Serafina Black – Der Schatten der Silberlöwin - Robert Beatty - E-Book

Serafina Black – Der Schatten der Silberlöwin E-Book

Robert Beatty

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Beschreibung

Verborgen in den Kellergewölben eines Herrenhauses lebt die junge Serafina Black mit ihrem Vater. Einst hatte er sie in den Wäldern gefunden und sie heimlich aufgezogen. Nur in der Dunkelheit wagt Serafina es, durch die herrschaftlichen Räume des Biltmore-Anwesens zu streifen. So beobachtet sie eines Nachts als Einzige, wie ein Mädchen verschwindet. Das Haus ist in Aufruhr: Sind auch die anderen Kinder in Gefahr? Wenn Serafina dem Mädchen helfen und die dunkle Bedrohung bekämpfen will, muss sie aus den Schatten treten. Und sie muss erkennen, wer sie wirklich ist.Ein spannendes Gestaltwandler-Mystery-Abenteuer mit Gänsehaut-Garantie!New-York-Times-Bestseller!Weitere Bücher von Robert Beatty bei Fischer KJB:»Willa of the Wood – Das Geheimnis der Wälder«»Willa of the Wood – Die Geister der Bäume«

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Robert Beatty

Serafina Black

Der Schatten der Silberlöwin Band 1

Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Weingran

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungAsheville, North Carolina12345678910111213141516171819202122232425262728293031DanksagungLeseprobe Band 2

Für meine Frau Jennifer, die mir von Anfang an geholfen hat, dieser Geschichte Gestalt zu verleihen,

und für unsere Mädchen,

Camille, Genevieve und Elisabeth,

die immer unsere ersten und wichtigsten Zuhörerinnen sein werden

Biltmore-Anwesen

Asheville, North Carolina

1899

1

Serafina Black schlug die Augen auf und sah sich in der dunklen Werkstatt um. Sie hielt Ausschau nach Ratten, die dumm genug waren, ihr Revier zu betreten, während sie schlief. Serafina wusste, dass sie da draußen waren, knapp außerhalb der Reichweite, die ihr des Nachts zur Verfügung stand. Sie krochen in den Ritzen und Schatten des weitläufigen Kellers des großen Hauses herum, wild entschlossen, alles aus Küchen und Lagerräumen zu stehlen, was sie nur konnten. Serafina hatte den Großteil des Tages damit verbracht, das eine oder andere Nickerchen in ihren Lieblingsverstecken zu halten, doch genau hier auf der alten Matratze hinter dem verrosteten Wasserboiler, im Schutze der Werkstatt, fühlte sie sich am wohlsten. Hammer, Schraubenschlüssel und andere Werkzeuge hingen von den frei liegenden Deckenbalken, und der vertraute Geruch von Maschinenöl erfüllte die Luft. Während sie sich umsah und in die tiefe Schwärze horchte, kam ihr als Erstes in den Sinn, dass diese Nacht wie gemacht zum Jagen war.

Ihr Pa, der Jahre zuvor das Biltmore-Anwesen mit erbaut hatte und seit damals heimlich in dessen Keller wohnte, lag schlafend auf der selbst gezimmerten Pritsche, die er hinter den Vorratsregalen versteckt hatte. Asche glühte in der alten Metalltonne, über der er wenige Stunden zuvor ein Abendessen aus Hühnchen und Maisgrütze gekocht hatte. Sie hatten sich dicht an das Herdfeuer gesetzt, um sich zu wärmen, während sie aßen. Wie gewöhnlich hatte Serafina das Hühnchen gegessen, die Maisgrütze aber stehen lassen.

»Iss dein Abendessen«, hatte er gemurrt.

»Hab ich ja«, war ihre Antwort gewesen, als sie den halbleeren Zinnteller abstellte.

»Dein ganzes Abendessen«, sagte er und schob ihr den Teller wieder hin. »Sonst wirst du nie größer als ein kleines Ferkel.«

Ihr Pa verglich sie gern mit einem Schweinebaby, wenn er sie auf die Palme bringen wollte, weil er dachte, sie würde dann so wütend auf ihn werden, dass sie die widerliche Grütze in einem Happs hinunterschlang, egal, wie sehr sie sie verabscheute.

»Ich werde die Grütze nicht essen, Pa«, sagte sie mit einem feinen Lächeln, »egal, wie oft du sie mir hinstellst.«

»Es ist nichts weiter als gemahlener Mais, Mädel«, brummte er. Er stocherte mit einem Ast im Feuer herum, um das Brennholz nach seiner Vorstellung zu ordnen. »Mais mag doch jeder, mal abgesehen von dir.«

»Du weißt, dass ich nichts Grünes oder Gelbes oder Grässliches wie das da runterkriege, Pa, also hör auf rumzumeckern.«

»Wenn ich tatsächlich rummecker, klingt das anders«, sagte er und stieß den Ast, der ihm als Schüreisen diente, ins Feuer.

Nach und nach geriet die Grütze in Vergessenheit, und sie sprachen über andere Dinge.

Serafina musste lächeln, als sie an das Essen mit ihrem Vater zurückdachte. Nichts machte ihr mehr Spaß als ein kurzer Schlagabtausch mit ihrem Pa – mal abgesehen von einem Schläfchen in der wohligen Wärme eines sonnendurchfluteten kleinen Kellerfensters vielleicht.

Sie rutschte vorsichtig von der Matratze, um ihn nicht zu wecken, tapste über den sandigen Steinboden der Werkstatt und stahl sich hinaus in den schmalen Korridor. Während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb und Arme und Beine streckte, begann ihr Körper zu kribbeln. Das aufregende Gefühl, eine brandneue Nacht zu beginnen, ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie spürte, wie all ihre Muskeln und Sinne erwachten, so als wäre sie eine Eule, die ihre Schwingen ausbreitete und die Fänge spreizte, bevor sie in die Nacht flog, um ihre gespenstische Jagd zu beginnen.

Serafina bewegte sich lautlos durch die Dunkelheit, vorbei an der Wäscherei, den Speisekammern, den Küchen. Im Erdgeschoss waren den ganzen Tag die Dienstboten beschäftigt gewesen, doch jetzt lagen die Räume verlassen und dunkel da, genau wie sie es am liebsten hatte. Sie wusste, dass die Vanderbilts und ihre zahlreichen Gäste in den Stockwerken über ihr schliefen, doch hier unten war alles ruhig. Serafina liebte es, durch die endlosen Flure und dunklen Vorratskammern zu streifen. Sie kannte Licht und Schatten eines jeden Schlupflochs, eines jeden Winkels, wusste sie zu ertasten, zu erspüren. Bei Nacht war dies ihr Revier, und zwar ihres ganz allein.

