Willa of the Wood – Das Geheimnis der Wälder - Robert Beatty - E-Book

Willa of the Wood – Das Geheimnis der Wälder E-Book

Robert Beatty

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Beschreibung

Willa ist das letzte Kind des WaldesIn den Tiefen der Wälder lebt ein geheimnisvolles Volk, die Faeran. Einst konnten sie sich mit den mächtigen Tieren und Bäumen verständigen und Pflanzen wachsen lassen. Doch nun ist die junge Willa die Letzte, die diese Waldmagie beherrscht. Die Faeran sind in großer Gefahr, denn die Menschen rücken immer näher. Willa muss sich entscheiden: Welchen Preis ist sie bereit zu zahlen, um das Überleben ihres Clans zu sichern?Ein spannendes Naturabenteuer voller Magie und Mystik.

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Seitenzahl: 418

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Robert Beatty

Willa of the Wood

Das Geheimnis der Wälder Band 1

Aus dem Englischen von Sabrina Sandmann

FISCHER E-Books

Inhalt

Die Großen Nebelberge1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465666768697071727374Liebe Leserinnen und Leser,Danksagung
Die Großen Nebelberge

Als Willa die beiden Tagvolk-Männer bei ihrem Gespräch darüber belauschte, ob die Erde flach oder rund sei, schüttelte sie den Kopf. Sie lagen beide falsch. Die Erde war weder flach noch rund. Sie war bergig.

1

Willa schlich durch den dunklen Wald, folgte dem schwachen Geruch nach Kaminfeuer in der mitternächtlichen Luft. Silbrige Wolkenbänder zogen am Mond vorbei und hüllten ihre Bewegung in Schatten, und auf den kalten, nassen Blättern machten ihre nackten Füße kaum ein Geräusch. Schon die ganze Nacht lang war sie den Berghang in Richtung des kleinen Tals hinuntergelaufen, wo die Siedler lebten. Als sie zum steinigen Ufer des Flusses kam, wusste sie, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatte.

Die Launen des Flusses an dieser Stelle kannte sie nicht, also vermied sie die dunklen, gefährlichen Strömungen, kletterte stattdessen die knorrigen Äste der schrundigen alten Bäume hinauf und bat sie um Hilfe. Die Zweige streckten sich über das Wasser, hielten sie fest und rauschten dabei im Wind, sprachen miteinander, als würden sie sich darüber Gedanken machen, wohin sie ging. Ihre Tunika aus gewebtem grünem Schilf folgte den Bewegungen ihres Körpers beim Klettern, und die Zweige der Bäume hielten sie behutsam fest, schlangen sich um ihre Handgelenke und Arme, Knöchel und Beine, gaben sie dann nach und nach wieder frei, halfen ihr mit einer Fürsorge über den Fluss, wie sie sie einem kleinen Setzling zuteilwerden lassen würden. Willa hangelte sich über den nebligen Atem des rauschenden Flusses und ließ sich auf der anderen Seite an einem Baumstamm wieder hinuntergleiten.

»Ich danke euch«, flüsterte sie den Bäumen zu, berührte die Rinde des einen mit der Hand und ließ sie hinter sich zurück.

In einem ruhigen, sternenerleuchteten Tümpel zwischen den Ufersteinen des Flusses erhaschte sie einen Blick auf die Spiegelung ihrer selbst: ein weidenschlankes zwölfjähriges Waldmädchen mit langem dunklem Haar, einem rundlichen Gesicht mit Streifen und Tüpfeln auf der Haut und smaragdgrünen Augen. Im Gegensatz zu den meisten Mitgliedern ihres Clans, die nach den funkelnden Reichtümern ihrer Feinde gierten und sogar deren tote Kleidung anzogen, trug Willa keinerlei Stoff oder Schmuck, der in der Dunkelheit aufleuchten könnte. Wo sie im Wald auch hinging, nahmen ihre Haut, ihr Haar und ihre Augen die Farbe und Struktur der grünen Blätter um sie herum an. Wenn sie bei einem Baumstamm verharrte, wurde sie so braun und borkig, dass sie fast unsichtbar war. Und als sie jetzt auf die Wasseroberfläche schaute, sah sie ihr Gesicht nur einen Augenblick lang, bevor es die Farbe des Wassers und des nächtlichen Himmels über ihr annahm und verschwand, ihre dunkelblauen Wangen mit funkelnden Sternen besprenkelt.

Willa lief weiter ihrem Ziel entgegen, schlich geduckt und leise durch den Berglorbeer den sanften Flusshang hinauf. Ihr Herz schlug langsam und gleichmäßig, während sie sich der Behausung der Siedler näherte.

Willa entstammte dem Clan eines Waldvolkes, das die Cherokee-Indianer »das alte Volk« nannten und über das sie sich abends am Lagerfeuer Geschichten erzählten. Die weißhäutigen Siedler bezeichneten ihr Volk als Nachtdiebe oder manchmal als Nachtgeister, obwohl Willa genauso aus Fleisch und Blut war wie ein Reh, ein Fuchs oder jedes andere Wesen des Waldes. Doch nur noch selten hörte sie den eigentlichen Namen ihres Volkes. In der alten Sprache – die sie inzwischen nur noch mit ihrer Großmutter sprach – hieß ihr Volk die Faeran.

Am Waldrand blieb Willa stehen und verschmolz sich mit der grünen Struktur der Umgebung. Blätterranken legten sich um sie. Sie war nahezu unsichtbar.

Die leisen nächtlichen Geräusche von Insekten und Fröschen umgaben sie. Doch sie blieb wachsam, auf der Hut vor scharfäugigen Hunden, versteckten Wachen und anderen Gefahren.

Willa sah zur Behausung der Siedler hinüber. Sie hatten sie mit den zerteilten Kadavern ermordeter Bäume gebaut, die in langen Planken aneinandergenagelt waren. Die Leiber dertoten Bäume formten flache Wände mit eckigen Kanten, die mit nichts im Wald vergleichbar waren.

Behalte dein Ziel im Auge, Willa, ermahnte sie sich selbst.

Die Behausung war mit einem hohen, geneigten Dach versehen, einer großen Veranda mit Geländer, die bis zur vorderen Seite reichte, und einem Schornstein aus zerklüfteten Steinen, die die Siedler den Gebeinen des Flusses entrissen hatten. Sie sah keine Öllampen oder Kerzen in den Fenstern brennen, aber konnte an dem dünnen, aus dem Schornstein aufsteigenden Rauchfaden erkennen, dass die Siedler – die sie manchmal Tagvolk nannte, weil sie sich in ihre Behausungen zurückzogen, sobald die Sonne unterging – wahrscheinlich drinnen in ihren langen, flachen, gepolsterten Betten schliefen.

Aus Erfahrung wusste sie, dass die Siedler hier in der Gegend nachts die Türen ihrer Bauten abschlossen, also musste sie es schlau anstellen. Durch ein offenes Fenster? Durch den Schornstein? Sie beäugte die Behausung sehr lange, suchte einen Weg hinein. Und dann sah sie ihn. Im unteren Teil der Eingangstür hatte der Bewohner der Behausung eine kleinere Tür für seinen spitzzahnigen Gefährten eingebaut, damit er herein- und herauskonnte.

Und das war sein Fehler.

Ihr Herz begann zu hämmern, denn ihr Körper wusste, dass es jetzt Zeit war, und die Blätter um sie herum lösten sich von ihr. Sie trat aus dem Schutz des Waldes heraus und huschte behände über die offene Grasfläche, die die Behausung umgab. Sie hasste offenes Gelände. Ihre Beine fühlten sich seltsam und ungleich an, als sie über den unnatürlich ebenen Boden rannte. Sie sauste die Stufen zur Holzveranda hoch. Dann ließ sie sich auf alle viere sinken, zwängte sich durch die kleine Tür und kroch in die dunkle Behausung, um ihren nächtlichen Beutezug zu beginnen.

