Willa of the Wood – Die Geister der Bäume - Robert Beatty - E-Book

Willa of the Wood – Die Geister der Bäume E-Book

Robert Beatty

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Beschreibung

Die Zukunft der Wälder steht auf dem SpielDie Tiefen der Wälder, die endlose Weite der Berge – das ist die Heimat der jungen Willa, die die Sprache der Bäume und Tiere spricht. Doch die Welt um sie herum verändert sich. Die Menschen dringen immer weiter vor, roden die Bäume und nehmen den Waldwesen ihren Lebensraum. Als dunkle Schatten durchs Tal ziehen und die Wälder aufbegehren, findet Willa sich zwischen zwei Welten: Sie ist ein Kind des Waldes und doch gibt es Menschen, die sie liebt. Wie wird Willa sich entscheiden? Und wer ist das Mädchen, das ihr auf Schritt und Tritt folgt?Ein mitreißendes neues Abenteuer für Waldmädchen WillaAlle Bände der »Willa of the Wood«-Dilogie:Band 1: Das Geheimnis der WälderBand 2: Die Geister der Bäume

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Seitenzahl: 405

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Robert Beatty

Willa of the Wood

Die Geister der Bäume Band 2

Aus dem Englischen von Sabrina Sandmann

FISCHER E-Books

Inhalt

Die Großen Nebelberge1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162Danksagung
Die Großen Nebelberge

Die Erde ist weder flach noch rund.

Sie ist bergig.

1

Willa wandte sich dem Geräusch zu. Das laute, knallende Krachen von zerbrechendem Holz dröhnte wie Donner in der Waldluft. Dann folgte das regenartige Prasseln Tausender zersplitternder herunterkrachender Äste und zerreißender Blätter. Als der riesige Baumstamm schließlich auf der Erde aufschlug, erzitterte der Boden unter Willas nackten Füßen. Dann fegte ein Windstoß durch den Wald und durch Willas langes, wie Rinde und Moos gefärbtes Haar. Und als ihr klarwurde, was gerade passiert war, zog sich ihre Brust schmerzhaft zusammen: Die menschlichen Holzfäller hatten die riesengroße Tanne an der Flussbiegung gefällt.

Erstarrt wie ein junges Reh stand sie da.

Schon oft hatte sie an sonnigen Morgen neben diesem Baum gesessen und dem Fluss dabei zugesehen, wie er an dessen Wurzeln vorüberfloss. Und auch mit ihrer Zwillingsschwester hatte sie sich in nebligen Nächten in diesem Baum zusammengerollt und durch dessen ausgestreckte Zweige zum Großen Nebelberg und dem darüber schwebenden Mond hinaufgeschaut. Ihr ganzes Leben lang hatten die Bäume des Waldes sie verborgen und beschützt. Sie hatten ihr Trost gespendet, nachdem ihre Schwester getötet worden war. Sie waren ihre Erde und ihre Wurzeln, ihr Sonnenlicht und ihr Lebenslied.

Doch jetzt hörte sie, wie die Axtmänner die Bäume zerhackten und zersägten und wie sie sich gegenseitig anschrien, hörte ihre barschen, gebrüllten Worte durch die Baumkronen kreisen wie zankende Raben. Die Stacheln in ihrem Nacken stellten sich auf, und eine Hitzewelle durchfuhr ihren Körper. Sie wusste, dass sie diesem Schlachtfeld entfliehen und ihre grüne Haut mit den Blättern des Unterholzes verschmelzen sollte, um sich vor den Augen der herannahenden Menschen zu verbergen. Dass sie vor ihren stampfenden Füßen und ihren schneidenden Klingen flüchten musste.

Aber wie konnte sie weglaufen, wenn ihre Freunde starben? Wie konnte sie ihnen einfach den Rücken kehren?

Sie musste die Holzfäller aufhalten, doch sie hatte weder scharfe Krallen noch lange Zähne. Verfügte weder über Waffen noch über kämpferisches Wissen. Sie tat anderen Lebewesen nicht weh, sie half ihnen.

Die menschlichen Holzfäller dagegen besaßen gezackte Metallsägen, Äxte, Messer, Gewehre, angekettete Tiere, riesige Metallvorrichtungen, um die ermordeten Bäume aus dem Wald zu transportieren, und schwarze, rauchende Ungeheuer, die auf schimmernden Schienen rollten. Und sie war nur ein einzelnes, dreizehnjähriges Faeran-Mädchen ohne Clan. Wie könnte sie jemals die Männer des Eisens bekämpfen?

Der donnernde Sturz eines weiteren Baumes krachte wie eine Welle durch den Wald, und der Luftzug des Falls streifte ihre Wange.

Willa pochte das Herz wild in der Brust.

Sie wusste, dass sie die Bäume nicht auf dieselbe Weise beschützen konnte, wie die Bäume es schon immer für sie getan hatten. Sie konnte sie nicht verhüllen und verbergen oder vor aller Welt verstecken.

Aber sie konnte sie auch nicht einfach im Stich lassen.

Mit zitternden Beinen machte Willa ein paar unsichere Schritte. In ihren Augen standen brennende Tränen.

Und dann rannte sie auf das Geräusch der umstürzenden Bäume zu.

2

Willa bahnte sich einen Weg durch dichtes Dornengestrüpp und raunte den stacheligen Pflanzen geflüsterte Worte zu, damit sich die spitzen, krallenartigen Dornen beiseiteschoben und über ihre nackte Haut und die Tunika aus gewebtem Schilf glitten, ohne sie zu zerreißen.

Anschließend huschte sie durch eine Gruppe hoch aufragender Kiefern, der Boden bedeckt von weichen, nassen Nadeln, die unter ihren Füßen schmatzten.

Der Geruch nach brennendem Unterholz drang ihr in die Nase, und sie schürzte angewidert die Lippen. Rauch waberte durch den Wald und brannte ihr in den Augen, und die Luft war erfüllt von dem Gestank ausgelaufenen Baumsafts.

Willa kroch weiter durch das blättrige Unterholz, beruhigte dabei ihren Atem. Ihre Haut an Gesicht und Armen kribbelte, als sie sich den Farben der Blätter und Zweige um sie herum anpasste. Dünne grüne Ranken wuchsen ihr über Gliedmaßen und Oberkörper, verbargen sie, als wüssten sie, dass sie mehr den Pflanzen selbst als den Holzfällern glich.

Endlich erreichte sie die Kante einer felsigen Schlucht, duckte sich tief und blickte hinüber zur anderen Seite.

Die Stämme der Eichen, Kastanien und Tulpenbäume – all ihrer toten Freunde – lagen in lange, hilflose Abschnitte zerteilt auf dem Boden, die Äste zerbrochen, die wunderschönen Blätter zerfetzt und zerquetscht und die Rindenhaut löchrig und gerissen. Willa wusste, dass sie leise sein musste, aber sie kam nicht umhin, beim Anblick dieses Gemetzels aufzuschreien. Galle stieg ihr vom Magen in die Kehle und brannte im Rachen, als sie sie wieder hinunterschluckte. Die menschlichen Holzfäller hatten viele der dort stehenden Bäume abgesägt und hackten nun mit ihren Äxten und Hämmern auf sie ein, zerrten an ihnen mit Flaschenzügen und Ketten und zerteilten sie Stück für Stück.