Sie hörte direkt vor sich ein leises Schlittern. Die Nacht brach schnell herein.

Sie blieb stehen. Sie lauschte.

Da! Zwei Türen voraus, das Trippeln winziger Füße auf nacktem Grund.

Sie schlich an der Wand entlang vorwärts.

Wenn das Geräusch erstarb, erstarrte auch sie. Wenn es erneut begann, stahl auch sie sich wieder vorwärts. Es war eine Taktik, die sie bereits im Alter von sieben Jahren verinnerlicht hatte: Bewege dich, wenn sie sich bewegen. Sei still, wenn sie still sind.

Inzwischen vernahm sie das Atmen der Tiere, das Kratzen ihrer Zehennägel auf dem Boden und das Schlurfen ihrer Schwänze. Sie spürte das vertraute Kribbeln in den Fingern und die Spannung in den Beinmuskeln.

Sie huschte durch die halb geöffnete Tür in den Vorratsraum und sah sie in der Dunkelheit: Zwei riesige Ratten mit fettig glänzendem braunen Fell waren durch das Abflussrohr hineingeschlittert. Die Eindringlinge waren offenbar zum ersten Mal hier, denn sie suchten dummerweise nach Küchenschaben, wo sie doch wenige Räume weiter die Vanillecreme von den frisch gebackenen Teilchen hätten schlabbern können.

Ohne ein Geräusch zu machen, ja ohne dass sich die Luft bewegt hätte, schlich sie langsam auf die Ratten zu. Ihre Augen fixierten sie. Ihre Ohren fingen jedes Geräusch auf, das sie machten. Sie konnte sogar den fauligen Abwassergeruch riechen, den sie verströmten. Die ganze Zeit über gingen sie ihren garstigen Geschäften nach und hatten keinen blassen Schimmer, dass Serafina da war.

Sie blieb wenige Schritte hinter ihnen stehen, verborgen in den Schatten, bereit zum Sprung. Diesen Moment liebte sie am meisten, den Moment kurz vor dem Sprung. Ihr Körper schwang langsam vor und zurück, pendelte den besten Winkel für den Angriff aus. Dann schlug sie zu. Mit einer blitzschnellen Bewegung schnappte sie die quietschenden, sich wehrenden Ratten mit bloßen Händen.

»Hab ich euch, ihr niederträchtigen Nager!«, fauchte sie.

Die kleinere Ratte wand sich panisch in ihrem verzweifelten Bemühen zu entkommen, die größere dagegen drehte sich einfach um und biss Serafina in die Hand.

»Schluss mit dem Unsinn!«, knurrte sie, ohne den eisernen Griff zu lockern, mit dem sie die Ratten im Genick gepackt hielt.

Die Ratten zappelten wild, aber Serafina ließ sie nicht los. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie diese Lektion gelernt hatte. Wenn man die Ratten erst einmal hatte, durfte man sie nicht loslassen, egal, was passierte – selbst wenn ihre kleinen Krallen einen kratzten und ihre schuppigen Schwänze sich einem wie eklige graue Schlangen um das Handgelenk legten.

Nachdem sie eine Zeitlang wie rasend gekämpft hatten, erkannten die erschöpften Ratten endlich, dass sie nicht entkommen konnten. Sie wurden ganz ruhig und fixierten Serafina misstrauisch mit ihren schwarzen Knopfaugen. Ihre feuchten kleinen Nasen und endlos langen Schnurrhaare vibrierten vor Angst. Die Ratte, die sie gebissen hatte, schlang langsam den langen schuppigen Schwanz um Serafinas Handgelenk, weil sie hoffte, damit ihre Flucht einleiten zu können.

»Denk nicht mal dran«, sagte Serafina warnend. Die Bisswunde blutete immer noch, auf derart miese Spielchen konnte sie also gut verzichten. Es war nicht das erste Mal, dass sie gebissen worden war, aber das machte es nicht gerade besser.

Sie schleppte die niederträchtigen Biester in den geschlossenen Fäusten den Flur entlang. Es war ein gutes Gefühl, zwei Ratten gefangen zu haben, ehe es zwölf schlug, und es waren zwei Exemplare mit ausgesprochen fiesem Charakter. Die Sorte, die sich geradewegs durch einen Jutesack nagte, um an das Korn darin zu gelangen, oder die Eier vom Regal schubste, damit sie die Sauerei vom Boden aufschlecken konnte.

Sie stieg die alten Steinstufen hinauf, die ins Freie führten, und lief quer über das ganze Anwesen bis zum Waldrand. Dort schleuderte sie die Ratten ins Unterholz. »Jetzt haut ab und kommt ja nie wieder!«, rief sie ihnen zu. »Nächstes Mal bin ich nicht mehr so nett!«

Die Kraft ihres Wurfs katapultierte die Ratten auf den Waldboden, wo sie sich überschlugen und in Erwartung des tödlichen Hiebs zitternd vor Angst liegen blieben. Als er nicht erfolgte, drehten sie sich um und sahen Serafina erstaunt an.

»Macht schon, bevor ich es mir anders überlege«, sagte sie.

Ohne noch länger zu zögern, preschten die Ratten davon.

Es hatte eine Zeit gegeben, da die Biester noch nicht so viel Glück gehabt hatten. Damals hatte Serafina ihre Körper vor das Bett des Vaters gelegt, um ihm zu zeigen, was sie in der Nacht vollbracht hatte. Aber das hatte sie schon eine Ewigkeit nicht mehr getan.

Seit sie ein kleines Kind gewesen war, hatte sie die Männer und Frauen beobachtet, die im Keller ihrer Arbeit nachgingen. Daher wusste sie, dass jeder von ihnen eine besondere Aufgabe hatte. Ihr Vater war für die Reparatur der Heizanlage, der Aufzüge, Speiseaufzüge und aller anderen mechanischen Vorrichtungen zuständig, auf die das Herrenhaus mit seinen zweihundertfünfzig Räumen angewiesen war. Er sorgte sogar dafür, dass die Orgel im großen Bankettsaal, wo Mr. und Mrs. Vanderbilt ihre rauschenden Bälle feierten, ordnungsgemäß funktionierte. Neben ihrem Pa gab es noch Köche, Küchenmägde, Heizer, Schornsteinfeger, Waschfrauen, Bäckerinnen, Hausmädchen, Dienstboten und unzählige andere Angestellte.

