Serera - Bruno Hof - E-Book

Serera E-Book

Bruno Hof

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Beschreibung

Eines muss enden: Wahn oder Welt Die Menschheit steht vor dem Untergang … All unser Denken und Tun hinterlässt Spuren. Nicht nur in unserer Welt, sondern auch in Serera, jener geheimnisvollen Parallelwelt, in der unsere Gedanken und Handlungen zu lebendigen Wesen werden. Einst ein traumhafter Ort mit fruchtbaren Feldern und einträchtig lebenden Gemeinschaften, dringen in Serera heute mitleidlos mordende Kreaturen vor. Sie alle dienen dem Einen oder Seelenlosen, der seinem Ziel stetig näher kommt: der Vernichtung beider Welten. Die friedlichen Völker Sereras müssen sich auf den Krieg vorbereiten, aber viele Menschen sind sich uneins oder unerfahren im Kampf. … und alle schauen auf Robin Ganz woanders hat der Jugendliche Robin Grimm seine eigenen Probleme: Im dauernden Streit mit seinem Vater will er von zu Hause weglaufen – da fällt ihm ein seltsamer Schlüssel in die Hand, der ihm das Tor nach Serera öffnet. Schön ist die Natur Sereras und freundlich die Menschen, die dort leben – doch schrecklich ist der Schatten, der sich ausbreitet. Eigentlich will Robin nur seine Ruhe. Aber er hat den Schlüssel nach Serera gebracht – und dies kann ungeahnte, weitreichende Folgen haben. Robin befindet sich plötzlich im Zentrum der Gefahren. Raffiniert, originell In einem raffinierten Spiel aus wechselnden Perspektiven erzählt Bruno Hof von einem magischen Utopia, das sich einem scheinbar unbesiegbaren Feind gegenübersieht: dem ewigen Drang der Menschheit, sich selbst zu vernichten. Serera – die zwei Welten ist sein mitreißendes Debüt, das fesselt durch eine originelle, packende Grundidee und einen Plot, an dem Fantasy-Fans jeder Generation ihre helle Freude haben werden. Mit seiner ausdrucksvollen Sprache zieht der Subgenre-übergreifende Roman den Leser in eine andere Welt, ohne je den Bezug zu unserer Welt zu verlieren. So wird er zudem viele Freunde anderer Spielarten der Spannungsliteratur begeistern. Eine atemberaubende Reise für Leserinnen und Leser ab 16 Jahre!

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Seitenzahl: 1270

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Eines muss enden

Wahn oder Welt

Serera

Erstes Buch: Die zwei Welten

Bruno Hof

Inhalt

Prolog: Die Verbannung

Prolog: Lea

Zwei alte Damen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Robin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Das Tor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Der Eine

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Serera

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Der Konvent

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Avarach

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Das Buch der Hüter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Das Unermessliche Meer

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Die Schlacht von Ital

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Anhang

Die alte Sprache

Karten

Über den Autor

Prolog: Die Verbannung

Nach langer Beratung entschieden die Zauberer, den Menschen ein letztes Mal zu helfen.

Viele Jahre dauerte bereits der Krieg, den der Lebensfeind gegen die Welt führte – und die Menschen hielten nicht mehr stand, schienen dem Untergang nah.

Mehr als die Hälfte der besiedelten Länder waren bereits vernichtet, Hunderttausende Frauen, Männer und Kinder tot. Schon längst war es nicht mehr möglich, all die Gefallenen und Ermordeten zu bestatten. In allen Siedlungen und auf allen vormals bewirtschafteten Ländereien lagen Leichen, entstellt und zu schnell vergessen. Krankheiten und Hunger nahmen die Schwachen als Geisel und die Starken hantierten hoffnungslos mit Waffen statt hoffnungsvoll mit Pflug und Mahlstein. Städte wurden zu Ruinen, Felder zu Ödland. Wo der Feind siegte, vernichtete er alles Leben, das der Menschen und das der Tiere und Pflanzen.

Die Magier hatten zunächst nicht in den Krieg eingegriffen, obwohl sie ihn hätten rasch beenden können. Zu groß war ihr Groll gegenüber den Menschen, die in den Jahren vor dem Angriff nur noch Rat gesucht hatten, wenn sie Dinge vermehren oder steigern wollten. Deren Dasein war immer mehr geprägt gewesen von Feindschaft und Kampf unter- und gegeneinander. In den Augen der führenden Menschen, die sich über ihresgleichen erhoben und nach Herrschaft strebten, sollte Zauber ihrer Macht dienen und nicht wie früher selbst die Macht sein.

Doch nun standen die Menschen und die Welt vor der Vernichtung – und die Zauberer vermochten ihren flehentlichen Bitten nichts mehr entgegenzusetzen. Sie wussten, sie würden sich in Zukunft an nichts mehr erfreuen können, blickten sie zurück mit der Erinnerung, gegen das Leiden so vieler nichts unternommen zu haben.

Der Zauberer Prasis, einer der weisesten, hatte in der vergangenen Nacht die Versammelten mehr als einmal ermahnt, ihr Wissen über das Wesen des Einen nicht zu verdrängen.

»Er ist der Lebensfeind, der Seelenlose, entstanden durch die Taten und dunklen Gedanken der Menschen. Nicht aller Menschen, aber der meisten und der bestimmenden. Sie änderten die Richtung, in der sich die Welt bewegt, und betrieben Raubbau an deren Seele. Doch eine Welt ohne Seele kann nicht bestehen. Er, der Eine, geschaffen durch die Menschen, steht vor allem deshalb vor dem Sieg.«

»Es gibt noch viele Menschen, die dies verstehen, sich nicht von Selbstsucht, Streben nach Macht und kriegerischem Geist beherrschen lassen«, sprach Magis, eine Zauberin, die sich in den letzten Jahren der um sich greifenden Dunkelheit nicht wie die meisten Magier in ein eremitisches Dasein begeben hatte. »Lassen wir sie nicht im Stich! Wir haben die Macht, den Einen zu besiegen, auch wenn der Preis hoch ist.«

»Ein hoher Preis, in der Tat!«, stimmte Prasis zu, »der Feind kann lediglich gebannt, nicht vernichtet werden. Es gibt nur einen Ort, wo er gehindert wird, sein Unheil zu stiften. Dieser Ort ist Serera, die Quelle des Zaubers, der von dieser Welt getrennt werden muss. Und wir Zauberer werden mit ihm gehen, über ihn zu wachen. Wir werden den Feind aus dieser Welt verbannen und die Tore verschließen.«

»So lasst uns in Serera eine neue Welt aufbauen!«, rief Magis.

»Und lasst uns mit euch gehen!«, riefen einige jener Menschen, die an der Versammlung teilnahmen, da sie es gewesen waren, die sich mit den Bitten der verzweifelten Völker an die Magier gewandt hatten. »Wenn wir auch das Leben aller retten wollen, verbindet uns mit euch doch mehr als mit unseresgleichen.«

»So sei es«, antwortete Prasis, »aber nicht alles kann jetzt geklärt werden. Bedenkt, dass sich nicht alle Magier einig sind. Sapis, der Älteste, ist nicht hier, obwohl er mir versprach, zu kommen. Einige wollen seit geraumer Zeit weder mit anderen Zauberern noch mit Menschen etwas zu tun haben, kennen unsere Pläne nicht und werden in der Welt verbleiben. Wir erreichen sie nicht, Magie verbirgt sie an unbekannten, abgeschiedenen Orten. Wer weiß, welche Rolle sie in Zukunft spielen werden. Andere sind schon durch die Tore geschritten, darüber empört, dass wir nicht längst mit den Menschen brachen.«

Nach diesen Worten drang Prasis darauf, nun über die kommende Schlacht zu sprechen.

Er sagt uns nicht alles, dachte Magis, bis zum gestrigen Tag verweilte er über mehrere Wochen in seinen Gemächern. Stets, wenn ich ihn aufsuchte, sah ich ihn ins Schreiben vertieft. Stets unterbrach er dann seine Arbeiten – wie mir scheint – an einem Buch, ohne mir zu sagen, um was es sich dabei handelt. Es muss von höchster Bedeutung sein.

Magis würde ihn unmittelbar nach dieser Beratung bitten, sich für eine Weile mit ihr zurückzuziehen. Sie wusste, dass er ihr alle Geheimnisse anvertrauen würde, wenn sie ihn nur lange genug bedrängte. Auch sollte er ihre eigenen Pläne erfahren und diesen bestenfalls zustimmen. Denn Magis war der Meinung, dass das baldige Verschließen der Tore nicht endgültig sein durfte – und so hatte auch sie im Stillen einige Vorkehrungen getroffen.

Bei Anbruch des Tages offenbarten sie den namenlosen Soldaten des Einen ihre Waffen. Blitze schossen in die vormarschierenden Armeen, scharfe Hagel zerschlugen Tausende schwarzer Schädel, schwerer, satter Regen ließ die Erde weich werden und die Kreaturen darin versinken. Die Magier weckten die Elemente und richteten sie gegen die feindliche Streitmacht.