Überall an den Rändern des Rodungsgebiets standen Männer mit Gewehren in den Händen und spähten in den Wald hinaus. Sie sahen aus wie örtliche Jäger, mit dichten Bärten, Waschbärenfellmützen und Messern am Gürtel. Allerdings jagten sie nicht. Sie schienen die Holzfäller zu beschützen. Während des letzten Jahres hatte Willa mehr und mehr Holzfällermannschaften beobachtet, die in die Berge vorgerückt waren, aber noch nie hatte sie solche Wachmänner bemerkt. Etwas musste passiert sein. Hatten sie Angst vor den Wölfen und anderen wilden Tieren, die ihrem Glauben nach in dem uralten Wald umhergeisterten, den sie töteten?

Früher hatte sie die langen Metallgewehre als Töteeisen bezeichnet – abscheuliche, geheimnisvolle Waffen, die Tiere aus großer Entfernung ermordeten –, doch seitdem hatte sie so viel dazugelernt, über die Menschen und ihr eigenes Volk, über Schusswaffen und Bäume, über Gier und Liebe und auch über sich selbst.

Als sie nun über die Schlucht blickte, sah sie die gewaltige Tanne, wegen der sie hergekommen war. Entsetzt erkannte sie, dass ihr alter Freund – dessen gewaltige Äste einst hoch in den Himmel aufgeragt hatten – nun auf dem Waldboden ausgestreckt lag wie ein umgestürzter Riese.

Bei seinem Fall hatte der gewaltige Baum viele seiner Artgenossen um sich herum mitgerissen, war nicht länger ihr Verbündeter und Beschützer, sondern ihr Zerstörer. Auf seinem abgesägten Stumpf standen nun mehr als ein Dutzend Männer.

Ihre Großmutter hatte ihr erzählt, dass dieser Baum schon vor über fünfhundert Jahren aus dem Boden gesprossen war und seine ersten Nadeln der Sonne entgegengereckt hatte und dass er dem Faeran-Clan, der an den Hängen dieser Berge lebte, seither ein geliebter Freund gewesen war. Und nun jubelten und beglückwünschten sich diese Männer dafür, eine solch gewaltige Beute gemacht zu haben.

Die Holzfällermannschaft hatte auch viele kleinere Bäume gefällt – Buchen und Ahorne –, und nun zogen Maultiere ihre Kadaver über meilenlange Abhänge zu dem Holztransportzug ein Stück weiter den Berg hinunter. Auch ganz junge Birken und Traubenkirschen waren ihnen zum Opfer gefallen, die schlanken grünen Schösslinge abgehackt, zertrampelt und zu Tode gezerrt. Willa biss die Zähne zusammen und atmete tief durch die Nase ein, um sich zu beruhigen. Aber es war vergebens. Sie hatte es schon zuvor erlebt: Die Menschen würden nichts als toten, kahlen Boden hinterlassen.

Als sie zu der Tanne hinüberspähte, stellte sie fest, dass ihr Freund noch immer lebte, obwohl die Menschen seinen Stamm durchtrennt hatten, dass sein Saft noch immer durch den Stamm und die Äste zirkulierte, die Blätter Sonnenlicht einfingen und Sauerstoff wieder ausatmeten. Die Bäume um ihn herum würden den Baumstumpf weiterhin durch ihre miteinander vernetzten Wurzeln mit Nährstoffen versorgen und versuchen, ihren verwundeten Bruder am Leben zu halten. Denn Bäume konkurrierten nicht um Sonnenlicht und Wasser, sie kooperierten, hielten einander aufrecht, schützten einander vor Wind und teilten die Nährstoffe untereinander auf, wobei die Stärkeren den Schwächeren aushalfen. Auf dem Waldboden liegend dauerte es Monate, manchmal sogar Jahre, bis ein Baum starb, und selbst dann war er nicht vollkommen tot. Flechten und Pilze und winzige Blumen wuchsen aus seinen Flanken. Die kleinen Ansätze neuer Bäume entsprangen aus seinen Wurzeln. Käfer und Tausendfüßler und andere winzige Geschöpfe lebten unter seiner alternden Rinde. Und Füchse errichteten ihre Baue in seinen hohlen Stämmen. Ein Baum im Wald starb nicht im herkömmlichen Sinne des Wortes – er verwandelte sich vielmehr in Tausende neue Leben.

Doch nichts davon würde hier passieren. Die Menschen lösten die Rinde vom Stamm der gefällten Tanne, denn deren Holz hatte für sie keinen Wert. Dafür gierten sie nach der Säure der Gerbrinde, welche sie benutzten, um die Haut toter Tiere zu Kleidung zu verarbeiten, die sie tragen konnten. Sobald sie alle Rinde von ihrem Freund entfernt hatten, würden sie den Stamm und die Äste erst in Abschnitte zerteilen, diese fortzerren und schließlich in Tausende lange, rechteckige Stücke zersägen, welche sie als Abfallholz verkauften.

Willa wollte dem Baum helfen, seine Wunden heilen, den Saft daran hindern, aus seiner uralten Seele zu sickern, ihn wieder hinauf in den Himmel steigen lassen – genau wie sie es für so viele der Pflanzen im Wald bereits getan hatte. Aber die Holzfäller waren einfach überall, umringten ihn, attackierten ihn. Und selbst wenn sie irgendwie an ihnen vorbeikommen würde, wäre die gewaltige Tanne zu groß, als dass sie sie heilen oder wiederaufrichten könnte. Es hätte bestimmt hundert Faeran-Waldhexen bedurft, um solch eine Tat zu vollbringen. Und soweit sie wusste, war sie die letzte Waldhexe auf dieser Welt, denn ihre Großmutter, die Willa all ihre Waldfertigkeiten beigebracht hatte, war vor einem Jahr gestorben.

Also schaute sie hilflos vom Wald am Rand der Schlucht zu, überlegte, was sie tun könnte. Sie wusste, dass sie eigentlich nicht hier sein sollte. Die Menschen, die Maschinen, die Gewehre, die umstürzenden Bäume … all das war viel zu gefährlich. Nathaniel und Hialeah, ihr Adoptivvater und ihre Adoptivschwester, wären wütend auf sie, wenn sie herausfanden, dass sie so nah an die Holzfäller herangeschlichen war.

Aber solange sie im Wald blieb, konnte sie die Farbe ihrer Haut, Haare und Augen an ihre Umgebung anpassen, so dass die Menschen sie niemals entdecken würden.

Als die Männer den Stamm eines weiteren Baumes zersägten und laut eine Warnung riefen, bevor er zu Boden stürzte, erfüllte ein stechender Schmerz Willas Brust, und Tränen stiegen ihr in die Augen, durch die sie kaum noch etwas sehen konnte. Sie war so fokussiert auf die entsetzlichen Taten der Holzfäller auf der anderen Seite der Schlucht, dass sie ihrer Umgebung keine Aufmerksamkeit schenkte.

Und das war ein Fehler.

Denn als ein lautes, klagendes Brüllen und schwere, stampfende Schritte direkt hinter ihr ertönten, zuckte Willa vor Schreck zusammen. Sie wirbelte herum. Nur wenige Schritte von ihr entfernt befand sich ein Bär. Und er stürzte direkt auf sie zu.

3

Der Bär stürmte mit seinen scharfen Zähnen und spitzen Krallen auf Willa zu. Sie duckte sich tief und hob die Arme schützend über den Kopf. Doch dann drehte er in letzter Sekunde ab und lief in die andere Richtung davon. Willa blinzelte verwirrt und fragte sich, was passiert war. Da machte der Bär schon wieder kehrt und kam erneut auf sie zu. Er schwang sich auf die Hinterbeine, ragte hoch und gewaltig auf, stand jedoch von ihr abgewandt. Dann ließ er sich wieder auf alle viere fallen, stampfte mit den Vordertatzen auf den Boden, blies Luft durch das Maul aus und klackte mit den Zähnen. Offensichtlich wollte der Bär sie nicht angreifen. Er schritt nur an der Kante der Felswand auf und ab und blickte in die Schlucht hinunter.