Als sie zehn Jahre alt gewesen war, hatte sie gefragt: »Habe ich auch eine Aufgabe, so wie alle anderen, Pa?«

»Na klar hast du die«, hatte er gesagt, aber sie hatte vermutet, dass er nicht die Wahrheit sagte. Bestimmt wollte er nur ihre Gefühle nicht verletzen.

»Welche denn? Was ist meine Aufgabe?«, hatte sie nachgebohrt.

»Es ist sogar eine sehr wichtige Position, die du bekleidest, und niemand ist dafür besser geeignet als du, Sera.«

»Sag schon, Pa. Wovon sprichst du?«

»Du bist Biltmores O.R. F.«

»Was bedeutet das?«, hatte sie ganz aufgeregt gefragt.

»Du bist die Oberste Rattenfängerin.«

Egal, was er mit diesen Worten bezweckt hatte, sie gruben sich tief in ihr Gedächtnis. Selbst jetzt, zwei Jahre später, erinnerte sie sich noch daran, wie ihre Brust vor Stolz geschwellt war und sie gelächelt hatte, als er die Worte sagte: Oberste Rattenfängerin. In ihren Ohren hatten sie gut geklungen. Jeder wusste, dass Nagetiere auf einem Anwesen wie Biltmore mit seinen zahlreichen Schuppen und Regalen und Scheunen ein großes Problem darstellten. Und es stimmte, dass Serafina ein natürliches Talent für das Fangen des hinterlistigen, dreckigen Ungeziefers besaß, das sich von den Erwachsenen mit ihren plumpen Fallen und Giften nicht hinters Licht führen ließ. Mäuse, die schreckhaft waren und dazu neigten, im passenden Moment aus lauter Panik den entscheidenden Fehler zu machen, stellten überhaupt kein Problem für Serafina da. Den Ratten musste sie Nacht für Nacht nachjagen, und so hatte sie dank ihnen ihre Fähigkeiten inzwischen perfektioniert. Sie war jetzt zwölf Jahre alt. Und sie war Serafina, O.R. F.

Doch als sie den zwei Ratten hinterherblickte, die in den Wald liefen, überkam sie ein Gefühl, das so merkwürdig wie mächtig war. Sie verspürte den Wunsch, ihnen zu folgen. Sie wollte sehen, was sie unter Blättern und Stöcken sahen, wollte die Steine und Mulden erkunden, die Bäche und Wunder. Doch ihr Pa hatte es ihr verboten.

»Geh niemals in den Wald«, hatte er ihr viele Male eingeschärft. »Dort herrschen dunkle Mächte, die niemand begreift. Es geschehen Dinge, die widernatürlich sind und schlimmes Unheil über dich bringen können.«

Serafina stand am Waldrand und spähte so weit ins Waldesinnere hinein, wie sie konnte. Seit vielen Jahren hatte sie immer wieder Geschichten über Leute gehört, die sich im Wald verirrt hatten und nicht mehr nach Hause gekommen waren. Sie fragte sich, welche Gefahren einem dort drohten. Handelte es sich um schwarze Magie, Dämonen oder ein schreckliches Monster? Wovor hatte ihr Pa solche Angst?

Auch wenn sie sich wegen allem Möglichen mit ihrem Vater stritt – weil sie sich zum Beispiel weigerte, ihre Grütze zu essen, am Tag schlief und in der Nacht jagte und den Vanderbilts und ihren Gästen nachspionierte –, hätte sie sich wegen des Waldes nie mit ihm angelegt. Sie wusste, dass es ihm todernst damit gewesen war. All den Widerworten und der Herumschleicherei zum Trotz musste man manchmal einfach die Klappe halten und tun, was einem gesagt wurde. Denn Serafina spürte, dass sie auf diese Weise länger am Leben bleiben würde.

Serafina fühlte sich merkwürdig allein, als sie sich vom Wald abwandte und ihr Blick wieder auf das Anwesen fiel. Der Mond ging über dem steilen, mit Schieferschindeln gedeckten Dach des Hauses auf und spiegelte sich in der Glaskuppel des Wintergartens. Die Sterne funkelten hoch über den Bergen. Das Gras, die Bäume und die Blumen auf den wunderschön angelegten Flächen schimmerten im Mondschein. Serafina konnte jedes Detail erkennen, jede Schabe und jede Schnecke und all die anderen Kreaturen der Nacht. In einer Magnolie sang eine einsame Nachtigall ihr Abendlied, und in ihrem winzigen Nest unter den Ranken des Blauregens kuschelten sich die schlafenden Kolibriküken mit raschelndem Gefieder aneinander.

Es machte sie ein wenig stolz, dass ihr Pa geholfen hatte, all dies zu erschaffen. Er war einer von Hunderten Steinmetzen, Schreinern und anderen Handwerkern gewesen, die vor Jahren aus den umliegenden Bergen nach Asheville gekommen waren, um das Biltmore-Anwesen zu bauen. Er war geblieben, um die Maschinen zu warten. Doch während die anderen Angestellten abends zu ihren Familien nach Hause gingen, verbargen Serafina und er sich zwischen den Heizungsrohren und Metallwerkzeugen in der Werkstatt wie blinde Passagiere im Maschinenraum eines Ozeandampfers. Sie hatten nun mal kein anderes Zuhause, keine Familie, zu der sie hätten heimkehren können. Und wann immer Serafina nach ihrer toten Mutter fragte, weigerte der Vater sich, von ihr zu erzählen. Es gab also niemanden außer ihrem Pa und ihr, und sie waren im Keller zu Hause, seit Serafina denken konnte.

»Warum wohnen wir nicht im Dienstbotentrakt oder in der Stadt wie die anderen Angestellten, Pa?«, hatte sie ihn schon oft gefragt.

»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber«, erwiderte er jedes Mal mürrisch.

Im Laufe der Jahre hatte ihr Vater ihr Lesen und Schreiben beigebracht und ihr viele Geschichten über die Welt erzählt, aber er war nicht gerade erpicht darauf, mit ihr über die Dinge zu reden, die sie am meisten interessierten. Wie es tief in seinem Herzen aussah, zum Beispiel, oder was mit ihrer Momma passiert war, und warum sie keine Brüder oder Schwestern hatte, und warum sie und ihr Pa keine Freunde hatten, die zu Besuch kamen.

