sofort los, als hätten sie die Peitsche zu spüren bekommen. Schon bald war die Kutsche die Straße hinunter verschwunden und brachte wen auch immer nach Biltmore. Den bärtigen Mann und seine Hunde jedoch ließ sie im Wald zurück. Der Mann schien darüber nicht erschrocken oder verärgert zu sein, sondern verhielt sich so, als wäre der Wald genau der Ort, an dem er zu sein wünschte.

Mit Worten, die Serafina nicht verstand, versammelte der Mann sein Rudel Hunde um sich. Es waren üble Bestien mit gewaltigen Pfoten und dicken Krallen. Sie kamen ihr nicht wie normale Hunde vor, die am Boden geschnüffelt und den Wald erforscht hätten. Sie blickten alle zu ihrem Herrn auf, als warteten sie auf seine Anweisungen.

Das Gesicht des Mannes wurde von einer breiten Hutkrempe abgeschirmt. Doch als er das Gesicht zum Mond hob, keuchte Serafina auf. Die silbrigen Augen des Mannes glühten von einer seltsamen Macht erfüllt aus dem ledrigen, runzligen Gesicht hervor. Sein Mund öffnete sich langsam, als versuche er, das Mondlicht einzusaugen. Gerade als sie dachte, er würde Worte äußern, stieß er das unheimlichste Fauchen aus, das sie je gehört hatte. Es war ein langgezogenes, heiseres Kreischen. Und genau in dem Moment kam eine gespenstisch weiße Schleiereule zwischen den Bäumen hervorgeflogen. Ihr Flügelschlag war geräuschlos, doch sie antwortete mit einem Schrei auf den Ruf des Mannes, der Serafina das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein Schauer rann ihren Rücken hinunter. Als die Eule über sie hinwegflog, drehte sich der gruselige Kopf mit dem flachen Gesicht suchend, jagend zu ihr um. Serafina drückte sich an den Boden wie eine verängstigte Maus.

Als die Eule im Dunkel der Nacht verschwand, spähte Serafina zurück zur Straße. Ihr blieb das Herz im Leibe stehen. Der bärtige Mann und seine fünf Hunde blickten nun in ihre Richtung. In den Augen des Mannes funkelte immer noch ein unnatürliches Licht, obwohl er sich vom Mond abgewandt hatte. Serafina redete sich ein, dass der Mann und seine Hunde sie unmöglich in ihrem Versteck sehen konnten. Aber ihr gelang es nicht, die furchtbare Angst abzuschütteln, dass sie genau wussten, wo sie war. Aus der Erde unter ihr schien Feuchtigkeit aufzusteigen. Der Efeu auf dem Waldboden bewegte sich raschelnd. Serafina hörte ein Tick-tick-Ticken, gefolgt von einem langen heiseren Fauchen. Plötzlich spürte sie den Atem des Mannes in ihrem Nacken und fuhr zusammenzuckend herum. Doch da war nichts außer Schwärze.

Der Mann griff mit einer knotigen, ledrigen Hand in die Hosentasche und holte etwas daraus hervor, das wie ein zerrissenes dunkles Stück Stoff aussah.

Er hielt es seinen Hunden zum Schnüffeln hin. Mit tiefer, finsterer Stimme befahl er ihnen: »Prägt euch den Geruch gut ein!« Etwas an dem zerfurchten Gesicht des Mannes und seinem Bart, seiner Kleidung und der Art und Weise, wie er die Worte aussprach, ließ sie vermuten, dass er aus den Appalachen stammte, geboren und aufgewachsen in den felsigen Schluchten und unwirtlichen Tälern ebendieser Berge.

Der erste Wolfshund stieß seine Schnauze in die Falten des dunklen Tuchs. Als er seine Nase wieder hervorzog, stand ihm das Maul offen, Speichel troff daraus, und er ließ die gebleckten Zähne glänzen. Der Hund begann zu knurren. Dann waren der zweite und dritte Hund an der Reihe, bis schließlich alle fünf den Geruch aufgenommen hatten. Die teuflische, grollende Bösartigkeit der Tiere versetzte Serafina einen Stich in die Magengrube. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass die Spur des Geruchs sie in die entgegengesetzte Richtung führen würde.