2

Im Innern der Behausung mied Willa das Mondlicht, das durch das Fenster hereinschien. Sie kauerte sich in der dunklen Ecke beim Essplatz auf den Boden, die kurzen Stacheln in ihrem Nacken stellten sich auf, während sie mit den Augen die Dunkelheit nach Gefahren absuchte.

Wo ist der bissige Hund?, fragte sie sich. Sind alle Tagvolk-Menschen oben in ihren Betten?

Sie hielt den Atem an, glitt über den Boden und spähte in den Hauptraum der Behausung nach Angreifern.

Sie wartete, sie beobachtete, und sie lauschte.

Wenn die Siedler sie hier entdeckten – in ihrer Behausung –, würden sie sie töten. Sie zerhackten die Bäume des Waldes und jagten die Tiere. Sie hatten ihre Mutter, ihren Vater, ihre Zwillingsschwester und noch so viele mehr aus ihrem Bau im Toten Tal ermordet. Die Tagvolk-Menschen dachten nicht nach. Sie zögerten nicht. Ob die Wölfe, die des Nachts heulend ihreGeliebten riefen, oder die Baumriesen, die ihre Äste der Sonne entgegenstreckten – die Tagvolk-Menschen töteten alles, was sie nicht verstanden. Und sie verstanden sehr wenig von dem Wald, in den sie gekommen waren.

Als Willa langsam, gleichmäßig und sehr kontrolliert einatmete, hörte sie das Ticken eines kleinen metallumwickelten Gerätes auf dem Kaminsims und das träge Zischen und Knacken der verlöschenden Glut, die sie hierher in die Behausung geführt hatte.

Der Geruch von etwas erstaunlich Süßem drang ihr in die Nase. Sie versuchte, es zu ignorieren, aber ihr knurrte der Magen. Willa schaute sich um und sah ein rundes, steinartiges Gefäß auf einer glatten Holzfläche über ihr. Eigentlich sollte sie sich von so etwas nicht ablenken lassen, aber sie war gestern und die ganze Nacht hindurch schon so hungrig gewesen.

Schnell stand sie auf, hob den Deckel von dem Gefäß und schlang einige der darin enthaltenen kleinen, mürben Brocken hinunter wie ein ausgehungerter Waschbär. Von dem süßen Geschmack lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Dennoch war sie bedacht darauf, keine Krümel zu hinterlassen, die die Tagvolk-Menschen bemerken könnten. Sie wollte noch mehr von den Brocken essen, aber stopfte die Hälfte der übrigen Menge in ihre riedgewebte Umhängetasche und huschte weiter.

Willa schlich sich in den Hauptraum und bemerkte dort ein Metallrechteck mit einer fleckigen Abbildung mehrererTagvolk-Menschen, als hätten sie sich in dem Tümpel beim Fluss gespiegelt und wären nicht mehr entkommen: ein glattrasierter Mann, eine dunkelhaarige Frau, zwei kleine Kinder von vielleicht fünf und sechs Jahren und ein winziges Krabbelkind auf dem Arm der Frau. Doch Willa sah sie nicht lange an, sie wollte nicht daran denken, dass ihre Seelen in dem Metall feststeckten.

Behalt dein Ziel im Auge, mahnte sie sich erneut und lief weiter.

Immer wieder warf sie einen nervösen Blick zur Treppe, während sie ihre Arbeit fortsetzte und den Hauptraum hastig nach Schätzen absuchte. Sie fand eine kleine Holzkiste mit einer feuchten braunen Masse darin, die ziemlich sicher Kautabak war. Sie stopfte die Hälfte davon in ihre Umhängetasche. Das entsprach nicht genau der Beute, auf die sie erpicht war, aber der Padaran, ihr Clanoberhaupt, würde sich über dieses besondere Geschenk freuen. Sie sah sich vor seiner hochaufragenden Gestalt stehen, ihre Tasche vor ihm ausleeren und seine Augen vor Anerkennung leuchten.

Zufrieden mit sich, suchte sie weiter. In einem sehr kleinen, engumschlossenen Raum, in dem lediglich Kleidung auf seltsamen, schulterähnlichen Gebilden hing, fand sie einen langen, dunklen Mantel mit einer Ledergeldbörse und Münzen in den Taschen, und sie lächelte. Sie nahm die Hälfte der Scheine und die Hälfte der Münzen. Der Padaran hatte ihr beigebracht, genau solche Beute zu finden.

Jede Nacht schickte der Padaran sie und die anderen Jaetter – die jungen Jagddiebe des Clans – hinaus, und er schenkte seine Anerkennung denjenigen, die mit ihren Taschen voller Münzen und anderer Schätze zurückkamen.

Sie warf wieder einen Blick zur Treppe, wusste, dass eine Gefahr, wenn sie drohte, von dort kommen würde. Sie hatte schon gute Beute gemacht, und ein schlauer Jaetter verdrückte sich, solange noch Gelegenheit dazu war – aber sie wollte mehr.

Bei ihrer Rückkehr zum Bau im Toten Tal letzte Nacht war ihre Tasche zu leicht gewesen, und der Padaran hatte ihr so fest mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen, dass sie zu Boden gestürzt war und sich erstaunt und beschämt das Blut aus dem Mundwinkel gewischt hatte. In den letzten Monaten hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie zu seinem Liebling geworden war, doch jetzt hatte er sie geschlagen, genau wie die anderen Jaetter, und ihre Wange brannte noch immer. Heute Nacht wollte sie mehr, mehr als sie je zuvor erbeutet hatte, um dem Padaran und dem restlichen Clan zu zeigen, wozu sie fähig war.

Schließlich ging sie zum Fuß der Treppe, legte die Hände hinter die Ohren, schloss die Augen und lauschte in die Zimmer oben. Sie hörte einen Mann schnarchen, und wahrscheinlich waren noch mehr Tagvolk-Menschen dort, ein kleines Rudel, verschliefen die Nacht.

Aber wo ist der Hund?, fragte sie sich erneut. Der Hund bringt Tod. Sie war schon mal durch diese scharfzahnigen Biester in Schwierigkeiten geraten, ihr lautes Bellen und die heimtückischen Beiß- und Kratzattacken. Ich rieche das verdammte Vieh hier irgendwo, dachte sie. Ich bin durch seine Tür hereingekommen. Aber wo ist es? Warum hat es sich noch nicht mit seinen Fangzähnen auf mich gestürzt?

Die meisten ihrer Jaetter-Kameraden stahlen ihre Beute aus unbewachten Kutschen, nächtlichen Höfen und frühmorgendlichen Scheunen, wenn keiner vom Tagvolk in der Nähe war. Nur sehr wenige wagten sich bis in die Tagvolk-Bauten, und keiner würde hineingehen, wenn sich die Tagvolk-Menschen sogar darin befanden. Die Jaetter wurden angehalten, in kleinen Gruppen loszuziehen und niemals solche Risiken einzugehen. Doch Willa schlich die knarzende Holztreppe hinauf, trat so leichtfüßig wie möglich auf die seltsam glatte Oberfläche, die so anders war als alles, womit sie im Wald in Berührung kam.

Oben angelangt, zitterten ihr die Beine, während sie sich zentimeterweise durch einen schmalen, höhlenartigen Tunnel zur offenen Tür des ersten Raumes vorschob. Im Wald konnte sie sich ihre Tarnfähigkeiten und anderen Kräfte zunutze machen, doch diese Kräfte wirkten im Innern der Tagvolk-Welt nicht. Hier konnte sie gesehen werden, konnte gefangen genommen werden, hier konnte sie getötet werden.