Im Laufe des Tages zerschmetterten die Zauberer sämtliche Heere des Feindes. Und sie stimmte der Kampf traurig, denn ihre Bestimmung war es, Leben zu bewahren und zu verschönern, nicht Kriege zu führen und zu töten. Entsetzt gewahrten sie, dass sich unter den geschlagenen Feinden nicht nur gezüchtete Kreaturen, sondern auch viele Menschen befanden. Ob sich jene erzwungen oder aus freien Stücken unter dem Befehl des Lebensfeindes befunden hatten, vermochte niemand der Sieger im Nachhinein zu sagen.

Der Eine verbarg sich zunächst unter den Kadavern einer getöteten Einheit. Doch als die Leichen in Brand gesetzt wurden, um die Erde zu reinigen, musste er aufspringen und sich zeigen. Er raste hierhin und dorthin, hetzte über das geschändete, rauchende Land, irgendeinen Ausweg suchend. Aber er war geschlagen, alleine und umzingelt.

Die Zauberer schlossen einen magischen Kreis um ihren Feind und zwangen ihn, sich mit ihnen zu einem der Tore zu bewegen. Sie waren überrascht, dass – auch wenn es keine Möglichkeit zur Flucht gab – er dennoch zu Widerstand fähig war. Er besaß magisches Wissen, und dies konnten sie sich nicht erklären.

Nur mühsam bewegte sich der Kreis mit seinem Gefangenen über das Land, bis er schließlich sein Ziel erreichte. Sogleich begannen sie mit Bannzaubern, die der Eine jedoch abzuwehren vermochte.

Woher nur stammt sein Wissen über die Magie?, fragten sie sich entsetzt.

Es war Magis, die ihn am frühen Abend mit dem entscheidenden Zauber endlich niederzwang.

Sartsa saut

Rad tosmen tosten

Tosmen pla usne

Sistal brala

Aruk tostil

Tostil tosmen alten

Usna pla tanse

Tram pro sast

* Herr des Nichts

Von Menschen geboren

Sie selbst zu treiben

In höchste Not

Feind des Lichts

Das Menschen verloren

Um getrieben zu bleiben

Bis in den Tod

Tas tose konten

Altaen prik pak

Pak tac sak tente

Sartsa pla tak

Tas tose osnen

Kre tas osna

Sartsa ita osme tac

Osta rad pak

Du bist erkannt

Verlasse diesen Ort

Der dich nicht wollen kann

Trotz er eilt zu dir

Du bist verbannt

Nun musst du fort

Wir binden dich, Tyrann

Fernab von hier

Der Seelenlose kroch geschlagen durch das Tor und verließ die Gestade der Menschen. Auf der anderen Seite standen Magier bereit, ihn zu empfangen und in einen der äußersten Winkel der neuen Welt zu treiben, wo er seiner Macht beraubt, in einem Gefängnis mit unsichtbaren Mauern ein sinnloses Leben führen sollte.

Nun überlassen wir die Menschen ihrem Schicksal, dachte Magis, als auch sie diese Welt verließ und durch das Tor ging.

Wir bändigen den Einen. Aber bändigen die Menschen sich selbst? Die Zukunft wird es zeigen. Ich bin froh, dass es mich nicht mehr geben wird, wenn die Antwort gegeben werden kann. Wir bewahrten die Menschen heute vor dem Untergang und schenkten ihnen Zeit zur Besinnung. Mehr jedoch nicht.

Prolog: Lea

Manchmal möchte man dich schütteln, Robin! So lange schütteln, bis du wieder normal bist!«

Lea Grimm hörte die Worte ihres Mannes aus der Küche, als sie dabei war, den Auflauf aus dem Backofen zu heben. Wie oft hatte sie Olaf schon gesagt, dass es keinen Sinn habe, auf Robins Schwächen herumzuhacken, schon gar nicht vor versammelter Mannschaft. Mit Olafs Kritik wuchs Robins Empfindlichkeit. Von anderen Müttern und Vätern wusste sie, dass ihr Sohn beileibe nicht der einzige Jugendliche auf der Welt war, der einem den Zugang schwierig machte.

Ihr Verstand sagte, dass Robins derzeitige Unlust nichts über seine Zukunft aussagte. Man musste einfach noch abwarten. Er war gerade einmal sechzehn Jahre alt! Olaf war anderer Meinung. Er wurde ihr gegenüber nicht müde zu erwähnen, Robin sei bereits sechzehn Jahre alt. Aber was wäre auch Lea froh, bekäme Robin irgendwann einmal endlich die Kurve! Er sollte sich doch als Erstes nur für irgendetwas Vernünftiges interessieren.

Irgendetwas! Und ich bete, dass seine Noten bald wieder besser werden!

Beten?, hatte sie sich selbst gescholten, als ihr dieser Gedanke vor einigen Tagen durch den Kopf geschossen war, meine Güte, für so etwas betet man doch nicht!

»Warum sagst du nichts, Robin? Ich rede mit dir.«

»Was hast du denn, Papa? Was willst du überhaupt von mir?«

Lea beeilte sich nun. Sie nahm zwei Topflappen und trug die heiße Auflaufform über den Flur zum Wohnzimmer, wo sich zur linken Seite der Essbereich befand.

»Vorsicht!«, warnte sie und bugsierte die dampfende Form auf zwei aneinanderliegende Untersetzer in der Tischmitte.

»Lecker!«, rief Elina, »mit Erbsen.«

»Das weißt du doch, Elina«, lachte Lea, »du hast sie doch vorhin selbst hineingetan.«

Im Gegensatz zu Robin half Elina oft und gerne beim Kochen; Olaf war es gleich, was in der Küche geschah.

Alle hatten Hunger, alle schwiegen während des Essens.

Wenigstens etwas, dachte Lea.

Eigentlich machte ihr das Kochen keinen großen Spaß mehr.

Als Robin seinen zweiten Teller leer hatte, sagte er beiläufig: »Ich gehe nach dem Essen noch zu Niklas.«

»Was habt ihr denn vor?«, fragte Olaf.

»Weiß nicht. Nichts. Ich meine, quatschen, Filme schauen auf entspannt. Dies, das.«

»Auf entspannt? Also stumpfsinnig rumhängen, mit anderen Worten.«

»Wieso das denn? Uns gefällt’s. Und Geld habe ich sowieso keins, um irgendetwas anderes machen zu können.«

»Du sparst ja auch nie etwas – wie deine Schwester!«

»Jetzt geht das wieder los!«

»Das ist alles, was dir dazu einfällt!«

»Genau! Ich bin ja auch nicht normal!«

Nun ging es darum, wer das letzte Wort haben würde und Lea konnte nur den Kopf darüber schütteln. Sie ärgerte sich über Olaf, der doch gelassener und abgeklärter sein sollte. Er sollte ihrer Meinung nach nicht jeden Tag so tun, als stände Robins gesamte Zukunft auf dem Spiel.

»So!«, rief Lea und hinderte Olaf an der nächsten Entgegnung, »Robin, tu mir doch einen Gefallen und räume den Tisch ab.«

Ohne zu murren folgte Robin ihrer Bitte. Lea wusste, dass er das tat, weil es um einen Gefallen für sie ging. Sie verstand immer noch nicht, wie es kam, dass die elfjährige Elina so fleißig und hilfsbereit sein konnte und Robin so … Ja, was? Ziemlich faul auf jeden Fall. Dass er nicht hilfsbereit war, konnte man aber nicht behaupten, dafür hatte sie ihn zu oft zufällig dabei beobachten können, wie er anderen half. Letzte Woche hatte er zum Beispiel dem älteren Nachbar geholfen, ein Kellerregal ins Haus zu tragen. Robin war von sich aus zu ihm gegangen, als er sah, dass dieser sich vergeblich abmühte. Immer wieder jedoch musste sich Lea zwingen, Elina und Robin nicht miteinander zu vergleichen.

Manchmal warf sie in Gedanken Olaf und Robin gleichermaßen vor, sie zu etwas zu machen, was sie nicht sein wollte – zu einer häuslichen Vermittlerin, zu jemandem, der für den Frieden zuständig war, dessen Aufgabe es war, zuhause zu sein, dem eigene Interessen verwehrt sein sollten. Dann warf sie sich selbst vor, dass sie sich nicht dagegen wehrte. Doch diese Gedanken lösten sich jäh in Nichts auf, wenn Olaf von der Arbeit nach Hause kam. Lea hatte das Gefühl, dass es ihr nur erlaubt war, tagsüber an Werktagen nachzudenken, und dass abends und an Wochenenden eigene Gedanken verboten waren. Die Jahre hatten sie verändert – eine gewisse Verbitterung hatte sich in ihr Denken geschlichen. Auch Olaf war nicht mehr derselbe. Er ereiferte sich mehr als früher über träge Arbeitskollegen, er schimpfte auf die Politik, er lachte weniger mit ihr oder den Kindern; ihm würde es neben der bloßen Tatsache, dass es sie als Familie gab, genügen, dass keine Probleme entstanden. Mittlerweile wusste Lea, dass sie mehr wollte, was sie bis zum heutigen Tag aber nicht in genaue Absichten fassen konnte.

Einmal, als sie zu Robin gesagt hatte: »Das wäre schön, gäbe es etwas, was du gerne machen würdest«, hatte sie sich insgeheim eingestanden, dass sie das für sich selbst auch noch nicht geklärt hatte.