Willa kroch vor und spähte über die Kante.

Ihr Herz machte einen Sprung, als sie das kleine Schwarzbärenjunge am Grund der Schlucht festsitzen sah, durch die ein schnell fließender Fluss den Berg hinunterströmte. Der kleine Bär scharrte mit seinen kleinen Tatzen an der Felswand, versuchte verzweifelt, zu seiner Mutter hinaufzuklettern. Willa sah einige Augenblicke lang dabei zu, wie er es immer und immer wieder wimmernd und sich festkrallend probierte. Doch er war noch ganz winzig, und all seine Bemühungen blieben erfolglos.

Denn immer wenn er es einen Meter oder zwei hinaufgeschafft hatte, schlitterte er wieder hinab und brüllte zu seiner Mutter hoch über ihm hinauf.

»Komm schon, Kleiner, du kannst das …«, flüsterte Willa ihm zu.

Schließlich gelang es dem Bärenjungen, auf einen niedrigen Felsbrocken zu klettern, und so befand es sich nun ein Stückchen höher.

»Gut so …«, ermutigte Willa ihn.

Von dort aus bahnte sich das Junge langsam einen Weg die nackte Felswand hinauf, hakte seine Krallen in Ritzen und Spalten im Gestein und zog sich hoch. Je höher es kam, desto selbstsicherer wurde es, so dass seine kurzen Beine sich immer fester abstießen, während es schneller und schneller hinaufkletterte.

»Bitte fall nicht runter …«, hauchte Willa, und ihr Herz schlug schneller, während sie den Bären weiter beobachtete. Sie konnte es kaum glauben, aber gleich hatte er es geschafft. Der kleine Kerl erklomm die Wand immer weiter, direkt zu seiner Mutter hinauf. Er kletterte an vorstehenden Felsnasen und großen Gesteinsbrocken vorbei. Er schafft es tatsächlich!

Doch dann, ganz oben am Abhang, nur ein oder zwei Meter von seiner Mutter entfernt, kam er zu einem Bereich mit losem Schotter, der unter seinen Tatzen zerbröckelte. Er scharrte wie wild mit den Klauen, aber es gab einfach nichts, woran er sich festkrallen konnte. Und so schlitterte der kleine Bär die Felswand wieder hinunter, alle viere von sich gestreckt in dem verzweifelten Versuch, sich irgendwo festzuhalten, während er im Fallen nach seiner Mutter heulte. Er schlug auf einer Felsnase auf und purzelte dann weiter und weiter hinab, den gesamten Weg durch die Felsbrocken und zerklüfteten Steine zurück, bis sein kleiner schwarzer Körper am Grund der Schlucht aufkam und ins Wasser fiel. Willa keuchte auf. Das Bärenjunge lag einfach nur da, halb im Wasser, halb auf den Steinen. Völlig reglos.

Seine Mutter schnaubte und lief wieder auf und ab. Dann schob sie ihre gewaltigen Schultern über die Kante und versuchte, zu ihrem Jungen hinunterzugelangen, aber sogleich rutschte der Schotter unter ihren Tatzen weg und zwang sie zum Rückzug. Ein weiterer Schritt, und sie würde in den Tod stürzen.

Während Willa das winzige schwarze Häufchen am Grund der Schlucht beobachtete, atmete sie einmal, zweimal, dreimal tief sein. Steh auf, kleiner Bär, steh auf! Viermal, fünfmal, sechsmal …

Endlich bewegte sich das Häufchen. Willa schöpfte erleichtert Luft. Der kleine Bär rappelte sich auf und schüttelte sich. Dann spähte er hinauf zum Felsvorsprung und rief erneut nach seiner Mutter. Sie antwortete ihm mit einem Grunzen, ermutigte ihn, es noch einmal zu versuchen.

Willa blickte zur anderen Seite der Schlucht. Die Holzfäller zerhackten und zerteilten immer noch die Bäume. Und die Wachmänner mit ihren Gewehren hatten die Bären noch nicht bemerkt, aber Willa wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sich das änderte.

Sie holte ein paarmal langsam und tief Atem … ein und aus … ein und aus … versuchte, die Situation zu durchdenken.

Geh niemals in die Nähe der Rodungsgebiete, Willa, hatte ihr Vater sie schon viele Male gewarnt. Dort ist es zu gefährlich, ganz besonders für dich.

Willa wusste, dass er recht hatte. Die Welt veränderte sich, und sie konnte es nicht aufhalten. Sie konnte nichts tun, um die Bäume vor den Holzfällern zu schützen. Doch als sie aus dem Blätterwerk herausspähte, dachte sie, dass sie zumindest der Bärenmutter und ihrem Jungen helfen konnte. Vielleicht würde sie diese eine gute Tat vollbringen können.

Also trat sie aus dem Schutz der Bäume heraus. Dann rannte sie an der Bärenmutter vorbei, drehte sich um und schlitterte mit den Füßen voran über die Kante des Abhangs.

Sie stürzte die steile Schluchtwand hinab, fuhr mit den Händen über das zerklüftete Felsgestein in dem Versuch, ihren Fall zu verlangsamen. Die Schlucht war so tief, wie ein Baum hoch war. Und als sie schließlich unten ankam, war sie völlig außer Atem, und ihre Handflächen und Finger bluteten.

Ihre Haut kribbelte, als sie sich reflexartig mit dem Grau und Braun der Felsen um sie herum verschmolz. Sie hatte gedacht, dass das Einswerden mit ihrer Umgebung sie beruhigen würde, sie aufatmen lassen würde, doch dann zuckte ihr Ohr. Sofort blickte sie hinauf zur anderen Seite der Schlucht, erwartete, die Holzfäller oder irgendeine andere Art von Gefahr zu sehen. Denn ihre Sinne trogen sie selten. Sie suchte die Felswand ab. Aber seltsamerweise war dort niemand zu erkennen.

Also bahnte sie sich einen Weg durch die Felsbrocken zu dem Bärenjungen. Der winzige Bär starrte sie mit seinen kleinen braunen Augen flehend an. Er winselte immer lauter, je näher sie kam, wollte sie so schnell wie möglich bei sich haben. Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte er panisch die Flucht vor ihr ergriffen. Willa war zwar nicht seine Mutter, aber er wusste instinktiv, dass sie ihm helfen wollte.

»Dela dua mar, eeluin«, flüsterte sie in der Faeran-Sprache. Lass uns gehen, mein Kleiner.

Gerade, als sie die Hände ausstrecken und das Bärenjunge in ihre Arme heben wollte, spürte sie ein Prickeln in ihren Nackenstacheln. Blitzschnell wandte sie sich um und schaute zur Schluchtwand hinüber. Gänsehaut lief ihr kühl über die Arme. Irgendetwas war dort, selbst wenn sie es nicht sehen konnte. Da war sie sich ganz sicher. Als sie den Blick über die Felsen gleiten ließ, konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken, doch eines stand fest: Sie und das Bärenjunge mussten so schnell wie möglich von diesem Ort verschwinden.

Sie beugte sich hinunter und hob den kleinen Bären auf ihre Schultern. »Telic meh una, eeluin.« Jetzt müssen wir klettern, mein Kleiner.

Das Bärenjunge wusste genau, was zu tun war, und klammerte sich an ihren Rücken, indem es die Beine fest um ihren Oberkörper schlang. Willa zuckte zusammen, als sich die Krallen des kleinen Bären in ihre Seiten bohrten. Sie konnte kaum atmen, aber wenigstens war sie sicher, dass er nicht herunterfallen würde.