Mit vor Anspannung schwitzigen Händen spähte sie in das Zimmer des schlafenden Mannes.

Bei ihren anderen Beutezügen hatte sie bemerkt, dass die Tagvolk-Menschen meistens paarweise schliefen. Doch dieser Mann schlief allein, auf einer Seite des großen Bettes, als wäre der Mensch, mit dem er sonst schlief, nicht da. Aber dort, neben ihm, war der bissige Hund, nach dem sie schon gesucht hatte – ein zotteliger schwarzweißer Teufel, tief und fest neben seinem Herrchen schlafend, die weißen Reißzähne und scharfen Krallen im Mondlicht gut zu erkennen.

Das Gesicht des Mannes war übersät mit stacheligen Barthaaren. Er lag auf der Bettdecke, die Kleidung zerrissen und zerknittert, als hätte er sich vor lauter Erschöpfung einfach daraufsinken lassen. Ein Stuhl und ein kleiner Tisch und andere Tagvolk-Dinge lagen verstreut auf dem Boden, wie nach einer Art Kampf. Der Mann hatte eine Wunde am Kopf, und an der Schulter des Hundes verfilzte Blut das Fell.

Als Willa das Blut sah, pochte ihr das Herz wild in der Brust, und sie schluckte schwer. Hatten sie eines der Tiere im Wald angegriffen und in einen Kampf verwickelt?

Doch dann runzelte sie verwirrt die Stirn. Wenn sie mit etwas im Wald gekämpft hätten, würde das nicht die umgestoßenen Möbel im Raum erklären.

Und dann sah sie es. Im Bett neben dem Mann und dem Hund lag ein langes Stück Metall mit einem Holzschaft und so etwas wie zwei nebeneinanderliegenden Eisenröhren.

Das ist ein Töteeisen, dachte sie, direkt neben ihnen. Sie holte zittrig und unsicher Atem und musste den Impuls unterdrücken, zu fliehen.

3

Erschrocken betrachtete Willa das Töterohr. Noch nie hatte sie eines aus solcher Nähe gesehen. Wie sie genau funktionierten, wusste sie nicht, aber sie hatte schon viele Jäger damit in ihrem Wald beobachtet und kannte dessen bösartige Macht. Sie hatte gesehen, wie Hirsche aus der Ferne niedergestreckt, Falken mitten im Flug getötet wurden. Im letzten Winter hatte sie eine verletzte Wölfin auf dem Waldboden liegend gefunden und ihre Wunden mit Heilkräutern verbunden, so dass sie zu ihren hungrigen Welpen zurückkehren konnte.

Der Mann lag mit geschlossenen Augen im Bett. Die Hände neben dem Körper bewegten sich fahrig, berührten das Töteeisen und den erschöpften Hund, und er murmelte unruhig im Schlaf vor sich hin.

Willa wusste, dass sie sich davonmachen sollte, aber sie wusste auch, dass sich einige der wertvollsten Dinge in genau diesem Raum befanden.

So schlich sie hinein, bloß eine Verschiebung der Dunkelheit, die sich durch die Schatten bewegte. Sie schlüpfte hinüber zur Kommode und schnappte sich die Hälfte der Halsketten und Ohrringe aus einer Schmuckschatulle. Das Gewicht ihrer Tasche gefiel ihr immer besser.

Die Jüngeren in ihrem Clan, die nicht stahlen oder nicht genug stahlen, bekamen nichts zu essen. So hatte der Padaran den Clan schon vor ihrer Geburt geführt. Wenn man nicht mit einer vollen Tasche in den Bau zurückkam, gab es kein Abendessen, und wenn das zwei Nächte in Folge geschah, passierte noch Schlimmeres. Der Padaran hatte ihr schon viele Male erklärt, dass die Tagvolk-Menschen reich waren und ihr Geld und ihre Besitztümer nicht brauchten, und wenn Willa sich anschaute, was das Tagvolk alles besaß, musste es wahr sein. Trotzdem nahm sie lieber nur die Hälfte von dem, was sie fand, und ließ den Rest zurück, nur falls die Tagvolk-Menschen und ihre Kinder auch hungrig waren.

Sie hatte schon in vielen Siedler-Bauten entlang dieses Flusses gestohlen. Wenn sie nur die Hälfte mitnahm, war es weniger auffällig. Laufe lautlos. Stehle spurlos. Das hatte sie sich selbst beigebracht. Wenn die Tagvolk-Menschen wirklich reich waren, würden sie ein paar verschwundene Dinge am nächsten Morgen nicht bemerken. Natürlich durfte der Padaran von ihrer Halbierungsregel nichts wissen – er würde sie schlagen, bis ihr die Ohren rauschten wie der Fluss, der unter ihrem Bau hindurchfloss –, aber sie war sehr gut im Stehlen, und normalerweise war er mit ihrer Beute zufrieden. Sie war eine seiner Lieblinge, und sie war fest entschlossen, das auch zu bleiben.

Ihre Großmutter, ihre Mamaw, die Willa aus ganzem Herzen liebte, hatte ihr erzählt, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, da die Faeran nach nichts anderem verlangt hatten als dem, was der Wald ihnen bot, in dem sie lebten. Doch als die Siedler mit ihren Äxten kamen und Bäume fällten und ihre kerzenerleuchteten Behausungen im Wald errichteten, begannen die Faeran, sich zu verändern – ihre Worte, ihre Wünsche, ihre Gewohnheiten. Manchmal, wenn Willa sich allein ganz weit draußen im Wald befand, weit entfernt vom restlichen Clan, spürte sie die Macht des Waldes und seiner Geschöpfe tief in ihrem Inneren, und sie wusste, dass ihre Mamaw die Wahrheit sagte. Es hatte einmal eine andere Zeit gegeben.

Der Mann zuckte im Schlaf, schnarchte laut auf und holte jäh und keuchend Luft. Überrascht machte Willa einen Satz zurück, kalte Angst zuckte ihr durch die Glieder, doch dann murmelte der Mann in die Dunkelheit, als kämpfte er gegen etwas in seinen Träumen an. Der Hund drehte sich um, und beide schliefen weiter.

Als Willa wieder atmen konnte, schüttelte sie ungläubig den Kopf. Dieser Hund taugte ja zu gar nichts! Der konnte kein bisschen riechen! Sie stand direkt neben ihnen, und er bemerkte es nicht einmal.

Noch selbstsicherer suchte sie die Kommode nach weiteren Schätzen ab. Dort lag ein schwarzes Buch, zwischen dessen Seiten eine lange rote Troddel hervorhing. Der Titel bestand aus einem einzigen kurzen Wort, das sie nicht lesen konnte. Und auf dem Buch lag ein goldener Ring. Sie nahm den Ring in die Hand und hielt ihn ins Mondlicht, das durchs Fenster fiel. Es war eines der schönsten Tagvolk-Dinge, die sie je gesehen hatte. Wofür ist das glänzende Ding?, fragte sie sich. Was hat es für eine Kraft?

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie einen Lichtschimmer und schaute zum Bett hinüber. Der schlafende Mann trug dieselbe Art goldenen Ring am vierten Finger seiner linken Hand.

Eigentlich sollte sie den goldenen Ring von der Kommode nehmen und so schnell wegrennen, wie sie konnte. Nimm ihn, und lauf!, befahl sie sich. Das war bestimmt das wertvollste Ding in der Behausung und zweifelsohne das wertvollste Ding, das sie je in ihrer Umhängetasche zum Bau gebracht hatte. Sie stellte sich das zähnebleckende Grinsen des Padaran vor, wenn sie den glänzenden goldenen Ring in seine wartenden Hände legte. »Das ist eine gute Beute, Mädchen«, würde er freudig krächzen, und all die anderen Jaetter würden geduckt und schniefend um ihn herumscharwenzeln, der Neid sich durch sie hindurchwinden wie Gift, während sie nach ihr schnappten und sie anzischten.