Olaf saß in seinem Wohnzimmersessel und las in einer Broschüre seines Arbeitgebers, einer Versicherungsgesellschaft. Robin und Elina waren in ihren Zimmern, Robin würde gleich zu Niklas gehen. Lea ging die Treppe nach oben in das Kindergeschoss. Sie überlegte, ob sie die folgende Abwesenheit Robins nutzen sollte, um sein Zimmer ein wenig aufzuräumen. Sie schalt sich selbst, dass sie so lange darüber nachdachte, und entschloss sich, es in der Woche zu tun, wenn Robin im Haus und Olaf bei der Arbeit sein würde. Nicht immer, aber zumeist ließ sich Robin dann doch bewegen, zumindest das größte Chaos zu beseitigen, wenn er auch stets auf halbem Wege stehen blieb und den Eindruck vermittelte, er habe bis zum Rande der Erschöpfung geschuftet und würde körperliche Schäden davontragen, wenn er die Tätigkeit nicht sofort abbrach.

Sie klopfte an Elinas Tür. Ihre beiden Kinder bestanden darauf, dass man sich ankündigte und auf ein »Ja, bitte!« oder »Herein!« wartete. Als Lea dies einmal bei Elina vergessen hatte, war sie damit überrascht worden, dass auch ihre Tochter sehr wütend reagieren konnte.

Das Durcheinander in Elinas Zimmer war nicht kleiner als das vermutete in Robins, eher größer. Elina lag auf ihrem Bett und las in einem neuen Buch.

»Hast du Lust, nachher für eine Stunde spazieren zu gehen?«, fragte Lea.

»Nur so? Kommt Papa auch mit?«

»Ich glaube nicht. Soll ich ihn fragen?«

»Gehen wir ein Eis essen?«

»Papa isst ja kein Eis. Dann kommt er sowieso nicht mit.«

»Aber da hätte ich Lust drauf. Dann gehe ich auch mit spazieren.«

»Also gut, ich habe ja auch Appetit auf ein Eis.«

Sie ging auf den Flur zurück. Robin hatte sein Zimmer gerade verlassen und eilte mit lässig an der rechten Seite hängendem Rucksack die Treppe hinab.

Eigentlich ein hübsches Kerlchen, dachte Lea, auch wenn ihrer Meinung nach die Haare zu lang waren und stets irgendetwas an der Kleidung nicht in Ordnung war, seien es fehlende Knöpfe, übersehene Hosenflecken, ungestopfte Löcher in T-Shirts oder auffällig schlecht geschnürte Schuhsenkel. Vielleicht würde er sich ja irgendwann verlieben und sich plötzlich alles ändern. Was man alles so dachte, was man sich alles so erhoffte. In jedem Fall sollte man tatsächlich geduldiger und gelassener sein. Manchmal ging alles ganz schnell.

Lea lächelte nun ein wenig in sich hinein und nahm sich vor, noch einmal in Ruhe mit Olaf zu sprechen, sobald Robin das Haus verlassen haben würde.

Sie nahm die erste Stufe der Treppe, um hinunter in das Wohnzimmer zu gehen. Sie schritt mit dem rechten Fuß voraus und setzte ein wenig zu weit vorne auf.

Die Sohle ihres Pantoffels war glatt und rutschte an der Kante der Treppenstufe ab. Das rechte Bein schlug nach vorne aus und zog ihren Körper mit. Drei Stufen weiter unten traf der Fuß auf das Holz, doch sie hatte bereits das Gleichgewicht verloren.

Ihr Oberkörper wurde nach vorne geschleudert. Sie streifte mit der linken Schulter die Wand und fiel dann kopfüber nach unten. Ihre Stirn schlug mit Wucht auf eine Stufe. Ihr linker Arm und ihre Nase brachen.

Sie überschlug sich und die ersten Rippen versprangen.

Sie überschlug sich noch einmal und ihr Hinterkopf schmetterte auf die Fliesen des Wohnzimmers.

Sie hatte keinen einzigen Gedanken während des Sturzes und im Augenblick ihres Todes.

Zwei alte Damen

Kapitel Eins

Sie schlug auf einem Steinboden auf, rutschte auf dem Rücken hart über den kalten Grund und prallte schließlich an eine Wand. Während ihres Sturzes hörte sie Hunderte Geräusche; Holz, das brach, Steine, die fielen, Glas, das splitterte. Nun lag sie entkräftet auf ihrem Bauch und fiel in kurzen, aber tiefen Schlaf, denn der Herr war geschwächt. Doch bald verflog die Mattheit, sie öffnete die Augen und dachte: Ich bin allein. Niemand da, mich zu töten. Ich lebe!

Sie setzte sich auf die Hinterbeine, streckte die zwei Vorderpfoten aus, hörte, schnüffelte und sah sich um.

Niemand da, mich zu töten. Die zwei, die es vor mir versuchten, entpuppten sich als Versager. Ich bin das Beste meiner Art!

Sie grunzte zufrieden. Sie richtete sich auf und streckte ihre Sehnen und Muskeln. Überall fühlte sie leichten Schmerz, die Reise durch das Tor hatte Kraft gekostet. Sie spürte warme Feuchtigkeit an ihrer Schnauze, vermutlich Blut. Sie befand sich in einem dunklen Raum, aber ihre scharfen Augen hatten nur wenig Mühe, all die Dinge zu sehen, die darin aufbewahrt wurden. Hier schlief und aß offensichtlich niemand, denn es waren lediglich Schränke mit allerlei Figuren, Waffen, Töpfen und ähnlichen Gegenständen wahrzunehmen.

Da hinten an der gegenüberliegenden Wand befand sich eine alte Tür. Sie erschien klein und unbedeutend, halb verborgen hinter den zwei mächtigen Schränken aus Glas, in denen kunstfertig geschmiedete Waffen zur Schau lagen, und sie erahnte sofort, dass damit von deren wahrer Bedeutung abgelenkt werden sollte. Es war das Tor, durch das sie hierher geworfen worden war. Sie betrachtete die vielen Splitter und Scherben zwischen der Tür und der Stelle, wo sie stand. Sie musste bei ihrer Ankunft etwas umgerissen haben, das nun zerstört auf dem Boden lag.

An den Wänden hingen große Bilder, viele davon Land- und Stadtkarten und Porträts. Sie konnte die Schriftzeichen nicht entziffern, aber das würde sich bald ändern. Erregt hechelte sie vor sich hin und vernahm das leise Echo ihres eigenen pfeifenden, kratzenden Atems. Sie hatte es geschafft, ihr Herr würde zufrieden sein. Sollte es ihr gelingen, den hiesigen Schlüssel für dieses Tor ausfindig zu machen, an sich zu nehmen und zu ihrem Herrn zurückzubringen, wäre ihre Aufgabe erfüllt, und sie hätte das Recht, bis zu ihrem Ende auf Jagd zu gehen, Menschen oder anderes Vieh zu reißen, zu töten nur für ihr Wohlbefinden. Sie wäre privilegiert, wenn ihr Herr zu seinem großen Schlag ausholen würde, und dürfte ihr Jagdrevier selbst wählen. Den Schlüssel zu finden war ihre Aufgabe, Töten ihr Begehren.

»Sei geduldig, meine Hungrige«, hatte ihr der Eine am Vortag gesagt. »Wenn du nicht getötet wirst, entferne dich zunächst von dem Tor und finde einen Menschenkörper, den du benutzen kannst. Lerne den Feind und die Welt, in der er sich bewegt, kennen. Suche dir Verbündete. Spioniere klug, meine Späherin. Doch, wenn notwendig, zerreiße den Feind, sei dann du selbst. Immer zählt nur der Schlüssel, nur der Schlüssel!«

Die Schmerzen waren verklungen, die Hungrige fühlte sich stark. Sie prägte sich diesen Ort ein und lief in den nächsten Raum. An der Wand zur Linken sah sie zwischen zwei großen Gemälden ein Fenster. Mit zwei Sätzen erreichte sie es, stellte sich auf die Hinterbeine, stützte ihre Pfoten auf den Sims und blickte hinaus. Sie sah einen Berghang, auf dessen geröllhaltigem Boden sich kahle Büsche ausbreiteten. Oben am Kopf des Hügels erhoben sich hohe Mauern – ähnlich einer Festung. Da draußen war es dunkel und unbelebt und sie beschloss, durch dieses Fenster das Gebäude zu verlassen. Sie lief in die Mitte des Raumes, lenkte alle ihre Konzentration auf ihre Muskeln, verbannte bereits jetzt kommenden kleinen Schmerz aus ihren Gedanken, sprang einmal nach vorne und dann sofort nach oben. Ihre Augen waren geschlossen, als das Glas barst, und sie landete ohne Probleme zwischen zwei Dornenbüschen. Scherben staken in ihrem Kopf und sie rieb sie mit den Pfoten ab. In ihrem Triumph hob sie den Kopf zum Himmel, öffnete ihre Schnauze, lockerte ihre Kehle und wollte aufheulen. Im letzten Moment unterdrückte sie diesen Instinkt und erstieg stattdessen den Hang bis zum Fuß der Mauer. Sie drehte sich um und blickte über das Dach des Hauses, aus dem sie gekommen war, auf eine Stadt.