Willa hörte das Geräusch von knirschendem Schotter. Sofort wirbelte sie herum, bereit zum Angriff. Doch wieder war dort niemand. Sie runzelte die Stirn, betrachtete die Felsbrocken. Sie hätte schwören können, dass sich jemand von hinten an sie heranschlich. Aber im Augenblick hatte sie keine Zeit weiterzusuchen.

Sie wandte sich wieder der Felswand zu und begann zu klettern. Ihre Finger krallten sich in schmale Gesteinsrisse, und ihre Zehen ertasteten kleine Felsnasen, von denen sie sich abdrücken konnte, aber das Gewicht des Bärenjungen auf ihrem Rücken erschwerte den Aufstieg sehr viel mehr, als sie erwartet hatte. Sie streckte sich nach einem Haltegriff über ihrem Kopf und versuchte, sich daran hinaufzuziehen, doch ihre Finger waren blutig und sie rutschte ab. Willa zog sich der Magen zusammen, während sie hektisch um sich griff, um irgendwo Halt zu finden. Da schob Willa plötzlich etwas von unten hinauf. Echte Hände stießen sie nach oben. Und dann stützte eine Schulter sie.

»Ich hab dich«, sagte eine Mädchenstimme.

»Was … Wer bist du?«, stotterte Willa und schaute nach unten, aber sie konnte nicht erkennen, wer ihr da half.

»Kletter einfach weiter!«, antwortete das Mädchen und schob sie weiter.

Da Willa wusste, dass das ihre einzige Chance war, streckte sie erneut den Arm aus, krallte ihre Finger in einen Felsspalt und zog sich hoch. Dann packte sie den Riss darüber und reckte sich nach dem nächsten. Immer weiter hangelte Willa sich hinauf, von einem Haltegriff zum nächsten, und das sich festklammernde Bärenjunge winselte, während sie höher und höher hinaufstiegen.

»Jetzt schaffst du’s!«, kam die Stimme vom Grund der Schlucht her.

Willa blickte hinunter und sah das blasse Gesicht eines Menschen-Mädchens zu ihr heraufspähen. Es schien zwölf oder dreizehn Jahre alt zu sein, und sein langes Haar hatte die Farbe von Weizen.

»Weiter, du kannst das!«, rief das Mädchen zu ihr hinauf und nickte ermutigend. »Aber du musst dich beeilen – sie kommen!«

Willa wollte sich nicht von dem Mädchen abwenden. Doch sie fühlte ihre Muskeln zittern und ihre Finger von den Haltegriffen abrutschen.

Wieder langte sie zum nächsten Felsspalt hinauf und weiter zum nächsten. Sie kletterte an dem größten der Felsbrocken und den zerklüfteten Steinen vorbei. Nun war sie fast oben. Als sie einen Büschel kleiner gelber Blumen erblickte, die über die Kante der Steilwand ragten, keuchte sie hoffnungsvoll auf. Sie musste nur noch diese Blumen erreichen! Doch dann brach die Felsnase unter ihrem rechten Fuß weg, und sie rutschte ab. Halb kletternd, halb rennend kraxelte sie die Schluchtwand hinauf, hatte keine andere Wahl als hinaufzukrabbeln, so schnell sie konnte, während ihre Hände und Füße Schotter hinter ihr verstreuten. Der kleine Bär quiekte angstvoll. Die brüllende Mutter stampfte auf dem Boden über ihnen auf. Mit einem letzten verzweifelten Satz warf sich Willa nach oben und packte die enorme Pranke der Bärenmutter, klammerte sich mit den Fingern an die dicken, gebogenen Krallen. Die stampfende Bewegung der riesigen Bärin zog sie nach oben. Willas Arm schrammte über einen Stein, der die Haut aufschürfte. Ihr Gesicht wurde in die Erde gedrückt, und Dreck drang ihr in den Mund. Doch sie hielt sich weiter fest. Sobald sie die hölzernen Ranken des Jasmins oben am Rand der Felswand unter ihren Händen spürte, keuchte sie: »Florena!«, und die Pflanze wand sich um ihre Handgelenke und Finger, packte sie fest. Zuerst hievte sie ein Knie über die Felskante und dann ein Bein. Nach Luft ringend kletterte sie endlich wieder auf ebenen Boden und brach erschöpft zusammen. Die Ranken zogen sich zurück, und das Bärenjunge taumelte von ihr fort.

Schnell kroch Willa zurück zur Kante und blickte hinunter in die Schlucht. Doch das Mädchen mit dem Weizenhaar – wo immer es hergekommen war – hatte sich in Luft aufgelöst.

Endlich waren die Bärenmutter und ihr Junges wieder vereint, sie stupsten sich an und rieben sich aneinander, stießen tiefe, rhythmisch pulsierende Laute aus, und Willa wusste, dass sie damit ihre große Freude über das erneute Beisammensein ausdrückten. Als die Bärenmutter sich auf die Hinterbeine setzte und das Junge in eine schwungvolle Umarmung zog, erwischte sie auch Willa und hielt schließlich sowohl sie als auch das Kleine gegen ihren Körper gedrückt, kuschelte ihre gewaltige Schnauze an sie beide. Willas Haut nahm die schwarze Färbung und die Struktur des Bärenfells an, und so verschwand sie in der Brust der Bärenmutter. Die Wärme des Bärenkörpers und der schwere, moschusartige Geruch hüllten sie ein. Das dicke Fell drückte sich gegen ihren Mund und ihre Nase und nahm ihr fast die Luft zum Atmen, aber Willa machte das nichts aus. Sie war einfach nur froh, dass sie den beiden hatte helfen können.

»Seht mal da drüben!«, rief ein Mann von der anderen Seite der Schlucht herüber.

Willa zuckte zusammen und zog den Kopf ein. Auf der anderen Seite versammelten sich die Holzfäller und Wachmänner, und einige zeigten in ihre Richtung.

»Da ist ein Bär!«, rief einer der Holzfäller.

»O Mann, seht ihn euch an«, erwiderte ein anderer. »Der wiegt doch mindestens hundertfünfzig Kilo!«

Die Bärenmutter begriff, dass von den Menschen eine Gefahr ausging, und eilte fort. Knurrend gab sie ihrem Jungen zu verstehen, dass es in ihrer Nähe bleiben sollte. Und auch Willa rannte mit ihnen mit, tief geduckt, während sie sich weiter mit dem schwarzen Fell verschmolz.

Ein stämmiger, befehlshaberischer Mann auf einem dunkelbraunen Pferd ritt auf die anderen Männer bei der Schlucht zu. »Steht nicht nur hier rum und gafft«, befahl er. »Mit dem können wir das ganze Camp versorgen. Erlegt ihn!«

Die Wachmänner hoben ihre Gewehre an die Schultern und schossen.

Willa schrie und schlang ihren Körper um das Bärenjunge, als Gewehrschüsse den Himmel zerrissen.

4

Die Kugeln trafen in rascher Folge.

Das kleine Bärenjunge in Willas Armen zuckte zusammen und klammerte sich wimmernd an sie.

Die Bärenmutter blieb stehen und sackte mit einem kehligen Stöhnen auf dem Waldboden zusammen, da ihr eigenes Gewicht ihr die Luft aus der Lunge drückte. Willa wurde mit ihr hinuntergezerrt. Das Bärenjunge befreite sich aus ihren Armen und kuschelte sich an das dicke schwarze Fell der Brust seiner Mutter.

