Seven Days - Steve Cavanagh - E-Book

Seven Days E-Book

Steve Cavanagh

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Beschreibung

Er gewinnt jeden Prozess. Denn er steckt hinter jedem Mord.

Man nennt ihn den König der Todeszellen. Randal Korn hat mehr Menschen auf den elektrischen Stuhl geschickt als jeder andere Staatsanwalt in Amerika. Und er genießt es, bei Hinrichtungen zuzusehen. Sein nächstes Opfer: Andy Dubois, ein junger Afroamerikaner, der wegen des Mordes an einem weißen Mädchen zum Tode verurteilt werden soll. Korn hat bereits alles für einen möglichst kurzen Prozess vorbereitet. Doch er hat nicht mit Eddie Flynn gerechnet. Dem New Yorker Anwalt bleiben sieben Tage, um Andy vor einer korrupten Justiz zu retten und den wahren Täter zu finden. Dann soll das Urteil gesprochen werden. Wird Eddie Flynn bis dahin noch am Leben sein?
Sieben Tage bleiben Eddie Flynn, um das Leben seines Mandanten zu retten. Und sein eigenes ...

»Nach den ersten Seiten hängen Sie rettungslos am Haken. ›Seven Days‹ treibt einem den Schweiß auf die Stirn, und die grandiosen Gerichtsszenen übertreffen sogar John Grisham.« The Times

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Seitenzahl: 606

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Buch

Man nennt ihn den König der Todeszellen. Randal Korn hat mehr Menschen auf den elektrischen Stuhl geschickt als jeder andere Staatsanwalt in Amerika. Und er genießt es, bei Hinrichtungen zuzusehen. Sein nächstes Opfer: Andy Dubois, ein junger Afroamerikaner, der wegen des Mordes an einem weißen Mädchen zum Tode verurteilt werden soll. Korn hat bereits alles für einen möglichst kurzen Prozess vorbereitet. Doch er hat nicht mit Eddie Flynn gerechnet. Dem New Yorker Anwalt bleiben sieben Tage, um Andy vor einer korrupten Justiz zu retten und den wahren Täter zu finden. Dann soll das Urteil gesprochen werden. Wird Eddie Flynn bis dahin noch am Leben sein?

Sieben Tage bleiben Eddie Flynn, um das Leben seines Mandanten zu retten. Und sein eigenes …

Weitere Informationen zu Steve Cavanagh sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Steve Cavanagh

SEVEN DAYS

Der sechste Fall für Eddie Flynn

Thriller

Aus dem Englischenvon Jörn Ingwersen

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Devil’s Advocate« bei Orion Fiction, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2024

Copyright © der Originalausgabe

2021 by Steve Cavanagh

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München

Covermotiv: © Trevillion Images/Magdalena Russocka Fuxa

Redaktion: Regina Carstensen

AB · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30545-1V002

www.goldmann-verlag.de

Für John, Matt und Alan.Für ihre Freundschaft.

PROLOG

Holman Correctional Facility, Escambia County, Alabama

Vier lange Jahre hatte Randal Korn auf diesen Moment gewartet.

Mit verschränkten Armen stand er da und musterte den elektrischen Stuhl. Das Ding war fast hundert Jahre alt. Aus Mahagoni geschreinert und dann mit gelber Mittelstreifenfarbe vom Straßenbauamt angemalt, weil das ganz in der Nähe lag. Man taufte den Stuhl auf den Namen »Yellow Mama«.

Hundertneunundvierzig Menschen hatten sich auf diesen Stuhl gesetzt und waren nie mehr aufgestanden.

Die Digitaluhr an der Wand zeigte 23:45.

Langsam wurde es Zeit. Er verließ den gemauerten Raum und fand sich in einem Betonflur wieder. Ungestrichen. Links führte eine Tür in den Kontrollraum – die Hot Box. Er lief daran vorbei, auf direktem Weg zur Sitzecke am Ende vom Flur. Zwei Sofas standen dort einander gegenüber. Auf dem einen saß ein Priester, auf dem anderen das Hinrichtungsteam. Vier Justizvollzugsbeamte, die dafür ausgebildet waren, den Sträfling von seiner Zelle auf den Stuhl zu befördern und ihn dort festzuschnallen, alles in unter zwei Minuten.