Doch es war nicht dieser Ort, der sie in Erstaunen versetzte. Über den Giebeln dieser Stadt sah sie in der Ferne Lichter, lange schmale Türme, die Rauch in den Himmel pumpten, hohe Stahlmasten, an denen graue Seile hingen, in die Landschaft geschlagene steinerne Schneisen, auf denen sich eine Vielzahl von Gefährten ameisenhaft und schnell dahinbewegte. Weit über dem flachen Land erahnte sie die Silhouette der nächsten Stadt, die noch größer als die Ansiedlung zu sein schien, in der sie sich befand. Der Eine hatte ihr prophezeit, dass es in dieser Welt vor Menschen nur so wimmelte, aber sie konnte in unmittelbarer Nähe keinen einzigen entdecken. Stattdessen sah sie all das, was die Menschen offenbar erbaut hatten und worin sie sich in den Nächten verkrochen.

Sie bestimmte die Richtung, in der sie die Stadt verlassen würde und prägte sich den Weg ein. Geduckt und schnell sprang sie den Hügel hinab und entlang der dunkelsten Mauern und Hauswände die Straßen entlang, bis sie schließlich das Ende des Ortes erreicht hatte. Sie blickte noch einmal dahin zurück, woher sie gekommen war. Sie hatte vorhin am Fuße einer Burg gestanden, wie sie so manche früher bei den Bauenden Völkern gesehen hatte.

Die Muskeln ihrer Hinterbeine stießen ihren Körper in hohem Tempo nach vorne – über steinige Felder und durch entlaubte Wälder. Sie wollte sich kleinere, einsame, ungeschützte Ansiedlungen suchen, um möglichst unbemerkt einen Menschen finden zu können, dessen Hirn hoffentlich ausreichend Fertigkeiten barg, mit denen sie sich in dieser Welt würde bewegen können.

Kapitel Zwei

Albert Steinhaus hatte um sechs Uhr morgens den Schaden bemerkt und war rasch zur Burg zurückgekehrt, um Klara von Burg-Torheim zu wecken. Sie war im höchsten Maße erstaunt und auch verängstigt, dass er durch den langen und steilen Verbindungsgang hinabsteigen wollte, anstatt wie stets den bequemeren Burgweg hinunter und um die äußere Mauer die Straße entlang zum Museum zu gehen. Sie gelangten – erschöpft von dem beschwerlichen Weg – zu dem Kellergewölbe des kleinen Museums, stiegen die Treppe nach oben zum Werkzeugraum, liefen zur nächsten Tür und betraten den ersten Ausstellungsraum.

Klara wollte schnell den Raum durchqueren, aber Albert fasste sanft ihren Arm und bedeutete ihr, stehen zu bleiben.

Mit furchtsamen Augen schaute sie in sein kantiges, nachdenkliches Gesicht und war nun noch beunruhigter. Albert konnte und wollte sich nicht verstellen. Die Stirn unter seinen vollen, grauen Haaren war zusammengepresst, ebenso seine Lippen, die fast komplett unter seinem Schnurrbart verschwanden. Er fühlte selbst, dass seine Miene Bestürzung verriet; Klara kannte ihn von Kindheit an, seit nunmehr über sechzig Jahren, und er wusste, dass sie sich nicht würde erinnern können, einen solchen Blick der Erschütterung, einen solchen Gesichtsausdruck voll der Erkenntnis, dass etwas Furchtbares geschehen war, an ihm gesehen zu haben. Albert erwiderte zunächst ihren Blick, wandte den seinen dann langsam von ihr ab, damit sie ihm mit ihrem folgen würde, und sah auf das zerstörte Fenster.

Ein großes Loch befand sich darin, groß genug, dass ein Mensch durchsteigen konnte, ohne sich zu verletzen. Reste der Holzsprossen hingen noch am Rahmen und waren nach außen abgebrochen oder verbogen. Im Raum selbst befanden sich weder Holzsplitter noch Glasscherben. Etwas großes Lebendiges war mit erstem Anlauf nach draußen gesprungen, ohne Angst vor Verletzung und im Bewusstsein der eigenen Stärke. Albert fasste Klaras Hand und führte sie in den hinteren Raum.

Sie standen Hand in Hand, als wollten sie ihre inneren Kräfte bündeln. Beide besahen sich die herumliegenden mittelalterlichen Werkzeuge, die Überreste des wertvollen Tongeschirrs und die Glassplitter der zerbrochenen Vitrinenböden. Die Vitrine, die der alten, unscheinbaren Tür am nächsten gestanden hatte, war mit großer Gewalt umgekippt worden, die Überreste lagen zuhauf in der Mitte des Raumes und verloren sich nach und nach, je weiter die Tür entfernt war. Es gab keinen Zweifel, aus welcher Richtung die Wucht gekommen war, die zu dieser Verwüstung geführt hatte.

Klara und Albert standen schweigend im Raum; mehrere Minuten dachten beide angestrengt nach, gingen die Alternativen durch, erdachten sich neue, um sie anschließend alle verwerfen zu müssen. Welcher Dieb vergisst seine Beute? Welcher Vandale nimmt eigene Verletzungen in Kauf? Welcher Einbrecher bricht wieder aus? Beide kamen nach schwerem Ringen zu demselben Ergebnis. Klara versuchte es offenbar zuerst auszusprechen, aber ihre Gedanken wurden jetzt weitergetrieben und sie unterbrach den Versuch.

Er ist stärker geworden, er will das Tor öffnen. Er ist so mächtig, dass er nun glaubt, seine uralten, bösen Absichten in die Tat umsetzen zu können.

»Wir haben versagt, ich habe versagt«, flüsterte Klara und ihr Körper begann zu zittern; Schwäche und Müdigkeit überwältigten sie und da begann sie zu weinen, zu schluchzen, wie es Albert bei ihr noch nie gesehen hatte. Tränen strömten über ihre Wangen und sie ergriff Alberts Arme, um sich zu stützen. Ihre Gefühle hatten ihre Nerven gepackt und erst nach einigen Minuten lockerten sie ihren Griff und Klara wurde wieder ruhiger. Albert führte sie zu einer Besucherbank, ohne ein Wort zu sagen, zu sehr rang auch er mit sich selbst. Beide setzten sich.

»Es ist jemand oder etwas durch das Tor gekommen«, sagte Albert schließlich. »Höchstwahrscheinlich ist es kein Zufall und kein Versehen. Was immer hierher kam, wurde von ihm geschickt und hat böse Absichten.«

Klara antwortete – und sprach ihre Worte mit Bedacht: »Er kann kein anderes Ziel haben, als den Schlüssel zu erobern. Er fühlt sich mächtig und wird auch mächtig sein. Schau dich um in der Welt, Albert, schau, wie sich die Menschheit und unsere Welt entwickeln. Er kann uns vernichten, wenn seine Stärke dem entspricht, was es bei uns Böses auf der Welt gibt, ganz gleich, wie weit seine Widersacher ihn bisher im Zaum halten konnten. Seit mindestens zweihundert Jahren hat er den Schlüssel zu diesem Tor auf der anderen Seite. Das weißt du, zwei seiner Kreaturen wurden von früheren Hütern getötet. Lass uns die Wahrheit sagen, nur dann können wir überlegen, was wir zu tun haben: Dem Seelenlosen ist es gelungen, eines seiner Geschöpfe zu uns zu schicken. Dieses Geschöpf wird völlig mitleidlos, stark, zäh und gerissen sein. Es wird nur eins wollen: den Schlüssel zu rauben, und deshalb wieder hierher zurückzukommen, weil es nur hier mit der Suche beginnen kann.«

»Und es ist unvermeidlich, dass es sich an dich halten wird«, sprach Albert hastig, »an wen sonst?«

»Ich muss fliehen, ich muss den Schlüssel fortschaffen.«

Klara fuhr mit ihrer rechten Hand an ihren Hals, griff vorsichtig nach der Kette, die sie unter ihrem Hemd verbarg, und zog den Schlüssel hervor.

»Ich war immer so stolz darauf, eine Hüterin zu sein, diesen Schlüssel einfach nur zu verwahren, ohne den kleinsten Gedanken daran, das Tor öffnen zu wollen. Aber ich habe kläglich versagt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Hüter gibt es niemanden in der Linie, dem er anvertraut werden kann. Wahrscheinlich war ich zu stolz und habe es mir darin bequem gemacht. Ich habe mich nicht genug bemüht, eine Nachfolge zu finden.«

»Du hast nicht versagt, Klara. Wenn, dann hätten wir beide gleichermaßen Schuld. So viele Jahre sind wir jetzt miteinander vertraut. Wir hatten wahrlich genug zu tun. Es blieb uns all die Jahre nichts anderes übrig, als in der Nähe des Tores zu bleiben. Nicht nur der Schlüssel musste gehütet, auch das Tor geschützt werden. Deine Vorgänger hatten es da trotz vieler Kriege und Probleme verschiedenster Art viel leichter. Wesentlich war, dass die Burg erhalten blieb – und wer interessierte sich schon für eine alte Tür an der äußeren Burgmauer? Sie konnten Tag und Nacht Männer mit gezogenen Klingen an der Tür postiert halten. Das geht heute alles nicht mehr. Es war ein Glücksfall, dass wir das Museum bauen durften und so das Tor wenigstens tarnen konnten, obwohl du alles Land um die innere Burg hergeben musstest. Und trotzdem hast du dich bemüht, denke nur an deinen Neffen.«

»Michael denkt nur an sich selbst. Er ist mein einziger noch lebender Verwandter, nur deshalb habe ich so lange versucht, ihn in eine gute Richtung zu lenken. Ich habe dabei zu viel Zeit verschwendet. Es tut mir weh, mein Zuhause zu verlassen, aber es ist auch beruhigend, den Schlüssel weit entfernt von dem zu wissen, der das meiste erben wird und dem ich nicht vertrauen kann.«

»Soll nicht ich …«, versuchte Albert einzuwerfen, aber Klara legte ihre Hand auf seinen Mund und ließ ihn nicht weitersprechen.