Doch als sie den goldenen Ring in der Hand hielt, beschlich sie ein abscheuliches Gefühl. Sie versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie ihre Halbierungsregel nicht brach, wenn sie einen der Ringe nahm, aber ein Teil von ihr war seltsam unsicher. Manchmal waren zwei Dinge nicht einfach zwei Dinge; sie waren ein Paar, und ein Paar war wie ein Ding. Halb war nicht immer halb. Manchmal gehörte das Halbe zum Ganzen.

Sie wusste nicht, wozu die Ringe dienten oder was sie bedeuteten, aber es kam ihr falsch vor, den einen zu nehmen, ihn von dem anderen zu trennen – wie wenn sie einem Schmetterling einen Flügel ausreißen und sich selbst weismachen würde, dass er noch fliegen könnte.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, legte sie den Ring widerwillig zurück auf das Buch und schlich aus dem Raum mit dem schnarchenden Mann und dem geruchsblinden, tauben Hund.

Sie lief zielstrebig zum nächsten Raum, wollte jetzt bei der Sache bleiben.

Der nächste Raum war voller Kleider. Ihr Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken, dass sie vielleicht ein Tagvolk-Mädchen aus der Nähe sehen würde. Der Duft des Mädchens hing in der Luft, aber in dem Raum war niemand. Willa kam es sehr seltsam vor, dass das Mädchen mitten in der Nacht nicht in ihrem Bett lag. Aber sie ging zur Kommode des Mädchens hinüber und steckte ein glitzerndes Armband, eine silberne Haarnadel, ein paar Samtbänder, eine winzige Porzellanpuppe und ein Medaillon ein.

Willa huschte zum nächsten Raum, und dort roch esaugenblicklich nach Junge. Natürlich war es ein Tagvolk-Junge, aber gleichwohl ein Junge. An windigen Tagen konnte sie Jungen quer über eine Wiese riechen, egal, ob sie zum Tag- oder zum Nachtvolk gehörten. Aber auch das Bett des Jungen war leer, die Decke verdreht auf dem Boden.

Willa runzelte die Stirn. Wo ist der Junge hin? Und wo ist seine kleine Schwester, die in dem anderen Raum sein sollte? Und warum schläft der Mann mit seinem Töteeisen neben sich im Bett?

Behalt dein Ziel im Auge, mahnte sie sich wieder, schüttelte den Kopf und lief weiter. Diese Worte sagte sie sich, wann immer die verblüffenden Einzelheiten des Tagvolk-Lebens sie betörten. Behalt dein Ziel im Auge und lauf, Willa.

Eilig suchte sie im Raum des Jungen nach Wertvollem.

Als Erstes fand sie einen großen Lederhandschuh, der für eine riesenhafte Hand gefertigt schien. Die Hand des Jungen muss ganz entstellt und unförmig sein, dachte sie. Neben dem Handschuh lagen ein weißer Ball und eine Art stämmiger hölzerner Gehstock. Das Bein des Jungen ist wahrscheinlich auch krumm. Ihr tat das arme, verkrüppelte Wesen ein wenig leid, aber sie stopfte die Hälfte seiner Münzsammlung und der Cherokee-Pfeilspitzen in die Umhängetasche und lief dann zum vierten und letzten Raum. Behalte dein Ziel im Auge.

Doch dann zuckte ihr Ohr, und die Stacheln in ihrem Nacken sträubten sich.

Das Schnarchen hatte aufgehört.

Der Mann war aufgewacht.

Sie hörte leise Bewegungen, eine raschelnde Decke. Fühlte die Vibration, als er seine Füße auf den Boden stellte.

»Los, hoch mit dir, Junge«, flüsterte der Mann dem Hund eindringlich zu. »Sie sind zurück!«

Willa setzte sich blitzschnell in Bewegung. Sie rannte den Flur entlang Richtung Treppenabsatz.

Der Mann stürmte mit dem Töteeisen in der Hand aus dem Schlafzimmer. Willa rauschte an ihm vorbei, bloß ein dunkler Streifen.

Er musste sich vor ihr genauso erschreckt haben wie sie vor ihm, denn er taumelte überrascht zurück. Sie hechtete die dunkle Treppe hinunter, ihre Füße berührten kaum die Stufen.

Doch der erschrockene Mann hob seine Waffe und zielte blindlings in die Dunkelheit.

Ein Blitz erhellte knallend die Luft, ließ die Erde erbeben.

Die Explosion traf sie in den Rücken. Von der Wucht wurde sie vorwärtsgeschleudert. Sie schlug bei der Biegung der Treppe gegen die Wand und stürzte die restlichen Stufen hinunter wie ein vom Baum geschossener Waschbär.

Die Schrotkugel drang durch die Tunika, in ihr Schulterblatt und ihren Arm, ein weißglühender Blitz zuckte durch ihren Körper, als sie am Fuß der Treppe auf dem Boden aufschlug.

Der wütende Mann und sein knurrender Hund stürzten die Treppe hinunter, um sie zu erledigen.

Steh auf, befahl sie sich, versuchte, einen Weg durch den Schmerz zu finden. Steh auf, Willa. Du musst wegrennen!

4

Willa lag zusammengekrümmt am Fuß der Treppe auf dem Boden, das rechte Bein schmerzhaft unter das linke gebogen, ein Arm unter dem Gewicht ihres Körpers verdreht. Ihr Kopf lag flach auf den Holzdielen, Blut tropfte ihr in die Augen, und sie betrachtete die toten Möbel und ermordeten Wände in der dunklen Behausung. Sie konnte noch sehen und das Keuchen der Luft in ihrer Lunge hören, aber sie schaffte es nicht, Arme und Beine zu bewegen. Sie fühlte nur den Schmerz der Explosion durch ihren zitternden Körper strömen. Hilflos, benommen und blutend lag sie auf dem Boden.

Dann fühlte sie die Schritte des Mannes hinter ihr die Treppe herunterkommen. Der Hund sprang ihm voraus, ein funkelndes Aufblitzen gefletschter Zähne. Das Tier rammte ihr seine Fänge in die Wade, neuer Schmerz schoss ihr stechend in die Glieder, erweckte sie wieder zum Leben. Sie wirbelte herum, schrie auf und trat ruckartig aus. Der Hund zog, wollte sie mit den Zähnen davonzerren, doch sie riss sich los. Das knurrende Vieh stürzte sich wieder auf sie, aber Willa flitzte davon.

Wütend jagte der Hund ihr nach, während sie über den Boden des Essraums huschte. Sie hechtete durch die Hundetür, krabbelte über die Veranda und rannte, floh in die Nacht, wollte so schnell wie möglich die Sicherheit des Waldes erreichen.

Der Mann stieß die Tür auf und stürzte heraus, zielte mit seinem Töteeisen in die Dunkelheit. Ein weiterer Schuss erschütterte die Erde, zerschnitt die Nacht mit einem grellen Lichtblitz und einem ohrenbetäubenden Krachen, während Willa davonhastete.

»Schnapp ihn dir, Junge! Schnapp ihn dir!«, schrie der Mann, und der Hund sprang von der Veranda, ihr hinterher. »Diesmal töte ich dich!«, brüllte er ihr nach.

Sie hatte sich so schnell durch die Dunkelheit seiner Behausung bewegt, dass er sie nicht richtig hatte sehen können, aber er war wütend, viel wütender, als sie es von einer Sorte Lebewesen erwartet hätte, die angeblich so reich waren, dass sie die wenigsten ihrer Habseligkeiten brauchten.