Der Mann blickte auf sein Wolfshundrudel hinunter. »Unsere Beute ist nah«, verkündete er und befahl mit einem unterschwelligen Drohen in der Stimme: »Sucht! Findet den Schwarzen!«

Die Hunde heulten plötzlich los wie wilde Wölfe. Alle fünf sprangen auf und setzten in den Wald. Serafina konnte ein Zusammenzucken nicht verhindern. Ihre Beine wollten so gerne lossprinten, dass sie sie kaum stillhalten konnte. Aber sie musste in ihrem Versteck bleiben. Es war die einzige Chance zu überleben. Doch zu ihrem Entsetzen hielten die Hunde direkt auf sie zu.

Serafina verstand es nicht. Sollte sie sich weiter verstecken? Sollte sie kämpfen? Sollte sie fliehen? Die Hunde würden sie in Stücke reißen.

In dem Moment, als ihr klarwurde, dass sie fliehen musste, erkannte sie auch, dass es bereits zu spät dafür war. Sie hatte keine Chance mehr, den Jägern zu entkommen. Ihre Brust wurde eng. Die Beine versagten ihr den Dienst. Sie erstarrte vor Angst.

Nein! Nein! Nein! Tu’s nicht! Du bist keine Ratte! Du bist kein Streifenhörnchen! Du musst losrennen!

Im Angesicht des sicheren Todes tat Serafina, was jede vernünftige Kreatur des Waldes getan hätte: Sie sprang drei Meter hinauf in einen Baum. Sie landete auf einem Ast, wetzte ihn entlang und schwang sich mit einem verzweifelten Satz wie ein fliegendes Eichhörnchen zum nächsten Baum. Von dort aus sprang sie zu Boden und rannte wie der Teufel.

Die Hunde jaulten vor Wut und nahmen die Verfolgung auf. Sie kreisten sie ein wie ein Wolfsrudel ein Reh. Doch es waren Wolfshunde, sie waren nicht dazu bestimmt und gezüchtet, etwas so Kleines wie ein Reh zu jagen und zu töten. Sie waren dazu bestimmt, Wölfe zu jagen und zu töten.

Während sie rannte, warf Serafina einen Blick zurück zur Straße. Der Mann mit dem ledrigen Gesicht blickte zu der unheimlichen Eule hoch, die zu ihm zurückgeflogen kam. Dann warf er zu Serafinas Überraschung seinen Wanderstock in die Luft. Er wirbelte auf die Eule zu. Aber er traf sie nicht. Er schien zu verschwimmen und sich in der Dunkelheit aufzulösen, als die Eule in der Deckung der Bäume verschwand. Serafina wusste nicht, wer der Mann war oder was sie mitangesehen hatte, aber das spielte gerade auch keine Rolle. Sie musste um ihr Leben rennen.

Sich gegen einen einzigen springenden, beißenden, schnappenden, knurrenden Wolfshund zur Wehr zu setzen war schlimm genug, aber gegen fünf von ihnen zu kämpfen war ein Ding der Unmöglichkeit. Von Angst getrieben sprintete sie so schnell sie konnte durch den Wald. Sie würde nicht zulassen, dass diese grauenhaften Biester sie besiegten. Die kalte Waldluft schoss in ihre auf Hochtouren arbeitende Lunge, jeder Nerv in ihrem Körper sandte ein panisches Blitzlichtgewitter aus. Der erste Wolfshund war ihr dicht auf den Fersen. Er streckte den struppigen Nacken, öffnete zähnefletschend das Maul und biss sie in die Wade. Serafina fuhr herum und schlug kreischend vor Wut und Schmerz zu, als die Fänge des Hundes ihr Fleisch durchbohrten. Der Geruch nach Blut versetzte die anderen Hunde noch mehr in Raserei. Der zweite von ihnen sprang ihr in den Rücken und biss sie in die Schulter. Er verbiss sich knurrend in ihr, während sie ihm die Faust ins Gesicht rammte. Der dritte senkte seine Zähne in ihr Handgelenk, als sie versuchte, den Arm wegzuziehen. Zu dritt zerrten sie sie zu Boden. Dann kamen die anderen zwei Hunde mit gebleckten Zähnen hinzu, um die Beute zu erlegen, und stürzten sich auf ihre Kehle.