Korn winkte dem Team, woraufhin der leitende Beamte nickte. Den Priester ignorierte er. Hinter den Sofas ging es links in einen schmalen Flur. Am Ende davon gab es eine kleine vergitterte Zelle, und darin saß Darius Robinson auf dem Bett vor dem Fernseher. Er hatte seine letzte Mahlzeit zu sich genommen – Chicken-Fried Steak, Maisbrot und eine Pepsi. Der Priester hatte ihm den letzten Segen gegeben. Sein Kopf und der linke Unterschenkel waren frisch rasiert. Nur einer stand noch zwischen Darius und Yellow Mama.

Sein Name war Cody Warren.

Cody telefonierte draußen vor der Zelle von dem Apparat aus, der dort an der Wand hing. Korn wusste, was Cody vorhatte. Er versuchte, das Büro des Gouverneurs zu erreichen, wartete darauf, dass Chris Patchett die Papiere durchsah, die Cody ihm geschickt hatte, den Antrag auf einen Aufschub der Hinrichtung. Als Strafverteidiger, der einige Erfahrung mit Todesstrafen in Alabama hatte, war Cody der Einzige, der den Gouverneur dazu überreden konnte, das Leben seines Mandanten zu verschonen.

Regungslos stand Korn da. Ein großer, dürrer Mann mit kaum Muskeln und keinem Gramm Fett am Leib. Nicht, dass er sich darum bemühte. Er aß nur wenig, und das sah man ihm auch an. Hohe Wangenknochen, mit denen man ein Steak hätte schneiden können. Keine Falten im Gesicht. Manche sagten, er sähe aus wie eine Porzellanpuppe. Mit seinen dunklen Haaren, dem Seitenscheitel und der Drahtbrille ordentlich auf seiner Nase wirkte er wie ein viel älterer Mann, der in einen jüngeren Körper eingezogen war. Korn hatte kleine schwarze Augen und wulstige Brauen, als wollte er seinen Blick verbergen. Der Mund war nicht mehr als ein schwarzer Spalt in seinem Gesicht. Seine Größe hätte ihm zum Vorteil gereicht, hätte er jemals Sport getrieben, aber er war lieber drinnen geblieben, im dunklen Zimmer, hatte gelesen, gelernt und nachgedacht. Wie eine alte Spinne, die ein Netz spann, das nur sie selbst sehen konnte.

Darius Robinson, fünfundzwanzig, war vor vier Jahren des Mordes für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden. Seine Gnadengesuche waren schnell aufgebraucht. Das Opfer war ein Gebrauchtwagenhändler, dem man bei einem Raubüberfall in die Brust geschossen hatte. Ein Mann namens Porter hatte den Mann erschossen, als er ihn um fünf Riesen Bargeld erleichterte. Robinson hatte Porter zu dem Raub gefahren und war danach mit ihm geflüchtet. Er behauptete, er hätte nicht gewusst, dass Porter bewaffnet war, und ihn nur hingefahren, weil er sich ein neues Auto kaufen wollte. Porter war vierundzwanzig Stunden nach dem Raub von der Polizei erschossen worden. Robinson erklärte den Geschworenen, dass er unbewaffnet gewesen sei, keinen Fuß auf das Gelände gesetzt hätte, die ganze Zeit im Auto gesessen und nichts davon gewusst hätte, dass Porter jemanden überfallen wolle. Erst als er den Schuss hörte. Er meinte sogar, Porter hätte damit gedroht, ihn zu erschießen, wenn er ihn nach dem Raub nicht mitnehmen würde.

Das alles zählte in Sunville County nicht. Randal Korn, der zuständige Bezirksstaatsanwalt, überzeugte die Geschworenen davon, dass Robinson in den Raub eingeweiht war und gewusst hatte, dass Porter eine Waffe bei sich trug. Dem Gesetz nach reichte das, um Robinson in die Todeszelle zu bringen und ihn so zu behandeln, als hätte er selbst geschossen. Sämtliche Hinrichtungen in Alabama werden in der Holman Correctional Facility von Escambia County durchgeführt, dem Nachbarbezirk von Sunville.