Schnell zu den Bäumen, schnell zu den Bäumen, dachte sie fieberhaft, während sie über das Gras auf den Wald zustolperte. Aber ihr war schwindelig, und sie war orientierungslos, bestand nur aus Schmerz und Panik. Ihr Kopf dröhnte. Blut sickerte ihr in die Augen und verschleierte die Sicht.

Fast blind nutzte sie die erste Möglichkeit zum Verstecken. Sie kletterte in einen kleinen, höhlenartigen Unterschlupf, schnappte nach Luft und hoffte, dass der Hund an ihr vorbeilaufen würde.

Sie wollte nur noch die Augen gegen den Schmerz verschließen und sich klein zusammenrollen, aber wenn sie hierblieb, würde sie sterben. Sie wischte das Blut aus ihren Augen und schaute sich um. War sie in einen hohlen Baumstamm gekrabbelt? Vielleicht hatte sie Glück gehabt und einen Fuchsbau gefunden.

Doch dann roch sie etwas. Und es war kein Fuchs.

Das waren Ziegen.

Willa erstarrte. Sie war nur bis zur Scheune des Siedlers gekommen.

Sie krabbelte aus dem Pferch, die verschreckten Ziegen rannten meckernd hinaus, und Hühner flogen in einer gackernden Explosion aus Federn auf. Los, zum Wald!, mahnte sie ihr Verstand, doch es war zu spät. Sie hörte den Mann und seinen Hund auf das Gebäude zurennen. Sie verkroch sich noch tiefer in die Scheune und kauerte sich in die dunkelste Ecke.

Lähmende Angst ergriff sie. »Wenn sie dich jemals allein in ihrer Welt erwischen, töten sie dich, Willa«, hatte der Padaran ihr eingeschärft. »Sie fällen Bäume und brennen alles nieder. Sie haben deine Schwester und deine Eltern getötet!«

Die Scheunentür öffnete sich langsam und quietschend.

Das flackernde Licht der Öllampe erschien zuerst und dann der schimmernde Doppellauf des Töterohrs. Der Mann trat langsam und vorsichtig ein. Nachts waren die Tagvolk-Menschen seltsam blind. Er hielt seine Lampe in die Höhe, blickte angestrengt in dem Dämmerlicht umher, die Waffe im Anschlag.

Willa lag zusammengerollt auf dem Boden in der Ecke, verwundet und blutend, nach Luft schnappend vor so überwältigender Erschöpfung, dass sie sich nicht bewegen konnte – wie ein Rehkitz, das einen Schuss ins Herz bekommen hatte und nun auf der Erde liegend seine letzten Atemzüge tat. Willa trug die Kraft der Waldtiere in sich, doch keine dieser Kräfte wirkte an diesem unnatürlichen Ort.

An den vorsichtigen Bewegungen des Mannes erkannte sie, dass er nicht genau wusste, was für eine Art Mensch oder Tier er da in der Dunkelheit angeschossen und in seiner Scheune in die Enge getrieben hatte. Erst als er die Lampe in die Höhe hob und sie aus der Nähe sah, konnte er sie richtig erkennen.

Sie konnte sich gut vorstellen, wie sie für ihn aussehen musste, im Dreck liegend wie ein in die Ecke getriebenes Tier, die grünlichen Arme und Beine an den Körper gezogen. Wie ihre Brust sich mit schnellen, keuchenden Atemzügen hob und senkte und ihr das Blut zwischen den smaragdgrünen Augen über das Gesicht rann.

Als Willa den Blick hob, um ihn ebenfalls anzuschauen, wechselte sein Gesichtsausdruck von grimmiger Entschlossenheit zu großem Erstaunen. Die Feindseligkeit, von der er zuvor besessen gewesen war, verschwand, und er versuchte, zu verstehen, was er vor sich sah. Nun begriff er, dass das in seiner Scheune gefangene Ding kein Mann oder Tier war.

»Was …«, stammelte er verwirrt. »Was bist du?«

Im Zittern seiner Stimme hörte sie die Erkenntnis, dass er ein seltsames kleines Waldwesen angeschossen hatte – nicht nur ein Wesen, sondern ein Mädchen. Sie wusste nicht, was er eigentlich erwartet hatte, welchen feindlichen Eindringling er mitten in der Nacht in seiner Behausung vermutet hatte, aber es war nicht sie.

Willa schaute in den auf sie gerichteten Doppellauf des Töterohrs. Dieser Mann könnte hier und jetzt erneut auf sie schießen und alles beenden. Er musste nur den Abzug drücken. Oder er könnte sie mit bloßen Händen erwürgen oder mit einer Schaufel auf den Kopf schlagen. Ohne die Kräfte des Waldes konnte sie sich nicht gegen ihn verteidigen. Sie war hilflos. Doch als sie ihm ins Gesicht blickte, sah sie darin etwas, das sie bei einem Tagvolk-Mann nicht für möglich gehalten hatte: Güte.

»Ich … Ich verstehe das nicht«, sagte er verdutzt. »Wo bist du hergekommen? Wer bist du?«

Ich bin Willa, dachte sie, sprach aber die Worte nicht laut aus. Der Padaran hatte die englischen Laute schon lange vor ihrer Geburt in den Clan gebracht, und sie kannte die Laute gut genug, um ihn zu verstehen. Aber egal, ob Willa die alten oder die neuen Worte benutzte, sie sprach mit Bäumen und nicht mit Menschen, die Bäume töteten. Wie konnte der Tag jemals die Nacht verstehen? Wie konnte die Dunkelheit jemals das Licht kennen? Wie konnte sie einem solchen Mann ihren Namen nennen?

»Warte kurz …«, sagte er sanft, schaute sie mit ruhigem Blick an und kniete sich neben ihren zitternden Körper. Das Töteeisen und die Lampe legte er auf den erdigen Scheunenboden. All die Wut und Angst, die ihn nur Augenblicke zuvor erfüllt hatten, schienen verschwunden zu sein.

So unberechenbar schnell änderte sich die Stimmung dieser Menschen.

»Ich schau mir mal die Wunde an …«, sagte er, zog ein weißes Tuch aus der Tasche und trat auf sie zu, als wollte er versuchen, die Blutung zu stoppen.

Aber er war ein Mensch. Sie konnte ihm nicht vertrauen.

Sie blieb ganz still. Bewegte sich kein bisschen, während seine Hand immer näher kam.

Das Herz klopfte ihr schnell in der Brust. In dem Moment, als er sie berührte, sprang sie auf. Überrascht zog er seine Hand zurück. Sie flitzte an ihm vorbei. Der Hund schnappte nach ihr, aber verfehlte sie.

Mit einem letzten Aufbäumen ihrer ersterbenden Kraft rannte sie durch die Scheunentür und hinaus in dieDunkelheit. Über das Gras. Sobald sie den Waldrand erreicht hatte, verschmolz sie mit der Nacht und verschwand.

Das Letzte, was sie den Mann sagen hörte, als er die Lampe und das Töteeisen aufhob, war: »Komm, Junge. Wir gehen ihr hinterher.«

5

Willa wusste, dass die Dunkelheit des Waldes den Mann und seinen Hund für einige Zeit aufhalten würde, aber nicht sehr lange. Der Mensch würde durch den Wald gestapft kommen, den Weg durch sein Gefäß mit gefangenen Flammen erleuchtet, das Töteeisen in der Hand, wie alle Tagvolk-Menschen. Doch am meisten Sorge bereiteten ihr die Schnelligkeit, mit der der Hund durch das Unterholz laufen konnte, und sein guter Geruchssinn, der ihrem eigenen ganz ähnlich war. Zwar hatte sie ihn törichterweise verspottet, als er schlief, doch jetzt, da er ihr Blut gekostet hatte, war er unaufhaltsam. Sie war schon ein paarmal von Hunden gejagt worden. Keine besonders schlauen Tiere, aber unermüdlich beim Verfolgen eines Geruchs. Sie nahm eine Handvoll Erde, hielt sie sich vor den Mund und hauchte darauf. Dann verstreute sie die Erde weit hinter sich, verwischte den Geruch ihrer Laufrichtung.