3

Als der Wolfshund auf sie zusprang, riss Serafina schützend den Arm vor den Hals. Anstatt ihre Kehle zu durchtrennen, vergruben sich die Reißzähne des Hundes bis zum Knochen in ihrem Unterarm. Der Schmerz schoss ihren Arm hinauf und sie schrie laut auf. Der zweite Hund wollte ihr gerade den tödlichen Biss verpassen, als ein faustgroßer Stein auf seinen Schädel krachte und ihn zurückwarf. Dann traf ein weiterer Stein einen der anderen Hunde und er wirbelte herum, um sich zu verteidigen.

»Uaaa!« Ein Kampfschrei erschallte aus der Dunkelheit, und ein Junge mit langen, wild flatternden Haaren stürzte sich ins Getümmel. Seine Arme wirbelten wie Windmühlenflügel, während er knurrend zuschlug, kratzte und Hiebe austeilte.

Vor Schmerz fast von Sinnen rammte Serafina dem Hund, der sich in ihren Arm verbissen hatte, den Handballen in die Nase und schaffte es so, ihn wegzustoßen.

»Steh auf! Los! Lauf!«, befahl der Junge ihr, ging auf zwei der Hunde los und machte so den Weg für sie frei.

Serafina kam stolpernd auf die Beine, bereit zu fliehen. Aber kaum hatte sie gedacht, der Junge und sie wären im Vorteil und würden es vielleicht schaffen zu entkommen, sprang einer der Hunde aus der Dunkelheit, rammte die Brust des Jungen und warf ihn um. Junge und Hund rollten wild knurrend und beißend über den Waldboden.

Der nächste Hund stürzte sich auf Serafina. Sie wich ihm aus, doch ein zweiter griff sie von der anderen Seite an.

»Du kannst diesen Bestien nicht lange davonlaufen!«, brüllte der Junge. »Du musst ein Versteck finden!«

Sie wich einem zuschnappenden Maul aus und einem zweiten und dritten, doch die Hunde bissen, bissen und bissen. Sie hieb einem auf den Kopf und boxte einen in die Schulter. Rückwärts laufend verteidigte sie sich vor den pausenlosen Angriffen, doch dann krachte sie in eine nackte Felswand und konnte ihnen nicht länger ausweichen. Sie ging kauernd in eine Angriffsposition und fauchte wie ein Tier, das in der Falle sitzt.

In dem Moment, als ein Hund zum Sprung auf sie ansetzte, riss der Junge ihn zu Boden.

»Los!«, rief er. »Da rauf!«

Serafina drehte sich um und versuchte, an der schartigen Felswand hinaufzuklettern, doch über den Stein rannen Wassertropfen, die ihn zu rutschig zum Klettern machten. Angetrieben von ihrem Fluchtversuch stürmten zwei der Hunde sofort auf sie zu. Sie trat ihre Köpfe immer wieder mit den Füßen weg. Sie schwang die Fäuste und schlug zu.

»Hör auf zu kämpfen, du Dummkopf! Klettere!«, brüllte der Junge. »Du musst fliehen! Bewahre den Mut!«

Gerade, als sie sich umwandte, um loszuklettern, warf sich einer der Hunde auf sie, doch der Junge sprang zubeißend und kratzend wie ein wildes Tier auf seinen Rücken. Außer sich vor Wut jaulte der Hund auf und fuhr wild zuschnappend herum. Die beiden gingen als kämpfendes Knäuel zu Boden. Zwei weitere Hunde stürzten sich Reißzähne voraus in die Schlacht.

Serafina ergriff die Gelegenheit, sprang auf, packte den Ast eines Rhododendrons und zog sich am Felsen hoch. Rasch fand ihr Fuß Halt auf einem anderen Ast. Sie nutzte die Rhododendronbüsche als Leiter und kletterte so schnell sie konnte die Klippe hinauf. Versucht das mal, ihr fingerlosen Köter!

Als sie außer Reichweite der Hunde war, blickte sie zurück. Zwei der Hunde rannten am Fuß des Felsens knurrend hin und her. Der mutigere und dümmere der beiden versuchte immer wieder, die glatte Wand hoch zu hechten, fiel jedoch jedes Mal zurück auf den Boden. »Rennt zu eurem Herrn zurück, ihr fiesen Hunde!«, fauchte sie in Erinnerung an die dunkle, schattenhafte Gestalt.