Korn wusste, dass Darius gute Chancen auf eine Umwandlung seiner Todesstrafe hatte, weil feststand, dass Porter der eigentliche Täter gewesen war.

Cody war älter als Korn, und man sah ihm seine dreiundsechzig Jahre deutlich an. Tiefe Furchen liefen über seine Stirn. Krähenfüße drängten sich um die wachen Augen, in denen Hoffnung leuchtete. Sein Jackett lag auf dem gestrichenen Betonboden, zusammen mit seiner Krawatte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn in die grauen Haare, dann hielt er den Hörer wieder an sein Ohr. Cody Warren war ein guter Anwalt und zuversichtlich, dass er Darius das Leben retten konnte, auch wenn dieser nie mehr in Freiheit leben würde.

»Schon was vom Gouverneur gehört?«, fragte Korn.

Cody wandte sich um, schüttelte den Kopf, anschließend sah er auf seine Uhr. Zehn Minuten vor Mitternacht. Noch zehn Minuten, bis Darius Robinson seinen letzten Weg antreten würde. Das Wandtelefon bot eine direkte Verbindung zum Büro des Gouverneurs, aber die meisten Anwälte blieben in der Warteschleife hängen. So wie Cody. Lauschten in die Stille und warteten auf eine Begnadigung.

»Er wird meine Strafe umwandeln. Ich weiß es. Ich bin unschuldig«, sagte eine Stimme. Korn wandte sich zu Darius in der Todeszelle um, der sich an die Gitterstäbe klammerte und von einem Fuß auf den anderen trat, während er sich vor Anspannung fest in die Lippe biss. Er sah verschwitzt aus, obwohl es draußen auf dem Gang eher kühl war. Auf einen Anruf zu warten, der darüber entscheidet, ob man leben oder sterben wird, kann einen Menschen zerreißen, und der psychische Druck war Darius deutlich anzumerken.

Korn nahm sein Handy aus der Jacke, wischte darüber, tippte darauf ein und hielt es an sein Ohr.

»Vizegouverneur Patchett«, sagte Korn. »Ich bin hier bei Cody Warren und Mr Robinson, dem Mann der Stunde. Wenn ich es richtig sehe, versucht Mr Warren jetzt schon eine ganze Weile, Ihr Büro zu erreichen.«

Der eigentliche Gouverneur von Alabama befand sich mitten in einem Amtsenthebungsverfahren, das vorübergehend ausgesetzt war, weil er sich krankgemeldet hatte. Momentan erholte er sich in einer Klinik in Arkansas. Da er nicht im Lande war, saß nun der Vizegouverneur auf seinem Stuhl.

Korn tippte noch mal aufs Display, um laut zu stellen, damit Cody und Darius mithören konnten.

»Ich bin noch unentschieden. Wollte Sie erst nach Ihrer Meinung fragen«, sagte Patchett.

»Okay, ich muss mich eben mit Mr Warren besprechen. Ich stelle Sie kurz leise.«

Warren knallte den Hörer auf die Gabel. Seit fast einer Stunde hing er in der Warteschleife des Gouverneursbüros, und Korn führte ihm vor, dass der Gouverneur für ihn jederzeit erreichbar war. Solche kleinen Machtspielchen machten Korn irgendwie Spaß.

»Hören Sie, Korn. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Er hat bei diesem Raub eine untergeordnete Rolle gespielt. Er hat es nicht verdient zu sterben, und das wissen Sie. Er ist noch jung. Er kann immer noch ein Leben haben, und ich bin überzeugt davon, dass sich da draußen irgendwo Beweise finden lassen, die seinen Namen eines Tages reinwaschen werden. Bitte, geben Sie ihm eine Chance«, sagte Warren mit etwas schriller, rauer Stimme – er arbeitete seit fünf Tagen rund um die Uhr daran, Darius Robinson vor dem elektrischen Stuhl zu retten.

Korns Miene blieb starr. Dieses leere Puppengesicht. Er sagte nichts, freute sich daran, mit anzusehen, wie Warren ihm tief in die Augen blickte, auf der Suche nach einer Antwort, auf der Suche nach Hoffnung, atemlos.