Sie stolperte tiefer in den Wald hinein, kämpfte sich durch die Schmerzzuckungen, die die Schrotkugel in Schulterblatt und Arm verursachte. Blätter und kleine Zweige knackten unter ihren Füßen, Geräusche, die sie normalerweise nicht machte, aber sie musste schnell vorwärtskommen. Sie musste entkommen.

Endlich kam sie zu den Spiegeltümpeln am steinigen Flussufer. Sie hatte nicht die Kraft, in die wiegenden Arme der Bäume hinaufzuklettern und den Fluss in der Luft zu überqueren wie auf dem Hinweg, und sie war viel zu schwach, um durch die Stromschnellen zu waten, aber sie musste den Fluss irgendwie überqueren, um den Hund von ihrer Spur abzubringen. Die Erde, die sie hinter sich geworfen hatte, würde ihn für eine Weile verwirren, doch wenn der Hund zum Fluss kam, würde er das Ufer mit blinder, schnüffelnder Beharrlichkeit hinauf- und hinunterlaufen, bis er ihre Fährte wiederfand.

Hinter ihr in der Ferne hörte Willa das Geräusch der stampfenden Füße des Mannes in ihre Richtung kommen.

Sie entdeckte die schwachen Spuren eines Rehs entlang des Flussufers. Rehe überquerten Wasser nie an schnell fließenden Stellen, also folgte sie der Spur und hoffte, dass sie sie zu einem brauchbaren Flussabschnitt führen würde.

Als sie eine seichte Stelle erreichte, wo das Wasser gleichmäßig über die kleinen, runden Steine des Flussbettes glitt, wusste sie, dass das ihre einzige Chance war. Sie watetesogleich hinein, doch selbst hier zog der Fluss wütend an ihr, das wilde Wasser wallte wie Berge um ihre Knie herum auf, zerrte an ihr, wollte sie hinunterziehen. Sie kämpfte dagegen an, bahnte sich weiter den Weg. Dann verlor sie doch das Gleichgewicht und fiel in den Fluss, schmerzgeplagt, und die kalte Kraft des Wassers ergriff sie und trug sie davon.

Sie strampelte und spuckte, rang im aufgewühlten Wasser nach Luft, befürchtete, zu ertrinken. Doch dann zog die Strömung sie plötzlich vorwärts, und sie krachte gegen einen Felsen. Sie packte zu. Das wütende Wasser wollte sie sogleich wieder fortziehen, in seine dunkelsten Tiefen zerren, doch Willa biss die Zähne zusammen und hielt sich an der kalten, harten Oberfläche des Felsens fest. Klammerte sich daran. Klettere hinauf, Willa!, befahl sie sich. Klettere hinauf!

Sie griff mit einer Hand nach oben, fand mit den Fingern eine Furche und zog sich langsam aus dem Fluss heraus.

Ihr Schulterblatt pochte. Der rechte Arm und die ganze rechte Seite ihres Körpers fühlten sich taub an, als wäre alles Blut in das wirbelnde, dunkle Wasser des gierigen Flusses gesickert. Sie hockte sich zwischen die großen scharfkantigen, zerklüfteten Felsbrocken, die das Flussufer säumten, und bat sie um Hilfe. Die rissigen, moosbedeckten Steine ragten über ihrem Kopf auf, formten Höhlen, wo sie sich verstecken konnte. Sie war schon immer gerne über Felsen wie diese geklettert, und sie spendeten ihr nun Trost und Schutz zum Ausruhen, doch sie konnte nicht hierbleiben. Das Rauschen des Flusses übertönte viele Geräusche, aber sie wusste, dass der Mann und sein Hund ihr noch immer auf der Spur waren. Sie musste weiter.

Ihr Bau und der Clan lagen viele Meilen entfernt oben in den Bergen, für sie unerreichbar. Von dort würde sie keine Hilfe bekommen.

Aber sie konnte nicht einfach aufgeben. Sie musste einen Weg finden, zu entkommen. Willa hatte ihr ganzes Leben im Wald verbracht, und sie war stolz darauf, dass sie stets den Tieren half, die ihre Fürsorge benötigten. Doch nun war sie es, die Hilfe brauchte, sonst würde sie sterben.

Sie hob den Kopf, drehte ihn dem leuchtenden Mond zu und heulte. Zuerst war es ein klägliches, leises kleines Geräusch. Sie war schwach, und sie war es nicht gewohnt, laut zu sein, insbesondere wenn ihr Feinde auf der Spur waren. Doch bald sog sie den Schmerz ihrer Wunden in die Kehle und stieß ein langes, klagendes Heulen aus. Sie heulte so, wie sie es gelernt hatte, nicht von ihrer Mutter, die schon vor Jahren getötet worden war, und auch nicht von ihrer Großmutter, die sie aufgezogen hatte, sondern von einer Mutter, mit der sie sich im letzten Winter angefreundet hatte.

Als das Geheul durch die Nachtluft schallte, stellte sie sich vor, wie Raubtiere von nah und fern auf sie zuliefen, scharfkrallige Wesen, die sich blindlings auf die schwache und verwundete Kreatur stürzen würden, zu der sie geworden war. Sie stellte sich den Spürhund und den tötenden Mann vor, wie sie bei dem Geräusch den Kopf hoben und wissen würden, dass sie fast da waren.

Zuerst hörte sie nur die unablässig rauschende Stimme des Flusses, doch dann vernahm sie ein leises Geräusch in der Ferne. Sie trat zwischen den Felsen hervor und auf die Bäume zu, legte die Hände hinter die Ohren und lauschte.

Da, dachte sie, ganz weit weg. Noch ein Heulen.

Sie heulte selbst erneut.

Das Antwortgeheul klang jetzt viel näher. Was immer es war, es bewegte sich schnell, rannte. Das Herz schlug ihr wild in der Brust. Obwohl sie das Geheul selbst begonnen hatte, zitterten ihre Beine. Ein Teil von ihr sagte ihr, dass sie einen Fehler begangen hatte, dass sie jetzt davonlaufen sollte, ganz schnell, oder sich wieder zwischen die Steine zurückziehen und verstecken sollte.

Sie hörte, wie das Tier sich einen Weg durch das Unterholz bahnte. Was sie getan hatte, war gefährlich, könnte ihr den Tod bringen.

Sehr nah jetzt, spähte ein Paar silbriger, mondheller Augen aus der Dunkelheit des Waldes zu ihr herüber.

Sie holte lange und tief Luft, nutzte ihre Kräfte, um ihr Herz bewusst langsamer schlagen zu lassen, und versuchte, ruhig zu bleiben. Du kannst jetzt keinen Rückzieher mehr machen, mahnte sie sich. Du musst zu Ende bringen, was du begonnen hast.

Doch dann tauchten dreißig weitere Augenpaare im Wald auf, und alle schauten sie an. Nicht nur einer war gekommen, sondern viele.

Sie blickte in das Augenpaar, das ihr am nächsten war, aus dem Dunkeln zu ihr hinüberstarrte.

»Un don natra dunum far«, flüsterte sie in der alten Faeran-Sprache. Ich brauche deine Hilfe, mein Freund.

Im selben Augenblick flackerte das Licht aus der Lampe des Mannes im Wald auf.

6

Nur wenige Schritte von Willa entfernt trat eine große Wölfin aus dem Wald, ihre silbergrauen Augen betrachteten sie aufmerksam.