Doch als sie in den Wald blickte, war es nicht der Mann, nach dem sie Ausschau hielt. Sie konnte weder den Jungen noch die anderen drei Hunde entdecken. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, war er in einen schrecklichen Kampf verwickelt gewesen. Sie hätte nicht sagen können, wer im Vorteil gewesen war, aber es schien ihr unmöglich, dass er alle drei auf einmal hatte abwehren können.

Sie wartete und horchte in den Wald, hörte aber nichts. Die zwei Hunde, die ihr auf den Fersen gewesen waren, rannten am Fuß des Felsens entlang. Diese Bastarde suchen nach einem anderen Weg hier hoch, dachte sie.

Serafina musste weiter, bevor es zu spät war. Sie kletterte noch fünf Meter hinauf, bis sie das Felsplateau erreichte.

Keuchend und völlig ausgelaugt und an Kopf, Armen und Waden blutend ließ sie sich fallen. Mit Blicken suchte sie die Bäume unterhalb von sich nach dem Jungen ab.

Aber dort rührte sich nichts, es war kein Geräusch zu vernehmen. Wie hatten sie sich so schnell von ihr entfernt? Ging es dem Jungen gut? War er entkommen? Oder war er verletzt?

Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen, war noch nie jemandem wie ihm begegnet; jemandem, der sich so bewegte und so kämpfte wie er. Er hatte bräunliche Haut, einen schlanken, muskulösen Körper und lange, zottelige dunkelbraune Haare. Doch es waren seine Schnelligkeit und Wildheit gewesen, die den größten Eindruck bei ihr hinterlassen hatten. Sie nahm an, dass er so wie ihr Pa zu den einheimischen Bergbewohnern gehörte, die dafür bekannt waren, knallhart und gerissen zu sein. Aber der Junge hatte so verbissen gekämpft wie ein tollwütiger Rotluchs. Er hatte etwas beinah Animalisches an sich gehabt, so als habe er sein ganzes Leben in diesen Wäldern verbracht.

Sie stand auf und warf einen Blick auf das Gelände hinter sich. Flacher, steiniger Untergrund und ein Dickicht aus Büschen, das hinunter in eine breitere Schlucht führte. Sie war ziemlich sicher, dass sie wusste, wo sie war und wie sie nach Hause gelangen würde. Doch sie drehte sich um und blickte noch einmal über die Felskante. Der wilde Junge hatte ihr das Leben gerettet. Wie konnte sie ihn da einfach zurücklassen?

Die Schmerzen der Bisse und Kratzer, die sie sich im Kampf zugezogen hatte, brannten wie Feuer. Ihr war, als würde Stacheldraht ihr Fleisch durchbohren. Blut tropfte von einer Kopfwunde in ihre Augen. Sie musste nach Hause.

Sie blickte über die Baumwipfel in die Richtung, in der sie den Jungen zuletzt gesehen hatte. Sie wartete und lauschte, rechnete damit, Kampfgeräusche zu hören oder ihn vielleicht zu ihr hochschauen zu sehen. Oder sie würde, Gott bewahre, seinen blutenden, zerfetzten Körper leblos auf der Erde entdecken.

Hör auf zu kämpfen, du Dummkopf! Klettere! Seine Worte dröhnten in ihren Ohren, als wäre er immer noch da. Du musst fliehen!, hatte er gebrüllt.

Sollte sie fliehen, wie er es ihr befohlen hatte, oder sollte sie weiter Ausschau nach ihm halten, wie sie es gern getan hätte?

Sie wollte kein Geräusch machen und sich dem zu erkennen geben, was im Wald auf sie lauerte, aber sie wusste sich nicht anders zu helfen: Sie legte die Hände zu einem Trichter an den Mund und flüsterte: »Hallo! Hörst du mich?«

Dann wartete sie.

Es war nichts zu hören außer den Grillen und Fröschen und anderen nächtlichen Geräuschen des Waldes.

Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich verlangsamte, ihre Atemzüge schwächer wurden und ihre Beine schwerer. Wenn sie es noch nach Hause schaffen wollte, musste sie bald aufbrechen.

Sie wollte ihn nicht einfach allein kämpfend hier zurücklassen. So war sie nicht, sie ließ andere nicht zurück – oder vergaß sie.