Keiner sagte was. Keiner wagte, Luft zu holen. Korn konnte sehr still dastehen, wenn er wollte, eine weitere Gabe, die ihn manchmal leblos erscheinen ließ. Drückendes Schweigen machte sich breit, voller Furcht und Ungewissheit. Korn aalte sich in dieser unheilvollen Stille wie in Totwasser.

Der Moment verging, als Darius Luft holte. Er atmete tief ein. Wie das Vakuum im All, wenn ein Stern kollabiert, alles in sein todgeweihtes Herz saugt, um dann zu explodieren.

»Porter hat mich nach dem Raub mit der Waffe bedroht! Er hätte mich umgelegt, wenn ich ihn nicht mitgenommen hätte. Ich wusste nicht, dass er jemanden erschießen und ausrauben wollte. Ich schwöre, ich wusste nichts davon!«, rief Darius. Angst und Verzweiflung sprachen aus jedem seiner Worte.

»Ich glaube Ihnen«, sagte Korn.

»Wie bitte?«, fragte Warren.

»Ich glaube ihm. Und der Vizegouverneur wird tun, was ich ihm sage. Ich rufe ihn gleich zurück. Geben Sie mir einen Moment Zeit, dann ist das alles gleich vorbei.«

Tränen liefen über Darius Robinsons Wangen.

Cody Warren sank in sich zusammen, als hätte man ihm gerade eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen. Er blickte zur Decke auf, dankte dem Himmel und schloss die Augen. Er hatte einem jungen Mann das Leben gerettet. Und in diesem Augenblick war nichts süßer als die Erleichterung.

Er trat an die Todeszelle heran, streckte die Hände durch die Gitterstäbe und hielt das Gesicht seines Mandanten. »Alles wird gut«, sagte er.

Korn drückte mit dem Daumen auf das Display an seinem Handy. »Gouverneur, sind Sie noch dran?«

»Hier bin ich. Uns läuft langsam die Zeit davon, Randal. Was meinen Sie, was ich tun soll? Ich tendiere dazu, die Strafe basierend auf Mr Warrens Eingabe umzuwandeln, aber ich würde mich meinem Bezirksstaatsanwalt nicht widersetzen – sofern Sie eine klare Haltung haben. Was meinen Sie?«

Korn trat einen Schritt zurück, genoss den Anblick, der sich ihm bot. Warren und Robinson umarmten einander durch die Gitterstäbe der Zelle hindurch. Inzwischen weinten beide.

»Ich habe mit Mr Warren gesprochen. Er klingt sehr überzeugend. Er hat starke Argumente vorgebracht, Robinsons Strafe umzuwandeln. Wenn ich Sie recht verstehe, neigen Sie auch zu dieser Ansicht. Es fällt nicht leicht, jemandem im Namen des Rechts das Leben zu nehmen.«

Warren und Robinson lächelten unter Tränen, lachten. Die ungeheure, unfassbare Angst, die sie wochenlang bedrückt hatte, war von ihnen genommen und die Erleichterung total.

»Aber genau deshalb müssen wir in diesem Fall die Strafe durchsetzen«, sagte Korn.

Warren war der Erste, der merkte, was Korn da eben gesagt hatte. Er riss den Kopf herum und starrte den Bezirksstaatsanwalt an.

»Eine Jury hat Mr Robinson des Mordes für schuldig befunden. Wir missachten diese Jury und auch Mr Robinsons Opfer, wenn wir zulassen, dass er lebt. Nein, wenn es nach mir geht, stirbt Darius Robinson heute Nacht.«

Warren wollte sich auf Korn stürzen, aber zwei Wachleute gingen dazwischen, packten Warren und hielten ihn mit Gewalt zurück.

»Wie gesagt, Randal, ich werde keine Entscheidung gegen Ihren Willen treffen. Dann findet die Hinrichtung statt wie geplant. Gnadengesuch abgelehnt«, sagte Patchett.