»Mein lieber Albert, es wäre vermutlich gefährlicher für mich, bliebe ich hier. Nein, ich muss mich davonstehlen, sagen wir, in drei Tagen. Ich hoffe, das ist schnell genug. Wir müssen ab sofort alle Vorbereitungen treffen, es gibt viel zu tun.«

Albert wunderte sich, dass Klaras Stimme nun so klar und bruchlos geworden war und sie bereits über Pläne nachzudenken schien.

Sie ließ den Schlüssel wieder unter ihrem Hemd verschwinden.

»Ich bitte dich nur, hier wieder alles in Ordnung zu bringen und das Fenster reparieren zu lassen«, fuhr sie fort, »falls jemand fragt: Vermutlich haben Betrunkene hier randaliert.«

Sie standen auf. Beide versuchten sich gegenseitig ihren tatenfrohen Mut zu zeigen. Und beide vermochten es nicht, dem anderen ihre tiefe Angst vor der nahen Zukunft zu verbergen.

Kapitel Drei

Die Hungrige konnte die Tiere, die sie in den beiden Nächten gerissen hatte, nicht zählen, zu viele waren es gewesen. Ahnend, dass sie in der Dunkelheit auf nicht viele Menschen treffen würde, hatte sie sich entschlossen, ihrem Tötungstrieb für eine Weile freien Lauf zu lassen, als wollte sie damit einen Vorrat an Grausamkeit anhäufen, von dem sie eine Zeitlang würde zehren können. Sie genoss die Blicke ihrer in Todesangst versetzten Beute, die – kurz, bevor sie starb – sich fragte, welch schrecklicher Feind sie heimgesucht hatte. Am Ende der zweiten Nacht in dieser Welt legte sie sich endlich am Rande eines Waldes, der sich über einen Hügel zog, auf die Lauer und wartete auf den Tag und auf die Menschen.

Sie war voller Stolz. Sie hatte den ersten Schritt getan und war damit vier weiteren Spähern des Einen weit voraus. Sie wollte jetzt den absoluten Erfolg, wie ihn bereits sein Jäger gehabt hatte, der vor vielen Jahren dem Herrn den Schlüssel auf der anderen Seite ihres Tores überbracht hatte. Der Eine brauchte zwei Schlüssel für ein Tor, drei Tore gab es und sechs Späher hatte der Eine gezüchtet und gelehrt. Die Hungrige erinnerte sich fast jeden Tag an diese lange Zeit der Ausbildung, die mit der Auswahl begann. Alle Jungen ihrer Art, die dem Einen, einem seiner Offiziere oder deren Wölfen aufgefallen waren, hatten sich in ein besonderes Gatter begeben müssen, um gegeneinander zu kämpfen. Die sechs Überlebenden sollten in seine Lehre gehen. Von über einhundert Artgenossen war auch sie am Leben geblieben – und alle sechs Sieger feierten auf und in den Kadavern der Besiegten einen ganzen Tag, bis nicht mehr zu erkennen gewesen war, welche Kreaturen das überhaupt gewesen waren, mit denen sie gekämpft hatten.

Ihr war es erlaubt, ihre Tötungsinstinkte auszuleben, sofern es ihre Aufgabe nicht behinderte. Triebe der Fortpflanzung wurden in einem harten Prozess geschliffen, in jeder Weise war sie auf sich allein und ihre Aufgabe gelenkt worden. Immer wieder in ihrer Lehre durften die werdenden Späher zu den feindlichen Menschen, die die Dummheit besaßen, sich im östlichen Teil der Warlanden – also auf von ihrem Herrn beanspruchtem Gebiet – anzusiedeln. Sie übten dort die Eroberung von deren Körpern, sie lernten, deren Hirne zu nutzen, sich zu tarnen. So wie ihr Herr sich ihrer bediente, bedienten sie sich ihrer Opfer. Sie lernten nicht, Armeen zu führen und Schlachten zu gewinnen, sondern sich in die Reihen der Feinde zu schleichen, Informationen zu gewinnen und nach eigener Entscheidung zuzuschlagen, alles im Dienste dieser einzigen Aufgabe, die Tore, die Schlüssel und deren feindliche Bewacher aufzuspüren. Die Hungrige wusste viel über die Pläne des Einen, aber nicht alles, alles war unmöglich, undenkbar. Noch nicht einmal die Offiziere kannten alle Absichten ihres Herrn.

Sie hatte gefühlt, wie ihre Macht mit der Macht des Einen wuchs, so stark band er sie an sich. Triumphierte der Eine, spürte sie Wallungen in allen ihren Gliedern, die sie aufheulen ließen vor Tatendrang und einer schier unbändigen Lust auf Jagd, zum Zerstören, zum Quälen und zum Töten in seinem Dienst. Ihren Instinkten durfte sie immer wieder nachgeben, aber es waren nicht nur ihre Instinkte, sondern auch die ihres Herrn. Tag für Tag erinnerte sich die Hungrige dieser ihrer Bestimmung, selbst, wenn nur kleine Augenblicke des Verschnaufens ihr die Gelegenheit gaben, darüber zu sinnen.

Ruhig lag sie dort auf dem Hügel hinter Büschen im zunehmenden Licht des aufgehenden Tages, beobachtete eine Straße und wartete. Sie hörte mechanische, unlebendige Geräusche und beobachtete, wie ein Gefährt mit einem Menschen darin in hohem Tempo an dem Hügel vorbeifuhr. Sie nahm es nur zur Kenntnis. Diese Welt schien geprägt von vielen mühsam gefertigten Dingen, aber der Mensch in dem Gefährt war nur ein Mensch, und das Gefährt, in dem er sich verbarg, ließ ihn noch schwächer wirken, als er sowieso schon war. Immer mehr Gefährte fuhren an ihr vorüber, und die Hungrige wollte bereits zu dem Schluss kommen, dass sie sich näher an eine Ansiedlung heranschleichen müsse, als sie einen Menschen die Straße entlanglaufen sah.

Es handelte sich um ein altes Menschenweibchen, und jetzt galt es, eine Entscheidung zu treffen. Es erleichterte nicht ihre Aufgabe, wenn sie sie riss. Und jetzt war die Nacht vorbei, die Hungrige brauchte Fortschritte, und sie verdrängte ihr Bedürfnis zur Jagd durch die Pflicht ihrer Aufgabe. Der Mensch war alt und schwach, zu unwürdig für sie.

Zu unwürdig?

Darum ging es nicht. Das Wissen in ihrem Hirn würde größer sein als bei einem jungen Menschen. Und dem Schwachen misstrauen selbst die Klugen weniger als dem Starken. Sowie die Hungrige das alte Menschlein sah, wusste sie, dass es keine bessere Tarnung geben könnte.

Sie wartete, bis die alte Frau sie passiert hatte, kroch den Hügel hinunter bis zu den Böschungen am Rand der Straße und verfolgte sie. Von Zeit zu Zeit warf sie sich flach auf den Boden, wenn Gefährte an ihr vorbeirollten. Die Frau war mit sehr viel Stoff behangen, ein grauer Mantel reichte fast bis zu den Schuhen. Unter einem hellen Kopftuch quoll dichtes, weißes Haar hervor. Sie hatte eine Tasche in der Hand, die leicht und leer zu sein schien. Nachdem die Hungrige der alten Frau um eine Rechtskurve gefolgt war, sah sie eine größere Ansiedlung mit einem großen Gebäude unmittelbar am Anfang. Vor dem Gebäude standen viele Gefährte in Reih und Glied, ab und an stieg ein Mensch in eines hinein und fuhr davon, kam ein Gefährt an und ein Mensch stieg aus, um in das Gebäude hineinzugehen. Auch die alte Frau betrat das große Haus und die Hungrige kauerte sich in einen Graben, legte sich auf die Lauer und beobachtete geduldig den Eingang.

Nachdem die Menschenfrau wieder hinausgekommen war, folgte ihr die Hungrige. Die Tasche des alten Menschleins schien gefüllt und schwer zu sein. Sie lief denselben Weg zurück, vorbei an dem Hügel, auf dem die Späherin den Tag erwartet hatte, und es dauerte nicht lange, bis sie eine kleinere Ansiedlung erreichte. Es mochten zwanzig Häuser sein, in denen Menschen wohnten und die alle an der Straße lagen. Die Hungrige konnte sehen, wie die Frau in das dritte auf der rechten Straßenseite hineinging. Sie registrierte zufrieden, dass sie unbemerkt von der Hinterseite würde eindringen können. Sie sprang in einen kleinen Wald, durchquerte ihn, eilte über ein Feld und befand sich schließlich an einem niedrigen, sinnlosen Zaun. Da begann ein Hund im Haus nebenan zu bellen.