Und dann, hinter der Leitwölfin, sah sie die anderen – die hellblauen Augen der jüngeren Wölfe und die grauen und goldbraunen Augen der älteren.

Sie waren die großen Krieger des Waldes, die Klauenbewehrten und Zähnefletschenden, und in jeder anderen Nacht hätten sie ein kleines Geschöpf wie sie wahrscheinlich gejagt und getötet.

Aber Willa schaute der Leitwölfin in die Augen, duckte sich vor ihr auf den Boden und sprach die Worte noch einmal.

»Un don natra dunum far.«

Die Leitwölfin starrte sie an. Sie war ein wunderschönes Tier, mit dickem schwarzgrauem Fell und starken Jagdmuskeln. Schnauze und Maul waren kräftig, die Ohren aufgestellt, wachsam lauschend auf die lauernde Gefahr – den Mann und seinen Hund, die durch den Wald auf sie zukamen. In der englischen Sprache des Tagvolkes hatten die Wölfe und anderen Tiere des Waldes keine Namen, aber Willa kannte den Namen der Wölfin in der alten Sprache: Luthien. Sie sah ganz anders aus als im letzten Winter. Willa hatte sie auf dem Waldboden liegend gefunden, von einem Jäger angeschossen und von seinen Hunden halb zerfleischt. Sie hatte ihr geholfen. Und jetzt, im Fluss der Zeit, fügte sich alles zusammen.

Luthien legte sich so dicht neben Willa, dass diese die Fellwärme der Wölfin an ihrer Schulter spüren konnte. Vor Schmerz zitternd, aber in dem Wissen, dass es ihre einzige Überlebenschance war, krabbelte Willa auf den Rücken der Wölfin.

Der Tagvolk-Mann hatte sie in seiner Behausung gesehen und sie verwundet. Sie verstand nicht, warum er ihr in der Scheune hatte helfen wollen, welche Heimtücke oder hasserfüllte List ihn dazu getrieben hatte, aber sie wusste, dass sie einem Menschen nicht trauen konnte. Und sie wusste, dass er sie nicht laufen lassen würde, nachdem er sie nun einmal gesehen hatte. Er und sein zähnefletschender Hund und sein schepperndes Gefäß mit gefangenem Licht und sein Töteeisen kamen näher. Nur noch wenige Augenblicke entfernt, brach er sich einen Weg durch den Wald, Blätter zertrampelnd und Zweige zerbrechend, um sie zu fangen und in seine Welt zurückzubringen.

Als Luthien sich erhob, schlang Willa die Arme um den starken Hals der Wölfin.

»Der Hund im Rudel des Mannes kann unsere Fährte mit seinem Geruchssinn verfolgen«, sagte Willa in der alten Sprache. Die Wölfin würde wissen, was zu tun war.

Während der Mann und sein Hund sich durch das Dickicht des Waldes näherten, drehte Luthien sich herum und sah die anderen Wölfe ihres Rudels an. Mit einer Kopfbewegung und einer Körperdrehung gab sie das Kommando. Die anderen Wölfe wandten sich ebenfalls um und stoben in verschiedene Richtungen des Waldes davon, jaulend und heulend, forderten den herannahenden Feind gewissermaßen auf, ihnen zu folgen.

Sobald sie fort waren, stürzte sich Luthien in die Dunkelheit und sprintete davon. Plötzlich flog Willa durch den Wald, ihr Haar wild wehend. Ihre Schulter schmerzte heftig, und das Blut aus der Wunde am Kopf tropfte in Luthiens Fell. Aber sie spürte auch die Lebensfreude des Laufs, während sie sich an den Rücken der Wölfin klammerte und mit ihr schneller durch den Wald raste als jemals zuvor. Die Bäume rauschten an ihr vorbei. Große Felsbrocken verschwanden in Sekundenschnelle aus ihrem Blickfeld. Die Blätter der Sträucher bloß ein Windhauch auf ihrer Wange. Sie spürte den kräftigen Herzschlag der Wölfin gegen ihren eigenen, die wogende Luft in der Lunge und den heißen Atem aus dem Maul der Wölfin im Lauf, sah die glitzernden Zähne im Mondlicht.

Im Wald rechts und links neben ihnen bemerkte Willa zwei junge, starke Wölfe, die ihre Flanken schützten. Sie wandte sich um und entdeckte zwei kleine Wolfswelpen dicht hinter ihnen.

Die anderen Wölfe des Rudels konnte sie nicht mehr ausmachen, aber sie rannten zweifelsohne dort draußen durch den Wald, in unterschiedliche Richtungen. Nicht einmal der scharfsinnigste Spürhund würde sie alle verfolgen können.

»Von den Wölfen lernen wir, wie man zusammenarbeitet«, hatte ihre Mamaw erklärt. »Sie jagen zusammen, verteidigen zusammen ihr Revier, spielen zusammen und ziehen zusammen ihre Jungen auf. Allein durch ihre Liebe füreinander können sie überleben.« Willa wusste, dass sie keine Wölfin war und nie eine werden würde, aber sie hatte sich schon immer nach einem solchen Familienzusammenhalt gesehnt.

Der Fluss und seine Schlucht lagen nun weit hinter ihnen, und Luthien bahnte sich einen Weg über die felsigen, bewaldeten Kämme des Hochlandes, trug Willa den Hang des Großen Berges hinauf, wie das Faeran-Volk ihn nannte. Die Cherokee nannten ihn Kuwa’hi. Aber auf den Karten des Tagvolks, die aus dem zermahlenen Fleisch von Bäumen gemacht waren, wurde er Kletterkuppe genannt. All die Orte ihrer Welt hatten viele Namen, alte und neue, Nachtnamen und Tagnamen, als kämpften auch die Namen darum, diese uralten Orte zu besitzen. Ein Name für diesen Ort wurde nur noch selten verwendet, Nebelberg. Aber es war ihr Lieblingsname, denn sie hatte den Berg oft dabei beobachtet, wie er selbst diesen Namen sagte: In den frühen Morgenstunden jedes neuen Tages schwebte der weiße Atemdunst des Nebelberges um seinen runden Gipfel und hinaus über die Welt, floss dann hinab in verborgene Felsspalten und weite Täler, zu den umliegenden Bergen und Kämmen und hinunter durch die nebelverhangenen Bäume und über die rauschenden, dunstigen Flüsse, als würde der Nebelberg selbst der Welt jeden Morgen das Leben einhauchen und es sich jeden Abend wieder zurückholen.

Das Tote Tal, wo der versteckte Bau ihres Volkes lag, befand sich weit oben am nördlichen Hang des Großen Berges, einem so heimtückisch entlegenen und von solch dichtbewachsenen Bäumen und steilen Hängen überschatteten Ort, dass noch kein Mensch des Tagvolks einen Fuß dort hingesetzt hatte.

Doch als sie sich mit ihren blutverschleierten Augen umsah, bemerkte sie, dass die Wölfe nicht in Richtung ihres Baus unterwegs waren.

»Wohin laufen wir?«, wollte sie in der alten Sprache fragen, aber ihre Stimme war so dünn und heiser, dass die Wölfin sie nicht hörte.

Sie klammerte sich weiter an Luthiens Rücken, wurde immer schwächer, ihr war kalt, und klebriges Blut sickerte aus der Wunde an ihrer Seite hinunter. Sie hielt sich verzweifelt an Luthiens warmem Fell fest, doch die Augen fielen ihr zu und sie glitt langsam davon. Sie fühlte nur noch die wogende Bewegung der rennenden Wölfin.

7

Als Willa die Augen wieder öffnete, klammerte sie sich noch immer an Luthiens Rücken. Sie wusste nicht genau, wo sie waren und wie viel Zeit verstrichen war, nur dass die Sonne langsam im Osten aufging und Blut nach wie vor aus ihrem schmerzenden Körper heraussickerte.