Die Justizvollzugsbeamten hatten wochenlang für diesen Tag geübt, um sicherzustellen, dass die Riemen festsaßen, dass der Schwamm auf seinem Kopf genug Kochsalzlösung enthielt, dass die Elektroden sicher befestigt waren. Sie schafften es unter zwei Minuten, traten aus dem Hinrichtungsraum und ließen Robinson festgeschnallt und mit verbundenen Augen zurück.

Der Raum selbst war relativ klein. Der Stuhl stand in der Mitte der gemauerten Kammer, mit Blick auf eine Glasscheibe, hinter der sich die Steuerung für die Stromstöße befand. Durch die Scheibe des Kontrollraums würde sich Korn die Hinrichtung ansehen.

Robinsons blauer Sträflingsanzug war etwas bearbeitet worden. Das linke Hosenbein hatte man ihm kurz über dem Knie abgeschnitten. An dieser Wade war mit Kontaktgel eine Elektrode befestigt. Beide Beine wurden an den Knöcheln von dicken Lederriemen gehalten. Auch um Bauch, Brust, Arme und Stirn lagen Riemen. Ein Schwamm mit exakt hundert Milliliter Salzlösung lag auf der Elektrode im »Helm«, der Kappe, die den Großteil des Stroms in seinen Körper leiten würde. War zu viel Salzlösung im Schwamm, gab es einen Kurzschluss. Zu wenig, dann würde Darius’ Kopf Feuer fangen.

Der Sträflingsanzug hatte feuchte Flecken. Unter den Armen und an der Brust. Robinson schwitzte seinen Anzug durch. Festgeschnallt, wie er war, zitterte er doch wie eine Pistole in Kinderhand.

Ein Hebel im Kontrollraum öffnete den Vorhang in der Hinrichtungskammer, sodass die gläserne Wand und die Menschen dahinter sichtbar wurden. Ein halbes Dutzend Zeugen. Darunter befand sich kein einziger Angehöriger des toten Gebrauchtwagenhändlers, den Porter ermordet hatte. Nein, es waren professionelle Zeugen und Reporter. Cody Warren war nicht darunter. Man hatte ihn des Hauses verwiesen. Korn konnte die Zeugen sehen, sie ihn aber nicht. Er stand hinter einer verspiegelten Glasscheibe.

Der Verurteilte bekam Gelegenheit für ein paar letzte Worte.

»Ich bin unschuldig, und die ganze Welt weiß es.«

Korn wusste es auch. Aber es war ihm egal. Er war nicht Ankläger in einem Staat geworden, der die Todesstrafe praktizierte, um sich um Schuld oder Unschuld zu scheren. Ihm gefiel das System. Gerechtigkeit war nur ein Schleier, der sein wahres Wesen verbergen sollte.

Es war ganz still. Dann hörte er, wie die Maschinerie anlief.

Und noch etwas anderes hörte er, ein tiefes Summen, das abrupt lauter wurde, woraufhin Robinsons Schulter heftig zuckend gegen den Stuhl schlug.

Yellow Mama hatte ihren ersten Zyklus begonnen.

Fast zweieinhalbtausend Volt liefen jetzt durch Robinson. Korns Augen wurden groß, seine Lippen teilten sich. Er bekam so einen metallischen Geschmack im Mund. Ein Rauschen war in der Luft.

Während der ersten zwei Sekunden wirkte Robinson, als würde eine unsichtbare Macht seine Schulter an die Stuhllehne pressen. Weitere zwei Sekunden vergingen, in denen sein Körper heftig zuckte, als hätte er einen Vorschlaghammer in den Magen bekommen. Dieser erste Stromstoß sollte ihm das Bewusstsein nehmen, sein Herz zum Stillstand bringen.

Nichts dergleichen geschah. Der menschliche Schädel ist ein schlechter Leiter.

Nach weiteren fünf Sekunden wurde der Strom abgestellt. Als er wieder einsetzte, war er um einiges schwächer – nur siebenhundert Volt. Diese würden dreißig Sekunden beibehalten, dann stellte sich die Maschine automatisch ab. Wenn Robinson da noch nicht tot war, würde man den gesamten Vorgang wiederholen.

Korn stand an der Scheibe und sah genau hin, wandte sich kein einziges Mal von Robinson ab.

Er ließ den Mann auf dem Stuhl nicht aus den Augen.