Sie musste sich beeilen, ihr Gehör registrierte fünfzehn Hunde, die jetzt panisch bellten und jaulten. Das Jammern erschien einmal schrill, einmal dumpf, dann kläffend, kurz und wieder lang. Die Hungrige weidete sich an der Todesangst dieser erbärmlichen Wesen, wusste aber auch, dass sie nun vorsichtig sein musste. Sie hörte Menschen miteinander sprechen, die anscheinend alle ihre Häuser verlassen hatten, sich auf der Straße befanden, um den Grund für das vereinte maßlose Kläffen und Winseln zu erfahren. Sie hüpfte über den Zaun, sprang mit zwei Sätzen über eine kleine Wiese und fand schnell eine Tür. Nun empfand sie die Angstschreie der Hunde als Vorteil. Sie stellte sich auf die Hinterbeine und drückte mit nur geringer Kraft beide Vorderpfoten auf die Tür. Das Holz flog nach vorne und schlug krachend an eine Wand. Schnell tapste sie hinein und schob die Tür mit ihrer Schnauze wieder zurück an ihren ursprünglichen Platz. Sie schlich durch einen winzigen Gang, lugte um eine Ecke und sah durch eine weit geöffnete Tür auf die Straße. Da stand die alte Frau, ihr den Rücken zugewandt, und sprach. Schnell hüpfte die Hungrige in ihre Richtung, bemerkte, dass sich links vor dem Ausgang ein offen stehender Raum befand, und sprang hinein.

Unangenehm warm war es hier, der Raum war erfüllt vom grässlichen Duft frischer Kräuter, entfremdeten Fleisches und der Milch dummer Tiere. Hier bevorratete die alte Frau ihre Nahrung. Ihre Tasche stand auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes. Die Hungrige setzte sich hinter den Eingang und wartete.

Das Gebell mochte kein Ende finden. Und da hörte die Hungrige, wie eine Tür geschlossen und verriegelt wurde. Sie hörte das Menschlein atmen. Es kam näher und nur noch das dünne Holz der Tür befand sich zwischen ihnen. Da ging der Menschenkörper an ihr vorbei. Zur Mitte des Raumes, um sich die Tasche zu greifen. Da drehte sich der Kopf auf ihrem Hals und richtete das Gesicht auf sie. Die Hungrige sah das Entsetzen in den Menschenaugen, bemerkte, wie die Farbe des Gesichtes weiß wurde, wie der Körper zunächst erstarrte und dann unkontrolliert zu zittern begann – und dann sprang sie.

Nicht reißen, befahl sie sich selbst.

Nicht reißen, sondern erobern.

Kapitel Vier

Albert Steinhaus hatte eine ungemütliche Nacht hinter sich. Kein Handwerker hatte sich am Vortag finden lassen, um das Fenster wieder instand zu setzen. So verbrachte er gezwungenermaßen die ganze Zeit im Museum, allein in der Stille, der Dunkelheit, der Kälte und mit seiner Angst. Irgendwann hatte er den antiken Dolch, den er mehrere Stunden lang zur Verteidigung in der rechten Hand gehalten hatte, wieder an seinen Platz in einer Tischvitrine zurückgelegt. Er hatte sich mit der Waffe nicht stärker gefühlt, und zu der Angst hatte sich bittere Selbstbelustigung gesellt. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so erleichtert die Dunkelheit der Nacht weichen gesehen zu haben wie an diesem Morgen.

In der Mitte des Vormittags fand sich endlich ein Handwerker ein, der immerhin problemlos die Sprossen des Fensters reparierte und neue Scheiben einsetzte. Da sich um diese kalte Jahreszeit wenige Touristen in Torheim einfanden und die mittelalterliche Stadt nur am Wochenende Besucher aus den nahen Ballungszentren erwartete, war das Museum lediglich freitags bis sonntags geöffnet. So beschloss Albert, nachdem sich der Handwerker verabschiedet hatte, hinauf zur Burg zu gehen, um mit Klara deren Reise weiter vorzubereiten. Sie hatten vereinbart, nicht mehr ins Freie zu gehen, und so nahm Albert seit gestern stets den beschwerlichen Weg durch den langen, dunklen und steilen Gang unter der Erde.

Er vergewisserte sich, dass alle Türen und Fenster des Museums verschlossen waren, lief hinüber zum Werkzeugraum, nahm sich die große Taschenlampe und stieg hinab in den Keller. Der Zugang zu der langen engen Treppe lag verborgen hinter einem ausgemusterten Holzverschlag. Albert leuchtete in den Gang hinein, der Lichtstrahl reichte weit, und er wusste, dass es nur ein kleiner Teil der vielen Treppenstufen war, den er vor sich sah. Nass und kalt war es, aber er erklomm die Stufen bedächtig, damit er unterwegs nicht müde werden würde. Die geheime Treppe verlief immer geradeaus, schier endlos, und es brauchte fünf Minuten des Aufstiegs, bis er die Umrisse der Tür an ihrem Ende wahrnehmen konnte. Er wusste, dass er sich an dieser Stelle auf Höhe der Gewölbe des Bergfrieds befand und beschleunigte nun seine Schritte. Wenn Klara und er nicht mehr sein würden und es der Zufall nicht wollte, dass künftige Hüter auch mit Recht die Burg kontrollierten, fielen alle Geheimnisse. Diese Treppe war so alt wie die Burg selbst, sie hatte einzig den Zweck, ungesehen in unmittelbare Nähe des Tores zu führen. Die Burg beherbergte zahlreiche Geheimgänge, Fluchten und ein wahres Labyrinth unterirdischer Räume, aber diese eine geradlinige Treppe war ihr wichtigstes Geheimnis.

Albert öffnete die schwere, kunstvoll verzierte Holztür und betrat die Obst- und Gemüsekammer des alten Vorratshauses, des unscheinbarsten und kleinsten Gebäudes der Burg, das sich zwischen Burgtor und früherer Kemenate, dem heutigen Wohnhaus, befand. An Haken über der Geheimtür waren alte Kartoffelsäcke angebracht, die auf die Tür fielen, als er sie schloss. Er durchschritt den Raum, der absichtlich zweckmäßig und keinesfalls einladend eingerichtet war, gelangte zum nächsten, der sehr viele wackelige Regale enthielt, in denen sich leere Flaschen und Gläser, verstaubtes Kochgeschirr, alte Geräteverpackungen und ausgemusterte Küchenutensilien stapelten. Er lief jedoch nicht zum Ausgang, sondern öffnete die schmale Tür eines verfallenen Wandschrankes, stieg hinein und während er mit seiner linken Hand die Türe wieder schloss, öffnete er mit seiner rechten bereits die nächste, die ihn in ein Seitentreppenhaus des Wohnhauses führte. Er verschloss auch diesen Eingang, der sich auch auf der anderen Seite als Wandschrank tarnte, und ging hinauf in den zweiten Stock. Gewollt geräuschvoll, um sich Klara anzukündigen, trat er in das erste Zimmer, den gemütlichen Wohnraum, ein. Klara war nicht hier, aber beide Flügel der gegenüberliegenden Tür zur Bibliothek waren komplett geöffnet. Albert ging weiter und sah, dass sie am großen Schreibtisch saß und Papiere sortierte.

Sie sah nicht weniger müde aus, als Albert sich fühlte. Klara war eine zierliche Frau, an deren Alter von fünfundsiebzig Jahren – damit immerhin sieben Jahre älter als er selbst – Albert nur erinnert wurde, wenn sie so erschöpft wirkte wie in diesem Augenblick. Sie trug ihr Haar kurz, sodass kein Grau von ihrem runden, faltenarmen Gesicht ablenken konnte. Wie stets hob sie beide Arme bedächtig an, wenn sie nach einer Zeit des Schweigens zu sprechen begann.

»Albert, ach, Albert, es tut mir so leid, dass du eine solch widrige Nacht erlebt hast. Bitte setze dich doch, und hole dir vorher noch einen heißen Tee aus der Küche. Er ist noch ganz frisch.«

Er folgte ihrem Rat und einige Minuten später saßen sie auf den weichen Sesseln am alten Rauchtischchen der Bibliothek.