Manchmal verspürte sie den Wunsch, den Panzer zu sprengen, mit dem er sein Herz schützte, um zu sehen, was dann passieren würde. Doch meistens schlief ihr Pa die ganze Nacht, arbeitete den ganzen Tag und kochte am Abend das Essen und erzählte ihr Geschichten. Sie führten ein ziemlich gutes Leben, sie beide, also ließ sie ihn lieber in Ruhe.

Des Nachts, wenn alle anderen im Haus schlafen gingen, schlich sie sich in die oberen Stockwerke und borgte Bücher aus, die sie im Mondlicht las. Sie hatte gehört, wie sich ein Diener einem Autor gegenüber damit brüstete, dass Mr. Vanderbilts Sammlung zweiundzwanzigtausend Bücher umfasste, von denen nur die Hälfte in der Bibliothek Platz fand. Die anderen waren überall im Haus auf Tischen und Regalen verteilt, und für Serafina waren sie wie erntereife Früchte – zu verlockend, um ihnen zu widerstehen. Niemandem schien aufzufallen, wenn ein Buch fehlte und ein paar Tage später wieder an Ort und Stelle war.

Sie hatte von den großen Schlachten zwischen den Nord- und Südstaaten gelesen, den im Wind flatternden, zerrissenen Flaggen und von den qualmenden Ungeheuern aus Eisen, mit denen die Menschen von Ort zu Ort rasten. Sie hätte sich zu gern mit Tom und Huck auf den Friedhof geschlichen und am liebsten mit der Familie Robinson Schiffbruch erlitten. In manchen Nächten sehnte sie sich danach, eine von Betty und ihren Schwestern zu sein, weil sie so eine liebevolle Mutter hatten. In anderen Nächten malte sie sich aus, die Geister aus Sleepy Hollow zu treffen oder wie Poes Rabe an eine Fensterscheibe zu pochen. Sie erzählte ihrem Vater gern von den Büchern, die sie las, und sie erfand oft ihre eigenen Geschichten, in denen es vor Phantasiefreunden und merkwürdigen Familien und Gestalten der Nacht nur so wimmelte, aber er interessierte sich nicht für ihre einfallsreichen Spukgeschichten. Er war viel zu vernünftig für solche Dinge und glaubte nur an Steine und Bolzen und andere handfeste Sachen.

Immer öfter fragte sie sich, wie es wäre, einen geheimen Freund zu haben, von dem ihr Vater nichts ahnte, jemand, mit dem sie reden konnte. Doch sie begegnete nicht sonderlich vielen Kindern ihres Alters, die des Nachts durch den Keller schlichen.

Einige niedere Küchenhilfen und Heizer, die im Keller arbeiteten und am Abend nach Hause gingen, hatten Serafina mal hier, mal dort herumflitzen sehen und besaßen eine vage Vorstellung davon, wer sie war. Aber die Dienstboten der oberen Etagen kannten sie nicht. Und der Herr und die Herrin des Hauses wussten ganz gewiss nicht, dass sie existierte.

»Die Vanderbilts sind gute Menschen, Sera«, hatte ihr Vater ihr versichert, »aber sie sind nicht unseresgleichen. Du machst dich besser rar, wenn sie in der Nähe sind. Sorge dafür, dass dich niemand allzu genau in Augenschein nimmt. Und was du auch tust, verrate niemandem, wie du heißt oder wer du bist. Hast du gehört?«

Serafina hatte es gehört. Sie hörte sehr gut. Sie konnte Mäuse denken hören. Trotzdem wusste sie nicht, warum ihr Pa und sie so lebten, wie sie es taten. Sie wusste nicht, warum ihr Vater sie vor der Welt versteckte oder warum er sich ihrer schämte, aber sie wusste eines mit absoluter Gewissheit: Sie liebte ihn von ganzem Herzen, und sie wollte ihn auf keinen Fall in Schwierigkeiten bringen.

Also war sie eine Expertin darin geworden, von niemandem bemerkt zu werden, weder von den Ratten noch von den Menschen. Wenn sie besonders mutig oder einsam war, sauste sie die Treppe hinauf ins Kommen und Gehen der schillernden Gesellschaft hinein. Sie kroch und schlich und versteckte sich. Sie war klein für ihr Alter und leichtfüßig. Die Schatten waren ihre Freunde. Sie spionierte den elegant gekleideten Gästen hinterher, wenn sie mit ihren prächtigen Pferdekutschen eintrafen. Niemand sah sie je unter dem Bett oder hinter der Tür. Niemand entdeckte sie im Wandschrank, wenn sie die Mäntel dort aufhängten. Wenn die Damen und Herren auf dem Gelände spazieren gingen, schlich sie direkt neben ihnen her, ohne dass sie es wussten, und lauschte gebannt ihren Erzählungen. Sie war hin und weg von den jungen Mädchen mit ihren blauen und gelben Kleidern, in deren Haaren Bänder flatterten, und sie rannte mit ihnen, wenn sie durch den Garten tollten. Wenn die Kinder Verstecken spielten, war ihnen nie bewusst, dass es eine weitere Mitspielerin gab. Manchmal sah sie sogar Mr. und Mrs. Vanderbilt Arm in Arm spazieren oder ihren zwölfjährigen Neffen, der auf seinem Pferd über das Gelände ritt, während sein seidig glänzender schwarzer Hund neben ihm herrannte.

Sie hatte sie alle heimlich beobachtet, doch keiner von ihnen hatte sie jemals zu Gesicht bekommen – noch nicht einmal der Hund. In letzter Zeit hatte sie sich gefragt, was dann geschehen würde. Was wäre, wenn der Junge einen Blick auf sie erhaschte? Was würde sie tun? Was wäre, wenn sein Hund hinter ihr herjagte? Würde sie rechtzeitig auf einen Baum klettern können? Manchmal stellte sie sich vor, was sie sagen würde, wenn sie plötzlich Mrs. Vanderbilt gegenüberstände. Hallo, Mrs. V. Ich fange Ratten für Sie. Soll ich sie lieber umbringen oder einfach rauschmeißen? Manchmal träumte Serafina davon, schöne Kleider zu tragen und Bänder in den Haaren und blank geputzte Schuhe an den Füßen. Und ab und zu, wenn auch nur ganz selten, sehnte sie sich danach, die Menschen in ihrer Umgebung nicht nur heimlich zu belauschen, sondern mit ihnen zu reden. Sie nicht nur zu sehen, sondern von ihnen gesehen zu werden.