Sie wollte mit ihm reden, seinen Namen herausfinden und wo er lebte, oder zumindest wissen, dass er in Sicherheit war. Wer war er? Warum war er mitten in der Nacht im Wald gewesen? Und warum war er willens gewesen, sich auf ein Rudel wilder Hunde zu stürzen, um sie zu retten?

Sie flüsterte noch einmal den Bäumen zu: »Bist du da irgendwo?«

4

Serafina erkannte, dass sie zu lange auf den Jungen gewartet hatte, als sie die zwei Wolfshunde von Norden her auf sich zukommen hörte. Sie hatten einen Weg den Felsen hinauf gefunden.

Sie sah sich um. Sie spähte einen Baum empor und überlegte, ob sie hoch genug klettern konnte. Dann erwog sie, den Felsen wieder hinunterzuklettern, um sie zu verwirren. Aber sie wusste, dass sie ganz auf sich gestellt die Nacht hier draußen nicht überleben würde. Der Junge hatte ihr befohlen wegzurennen.

Endlich rappelte sie sich auf.

Wer immer der Junge gewesen war, sie hoffte, dass es ihm gut ging. Bleib stark, mein Freund.

Sie tauchte in ein dichtes Gestrüpp aus Fichten und Tannen, die immergrünen Bäume standen so dicht nebeneinander, dass es war, als würde man durch ein Meer aus grünem Laub schwimmen. Während sie sich durch das Dickicht zwängte, schwanden ihre Kräfte und machten der Verwirrung Platz. Ihr knickten immer wieder die Beine ein, und sie konnte sich nicht auf das Gelände vor sich konzentrieren. Sie hob die Hand an den Kopf und erkannte, dass sie schlimm aus einem Riss in der Kopfhaut blutete. Das Blut rann ihr die Stirn hinunter bis in die Augen.

Serafina stolperte in dem Bewusstsein durch das Meer aus Bäumen, dass sie den Hunden nicht entkommen konnte. Die löchrigen Wunden in Armen und Beinen strahlten pulsierende Schmerzen aus. Sie musste sich das Blut aus den Augen wischen, um zu sehen, wo sie langlief. Die Äste der Nadelbäume waren so dick und reichten so hoch, dass sie weder Mond noch Sterne sah. Ihre dahineilenden Füße zertraten Stöcke auf der Erde, verursachten Geräusche, die sie normalerweise nicht gemacht hätte, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. Sie musste rennen, wie sie noch nie zuvor gerannt war. Doch selbst während sie zwischen den Bäumen durchschoss und sich immer wieder duckte, hörte sie noch die Stimme des Jungen: Du kannst diesen Bestien nicht lange davonlaufen! Sie hätte sich am liebsten umgedreht und gegen sie gekämpft, aber wenn sie sie im Dickicht der Bäume erwischten, würde es unmöglich sein, ihre Angriffe vorherzusehen. Sie würden sie mit Sicherheit umbringen. Sie musste weiterlaufen.

Plötzlich gaben die Bäume sie frei, und sie wäre fast Hals über Kopf eine Felskante hinunter in die tosenden Stromschnellen eines Wildwasserflusses gestürzt. Aufkeuchend packte sie den Ast eines Baums, um ihren Fall aufzuhalten.

Ein Blick über die Kante verriet ihr, dass sie den Fluss an dieser Stelle unmöglich überqueren konnte. Die Klippe war zu hoch, die Stromschnellen waren zu gefährlich. Egal, wie ich’s mache, mach ich’s falsch, dachte sie.

Sie wusste, dass sie Schutz suchen musste, aber in diesem Moment bestand der beste Schutz darin, ihren Geruch zu verbergen.

Sie zwang sich weiterzulaufen, rannte den Fels entlang, der hinunter zum Fluss führte.

Als sie einen Abschnitt unterhalb der Stromschnellen erreichte, versuchte sie, den Fluss schnell an der scheinbar ruhigsten und niedrigsten Stelle zu durchwaten. Sie war noch nie in tiefem Wasser gewesen und konnte nicht schwimmen. Sie kämpfte gegen den Sog des dahinbrausenden, knietiefen Wassers an, verzweifelt darum bemüht, das andere Ufer zu erreichen und den Wolfshunden zu entkommen. Der Gebirgsfluss war so kalt, dass ihre Beine schmerzten. Die Strömung war stark und schnell. Während sie Schritt für Schritt in die reißende Strömung setzte, spürte sie, wie die runden, algenbewachsenen Steine unter ihren suchenden Füßen wackelten und wegrutschten.