»Klara«, sprach Albert sanft, »was hältst du davon, wenn wir versuchen, so viel wie möglich am Tag zu erledigen, damit wir uns einen schönen Abend mit einer Flasche Wein machen können? Vielleicht treten noch Dinge zutage, die wir bisher nicht bedacht haben.«

»Ja. Eine gute Idee«, antwortete Klara, »ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, nicht nur wegen meiner Furcht, sondern auch, weil wir uns lange nicht wiedersehen werden. Vielleicht nie mehr.«

»Mir geht es genauso. Lass uns hoffen.«

Und nach einer Pause fragte Albert: »Wie weit bist du?«

»Gleich kommt ein Bote, der meinen Koffer zum Bahnhof bringt. Ich hole ihn übermorgen bei meiner Ankunft am Gepäckschalter ab. Darin habe ich zusätzlich Bargeld hinterlegt, auch wenn das riskant ist. Ich habe neue Konten bei anderen Banken eröffnet und mir den größten Teil des Geldes von meinem Konto dorthin überwiesen. Am Montag hebe ich mir schon eine große Summe in bar ab. In jedem Fall komme ich ein ganzes Jahr gut zurecht. Das Wichtigste ist aber, dass mir der Notar vorhin am Telefon bestätigt hat, was wir bereits vermuteten. Um sicher gehen zu können, dass du das Tor im Auge behalten kannst, wenn mir etwas passiert, ist es zu gefährlich, wenn ich ein Testament zu deinen vollen Gunsten mache. Michael würde es anfechten; und seine Ansprüche müsstest du dann in Geld bedienen. Und diese Mittel haben wir nicht. Schrecklich wäre es, wenn die Burg zwangsverkauft werden müsste. Also vererbe ich Michael die Burg und dir ausdrücklich die Bibliothek und das Museum. Außerdem unterschreiben wir noch morgen einen Mietvertrag, an den auch der Erbe gebunden sein wird und der dir erlaubt, dich im größten Teil der Burg zu bewegen. Zudem habe ich eine Vollmacht für dich ausgearbeitet. Also zunächst bist du der einzige, der über die Burg bestimmen kann.«

»Wir haben keine Wahl, Klara, aber das alles ist bitter.«

»Ja, es ist ein Unglück, dass Michael nicht zu leiten war.«

»Wer weiß, vielleicht ändert er sich im Laufe der Zeit wieder. Wir haben ihn ja eine ganze Zeit nicht gesehen.«

»Ja, wer weiß. Aber davon können wir jetzt nicht ausgehen. Und ich kann es auch kaum glauben. Vielleicht«, fuhr Klara fort, »ist es keine schlechte Idee, Albert, wenn du ab der nächsten Woche das Museum besser sicherst und nach und nach die wichtigen Bände der Bibliothek dort unterbringst. Meine Eltern und Großeltern und alle aus meiner Familie, die vor ihnen lebten, würden sich im Grabe umdrehen, erführen sie, dass wir die Burg vielleicht aufgeben müssen. Aber wir können nichts tun, es ist die heutige Welt, die keinerlei Geheimnisse mehr duldet und deshalb von dem schrecklichsten Geheimnis heimgesucht werden kann.«

»Ja, ich werde die Bücher in Sicherheit bringen. Sollen wir das Museum am Wochenende öffnen?«

»Besser wäre es. Wir haben den Ruf von zwei alten, verrückten Einsiedlern. Wenn wir nicht öffnen, wird darüber vielleicht gesprochen werden; wir sollten nichts Ungewöhnliches tun. Ich werde auch Frau Blum morgen anrufen und ihr sagen, dass sie ab der nächsten Woche gerne nebenbei im Museum arbeiten kann. So hast du im Folgenden zeitlich größeren Spielraum.«

»Du denkst wirklich an alles, Klara. Nun gut. Dann lass uns deine Abreise am Sonntag nochmals genau durchgehen.«

Kapitel Fünf

Die Hunde hatten endlich ihr aufgeregtes, erbärmliches Konzert beendet. Die Hungrige wagte jetzt einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster auf die Straße. Niemand war zu sehen. Aber zum zweiten Mal wurde sie von einem Ereignis vollkommen überrascht: Der Tag ging zu Ende.

Ist es möglich, dass die Zeit so schnell verläuft?

Sie suchte nach Informationen in dem absorbierten Gehirn ihres Opfers.

Mein Name ist Elisabeth Mayer … ach, ich bin ja schon sechsundsiebzig Jahre alt … ach, meinen achtzigsten Geburtstag würde ich noch gerne gesund erleben.

Die Hungrige verglich ihr Alter mit dem der alten Frau, die sie erobert hatte und deren Körper sie jetzt kleidete, und kam zu dem Schluss, dass die Zeit den Menschen hier davonlief.

Sie durchsuchte das Hirn nach Informationen zu den Ortschaften in der Nähe, um herauszubekommen, wie die Stadt hieß, in der sich das Tor befand. Gelänge ihr das nicht, würde sie zu Fuß den Weg zurückspringen müssen, den sie gekommen war. Sie wollte, so oft es irgend möglich war, vermeiden, sich hin und her zu verwandeln. Dies war mühselig und schmerzhaft für die Glieder und brachte auch praktische Probleme mit sich, zum Beispiel diese unsägliche Last der Bekleidung. Sie erinnerte sich, wie sie während ihrer Lehre einen Wagemutigen erobert hatte, dessen Kleidung trug, und – als sie sich zurückverwandelt hatte – sich plötzlich in den Hosen verknotet fand und einige Zeit gebraucht hatte, um den schlimmen Stoff wieder abzustreifen. Wäre ein Feind in der Nähe gewesen, hätte er sie mühelos massakrieren können!

Eine Burg. Wo gibt es eine Burg?

Sie fand keine Information.

Welche Städte gab es in der Nähe? Gab es hier keine Landkarten?

Einige Karten habe ich im Wohnzimmerschrank, aber sie sind schon sehr alt, wozu brauche ich noch Karten, ich komme doch nirgendwo mehr hin.

Dieses Geweine ist ja unerträglich, dachte die Hungrige, ging in das Wohnzimmer und durchsuchte den einzigen Schrank, der dort stand, während sie sich fragte, ob es richtig gewesen war, diesen Menschen zu erobern. Dass die Menschen etwas verwahrten, war ihr völlig unverständlich, aber immerhin fand sie einen kleinen Stapel von Stadt- und Landkarten. Sie suchte sich eine Karte heraus, die auch die kleine Siedlung verzeichnet hatte, in der sie sich befand, faltete sie komplett auf, legte sie auf den Boden, setzte sich auf die Knie und suchte. Auf der Karte waren mit Sonderzeichen besondere Bauten markiert, sodass sie nach einer Weile die einzige Stadt in der Nähe identifiziert hatte, in der sich eine Burg befand: Torheim.

Aber es dauerte eine lange Zeit, bis sie die Information freigelegt hatte, wie ihr Opfer Elisabeth Mayer dorthin gelangen würde.

Ach, mein Sohn hat mich mit dem Auto abgeholt und so waren wir in einer halben Stunde in Torheim.

Die Hungrige empfand immer mehr Abscheu gegenüber ihrem Opfer; sie entschloss sich kurzerhand, nun doch nach Torheim zu springen – auf demselben Weg, den sie gekommen war. Sie überlegte sich, was zu tun wäre: Ich entledige mich aller Kleider, ich schnüre sie mit einem Seil zusammen, dann verwandele ich mich, nehme das Bündel zwischen die Zähne und laufe los.

Zufrieden mit ihrer schnellen Entscheidung legte sie sich im Flur direkt vor die Tür mit dem zerstörten Schloss, die zum Garten führte, starrte vor sich hin und versank in ihren Gedanken. Die ganze Nacht lag sie so und stellte sich vor, was sie alles tun dürfte, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hätte.

Kapitel Sechs

Im Gefühl ihrer engen Verbundenheit ließen Klara und Albert ihre Gläser sich berühren und der Rotwein darin wurde von kleinen Wellen erfasst. Bedächtig und im Bewusstsein, dass solche Momente des vertrauten Zusammenseins vielleicht nie mehr wiederkommen würden, genossen sie das Aroma des gereiften Weines, der etliche Jahre im kühlen Dunkel der verfallenen Kapelle geruht hatte.

Sie sprachen über ihre vielen gemeinsamen Jahre auf der Burg, über ihre gemeinsamen Studien und über die wohltuenden Mühen, die sie gehabt hatten, um der Bibliothek weitere Schätze zuzuführen. Klara hatte angesichts ihrer heutigen Gespräche um die Erbangelegenheiten das Bedürfnis, ihm zu erklären, warum sie Albert nicht geheiratet hatte, unterließ es aber, denn zu oft hatten sie in der Vergangenheit darüber gesprochen. Ihr Mann war vor zwölf Jahren gestorben und bis vorgestern hatte sie geglaubt, dass es falsch gewesen wäre, aus rein praktischen Erwägungen zu heiraten.

»An was denkst du, Klara?«

»An meinen Mann und dass es vermutlich ein Fehler war, dass du und ich nicht geheiratet haben«, antwortete sie ehrlich.

»Ich weiß nicht. Zu welch einem Menschen entwickelt man sich, wenn man alles nur unter praktischen Gesichtspunkten sieht und danach fragt, ob es den eigenen Zielen nützt? Selbst wenn die Ziele edel sind, können sie sich auch verändern durch die Mittel, die man anwendet, um sie zu erreichen. Ich kenne keinen besseren Menschen als dich, Klara, und es konnte nie eine bessere Hüterin und für mich eine bessere Freundin geben. Wissen und Verstand sind wichtig, sie dürfen das Herz aber nicht unterdrücken und in ein inneres Gefängnis stecken. Es besteht dann die Gefahr, dass es unmerklich verkümmert und nicht mehr zu einem sprechen kann.«

»Der gute Mensch bist du«, entgegnete Klara, »und du konntest dich immer gut ausdrücken. Ich glaube, es hätte uns und meiner Aufgabe als Hüterin nicht geschadet, wäre ich hier klüger gewesen.«

Albert ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Die acht massiven Schränke waren reich gefüllt mit Büchern jeden Alters. Die Schriften von allein dreien davon behandelten ausschließlich die Geschichte Torheims und der Umgebung, die römische Geschichte aus der Zeit ihrer weitesten Expansion in den Osten sowie ausgewählt die Mythologie der Menschheit. Die zusammengetragenen Werke in den anderen Schränken berührten ausnahmslos verwandte Themen. Diese Bibliothek war seit Generationen gepflegt worden, war eine große Sammlung des Wissens der Hüter aus der Linie der Burg-Torheims, hatte aber auch einen hohen materiellen Wert. Alle Wände waren fantasievoll mit bestem Holz verkleidet, reich mit mittelalterlichen Motiven bemalt und bargen Geheimnisse, die nur Klara und Albert kannten.