Während sie im Mondschein über den Rasen zurück zum Haupthaus ging, überlegte sie, was passieren würde, wenn einer der Gäste oder der junge Herr, der in einem Zimmer im zweiten Stock schlief, aufwachte, aus dem Fenster blickte und ein geheimnisvolles Mädchen allein durch die Nacht spazieren sah.

Ihr Pa verlor kein Wort darüber, aber sie wusste, dass sie nicht gerade normal aussah. Sie war klein und dünn, an ihr war nichts dran außer Muskeln, Knochen und Sehnen.

Sie besaß kein Kleid, daher trug sie eines von Pas alten Arbeitshemden, das sie mit einem Bindfaden, den sie in der Werkstatt ergattert hatte, an ihrer schmalen Taille enger schnürte. Ihr Vater kaufte ihr keine Kleidung, weil er nicht wollte, dass die Leute in der Stadt Fragen stellten und sich einmischten. Einmischung war etwas, das er überhaupt nicht leiden konnte.

Serafinas lange Haare hatten keine einheitliche Farbe wie die der meisten Menschen, sondern schimmerten in verschiedenen Gold- und Hellbrauntönen. Ihr Gesicht besaß merkwürdig ausgeprägte Wangenknochen, die es eckig aussehen ließen. Und sie hatte große, ruhig blickende bernsteinfarbene Augen. Sie konnte bei Nacht so gut sehen wie am Tag. Auch ihre Fähigkeiten als lautlose Jägerin waren nicht gerade normal. Alle Menschen, denen sie bisher begegnet war, besonders ihr Pa, machten beim Laufen so viel Lärm, dass sie ihr wie die schweren belgischen Ackergäule vorkamen, die auf Mr. Vanderbilts Feldern den Pflug zogen.

Und das alles brachte sie zum Grübeln, als sie jetzt zu den Fenstern des großen Hauses aufblickte. Wovon träumten die Leute da oben mit den einfarbigen Haaren und den langen spitzen Nasen und den gewaltigen Körpern, die im glorreichen Dunkel der Nacht in ihren weichen Betten lagen? Wonach sehnten sie sich? Worüber lachten sie, was ließ sie zusammenzucken? Was fühlten sie tief im Innern? Aßen die Kinder nur das Hühnchen oder auch die Maisgrütze, wenn sie abends beim Essen beisammensaßen?

Als Serafina die Stufen in den Keller hinunterhuschte, hörte sie etwas in einem weit entfernten Korridor. Sie blieb stehen und lauschte, aber sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, worum es sich handelte. Es war keine Ratte. So viel stand fest. Dazu war es zu groß. Aber was war es?

Neugierig bewegte sie sich auf das Geräusch zu.

Sie ging an der Werkstatt des Vaters vorbei, der Küche und den anderen Räumen, die sie gut kannte, und weiter in Bereiche hinein, wo sie seltener jagte. Sie hörte, wie Türen zufielen, dann das Geräusch von Schritten und erstickte Laute. Ihr Herz begann rascher zu klopfen. Jemand lief durch die Flure des Kellers. Ihres Kellers.

Sie schlich näher.

Es war nicht der Mann, der jede Nacht den Müll holte, oder ein Dienstbote, der einem Gast einen mitternächtlichen Imbiss besorgte – sie wusste genau, wie deren Schritte klangen. Manchmal hielt der Gehilfe des Butlers, der elf Jahre alt war, im Flur inne und stopfte sich rasch ein paar Plätzchen von dem Silbertablett in den Mund, das zu holen sein Auftrag war. Sie blieb dann in der Dunkelheit hinter der nächsten Ecke stehen und tat so, als wären sie Freunde, die einen kurzen Plausch hielten und die Gesellschaft des anderen genossen. Dann wischte der Junge sich den weißen Puderzucker von den Lippen und sauste die Treppe hinauf davon, um die Zeit wettzumachen, die er verloren hatte.

Doch das hier war er nicht. Wer immer es war, trug fest besohlte Schuhe – teure Schuhe. Aber ein anständiger Herr hatte in diesem Bereich des Hauses nichts verloren. Warum wanderte er mitten in der Nacht im Dunkeln herum?

Mit wachsender Neugier folgte sie dem Fremden, stets darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. Jedes Mal, wenn sie ihm so nahe kam, dass sie ihn beinah sehen konnte, erkannte sie nicht mehr als den Schatten einer großen schwarzen Gestalt, die eine schwach leuchtende Laterne trug. Und da war auch noch ein zweiter Schatten. Jemand oder etwas war bei ihm, aber Serafina traute sich nicht noch näher heran, um zu sehen, wer oder was es war.

Der Keller, der in den Hang unter das Haus hineingebaut worden war, verfügte über zahlreiche Räume, Flure und Ebenen. Einige Bereiche, wie die Küchen und Waschräume, hatten glatt verputzte Wände und Fenster. Diese Räume waren einfach, aber sauber und trocken und für die tägliche Arbeit der Dienerschaft gut geeignet. Die entlegeneren Bereiche des riesigen Kellers führten tief in den feuchten und erdigen Kaninchenbau hinein, den die massiven Fundamente des Hauses darstellten. Dort bröckelte der dunkle gehärtete Mörtel zwischen den Fugen der grob gehauenen Steinblöcke hervor, die Wände und Decke bildeten. Serafina ging selten dorthin, weil die Räume kalt waren und dreckig und modrig.

Plötzlich änderten die Schritte die Richtung. Sie kamen nun auf Serafina zu. Fünf quiekende Ratten flüchteten vor ihnen und erreichten Serafina als Erste. Noch nie hatte sie Ungeziefer so panisch erlebt. Spinnen krabbelten aus den Rissen in den Wänden. Schaben und Tausendfüßler brachen aus dem Lehmboden hervor. Verblüfft von dem, was sie sah, hielt Serafina den Atem an und presste sich starr vor Angst an die Wand wie ein kleines Kaninchen, das sich zitternd unter dem Schatten eines vorbeifliegenden Raubvogels wegduckt.

Während der Mann auf sie zukam, hörte sie noch ein weiteres Geräusch. Es war ein Schlurfen wie von einer kleinen Person – Füße in Hausschuhen, vielleicht ein Kind –, aber etwas stimmte damit nicht. Die Füße des Kindes schrammten über den Boden, manchmal schlitterten sie … als wäre das Kind verkrüppelt … nein … Das Kind wurde mitgeschleift.