Die Bärenmutter grunzte ihrem Jungen zu und versuchte, es mit einem Schwung ihrer Tatze näher zu sich zu holen, doch es hatte keinen Zweck. Sie war zu schwach. Willa sah hilflos dabei zu, wie die Bärin sich bemühte, den riesigen Kopf umzuwenden und ihre einst so kraftvollen Beine zu bewegen, um ihr Junges in Sicherheit zu bringen, aber das schwerverletzte Tier war unfähig, sich vom Boden zu erheben.

Willa atmete immer schneller und schneller, und ihre Brust schnürte sich zusammen. Es fühlte sich an, als würde sie ersticken. Sie drückte ihre zitternden Hände auf die Schusswunden, um die Blutung zu stoppen. »Neah da eesha«, flüsterte sie. Du musst durchhalten. Aber die warme Flüssigkeit quoll zwischen ihren Fingern hervor. Sie konnte sie einfach nicht aufhalten.

»Der Bär bewegt sich noch!«, rief einer der Männer, während er von der anderen Seite der Schlucht herüberdeutete.

»Nein, sie hat ein Junges bei sich!«, erklärte ein anderer.

»Aber siehst du das nicht? Da ist noch was anderes neben ihr …«, ergänzte ein weiterer, seine Stimme schrill vor Angst.

Willa duckte sich noch näher an den Körper der Bärenmutter, die Hände schwarz und rot, während sie sie auf die Wunden der Bärin presste. »Neah da eesha«, flüsterte sie erneut, aber inzwischen war der Kopf der Bärenmutter zur Seite gesackt, und sie nahm langgezogene, schwerfällige Atemzüge, als wäre das das Einzige, wozu sie noch imstande war.

Das kleine Bärenjunge drückte seine Schnauze gegen das Maul der Mutter und machte leise, drängelnde Geräusche, flehte sie an aufzuwachen. Willa sah ihm an, dass es nichts sehnlicher wollte, als von diesem schrecklichen Ort und den Menschen zu fliehen, aber es würde sie auch nicht zurücklassen.

»Wir brauchen das Fleisch«, sagte der Vorarbeiter, zog an den Zügeln und drehte sein Pferd herum. »Rüber mit euch, und bringt die Sache zu Ende.«

Die drei Wachmänner schlangen sich ihre Gewehre über die Schultern und kletterten in die Schlucht hinunter.

Panik ergriff Willas Brust. »Un dae uusa!«, trieb sie die Bärenmutter an, drückte gegen ihren Körper, versuchte, sie auf die Beine zu bringen. Wir müssen weg hier!

Doch es war unmöglich.

Die drei Männer, die inzwischen den Grund der Schlucht erreicht hatten, waren mit Lederjacken bekleidet, die sie aus der Haut von Tieren machten, die sie selbst getötet hatten. Einer hatte eine Waschbärenfellmütze auf dem Kopf. Ein anderer trug ein Halsband, das allem Anschein nach aus Bärenkrallen gefertigt war. Und alle drei hatten Messer in ihre Ledergürtel gesteckt.

Als sie die Schluchtwand zu ihr und der Bärin erklommen, konnte Willa den Gestank ihrer Körper und den beißenden Geruch von Schießpulver riechen. Sie hangelten sich die Felswand hinauf, genau wie sie selbst nur wenige Minuten zuvor.

Willa atmete schwer. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Der kleine Bär grunzte und quiekte, während er weiter den Kopf seiner Mutter anstupste.

»Un dae uusa!«, flehte Willa die Bärenmutter erneut an.

Die Bärin öffnete ihre dunkelbraunen Augen und blickte sie einfach nur an.

Sie verständigten sich nicht mit Lauten. Aber Willa erkannte am Ausdruck in ihren Augen, was die Bärenmutter von ihr wollte.

Nur glaubte Willa nicht, dass sie in der Lage war, es zu tun. Doch dann schluckte sie schwer und nickte schließlich, berührte die Schnauze der Bärenmutter sanft mit der Hand. »Un daca«, flüsterte sie. Ich verspreche es.

Willa wandte sich den drei finster dreinblickenden Menschen zu, die wie knurrende Raubtiere über die Felskante kletterten. Sie zogen ihre langen, scharfen Metallmesser und kamen auf sie und die Bärin zu.

Willa hatte nun keine andere Wahl. Sie wusste, was zu tun war.

5

Willa sprang auf.

»Achtung!« Einer der erschrockenen Jäger keuchte laut, während er überrascht zurücktaumelte. Der zweite Jäger zerschlitzte mit seinem Messer die Luft, als würde er ein Tier angreifen. Aber Willa schnappte sich das brüllende Bärenjunge und jagte in den Wald davon.

»Was zum Teufel war das?«, fragte der dritte Jäger mit verblüfft aufgerissenen Augen über das, was sie alle gerade beobachtet hatten: ein Geschöpf, das halb wie ein Bär, halb wie ein Laubbusch aussah, doch dann auch ein flüchtiger Eindruck von Armen und Beinen, fast menschenartig, und schließlich nur ein verschwommener Fleck aus Schwarz und Grün.

Mit hämmerndem Herzen rannte Willa durch eine Gruppe von Kiefern, trug den kleinen Bären fort. Sie hatte seiner sterbenden Mutter versprochen, dass sie ihr Junges beschützen würde, und genau das hatte sie auch vor.

Während sie rannte, stiegen ihr Tränen in die Augen, aber sie biss die Zähne zusammen und lief weiter. Sie wusste, dass irgendwo hinter ihr die Jäger ihre Tat zu Ende brachten, dass die Bärenmutter im Sterben lag und dass der Große Berg ihr Blut und ihre Gebeine in seine Erde aufnehmen würde, um den Bäumen um sie herum Leben zu schenken.

Willa tauchte tief in einen abgelegenen Bereich des Waldes ein, atmete so schwer, dass ihr die Lunge weh tat. In einer grünen Wand aus dichtem Lorbeergestrüpp sah sie die Chance, endgültig zu entkommen, also zwängte sie sich hinein und kletterte dann immer höher. Kein Mensch würde es durch dieses undurchdringliche Dickicht schaffen, aber die Pflanzen erlaubten Willa hindurchzuschlüpfen. Das Bärenjunge in ihrem Armen wimmerte und wehrte sich, grub seine Krallen in ihre Haut und drückte ihr seine warme Schnauze gegen den Hals. Es versuchte, von ihr loszukommen, wollte um jeden Preis zu seiner Mutter zurückkehren. Denn es verstand nicht, dass nun nichts weiter als Männer und Metall hinter ihnen lagen, Holzfäller mit baumzerhackenden Äxten und Jäger mit bärentötenden Gewehren und Häutemessern. Sie hasste sie alle, und trotzdem war sie nicht in der Lage, gegen sie zu kämpfen. Es war ihr weder gelungen, die große Tanne zu beschützen noch die Bärenmutter. Jetzt klammerte sie sich nur noch an das Bärenjunge, wie sie es versprochen hatte, und rannte weiter.

Sie erklomm einen hohen Gebirgskamm, lief dann hinunter in die schattige, bewaldete Senke auf der anderen Seite und schließlich wieder auf den Gipfel des Großen Berges zu, wollte so viel unwegsames Gelände zwischen sich und die Menschen bringen, wie es ihr möglich war, damit sie ihr nicht würden folgen können.

Ihre Arme und Schultern schmerzten vom Gewicht des kleinen Bären. Als sie ihre Schritte endlich verlangsamte und ihn auf den Boden setzte, erwartete sie, dass er sich verloren und ängstlich an sie klammern würde. Doch sobald seine Tatzen die Erde berührten, riss er sich von ihr los und rannte fort, rief mit einem wimmernden Heulen nach seiner Mutter.