Auch nicht, als dessen Haut zu qualmen begann. Nicht mal, als ihm der Strom das linke Schienbein brach. Nicht mal, als ihm blutiger Schaum aus dem Mund quoll.

Und die ganze Zeit über fühlte sich Korn, als würde der Strom durch seine eigenen Adern fließen. Er fühlte sich wie von einer Urkraft durchdrungen. Als Bezirksstaatsanwalt hielt er die Macht über Leben und Tod in seinen langen, krummen Händen. Und er genoss es. Er hatte diesen Menschen getötet, als hätte er ihm selbst eine Kugel in den Kopf geschossen, und dieser Gedanke war berauschend. Jemanden zu erschießen oder zu erstechen, war für Korn nicht dasselbe. Zu animalisch. Korn mordete mit der Macht seines Amtes, seines Verstandes und seines Geschicks. Und es bereitete ihm ein größeres Vergnügen, als er sich je erträumt hatte. Die ganze Zeit über wünschte er, Robinson würde am Leben bleiben, nur ein bisschen noch.

Gerade lange genug, dass die Qualen noch ein bisschen anhielten.

Als es vorbei war, hing eine Rauchwolke über Yellow Mama, und Korn schnappte nach Luft.

Neun Minuten hatte es gedauert, bis Darius Robinson tot war.

Und in diesen qualvollen neun Minuten fühlte sich Randal Korn wahrhaft lebendig.

FÜNF MONATE SPÄTER

SKYLAR EDWARDS

Skylar Edwards drückte sich hinten in die Ecke der Küche von Hogg’s Bar und tippte mit beiden Daumen eine Nachricht in ihr Handy. Das Klicken, das sie hörte, wenn sie das Display berührte, war nur ein Effekt, der das Geräusch einer alten Tastatur nachahmen sollte, und selbst aus diesen Lauten sprach der Zorn, den sie in die Nachricht gelegt hatte. Sie schickte die Nachricht ab und stopfte das Handy in die Tasche ihrer Jeans, bevor der Besitzer der Bar sie suchte.

Es war fast Mitternacht, die Küche schon seit Stunden geschlossen, und der Koch, der dieser Bezeichnung nur unzureichend gerecht wurde, war gegangen, kurz nachdem er den Grill mit einem schmutzigen Lappen abgewischt hatte. Es gab für sie eigentlich keinen Grund mehr, hier zu sein, abgesehen davon, dass sie fünf Minuten mit ihrem Handy allein sein wollte. Die Antwort auf ihre Nachricht würde nicht lange auf sich warten lassen. Ihr Freund, Gary Stroud, schickte nie lange Nachrichten. Er nutzte Emojis oder GIFs, um seine mangelhafte Rechtschreibung zu verbergen. Skylar hatte keine Zeit zu warten. Sie schob sich durch die Doppeltüren in den Flur, vorbei an den Toiletten und durch eine weitere Tür in die Bar.

Nur noch drei Gäste waren übrig. Stammgäste aus Buckstown. Soft Rock dudelte aus dem Lautsprecher in einer Ecke der Bar, aber die Gäste hörten gar nicht hin. Sie starrten lieber den Fernseher an.

»Sagen Sie, Ryan, könnten Sie das wohl etwas lauter stellen?«, fragte der große Mann am Ende vom Tresen. Er saß schon fast den ganzen Abend da, hatte was gegessen, trank Wasser oder Ingwerlimonade und arbeitete. Sie hatte ihn hier schon öfter gesehen. Normalerweise kam er rein, wenn wenig los war, erledigte seinen Schreibkram oder sah sich ein Spiel an. Kein ansehnlicher Mann, aber gut gebaut, und er gab immer ordentlich Trinkgeld.

»Na klar, Tom«, sagte Ryan, während er zwei volle Gläser Bier vor den anderen beiden Gästen abstellte.

Tom. So hieß er. Sie wusste, dass er Ankläger beim Büro des Bezirksstaatsanwalts war. Hatte ihn im Fernsehen gesehen, und einmal hatten sie sich sogar über einen seiner Fälle unterhalten, vor fünf Monaten etwa. Der Mann, den sie oben in Escambia County hingerichtet hatten. Er hatte nicht viel davon erzählt, aber Tom redete sowieso nicht viel. Ryan Hogg, der Barbesitzer, war jedes Mal besonders nett zu ihm.