»Nein, Sir! Bitte! Nein!«, wimmerte das Mädchen verzweifelt. »Wir dürfen uns hier unten nicht aufhalten.« Das Mädchen sprach wie jemand, der in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen war und eine Privatschule besucht hatte.

»Mach dir keine Sorgen. Da sind wir schon«, sagte der Mann und blieb vor einer Tür in Serafinas Nähe stehen. Jetzt konnte sie seinen Atem hören, die Bewegungen seiner Hände und das Rascheln seiner Kleidung. Ihr wurde plötzlich furchtbar heiß. Sie wollte davonrennen, fliehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht.

»Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst, Kind«, sagte der Mann zu dem Mädchen. »Ich werde dir nicht weh tun.«

Die Art und Weise, wie er diese Worte sagte, ließ Serafinas Haare zu Berge stehen. Geh nicht mit ihm, dachte sie. Tu’s nicht!

Das Mädchen klang, als wäre es nicht viel jünger als sie, und Serafina wollte ihm helfen, aber sie brachte den Mut dazu nicht auf. Sie drückte sich eng an die Wand, überzeugt, dass der Mann sie hören oder sehen würde. Ihre Beine zitterten, als wollten sie unter ihr nachgeben. Sie konnte nicht sehen, was als Nächstes passierte, aber plötzlich stieß das Mädchen einen gellenden Schrei aus, der Serafina das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie fuhr zusammen und musste den eigenen Aufschrei unterdrücken. Dann hörte sie einen Kampf. Das Mädchen schien sich von dem Mann loszureißen, denn Serafina hörte es davonrennen. Lauf, Mädchen, lauf!, dachte Serafina.

Die Schritte des Mannes verloren sich in der Ferne, als er ihm nacheilte. Serafina konnte erkennen, dass er nicht mit voller Kraft rannte, sondern gleichmäßig trottete, unermüdlich, so als wüsste er, dass das Mädchen ihm nicht entkommen konnte. Serafinas Pa hatte ihr erzählt, dass die Rotwölfe auf diese Weise das Wild in den Bergen jagten und erlegten. Mit hartnäckiger Ausdauer statt mit schnellen Sprints.

Serafina wusste nicht, was sie tun sollte. Sollte sie sich in einer dunklen Ecke verstecken und hoffen, dass er sie nicht fand? Sollte sie wie die panischen Ratten und Spinnen fliehen, solange noch Gelegenheit dazu war? Sie wollte zu ihrem Vater zurückrennen, aber was war mit dem Kind? Das Mädchen war so hilflos, so langsam und schwach und verängstigt, und es war auf eine Freundin angewiesen, die ihm half, sich zu wehren. Serafina wollte diese Freundin sein, sie wollte ihm helfen, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, in die entsprechende Richtung zu laufen.

Da hörte sie das Mädchen erneut kreischen. Er wird sie doch nicht etwa umbringen?, dachte Serafina entsetzt.

Und mit einem Mal war ihre Wut so groß, dass sie ihr den Mut verlieh, auf das Kreischen zuzulaufen. Sie meinte, noch nie so schnell gerannt zu sein. In ihr loderte eine Mischung aus Angst und Euphorie. Sie umrundete Ecke um Ecke, doch als sie die bemooste Steintreppe erreichte, die in die tiefsten Abgründe des Kellers führte, blieb sie nach Luft schnappend stehen und schüttelte den Kopf. Es war ein kalter, schrecklicher Ort, den sie stets mit allen Mitteln gemieden hatte – insbesondere im Winter. Sie hatte gehört, dass die Toten dort gelagert wurden, wenn die Erde zu fest gefroren war, um ein Grab für sie auszuheben. Warum um Himmels willen war das Mädchen dort hinuntergegangen?

Serafina stieg zögernd die nassen, glitschigen Stufen hinab. Nach jedem klebrigen Schritt, den sie machte, hob sie den Fuß und schüttelte ihn. Als sie endlich unten angekommen war, folgte sie einem langen, leicht abfallenden Gang, von dessen Decke braunes Abwasser tropfte. Der ganze finstere, widerliche Ort ließ sie bis ins Mark erschauern, aber sie lief weiter. Du wirst ihr helfen, sagte sie sich immer wieder. Du kannst jetzt nicht umkehren. Sie suchte sich ihren Weg durch ein Labyrinth verschlungener Tunnel. Sie bog rechts ab, dann links, dann links, dann rechts, bis sie nicht mehr wusste, wie weit sie schon gelaufen war. Schließlich hörte sie die Geräusche eines Kampfes und Schreie hinter der nächsten Ecke. Sie war fast da.

Serafinas Herz klopfte so fest, dass es sich anfühlte, als müsste es jeden Moment entzweispringen. Vor Angst zitterte sie am ganzen Körper. Sie zögerte, den nächsten Schritt zu tun, aber Freunde mussten einander helfen. Sie wusste nicht viel über das Leben, aber so viel wusste sie. Sie wusste es mit absoluter Gewissheit, und sie würde nicht ausgerechnet dann davonrennen wie ein zu Tode erschrockenes Eichhörnchen, wenn sie am nötigsten gebraucht wurde.

Also riss sie sich zusammen, holte tief Luft und zwang sich, um die Ecke zu biegen.

Eine zerbrochene Laterne lag umgefallen auf dem Steinboden. Das Glas war kaputt, aber die Flamme brannte noch. Im Schein ihres flackernden Lichts kämpfte ein Mädchen in einem gelben Kleid um sein Leben. Ein großer Mann mit einem schwarzen Umhang und einem Hut hatte es an der Taille gepackt. Das Mädchen versuchte, sich loszureißen. »Nein! Lassen Sie mich los!«, kreischte es.

»Beruhige dich«, sagte der Mann. Seine Stimme klang unheimlich, so als wäre sie nicht von dieser Welt. »Ich werde dir nicht weh tun, Kind«, sagte er wieder.

Das Mädchen hatte blonde Locken und blasse weiße Haut. Es kämpfte darum zu entkommen, aber der Mann in dem schwarzen Umhang zog es an sich. Er umschlang es mit beiden Armen. Es schlug wild um sich und traf ihn mit seinen kleinen Fäusten im Gesicht.

Serafina erkannte plötzlich, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Sie konnte es niemals allein schaffen. Sie wusste, dass sie dem Mädchen helfen sollte, aber sie hatte so große Angst, dass sie wie angewurzelt dastand. Sie konnte kaum atmen, geschweige denn kämpfen.

Hilf ihr!, schrie Serafinas innere Stimme. Hilf ihr! Schnapp dir die Ratte! Schnapp dir die Ratte!