Willa klapperte ungeduldig mit ihren Nackenstacheln. So würde er nur wieder in den Händen der Jäger landen.

Sie nahm einen langen, tiefen Atemzug. Sie wollte nicht in Richtung dieses Ortes zurücklaufen, zu all dem Tod und der Zerstörung. Und sie wusste auch, dass sie nicht dorthin gehen sollte. Doch erneut hatte sie das Gefühl, dass sie keine andere Wahl hatte, als das zu tun, was sie tun musste.

Also rannte sie dem Bärenjungen nach, um es wieder einzufangen.

6

»Charka«, flüsterte Willa, während sie dem kleinen Bären hinterherjagte. Das grunzende Geräusch, das seine Mutter gemacht hatte, um ihn zu sich zu rufen, erinnerte Willa an das Faeran-Wort charka, was entschlossen bedeutete, und während sie so hinter ihm herlief, erschien ihr der Name passend.

Sie wusste, dass Charka nicht vollkommen verstand, was mit seiner Mutter passiert war, aber sie war sicher, dass er sich an die schreckliche Angst erinnerte, die er bei ihrem Anblick dort auf der Erde verspürt hatte, und an den furchteinflößenden Geruch der Menschen und den grauenvollen Ausdruck ihrer bedrohlichen Gesichter, als sie mit ihren Messern auf ihn zukamen. Und trotzdem rannte der mutige kleine Kerl zu seiner Mutter zurück, um ihr zu helfen, um sie zu retten, um wieder mit der einzigen Liebe und Sicherheit zusammen zu sein, die er kannte.

Willa jagte Charka durch ein dichtes Gestrüpp aus gewundenen Ästen nach, die fest entschlossen schienen, sie aufzuhalten, bis sie sie schließlich freundlich bat, sie durchzulassen. Sie hatte erwartet, dass Charka den Berg hinunterlaufen würde, in die Richtung seiner Mutter beim Rodungsgebiet, aber aus irgendeinem Grund rannte er den Berg hinauf. Hatte der Schock über den Verlust der Mutter den kleinen Bären verwirrt? Oder hatte er sich schlichtweg verlaufen? So oder so, sie musste ihn wieder einholen.

Sie folgte ihm so weit durch die schmalen Schluchten des Berges, dass sie näher und näher an die niedergebrannten Trümmer des Baus kam, in dem sie und die anderen Clanmitglieder des Faeran-Volkes einst gelebt hatten. Auf dem Weg den nördlichen Hang hinauf, nur ein kurzes Stück unter dem ehemaligen Bau, kam sie durch eine Gruppe schattenspendender Birken mit ihren schwarz-weißen Stämmen und herzförmigen Blättern. Der Waldboden war von einem dicken Teppich dunkelgrünen Mooses bedeckt, der so kalt war, dass es sich anfühlte, als müsse die Erde darunter gefroren sein. Ihre Großmutter hatte ihr erzählt, dass Orte wie dieser Relikte aus der Urzeit waren, als gigantische Eisflächen sich von Norden her hier heruntergeschoben hatten, bis sie vom Großen Berg und seinen Brüdern und Schwestern um ihn herum aufgehalten worden waren. Die Bäume, die Faeran, die Tiere und alle möglichen Arten des Lebens im Wald hatten sich an diesen am höchsten gelegenen Orten für Hunderte von Jahren versteckt. Und als das Eis schließlich wieder zurückwich, breiteten sie sich erneut in der restlichen Bergwelt aus.

Als Willa Charka endlich einholte, hatte der kleine Bär seine Geschwindigkeit zu einem normalen Schritttempo verlangsamt. Immer wieder schaute er in das dichte Blätterdach der Bäume hinauf. Wahrscheinlich fragte er sich besorgt, warum der Wald plötzlich so dunkel geworden war. Was auch immer ihn dazu bewogen hatte, endlich langsamer zu laufen, Willa war froh, dass sie ihn nicht verloren hatte, und atmete erleichtert auf.

Doch dann entdeckte sie, was er da anstarrte.

Tausende winzige, glimmende Lichter – grün und weiß und blau – schwebten über ihren Köpfen zwischen den Zweigen der Bäume. Sie sahen eigentlich aus wie Glühwürmchen, doch Willa wusste, dass das unmöglich war. Denn es war viel zu kalt und außerdem helllichter Tag. Und ganz anders als bei jeder Gruppe von Glühwürmchen, die sie an anderen Orten im abendlichen Wald und auf nächtlichen Wiesen hatte aufleuchten sehen, hatte sich hier nicht nur eine Art mit nur einer Lichtfarbe zusammengefunden. Es kam ihr fast so vor, als würden sie und Charka einer großen Versammlung vieler Glühwürmchenarten beiwohnen – die grünen Glühwürmchen, die im Frühling in den tiefer liegenden Tälern auftauchten, und die seltene weißliche Art, die manchmal im Spätsommer hoch oben an den Hängen des Großen Berges zu sehen war, und sogar die tief schwebenden blauen Geisterglühwürmchen waren da, die gerne versteckte Senken heimsuchten. Sie alle glitten im Schatten unter dem Blätterdach umher, so als hätten Zeit und Ort keinerlei Bedeutung mehr für sie.

Willa schaute sich um, versuchte zu verstehen, was dies für ein Ort war. Es war schwer auszumachen, weil die Bäume so dichtgedrängt standen, jedoch schienen sie sich in einem Talkessel zu befinden, einer seichten Mulde in dem bergigen Gelände. Über allem lag eine düstere und gespenstische Schönheit, aber Willas Handflächen waren kalt und schweißig. Die Bäume in der Mulde waren klein und gedrungen, mit verdrehten Stämmen und tief hängenden, verkrümmten Ästen. So leblos und still, dass es den Anschein machte, als wäre an diesem Ort noch nie ein Windstoß oder ein Lebewesen vorbeigezogen. Die Rinde der Bäume war nicht braun und zerfurcht, wie Willa es gewohnt war, sondern schwarz, glatt und nass und das Gewirr der Äste über ihr so dicht, dass keinerlei Sonnenlicht auf den feuchten, öligen Boden traf. Und als sie in einen schmalen Bach spähte, lag dieser in solch schattiger Dunkelheit, dass die Fische keine Augen und die umherkrabbelnden Flusskrebse die Farbe von Knochen hatten, genau wie Geschöpfe, die in dunklen Höhlen lebten.

Was ist das alles hier?, fragte Willa sich erneut, und die feinen Härchen auf ihren Armen prickelten. Ihr ganzes Leben lang war sie die Hänge dieses Berges hinauf- und hinuntergelaufen, aber dieser düstere Ort hatte zuvor noch nicht existiert. Es kam ihr unmöglich vor, aber dieser Bereich war neu entstanden.

Aus dem Augenwinkel erhaschte Willa einen Blick auf einen verstörend vertrauten Umriss. Als sie sich umwandte, holte sie lange und unsicher Atem. In einer Schlucht hoch über ihr hing das Skelett eines riesigen, uralten Baumes kopfüber eingeklemmt zwischen zwei Felswänden, vor tausend Jahren von einem Fluss dorthin geschwemmt. Ihr Volk hatte ihn den Wächter genannt. Das kahle, verwitterte Gerippe des Baumes hatte einst den Eingang zum Toten Tal markiert, dem Bau, in dem das Volk der Faeran gelebt hatte. Doch auch er hatte sich verändert. Der weißlich graue Stamm war nun versengt und schwarz. Im letzten Jahr war der Bau im Toten Tal vollkommen niedergebrannt und lag seitdem verlassen da, nichts war mehr übrig als graue Asche aus einer leise wispernden Vergangenheit.