Serafina erreichte die Flussmitte. Das Wasser ging ihr jetzt bis zu den Oberschenkeln, was es immer schwerer machte, sich dagegenzustemmen. Doch sie kam gut voran. Sie dachte schon, dass sie es schaffen würde, als die Strömung sie von den Steinen unter ihren Füßen hob. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte in das eiskalte Wasser. Wild paddelnd und Wasser tretend bemühte sie sich, erneut Fuß zu fassen, doch der Grund des Flusses verschwand außer Reichweite, als die Strömung sie in tiefere Gewässer zog. Hustend und spuckend ruderte sie mit den Armen und schnappte jedes Mal nach Luft, wenn es ihr gelang, den Kopf über Wasser zu halten. Der Fluss trug sie auf die nächsten Stromschnellen zu.

Die Strömung sog sie in eine Scharte zwischen zwei riesigen Findlingen und schoss sie auf der anderen Seite wieder hinaus, wo sie in einem dunkelgrünen Tümpel Saltos schlug. Als ihr Kopf die Wasseroberfläche durchbrach, gelang es ihr, einen Atemzug zu ergattern, ehe der Fluss sie wieder in die Fänge bekam und in einen Wirbel tosender Wassermassen schleuderte. Der Strudel, der sie mit sich in die Tiefe riss, war so bodenlos, dass sie sich von ihrem Pa verabschiedete. Im nächsten Moment krachte ihr Körper in einen zerklüfteten Felsbrocken. Serafina versuchte, sich daran festzuklammern, aber die schnelle Strömung zog sie gleich wieder weiter. Sie hatte sich stets für stark gehalten, doch verglichen mit der Naturgewalt des Flusses war sie nicht mehr als ein Katzenjunges, das man ins Wasser geworfen hatte. Als die Stromschnellen sie endlich flussabwärts in ruhigeres Wasser entließen, kroch sie nass und zerschunden aus dem Fluss und brach erschöpft am steinigen Ufer zusammen.

Sie hatte es auf die andere Seite geschafft.

Ihr war klar, dass die Hunde ihr nachstellen würden, wenn sie ihr flussabwärts folgten und sie am anderen Ufer entdeckten. Sie musste aufstehen, musste weiterlaufen, aber ihre Arme und Beine gehorchten ihr nicht. Ihr gelang es noch nicht einmal, den Kopf zu heben. Das eiskalte Wasser und die brutale Gewalt des Flusses hatten jegliche verbliebene Kraft aus ihren Muskeln gesogen. Ihre Gliedmaßen zitterten. Während sie auf den vom Wasser umspülten Ufersteinen lag, kam ihr Biltmore, das sichere Zuhause, unglaublich fern vor, außerhalb ihrer Reichweite. Sie war so müde, dass sie kaum ein paar Schritte gehen konnte, geschweige denn die Kilometer, die dafür nötig gewesen wären. Die kleinen Wasserpfützen zwischen den Steinen, auf denen sie lag, wurden eine nach der anderen dunkel. Ihr war so kalt.

Sie fragte sich, ob der Junge tödlich verwundet im Wald lag, wo sie ihn zurückgelassen hatte, oder ob er immer noch mit den Wolfshunden kämpfte. Oder vielleicht war er ihnen ja entkommen. In Gedanken hörte sie seine Stimme. Lauf!, hatte er ihr zugerufen. Lauf! Aber sie konnte nicht rennen. Sie konnte sich nicht bewegen.

Sie wurde von einer Woge tiefschwarzer Ruhe erfasst, die sie einlud, einfach die Augen zu schließen und loszulassen. Ein Nebel aus Farben verschleierte ihr den Blick. Sie merkte, dass sie ohnmächtig zu werden drohte. Es wäre so leicht gewesen, einfach wegzudriften. Doch in ihrem Herzen brannte ein unbezwingbares Feuer. Steh auf!, befahl sie sich. Lauf nach Hause! Sie kämpfte darum, auf die Beine zu kommen, zumindest den Kopf zu heben.