Endlich nahm sie allen Mut zusammen und stürmte vor, doch in diesem Moment schwebte der schwarze Umhang des Mannes zur Decke, als wäre er von einem körperlosen Geist besessen. Das Mädchen kreischte. Die Falten des Umhangs legten sich um es wie eine hungrige Schlange. Der schwarze Stoff schien sich von allein zu bewegen, begleitet von einem unheimlichen Rasseln. Serafina sah, wie das entsetzte Gesicht des Mädchens sie flehend aus den Falten des Umhangs heraus anblickte. Dann schlugen die Falten über ihm zusammen, die Rufe verstummten, und das Mädchen war verschwunden. Zurück blieb nichts als die Schwärze des Umhangs.

Serafina keuchte erschrocken. Im einen Moment hatte das Mädchen noch darum gekämpft, sich zu befreien, und im nächsten hatte es sich in Luft aufgelöst. Der Umhang hatte es verschluckt. Serafina war wie betäubt vor Trauer und Angst und stand fassungslos da.

Einige Sekunden schien der Mann stark zu vibrieren, und ihn umgab eine Aura aus dunklem Nebel, der schaurig leuchtete. Ein entsetzlicher, fauliger Gestank stieg Serafina in die Nase, und sie riss den Kopf zurück. Sie rümpfte die Nase, presste die Lippen fest zusammen und versuchte, nicht einzuatmen.

Sie musste unwillkürlich ein würgendes Geräusch ausgestoßen haben, denn der Mann in dem schwarzen Umhang drehte sich plötzlich um und sah sie an, sah sie zum ersten Mal. Es fühlte sich an, als würde sie von einer riesigen Klaue gepackt. Die Falten der Kapuze verbargen sein Gesicht, aber sie konnte sehen, dass in seinen Augen ein unnatürliches Feuer loderte.

Serafina war wie gelähmt vor Angst.

Der Mann flüsterte mit rauer Stimme: »Ich werde dir nicht weh tun, Kind …«

2

Als sie diese unheimlichen Worte hörte, kam Serafina schlagartig zu sich. Sie hatte gerade erst mit eigenen Augen gesehen, wohin sie führten. Dieses Mal nicht, du Ratte! Von neuer Kraft erfüllt drehte sie sich um und rannte los.

Sie sprintete durch das Labyrinth aus verzweigten Tunneln, rannte und rannte, überzeugt, ihn weit hinter sich gelassen zu haben. Doch als sie einen Blick über die Schulter warf, sauste der Kapuzenmann hinter ihr durch die Luft. Sein wild flatternder schwarzer Umhang verlieh ihm die Macht zu fliegen, seine Hände griffen nach ihr.

Serafina bemühte sich, schneller zu rennen, aber als sie den Fuß der Treppe erreichte, die zurück in den Hauptkeller führte, erwischte der Mann im schwarzen Umhang sie. Eine Hand packte ihre Schulter, die andere legte sich fest um ihren Nacken. Serafina fuhr herum und fauchte wie ein gefangenes Tier. Sich im Kreis drehend und wild kratzend riss sie sich los.

Schnell sprang sie die Treppe drei Stufen auf einmal nehmend hinauf, doch er war noch immer direkt hinter ihr. Er streckte die Hand aus und riss ihren Kopf an den Haaren zurück, so dass sie schmerzerfüllt aufschrie.

»Zeit, aufzugeben, Kleine«, sagte er tonlos, während er die Faust fester um ihre Haare schloss und ihr langsam eine Strähne nach der anderen ausriss.

»Niemals!«, knurrte sie und biss ihn in den Arm. Sie kämpfte mit aller Macht, kratzte ihn mit den Fingernägeln, doch es brachte alles nichts. Der Mann im schwarzen Umhang war viel zu stark. Er zog sie an die Brust und schlang die Arme um sie.

Die Stofffalten des schwarzen Umhangs legten sich um Serafina, dunkler Rauch stieg pulsierend daraus auf. Der grauenvolle Verwesungsgestank brachte sie zum Würgen. Sie hörte nichts als scheußliches Rasseln, während der Umhang sich um ihren Körper wand und schlang. Es fühlte sich an, als würde sie im Würgegriff einer Königsboa zermalmt.

»Ich werde dir nicht weh tun, Kind …«, ertönte die unheilvolle Reibeisenstimme wieder, als wäre der Mann nicht ganz bei Sinnen, sondern von einem geisteskranken, ausgehungerten Dämon besessen.

Der Übelkeit erregende Rauch, den der Umhang verströmte, nahm ihr den Atem. Sie spürte, wie ihre Seele ihr entglitt. Sie entglitt ihr nicht nur – sie wurde ihr entrissen. Der Tod war so nah, dass sie seine Schwärze mit eigenen Augen sah, und sie hörte Schreie. Waren es die Schreie der Kinder, die vor ihr dahingegangen waren?

»Nein! Nein! Nein!«, schrie sie trotzig. Sie wollte nicht gehen. Wild fauchend griff sie nach oben und fasste dem Mann ins Gesicht, sie versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Sie trat ihm in die Brust. Sie biss ihn immer wieder, schnappte zu wie ein geiferndes, tollwütiges Tier. Das Mädchen in dem gelben Kleid hatte sich gewehrt, aber bei weitem nicht so. Endlich wand Serafina sich aus seiner Umklammerung und ließ sich zu Boden fallen. Sie landete auf den Füßen und sprang davon.

Sie wollte zu ihrem Vater, aber so weit würde sie nicht kommen. Sie floh den Flur entlang und stürmte in die Hauptküche. Hier gab es ein Dutzend Orte, an denen man sich verstecken konnte. Sollte sie hinter die gusseisernen schwarzen Öfen schlüpfen? Oder zwischen die Kupfertöpfe klettern, die an einem Rondell von der Decke hingen? Nein. Sie wusste, dass sie ein besseres Versteck finden musste.

Sie war nun zurück in ihrem Revier, und sie kannte es gut. Die Dunkelheit war ihr ebenso vertraut wie das Licht. Sie kannte rechts wie links. Sie hatte in jedem Winkel dieser Räume Ratten getötet, und sie würde auf gar keinen Fall wie eine von ihnen enden. Sie war die O.R. F. Keine Falle, keine Waffe und kein böser Mann würden sie erwischen. Wie ein wildes Tier rannte und sprang und kroch sie.