Der Ort, wo sie nun stand, befand sich nur ein kurzes Stück unter dem ehemaligen Bau, als wären die Überreste ihres Zuhauses den Berg heruntergepurzelt und hier gelandet. Oder als wären sie hier gewachsen, aus der Erde getreten wie ein seltsamer, schnell wachsender Pilz. Das Tote Tal hatte sich zum Dunklen Tal gewandelt.

Willa drehte sich langsam im Kreis, während sie zu verstehen versuchte, was sie sah.

Sie machte ein paar unsichere Schritte vorwärts. Charka folgte ihr auf dem Fuße, klapperte unruhig mit den Zähnen.

Willa spähte in die Dunkelheit hinein. Sie konnte erkennen, dass zwischen den schwarzen Bäumen Farn wuchs. Und zwischen den Farnpflanzen lagen unzählige Hirschgeweihe verteilt, als hätten die Tiere hier schon seit hundert Jahren Rangkämpfe durchgeführt.

Sie machte ein paar weitere Schritte, fragte sich, welches rätselhafte Detail sie als Nächstes entdecken würde. Auf dem Boden verstreut, so hatte es den Anschein, lagen die gehörnten Schädel Hunderter Bisons – gewaltige Waldtiere, die schon lange, bevor sie geboren worden war, von Menschen ausgerottet wurden, und die sie nur aus den Geschichten ihrer Großmutter und aus den Malereien auf den Höhlenwänden des alten Faeran-Baus kannte.

Bisonknochen? Nichts von alldem hatte sich zuvor an diesem Ort befunden.

Während Willa weiterging, hörte sie knackende Geräusche, als würden viele winzige Zweige zerbrechen, und dann spürte sie kleine, scharfe Bruchstücke unter ihren Füßen. Als sie hinuntersah, bemerkte sie, dass sie und Charka auf nassem schwarzem Erdreich standen, das übersät war von den knochenweißen Skeletten Tausender Rabenflügel und kleiner Vögel, Rotluchsen und Ottern und seltsamen Geschöpfen, die sie nicht kannte.

»Komm mit«, sagte Willa zu Charka und zog ihn an der Schulter mit sich, wollte diesem merkwürdigen, schattenumwobenen Ort so schnell wie möglich entfliehen. Bei den vielen Bereichen des Waldes, zu denen er hätte laufen können, was hatte ihn ausgerechnet hierher gelockt?

Während sie den kleinen Bären eilig von dem Knochenteppich zu den Farnen führte, bemerkte sie, dass hier unzählige Blumen blühten. Doch die Blüten wiesen eine ungewöhnliche Farbmischung aus dunklem Lila und tiefem Kastanienbraun auf, und es war, als würde von ihrer Mitte ein rötliches Licht ausgehen. Die Blätter der Blumen glänzten in einem schwärzlichen Grünton, den Willa noch nie zuvor gesehen hatte. Und sowohl Blätter als auch Blüten schienen von einer durchsichtigen, schimmernden Schicht bedeckt zu sein, so als wären sie in der Zeit eingefroren. Ein schillernder blauer Himmelsfalter – eine Schmetterlingsart, die sie bisher nur im Vorfrühling auf sonnenerleuchteten Wiesen gesehen hatte – flatterte über dem Farn durch die Dunkelheit.

Das hier war ein Ort der Unmöglichkeiten.

Plötzlich huschte vor ihr am Boden etwas vorbei. Erschrocken von der unerwarteten Bewegung zuckten sie und Charka zusammen. Erst einen Augenblick später begriff sie, dass es sich nur um ein Streifenhörnchen handelte. Doch dann bemerkte sie, dass sein Fell nicht braun war wie üblich, sondern weißlich grau. Und als das Nagetier stehen blieb und ihr seinen winzigen Kopf zuwandte, schwelte in seinen Augen etwas wie schwarzer Rauch.

Bestürzt wandte Willa sich ab und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Charka blieb dicht bei ihr, seine Schulter gegen ihr Bein gedrückt.

Während sie durch die geschwärzten Bäume eilten, entdeckte Willa groteske Auswüchse aus orangefarbenem und gelbem Schleimpilz überall auf den Stämmen und Wurzeln. Und dann bemerkte sie etwas noch Verstörenderes.

An mehreren Stellen auf dem Waldboden befanden sich Pilzfelder, die in der Form von liegenden Menschen- oder Faeran-Körpern wuchsen, als wären Wanderer vor ihnen hier auf dem Boden zusammengebrochen und die Pilze hätten ihre verwesenden Körper verzehrt und wären daraus erwachsen. Ein ekelerregender Gestank nach Verwesung erfüllte diesen Ort. Hatte der Gestank die Wanderer übermannt? Oder waren die Wanderer selbst die Quelle des Geruchs? Der Gedanke, dass Menschen oder Faeran sich in etwas anderes verwandeln könnten, sich so verändern könnten, ließ Willa einen Schauder den Rücken hinunterlaufen. Sie blickte auf, hoffte, den Gipfel des Großen Berges über sich zu sehen, Beruhigung in seiner Allgegenwärtigkeit zu finden, doch sie konnte nichts weiter erkennen als den Umriss des hoch über ihr aufragenden Wächters vor den schwarzrindigen Bäumen, die den Himmel verdeckten.

Charka grunzte und rannte ihr voraus. Er musste fürchterliche Angst vor diesem Ort haben – und das konnte sie ihm nicht verdenken –, doch bald bemerkte sie, dass es noch viel mehr war als das. Er hielt inne und wandte sich um, stierte in den Wald. Dann wurden seine Augen feucht, als hätte er etwas von unglaublicher Wichtigkeit entdeckt. Mehrmals schnüffelte er am Boden, hob den Kopf und schnupperte, drehte sich hierhin und dorthin. Er schien zu glauben, dass seine Mutter in ihrer Nähe war. Er erhob sich auf die Hinterbeine und rief nach ihr, dann sank er wieder auf alle viere nieder und scharrte hektisch mit seinen Tatzen in der Erde, als könnte er sich einen Weg zu ihr graben. Er stürzte in ein dichtes Gebüsch aus Traubenheiden und kam dann wieder herausgeeilt. Willa rannte zu ihm, um ihm zu helfen, bevor er sich noch verletzte. Doch genau in diesem Augenblick blieb Charka plötzlich vollkommen reglos stehen.

Alles wurde still.

Die Luft um sie herum veränderte sich.

Charka stellte sich auf die Hinterbeine und starrte auf etwas im Unterholz.

Willas Puls beschleunigte sich. Doch noch bevor sie herausfinden konnte, was das Bärenjunge da sah, spürte sie, wie Wasser aus der Erde unter ihren Füßen sickerte und sie zu beben begann. Die knorrigen Wurzeln der Bäume um sie herum schienen zu vibrieren, so dass die Haut an ihrem ganzen Körper zu kribbeln anfing. Der Geruch nach verrottendem Holz stieg vom Boden auf. Kalte Luft strömte durch ihre Kehle. Es war Sommer, aber sie konnte ihren Atem in Wölkchen aufsteigen sehen.