Sie blickte zum Fernseher auf, während Ryan die Musik leiser und den Fernseher an der Wand über dem Tresen lauter stellte. Der neue Gouverneur – Patchett – war in den Nachrichten und redete wieder über die Fabrik.

»… Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um diese Jobs bei Solant Chemicals zu retten …«

»Die Fabrik wird geschlossen?«, fragte Ryan.

»Die drohen doch schon seit Jahren damit«, sagte Tom. »Wenn der Gouverneur involviert ist, scheint es diesmal ernst zu sein.«

Skylar fing an, Gläser von den Tischen einzusammeln, ohne den Fernseher aus den Augen zu lassen. Ihr Vater, Francis, arbeitete in der Fabrik, fuhr Lastwagen, schon seit zwanzig Jahren. Er verdiente damit genug, um Skylar aufs College zu schicken. So intelligent Skylar auch sein mochte, hatte sie doch kein Stipendium bekommen, und ihr Vater zahlte ihr die Studiengebühren. Wenn er seinen Job verlor, konnte sie vielleicht nicht weiterstudieren. Noch eine Sorge mehr.

Das Handy summte in ihrer Hosentasche. Sie wandte sich von Ryan ab, als sie es aus der Jeans zog. Ryan Hogg war kein schlechter Chef. Er zahlte etwas mehr als die meisten und nahm sich nichts von ihrem Trinkgeld. Er sagte nie was Anzügliches und rührte sie auch nie an, aber manchmal erwischte sie ihn doch dabei, wie er sie ansah. Und zwar nicht so, wie ein Chef einen ansieht, wenn er wissen will, ob man seine Zeit damit vergeudete, einem Freund Nachrichten zu schicken. Es war nur so ein Blick, aber ihr wurde doch etwas übel dabei.

Sie öffnete die Nachricht. Ein Herz-Emoji und Bitte komm bald rüber. Garys Schwester Tori gab an dem Abend eine Party, und er wollte, dass sie sich bei der Arbeit krankmeldete. Sie hatte ihm gesagt, dass sie arbeiten musste, und er war deswegen richtig sauer gewesen. Hatte auf sie eingeredet, früher Feierabend zu machen und zur Party zu kommen. Skylar wollte bei Gary keine falschen Hoffnungen wecken. Sie war müde, und ihr war nicht nach Feiern zumute. Seit Tagen redete er von diesem Abend, also schrieb sie Tori und fragte, ob auf der Party noch was los sein würde, wenn ihre Schicht vorbei sei.

»Ist das eine Doppeldaumenkonversation?«, fragte Andy.

Sie wusste, wer da kam, und wandte sich zu ihm um, lächelte ihn an. Andy brachte schmutzige Biergläser herein. Er hatte die restlichen Tische abgeräumt, während sie beschäftigt war.

»Was meinst du mit Doppeldaumenkonversation?«, fragte sie.

»Wenn du Streit mit Gary hast, nimmst du beide Daumen zum Tippen. Manchmal sieht es so aus, als wenn dein Display gleich kaputtgeht, wenn du so schnell tippst.«

Sie lächelte freundlich. Andy Dubois machte ihr die Arbeit in Hogg’s Bar erträglicher. Er war etwas jünger als sie. Kam im September aufs College. Ein kluger Junge mit warmem Herzen. Klüger als Skylar, denn er hatte ein Vollzeitstipendium ergattert. Sie neidete es ihm nicht, denn nur so konnte Andy das College besuchen. Andy lebte mit seiner Mutter allein, und in Buckstown gab es die weiße Mittelklasse, so wie Skylars Familie, die gut zurechtkam und genug verdiente, um etwas beiseitezulegen, und dann gab es auf der anderen Seite der Stadt die armen Schwarzen und Einwandererfamilien, die ein schwereres Leben zu haben schienen als die meisten. Sobald Skylar das College hinter sich hatte, wollte sie so schnell wie möglich weg von hier. Sie wusste, dass Andy dasselbe vorhatte, aber er würde sicher seine Mom mitnehmen.