»Klara, so darfst du nicht denken. Sieh, in der langen Geschichte deiner Familie war es Siegfried von Burg-Torheim, der für diese Bibliothek, für all die Sammlung des Wissens und der Andeutungen zu dem Geheimnis der Tore, das meiste getan hat. Aber er ließ sich dann gefangen nehmen von seinem eigenen Verstand und vergaß seine Aufgabe. Wir wissen nicht, was er damit angerichtet hat, als er den Schlüssel benutzte. Wir wissen aber, dass er zum Zeitpunkt seiner Reise in das Unbekannte schon fast besessen war. Er war ein Feind aller Geheimnisse geworden und wollte unbedingt durch das Tor.«

»Gut«, entgegnete Klara, »aber zu diesem Zeitpunkt war er noch sehr jung, und es ist ein Unterschied, ob ich im übertriebenen Eifer des noch frühen Lebens falsche Wege beschreite oder im hohen Alter auch einmal über eine kluge Taktik nachdenke. Seit vorgestern sind wir gezwungen, vor allem taktisch zu denken: Wie ich fliehen kann, wie wir das Tor im Auge behalten können und so weiter. Nein, ich bleibe dabei, hier habe ich einen Fehler gemacht.«

»Sei’s drum. Ich werfe dir nichts vor. Es hilft sowieso nichts, geschehen ist geschehen.«

Und Albert fuhr fort: »Willst du Siegfrieds Tagebuch mitnehmen?«

»Darüber habe ich lange nachgedacht, Albert. Falls ich aufgespürt werde, wird auch das Tagebuch gefunden. Du könntest dir nie sicher sein, dass es an einem sicheren Ort ist. Wir waren uns auch schon immer einig darin, es nicht zu vernichten, da uns nicht klar ist, ob es richtig ist, dass alle Erkenntnisse, die es enthält, für immer verloren sein sollen. Auch du solltest es nicht bei dir tragen. Es muss hier in der Nähe des Tores bleiben, jedoch gut versteckt. Wo, das musst du entscheiden.«

Während Alberts Gedanken um die Frage möglicher Verstecke zu kreisen begannen, wagte es Klara, ihren Geist auf eine Angelegenheit zu lenken, die sie als Hüterin stets mit voller Absicht und ganz bewusst verdrängt hatte: das Buch der Hüter. Siegfried von Burg-Torheims Tagebuch bezog sich in wesentlichen Teilen auf diese Schrift aus den frühesten Zeiten der Buchbindekunst, die sich nach seiner Aussage um die Entstehung und Lage der Tore und das Wesen des Seelenlosen drehten, aber auch gefüllt war mit praktischen Hinweisen und magischen Formeln und Losungen.

Als letzte Worte hatte Siegfried in sein Tagebuch geschrieben, und Klara kannte sie auswendig:

»Bevor ich jetzt auf die einzige Reise gehe, die mir noch etwas bedeuten kann, gebe ich das ›Buch der Hüter‹ meiner guten, treuen Gemahlin, damit sie es gut verbergen und vergessen möge. Beendet im Jahre 1745, was ohne Bedeutung ist, denn für mich, Siegfried von Burg-Torheim, soll es das Jahr 1 sein, das Jahr, in dem ich durch das Tor schritt.«

»Unternehmen wir etwas zu dem Buch der Hüter?«, fragte Klara, »können wir es riskieren, dass es von jemand anderem gefunden wird?«

Albert sah sie erstaunt an. Diese Frage wollte eigentlich er ihr stellen, immer wieder in den letzten Jahren hatte er sich selbst dabei ertappt, wie er über dieses Problem nachdachte, war aber davon ausgegangen, dass das Aussprechen dieser Frage zur Gegenfrage führen könnte, ob er sich nicht doch mehr für den Inhalt der alten Schrift interessierte, als er zuzugeben bereit war.

Und er gab Klara genau die Antwort, die sie hören wollte und die der Stimmung ihres Herzens entsprach: »Ja, das müssen wir riskieren. Und du hast richtig gehandelt, als du dich wie alle Burg-Torheims nach Siegfried entschlossest, nicht nach dem Buch zu suchen. Wir müssen darauf vertrauen, dass Siegfrieds Frau es gut versteckt hat. Immerhin musste sie das Verschwinden ihres Gatten betrauern und hatte allen Grund, das Buch als Fluch zu begreifen. Wir müssen davon ausgehen, dass das Buch der Hüter sicher verwahrt ist.«

Albert füllte neuen Wein in die Gläser.

»Was – was nur wird nun geschehen?«, fragte Klara.

»Das wissen wir nicht«, antwortete Albert, »aber gleich, was geschieht und falls es böse ist – wenn es geschieht, sollten wir zurückblicken und sagen können, dass wir alles versucht, alles getan haben, um es zu verhindern.«

Kapitel Sieben

Er stand nun seit fünf Minuten reglos am Rand des Feldes und traute seinen Augen immer noch nicht. Er kam sich ungewohnt schwach vor, ihm war übel und er starrte auf den zerfetzten, ja auseinandergerissenen Hirsch unmittelbar vor ihm. Alle Knochen schienen gebrochen, Kopf und zwei Beine abgetrennt, alles Fell bedeckt mit getrocknetem Blut. Stanislav Müller wurde es nie übel, nicht, wenn er eines seiner Schweine oder eines seiner Rinder schlachtete, nie, wenn er an einem Sonntag ein Huhn aus dem Gehege nahm, um es notwendigerweise zu töten, damit es ein gutes Mittagessen geben konnte, und keinesfalls, wenn er sich beim Hämmern oder Sägen selbst verletzte.

Denn gleich, wie blutig die Ergebnisse seiner Taten als Landwirt waren, er kannte stets die Ursache. Er hatte nicht die entfernteste Idee, wie dieses Wild vor ihm auf dem schlammigen Boden sein schreckliches Ende gefunden hatte. Er würde seine Entdeckung melden müssen.

Das hatte er nun davon, dass er sich so um sein Holz sorgte. Sowohl die zwei kleinen Wälder als auch die meisten Felder hier waren sein Eigentum. Kurz vor Wintereinbruch hatte er die durch die vergangenen Herbststürme umgeknickten Bäume und abgebrochenen Äste zusammen mit seinem Sohn aus den Wäldchen geschafft, an Ort und Stelle zersägt und zu beachtlichen Stapeln geschichtet, die er in Kürze nach und nach zu seinem Hof transportieren wollte. Leider hatte er feststellen müssen, dass es Diebe gab – vermutlich auch in seiner lieben Nachbarschaft –, die meinten, das viele Holz sei für einen doch zu viel, und sich heimlich und hemmungslos bedienten. So fuhr er mit seinem Traktor meistens am Samstag hierher zu seinem Grund und Boden, um nach dem Rechten zu sehen.

Er marschierte auf das nahe Wäldchen zur Linken zu, suchte dabei konzentriert den Boden ab. Die vielen Spuren gaben ihm keine Antwort auf das Rätsel. Ehrlicherweise hatte er von Abdrücken, die die Pfoten und Füße der Tiere überall hinterließen, keine blasse Ahnung. Es gab hier viel Wild und jede Menge Füchse. Er hatte bislang keine Probleme damit gehabt. Er lief über den steinigen Rain zwischen Wald und Feld entlang und suchte Ungewöhnliches zwischen den Bäumen. Nichts.

Er wusste nicht, warum er das jetzt tat, aber vermutlich hatte sein Auge plötzlich eine winzige Veränderung wahrgenommen, eine Bewegung, die nicht in seinem unmittelbaren Blickfeld lag: Er wandte sich um, sah über das weite Feld in das andere gegenüberliegende Wäldchen. Dort rannte, nein, dort sprang ein Hund in hohem Tempo. Während er die Hand an die Stirn legte, um das störende Licht zu unterbrechen, lief er auf das Feld. Ein streunender Hund, der sehr groß war.

Zu groß.

Stanislav Müller wurden schlagartig die Proportionen bewusst. Die Höhe der Bäume, die Breite eines nahen Holzstapels … das konnte nicht sein, das Tier maß in der Länge annähernd zwei Meter. Das war kein Hund, ein solches Tier gab es hier nicht – und da packte ihn die Angst, da sein Verstand einen Zusammenhang herstellte zwischen dem zerrissenen und diesem unbekannten Tier.

Wo kommt es her, wo rennt es hin?

Ihm wurde jetzt bewusst, dass sich seine Beine geweigert hatten, ihn weiterzutragen. Er stand auf dem Feld und starrte gebannt auf das in der Ferne springende Tier. Das plötzlich stehen blieb. Er wusste es, er wusste es einfach, dass das Tier ihn bemerkt hatte und ihn – ihn! – anschaute. Regungslos stand er da und regungslos verharrte das Tier. Als würde es nachdenken, überlegen. Und plötzlich sprang es los – in seine Richtung.