Sie schlug die Augen auf und blinzelte durch das Blut. Das Gelände auf dieser Seite des Flusses war flach und freundlich, gesprenkelt mit Farnen und Birken, und so anders als die schroffen Klippen, die sie auf der gegenüberliegenden Seite hinter sich gelassen hatte. Sie sah ein Licht aus der Dunkelheit auf sich zukommen. Zuerst hielt sie es für das Funkeln eines Sterns, weil der Himmel klar war, aber es war nicht nur ein Licht. Es waren viele Lichter.

Ihre Brust hob sich in einem kraftlosen Atemzug, da sie einen Angriff befürchtete, doch benommen vor Angst hoffte sie noch, dass es eine Fackel oder Laterne wäre. Dass es ihr Pa wäre, der nach ihr suchte, so wie er es schon einmal getan hatte.

Aber dann sah sie, dass es sich bei den Lichtern nicht um die züngelnde Flamme einer Laterne handelte, sondern den funkelnden Flug lebendiger Wesen, die den Fluss hinunter auf sie zutanzten.

Sind es Glühwürmchen?, fragte sie sich, als sie näher kamen.

Doch sie waren viel größer und hellgrün, ihre Flügel schwirrten weiß-grün, weiß-grün während des Flugs, als wären es die Flügel leuchtender Schmetterlinge.

Aber es sind auch keine Schmetterlinge, dachte sie lächelnd. Es sind Lunamotten.

Die Motten ließen alles andere verblassen, sie waren hellgrün und leuchteten im Mondlicht. Hunderte von ihnen flogen zusammen den Fluss entlang, ihre langen Schwänze wehten hinter den lautlos flatternden Flügeln her.

Serafina hatte ihre erste Lunamotte eines Mittsommerabends in den Gärten von Biltmore entdeckt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sie wusste noch, dass ihr das Leuchten der Motte in der sternenhellen Nacht beinah magisch vorgekommen war. Während sie sie in der offenen Hand hielt, hatten sich die Flügel langsam auf und ab bewegt. Es war nur merkwürdig, so viele von ihnen zusammen auf der Reise zu sehen. Bildete sie sich das alles nur ein? Kündigte sich so der Tod an? Mit einer Erinnerung aus längst vergangenen Mitternächten?

Doch während sie den Flug der Lunamotten über das Wasser verfolgte, wurde ihr plötzlich klar, dass sie nicht nur tanzten. Sie reisten den Fluss entlang, als folgten sie ihm bis zu demjenigen, in den er strömte, und dann weiter zum nächsten und übernächsten, durch die Berge, den ganzen Weg bis hin zum Meer. Sie verließen diesen Ort. Genau wie die Vögel.

Serafina hörte die Wolfshunde auf der Klippe am anderen Ufer miteinander bellen und heulen. Sie waren auf dem Weg zu ihr.

Als die letzte Lunamotte verschwand, versuchte Serafina, sich auf die geschwächten Arme zu stemmen, aber sie hatte die Kraft nicht. Sie bemühte sich, auf die Beine zu kommen, schaffte es aber nicht.

Doch sie hatte die Lunamotten nicht ohne Grund gesehen. Davon war sie überzeugt.

Sie blickte sich suchend nach Deckung um und bemerkte ein paar Schritte entfernt einen Birkenhain. Während sie noch darüber nachgrübelte, wie sie den Schutz der Bäume erreichen könnte, sah sie ein Paar Augen in der Dunkelheit glühen.

Die Augen bewahrten Abstand, studierten sie.

Serafina erwiderte ihren Blick fest und atmete so gleichmäßig wie möglich.

Anfangs dachte sie, sie hätte die Position der Wolfshunde falsch eingeschätzt, dass sie den Fluss bereits überquert hatten und sie nun umzingelten. Aber es waren nicht die stechenden schwarzen Augen der Wolfshunde. Diese Augen waren goldbraun.

Erleichterung durchflutete sie.

Sie wusste, um wen es sich handeln musste.

Aber als die Kreatur aus dem Wald trat, durchzuckte Serafina große Angst. Ein Berglöwe, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, kam direkt auf sie zu. Es war ein junger Löwe mit dunklem Fell, aber er wirkte stark, unerschrocken und hungrig. Das war nicht die Kreatur, mit der sie gerechnet hatte.

Serafina bemühte sich hochzukommen, um sich zu verteidigen, aber es war sinnlos. Die Bestie hätte sie mit Leichtigkeit töten können.