Die Wölfe des Rudels waren wieder zu ihr und Luthien gestoßen, und sie standen auf einem Felsvorsprung, der aus dem umgebenden Gelände herausragte. Alle Wölfe schauten in dieselbe Richtung.

Willa zuckte vor Schmerz zusammen, als sie langsam den Kopf hob.

Die Wölfe blickten hinaus auf ein überwältigendes Bergpanorama: Breite, blaue Gebirgsketten ergossen sich eine nach der anderen in die Ferne, weiße Wolkenfetzen hingen tief in den Tälern, dunkle Gipfel und Kämme ragten zwischen ihnen hervor.

Sie wusste, dass ein Wolfsrudel, weit weg von seinem Bau, nicht grundlos in die Ferne starrte. Wenn Wölfe sich weit von ihrem Revier entfernten, agierten sie wohlbedacht. Sie rannten wohlbedacht, folgten einer Spur wohlbedacht. Und nun warteten sie wohlbedacht.

Sie schienen auf etwas ganz Bestimmtes zu warten, aber Willa wusste nicht, worauf.

Dann sah sie einen alten Schwarzbären, der sich den Hang eines nahe gelegenen Hügels herunterschleppte.

Alle Wölfe des Rudels wandten gleichzeitig die Köpfe und beobachteten den Bären.

Deswegen waren sie hergekommen.

Doch sie bewegten sich nicht.

Sie griffen nicht an.

Sie warteten und beobachteten.

Der Bär wankte langsam, mühselig vorwärts, als schmerzte ihn jeder Schritt auf seinem Weg den Hang hinunter in das nächstgelegene Tal. Er schien gichtgeplagt oder irgendwie verwundet zu sein.

Würden die Wölfe den verletzten Bären angreifen und töten?, fragte sich Willa, denn Wölfe und Bären waren natürliche Feinde.

Aber die Wölfe liefen nicht los. Sie blieben vollkommen reglos und vollkommen still stehen, beobachteten den Bären, bis er im Nebel des Tals verschwand.

Luthien schien sich einzuprägen, wo genau der Bärverschwunden war. Dann sah sie die anderen Wölfe des Rudels an und bewegte sich auf die Stelle zu. Die Wölfe verstanden sie offensichtlich und folgten ihr, dichtgedrängt in einer Reihe.

Willa schaute zurück und bemerkte, dass die beiden jungen Wölfe direkt hinter Luthien blieben. Stark und standhaft, tief geduckt, die Muskeln gespannt und der Blick wachsam. Die beiden helläugigen Welpen schlichen hinterdrein, argwöhnisch und unsicher, der eine zitternd, den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt.

Willa wusste nicht, welcher Gefahr sie entgegengingen, aber ihr Körper reagierte auf die Anspannung der Wölfe. Ihre Armhaare stellten sich auf, sie hörte ein Klingeln in den Ohren, fühlte ein Pochen in den Schläfen.

Die Wölfe folgten der Fährte des kranken Bären in die weiße Wand aus dichtem Nebel und in das Tal hinunter. Die Farben des Waldes verblassten zu Grau.

Als die Felsen und Bäume um sie herum in den Dunstschwaden verschwanden, spürte Willa, wie sich Luthiens Muskeln anspannten, bereit für den Kampf.

8

Während die lange Reihe der Wölfe hintereinander durch den Nebel ging, konnte Willa rings um sich herum nichts als Weiß erkennen. Angst befiel sie. Wo brachten die Wölfe sie hin?

Sie umklammerte Luthiens Hals, als die Wölfin ihre Schnauze zu Boden reckte, um den breiten Spuren des verwundeten Bären zu folgen.

Willa erinnerte sich, dass sie vor Jahren, als ihre Mamaw noch laufen konnte, mit ihrer Zwillingsschwester Alliw im Dickicht des Waldes gekauert hatte und sie beide ihrer Mamaw dabei zusahen, wie sie mit runzligen Fingern ehrfürchtig über die Spuren in der Erde strich – die gespaltenen Hufe der Hirsche, die Tatzen mit vier Krallen von Pumas und Wölfen und die riesigen Spuren der Bären, mit fünf ausgeprägten Klauen an jeder Pfote.

Wo die Erde weich war, konnte sie die Abdrücke jetzt gut erkennen. Aber wo der Bär auf felsigen Grund getreten war, verblassten die Spuren und verschwanden dann gänzlich. Doch Luthien hielt die Nase zu Boden gerichtet und folgte dem Geruch des Bären. Kein anderes Tier des Waldes, außer dem Bären selbst, besaß einen besseren Geruchssinn als der Wolf.

Ein schwirrendes, pfeifendes Geräusch ertönte über ihnen. Willa schaute auf, wollte herausfinden, was es war, doch der Nebel war zu dicht, um überhaupt etwas auszumachen.

Sie drehte sich um und sah die kleinen Welpen ängstlich in den Dunst hochschauen. Auch sie wussten nicht, was es war.

Als Luthien stehen blieb, versammelten sich die anderen um sie, die Leitwölfin. Dann lichtete sich der Nebel, und sie alle schauten in dieselbe Richtung.

Auch Willa sah auf und erblickte staunend eine ebene, silberglitzernde Wasseroberfläche. Ein riesengroßer See, der sich in die Ferne erstreckte, so weit das Auge reichte, und dann im Nebel verschwand.

Von den umliegenden Felsen floss Wasser aus natürlichen Quellen in den See, doch die Oberfläche blieb vollkommen glatt. Große Schwärme schwarzweißer Enten und anderer Vögel kreisten über dem See, und ihre dahinfliegenden Spiegelbilder glichen dunklen, geflügelten Fischen, die in dem sanften Wasser schwammen.

Willa bestaunte den stillen See mit großen Augen. Sie hatte ihr ganzes Leben in einer Welt voll flüsternder Bäche, sprudelnder Flüsse und tosender Wasserfälle verbracht – Orte, wo das Wasser ständig in Bewegung war –, aber einen solch ruhigen, glatten See hatte sie noch nie zuvor gesehen, und er versetzte sie in Ehrfurcht.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine dunkle Gestalt, die sich den Hang hinunterbewegte. Als sie sich umwandte, sah sie den alten, kranken Bären, der zum sandigen Ufer des Sees vordrang. Der Bär trottete ins Wasser, ließ sich dann hineingleiten und stieß ein erleichtertes, wohliges Brummen aus. Das Wasser schien den Schmerz in seinem Körper zu lindern.

Willa blickte am Ufer entlang. Zu beiden Seiten des Sees befanden sich noch mehr Bären, viele braun oder schwarz, manche zimtfarben oder blaugrau. Einige schwammen oder plantschten im Wasser, andere saßen lediglich im nassen Sand am Rand des Sees.

Luthien schreckte auf, als ein riesengroßer weißer Bär plötzlich vor ihr aufragte und wütend brüllte. Willa sog ängstlich die Luft ein und klammerte sich fest an Luthiens Rücken, das Gesicht in das dichte Nackenfell der Wölfin gedrückt. Doch anstatt beim Anblick des mächtigen Bären zurückzuweichen, sprang Luthien vor, mit gebleckten Zähnen und einem wilden Knurren, dessen Beben durch Willas gesamten Körper vibrierte. Sie drückte sich fest an Luthien, als der Bär sich auf die Hinterbeine erhob und erneut vor Wut brüllte, weil die Wölfe sich an diesen heiligen Ort gewagt hatten. Die anderen Wölfe traten den Rückzug an, und die Welpen liefen winselnd davon, aber Luthien blieb standhaft.

Willa fiel auf, dass dieser Bär viel größer und viel älter war als all die anderen Bären. Das hier war sein