Dann hörte Willa ein schabendes, kratzendes Geräusch, als vor ihr etwas die Erde zerwühlte. Der Boden unter ihren Füße schwoll an, und sie stolperte rückwärts, zog Charka mit sich. Die Erde und der Schotter blähten sich zu einem Hügel auf, der zerbarst und wieder hinabsank. Aus dem Loch traten zuerst der Kopf und dann der Körper einer sich windenden, schlangenartigen Kreatur. Ganz anders als jedes gewöhnliche Tier, das sie je gesehen hatte, war dieses etwa dreißig Zentimeter dick und mindestens drei Meter lang. Die schleimige, dunkelgraue Haut schien zu rauchen, als würde sie sich vor ihren Augen auflösen, wie ein Trugbild in einem Albtraum. Die Kreatur glitt seitlich schlängelnd schnell über dem Waldboden zwischen den Baumstämmen umher. Mit krächzenden, knisternden Geräuschen kam sie direkt auf Willa und Charka zu.

»Vorsicht, Charka!«, rief Willa, während sie das verängstigte Bärenjunge aus dem Weg der Schlange zog. Eine zweite Schlange, dünner und noch schneller, brach aus dem Farn hinter ihnen heraus, ihr langer, gewundener Körper schlingerte über die Erde.

Willa zerrte Charka zu einem kleinen, geschwärzten Baum, und sie kletterten den Stamm hinauf. Charka duckte sich wimmernd und klammerte sich an ihr Bein, während sie sich eng zusammenkauerten, möglichst weit weg von den Schlangen.

»Nicht bewegen …«, flüsterte sie, versuchte, ihn ganz fest an sich zu drücken, aber ihr gesamter Körper zitterte unkontrollierbar.

Zusammen beobachteten sie beide mit weit aufgerissenen Augen, wie die Schlangen am Fuß des Baumes vorbeiglitten.

Die dunkelgraue Haut der Bestien schien von nassem Schleim überzogen zu sein, und sie stanken schrecklich.

Auch als die Schlangen auf der anderen Seite des Baumes zwischen den Farnen verschwunden waren, blieb Willa an Ort und Stelle. Sie zitterte noch immer am ganzen Leib und verharrte wie ein kleines Häschen, das abwartete, bis der Falke schon lange vorübergeflogen war.

Dann verzogen sich der Geruch und die eiskalte Luft langsam.

Willa blickte sich immer noch um, hatte Angst, dass die Kreaturen umkehren und sie und Charka angreifen würden. Doch die Schlangen – oder was auch immer sie gewesen waren – glitten weiter und weiter fort von ihnen und verschwanden schließlich in der Ferne im Unterholz.

»Ich glaube, sie sind weg«, flüsterte Willa.

Charka grunzte, bedeutete ihr damit, dass es ihm gut ging.

Aber was hatten sie da bloß beobachtet? Die Kreaturen waren in dieselbe Richtung entschwunden, in die Charka nur wenige Augenblicke zuvor gerannt war, zurück zu seiner Mutter. Bloß warum? Was waren das für Wesen?

Nachdem sie den Baum wieder hinuntergeklettert war, setzte Willa Charka am Boden ab und umarmte ihn. Zitternd klammerte er sich an sie, ohne Zweifel so erschrocken wie sie selbst, und als er zu ihr hochblickte, sah sie Unsicherheit in seinen Augen.

»Komm, lass uns von hier verschwinden«, sagte sie, und er blieb dicht bei ihr.

Als sie den Weg in höhere Lagen gefunden hatten und sich wieder inmitten von grünen, lebendigen, sonnenerleuchteten Bäumen befanden, durchströmte sie Erleichterung.

Charka hielt inne und blickte über die Schulter zu dem Dunklen Tal hinter ihnen, starrte eine lange Zeit dorthin. Als er sich endlich abwandte und zu Willa hinaufschaute, erkannte sie, dass sich der Ausdruck seiner Augen verändert hatte, als hätte irgendetwas an dem Ort ihm vollends zu verstehen gegeben, dass seine Mutter wirklich fort und das Mädchen neben ihm nun seine einzige Gefährtin war.

»De lia, eeluin, harn da una«, sagte sie sanft und hob ihn in ihre Arme. Hab keine Angst, mein Kleiner, ich nehme dich mit zu mir nach Hause.

7

Während Willa den schwachen Spuren eines alten Fuchspfades durch einen anscheinend ganz natürlichen und normalen Teil des Waldes folgte, spürte sie, wie ihre Anspannung nachließ. Charka und sie hatten das Dunkle Tal schon vor Stunden hinter sich gelassen, und darüber war sie mehr als nur erleichtert – sie hatten wohl Glück, überhaupt noch am Leben zu sein.

Das Bärenjunge trottete neben ihr her, lief schneller, wenn sie schnell lief, und langsamer, sobald sie es auch tat. Der kleine Kerl war aufgeweckt und wendig, aber noch so jung und winzig, dass er manchmal etwas unbeholfen über seine eigenen Tatzen oder über einen Ast stolperte und dann rennen musste, um sie wieder einzuholen.

Auf ihrem Weg nahm Willa alles um sie herum auf – das leise Scharren der Eichhörnchen, die im Unterholz nach Futter suchten, den Gesang eines Fliegenschnäppers in den Ästen hoch über ihrem Kopf und das sanfte Schwanken der Blätter in den Bäumen, die sich im gleichmäßigen nachmittäglichen Ratschen der Singzikaden zu wiegen schienen. Während sie und Charka an moosbedeckten Felsbrocken und plätschernden Bächen vorbeiliefen, war Willa einfach nur froh, bald wieder zu Hause zu sein.

Zu Hause. Die Bedeutung dieses Wortes hatte sich im letzten Jahr für sie so sehr verändert.

Das Leben der Faeran war einst auf wunderbare Weise mit dem Wald verwoben gewesen. Doch noch bevor Willa geboren worden war, hatten sich Gewalt, Hunger und Verfall in ihrem Clan breitgemacht – so dass sie die letzten Verbliebenen eines verzweifelten und sterbenden Volkes geworden waren. Sie und ihre Zwillingsschwester Alliw waren von ihren Eltern nach den alten Bräuchen der Faeran erzogen worden. Doch als Willa sechs Jahre alt gewesen war, hatten die Wachen des Padaran – dem neuen Oberhaupt des Clans – ihre Mutter, ihren Vater und ihre Schwester in einer einzigen Nacht getötet. In den sechs darauffolgenden Jahren hatte sich Willas Großmutter um sie gekümmert und ihr die uralte Kunde der Waldhexen beigebracht. So war Willa schließlich zum Inbegriff dessen geworden, was der Padaran am meisten verachtete: eine Hüterin der alten Bräuche.

Manchmal dachte Willa über die Dinge nach, die in der Vergangenheit geschehen waren, und über all die Entscheidungen, die sie getroffen hatte. Während sie zusammen mit Charka den Pfad zu ihrem Zuhause hinunterwanderte, wallte das alles wieder in ihr auf, so wie schwarzer Schlamm, der aus einem alten Bachlauf sickerte.

Sie wusste, dass ihre Großmutter ihr die alten Faeran-Bräuche aus Liebe zu ihr und ihrem Volk beigebracht hatte, aber manchmal fragte Willa sich auch, ob ihre Großmutter die ganze Zeit bezweckt hatte, dass Willa sich eines Tages gegen den Padaran auflehnen und ihn bezwingen würde. War es ihr Plan gewesen, dass Willa diese Entscheidungen traf? Willa fragte sich auch, ob es ein bestimmtes Alter gab, ab dem eine junge Faeran normalerweise aufhören sollte, die Entscheidungen ihrer Eltern und Großeltern auszuleben und ihre eigenen zu treffen. Oder gingen die Entscheidungen einfach ineinander über, wie zwei Flüsse, die sich zu einem vereinen?