Während sie noch überlegte, wie sie sich gegen diesen unbekannten Löwen zur Wehr setzen sollte, trat ein zweiter Löwe zwischen den Bäumen hervor.

Serafina atmete erleichtert auf. Es handelte sich um eine ausgewachsene, kraftvolle Löwin, eine Löwin, die sie gut kannte.

Wenn ihre Mutter in ihrer Löwinnengestalt war, war sie noch schöner, als sie es ohnehin schon war, mit dem dichten braunen Fell, den großen Tatzen und den straffen Muskeln, die vom vielen Jagen zeugten. Die leuchtend goldenen Augen in ihrem wunderschönen Gesicht blickten sie voller Klugheit an.

»Ich bin so froh, dass du es bist, Momma«, sagte Serafina und war überrascht, dass ihre Stimme tränenerstickt klang.

Doch noch ehe es Serafina gelang, eine Antwort in den Augen der Mutter zu lesen, wandte die Löwin plötzlich den Kopf um und spähte über den Fluss hinaus.

Da hörte Serafina es auch. Die Wolfshunde waren ihnen auf den Fersen. Und es waren nicht mehr nur zwei. Alle fünf waren wieder vereint, knurrten und bellten und grollten. Sie würden jeden Moment hier sein.

5

Serafinas Mutter trottete schnell auf sie zu und streckte sich flach neben ihr aus. Serafina verstand nicht, was sie da machte. Dann kam der dunkle Löwe dazu und stupste Serafina mit dem Kopf an. Zuerst dachte sie, die Löwen wollten sich an ihr reiben und Serafinas Geruch mit dem ihren überdecken, doch dann erkannte sie ihre wahre Absicht.

Serafina kletterte auf den Rücken der Mutter, sie klammerte sich an Nacken und Schultern fest. Seite an Seite mit dem dunklen Löwen brachte die Löwin sie in den Schutz der Bäume, erst langsam, dann schneller. Serafina spürte das Fell der Mutter an ihrem Gesicht und das kraftvolle Muskelspiel darunter. Die Löwin bewegte sich zügig durch den Wald. Bald darauf rannten sie.

Es war ein unglaubliches Gefühl, mit rauschhafter Geschwindigkeit durch die Nacht zu jagen, vorangetrieben vom schaukelnden Rhythmus der raumgreifenden Sätze der Löwin, die so mächtig, leise und schnell waren; Seite an Seite mit dem dunklen Löwen. Serafina hatte oft davon geträumt, so schnell zu rennen, aber sie war noch nie in ihrem Leben in einem solchen Tempo dahingeflogen. Was sie erstaunte, war, wie geschmeidig der Lauf war, wie agil die Bewegungen der Mutter, wie rasch sie in der Lage war, anmutig und kraftvoll zugleich sowohl Richtung als auch Geschwindigkeit zu ändern.

Als sie eine Anhöhe erreichten, blieben die zwei Löwen stehen und blickten zum Fluss hinunter. Sie beobachteten, wie die fünf Wolfshunde Serafinas Geruch bis zum Fluss verfolgten und ihn dann durchquerten. Aber sie schwammen auf kürzestem Weg ans andere Ufer, weil sie nicht wissen konnten, dass die reißende Strömung sie flussabwärts getragen hatte. Es war ihr in dem Moment wie eine Katastrophe vorgekommen, den Boden unter den Füßen zu verlieren und mitgerissen zu werden, doch nun erkannte sie, dass es ihr das Leben gerettet hatte. Die Wolfshunde schnüffelten am Boden, sie rannten verwirrt im Kreis. Sie hatten Serafinas Spur verloren. Und als sie am Flussufer auf- und abliefen, um die Spur wieder aufzunehmen, wuchs ihre Verwirrung noch.

Sie können mich nicht finden, dachte Serafina lächelnd und klammerte sich weiter am Fell der Mutter fest. Alles, was sie riechen, ist Silberlöwe.

Plötzlich setzten die Löwen sich wieder in Bewegung, sie jagten durch den Wald, sprangen über Rinnsale und Bäche, preschten durch Farne. Baumstämme und Äste flogen vorbei. Der Wind pfiff um Serafinas Ohren.

Sie rannten so lange durch die Nacht, dass Serafina die Augen zufielen und sie nur noch die schaukelnde Bewegung, die Kühle der Luft und die Wärme der Mutter wahrnahm.

6

S