Als sie den Raum mit den vielen Regalbrettern erreichte, in dem sich Tischtücher und Bettlaken aus Leinen stapelten, flitzte sie durch einen bröckelnden Spalt in der Wand, der sich in der hintersten Ecke unter dem untersten Regalbrett befand. Selbst wenn der Mann das Loch bemerkte, würde es unmöglich scheinen, dass jemand durch so einen schmalen Spalt gepasst haben sollte. Doch sie wusste, dass er eine Abkürzung in den hinteren Bereich der Wäscherei darstellte.

Sie kam in dem Raum heraus, wo die Bettlaken der feinen Leute zum Trocknen aufgehängt wurden. Draußen war der Mond am Himmel höhergestiegen, und sein Licht schien zu den Kellerfenstern hinein. Hunderte wallende weiße Laken hingen von der Decke, im silbernen Mondschein schimmerten sie gespenstisch. Serafina glitt langsam zwischen die herabhängenden Tücher. Sie überlegte, ob sie ihr den Schutz bieten würden, den sie benötigte. Aber sie entschied sich dagegen und lief weiter.

Tatsächlich hatte sie eine Idee. Sie wusste, dass Mr. Vanderbilt sich damit brüstete, auf Biltmore nur die fortschrittlichsten Maschinen einzusetzen. Ihr Vater hatte besondere Trockengestelle konstruiert, die über Metallschienen an der Decke in schmale Kammern rollten, wo die Laken und Kleider mit Hilfe der Hitze getrocknet wurden, die die Heizungsrohre abstrahlten. Entschlossen, das beste Versteck zu finden, machte Serafina sich klein und zwängte sich durch die schmale Öffnung der Maschine.

Als Serafina geboren wurde, waren einige Dinge an ihr anders gewesen. Anstelle von fünf hatte sie an jedem Fuß nur vier Zehen. Und obwohl man es ihr nicht ansah, waren ihre Schlüsselbeine dergestalt fehlgebildet, dass sie nicht ordentlich mit den anderen Knochen verbunden waren. Das erlaubte ihr, sich in ziemlich enge Ecken zu quetschen. Die Öffnung der Maschine war nur wenige Zentimeter breit, aber solange ihr Kopf durch etwas passte, konnte sie den übrigen Körper hinterherzwängen. Sie schob sich ins Innere, an einen dunklen schmalen Ort, wo der Mann sie nicht finden würde, wie sie hoffte.

Sie versuchte, leise zu sein. Sie versuchte, keinen Muskel zu rühren. Aber sie hechelte wie ein kleines Tier. Sie war erschöpft, außer Atem und vor Angst wie von Sinnen. Sie hatte gesehen, wie das Mädchen im gelben Kleid von den Schatten zwischen den Umhangfalten verschlungen worden war, und wusste, dass der Mann dasselbe mit ihr machen wollte. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass er das ohrenbetäubende Pochen ihres Herzschlags nicht bemerken würde.

Sie hörte, wie er in der Hauptküche die Türen der gusseisernen Öfen öffnete. Wenn ich mich da versteckt hätte, dachte sie, wäre ich jetzt tot.

Dann hörte sie, wie er die Kupfertöpfe zum Scheppern brachte, als er das Rondell an der Decke durchsuchte. Wenn ich mich dort versteckt hätte, dachte sie, wäre ich auch tot.

»Du musst keine Angst haben«, flüsterte er in dem Versuch, sie hervorzulocken.

Sie lauschte und wartete zitternd wie eine kleine Feldmaus.

Schließlich kam der Mann in die Wäscherei.

Mäuse sind schreckhaft und neigen dazu, im passenden Moment aus lauter Panik den entscheidenden Fehler zu machen.

Sie hörte den Mann den Raum absuchen, er wühlte unter den Spültischen, öffnete und schloss Schränke.

Ganz ruhig, kleine Maus. Ganz ruhig, sagte sie sich. Mehr als alles andere wollte sie ihre Deckung aufgeben und fliehen, aber sie wusste, dass die toten Mäuse stets die dummen Mäuse waren, die in Panik gerieten und losrannten. Sie sagte sich immer wieder: Sei keine dumme Maus. Sei keine dumme Maus.

Dann kam er in die Trockenkammer, wo sie war. Er ging langsam durch den Raum und ließ die Gespensterlaken durch die Finger gleiten.

Wenn ich mich dort versteckt hätte …

Er war jetzt nur noch wenige Schritte von ihr entfernt und blickte sich nach allen Seiten um. Obwohl er sie nicht sehen konnte, schien er zu spüren, dass sie da war.

Serafina hielt den Atem an und war ganz leise, leise, leise.

3

Serafina öffnete langsam die Augen.

Sie wusste nicht, wie lang sie geschlafen hatte oder wo sie war. Sie fand sich zusammengekauert an einem engen, dunklen Ort wieder, das Gesicht an Metall gepresst.

Sie hörte, wie sich Schritte näherten. Mucksmäuschenstill horchte sie genauer hin.

Es war ein Mann in Arbeitsschuhen mit klirrenden Werkzeugen. Überglücklich schlängelte sie sich aus der Maschine ins Licht der Morgensonne, das durch die Fenster der Wäscherei hineinfiel.

»Hier bin ich, Pa!«, rief sie mit schwacher, trockener Stimme.

»Ich habe mich dumm und dusselig nach dir gesucht«, schalt sie der Vater. »Du warst heute Morgen nicht in deinem Bett.«

Sie rannte zu ihm und warf sich in seine Arme, drückte sich fest an ihn. Er war ein großer, hartgesottener Mann mit muskulösen Armen und rauen, schwieligen Händen. Seine Werkzeuge hingen von einer Lederschürze herab, und er verströmte einen leichten Duft nach Metall, Öl und den Lederriemen, mit denen die Werkstattmaschinen betrieben wurden.

In einiger Entfernung hörte sie die Dienstboten eintreffen, das Klappern der Töpfe in der Küche und die Gespräche der Arbeiter. Das alles klang herrlich in ihren Ohren. Die Gefahr der Nacht war gebannt. Sie hatte überlebt!

In den Armen ihres Vaters fühlte sie sich sicher und geborgen. Hammer und Nagel lagen ihm mehr als ein freundliches Wort, aber er hatte sich immer um sie gekümmert, hatte sie stets geliebt und beschützt. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen der Erleichterung in die Augen stiegen.

»Wo warst du, Sera?«, fragte ihr Vater.

»Er hat versucht, mich zu kriegen, Pa! Er hat versucht, mich umzubringen!«