Lächelnd wandte sich Andy ab und stellte die leeren Gläser auf den Tresen. Aus der hinteren Hosentasche seiner Jeans ragte ein Taschenbuch. Jeden freien Moment bei der Arbeit nutzte Andy zum Lesen. Er hatte kein Handy. Skylar dachte, wenn sie so viel Zeit mit Lesen verbringen würde wie Andy, statt auf ihr Telefon zu starren, hätte sie vielleicht doch ein Stipendium erhalten können. Dabei fiel ihr ein, dass sie ihren Vertrag im nächsten Monat upgraden konnte. Sie hatte schon beschlossen, Andy ihr altes Smartphone zu schenken, mit einem kleinen Guthaben.

Skylar sammelte die letzten Gläser ein, und Ryan deutete den beiden Männern am Tresen an, dass es demnächst Zeit wurde, den Laden zu schließen.

Es waren kräftige Kerle. Einer riesig, der andere normal groß, aber beide muskelbepackt.

Zwei Cops. Beide in Zivil, außer Dienst.

Der Große war Deputy Leonard. Er hatte rote Haare, einen Schnauzbart und Vorurteile. Besonders, was Andy anging. Der andere war Deputy Shipley. Er hatte kleine, dunkle Augen, in denen sich manchmal das Licht so seltsam spiegelte – fast als loderte dahinter ein Feuer, das sich hin und wieder zeigte. Er war nicht so ein Hitzkopf wie Leonard, aber Skylar hielt ihn für noch gefährlicher.

Die beiden waren Stammgäste und saßen immer auf Hockern am Tresen, damit sie der Kellnerin kein Trinkgeld geben mussten. Das Trinkgeld an der Bar behielt Ryan für sich. Was es an den Tischen zu holen gab, bekamen Skylar und Andy, was an Scheinen auf dem Tresen lag, gehörte ihm.

»Hey, Sky, arbeitet dein alter Herr noch in der Fabrik?«, fragte Leonard.

Er nannte sie Sky. Niemand sonst nannte sie so, aber sie lächelte und antwortete wie jedes Mal freundlich.

»Na, klar«, sagte sie.

»Harte Zeiten für viele Leute«, sagte Shipley, und dann kehrten die beiden wieder zu ihrem Gespräch zurück. Skylar belud den Geschirrspüler, während Tom seine Unterlagen einsammelte, die Zeche zahlte und zur Tür hinausging. Ryan fing an, überall das Licht auszuschalten, damit auch Shipley und Leonard es begriffen, und schließlich machten sich die beiden auf den Weg. Als der Tresen geputzt und alles aufgeräumt war, entließ Ryan Skylar und Andy in den Feierabend.

Sie gingen gemeinsam, traten gegen Viertel nach zwölf in die warme Nacht hinaus. Sie winkte Andy zum Abschied, als er sich auf seinen langen Heimweg begab. Ihr Handy summte. Eine Nachricht.

Eine Antwort von Tori, in der stand: Welche Party?

Skylar fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und fluchte. Sie machte einen Screenshot von Toris Nachricht und wollte ihn gerade Gary mit einem WTF? Das mit der Party war gelogen? schicken, als ihr Telefon klingelte. Es war Tori. Sie ging ran.

»O mein Gott, es tut mir so leid. Bitte, komm rüber, ich hab’s versaut«, sagte Tori, mit lauter Rockmusik im Hintergrund.

»Was geht hier ab? Gary nervt mich seit Wochen damit, dass ich zu dieser Riesenparty bei euch aufkreuzen soll.«

»Ja, komm einfach her«, wiederholte Tori zögernd.

Skylar war schon mit Tori befreundet gewesen, bevor sie Gary kennengelernt hatte. Sie kannte sie gut und merkte, wenn sie was zurückhielt.

»Was ist los? Du sagst es mir jetzt, oder ich ruf Gary an und …«

Tori fiel ihr ins Wort.

»Ich bin in Buddy’s Bar. Gary ist bei mir zu Hause. Allein. Du musst hingehen …«

»Du sagst mir jetzt sofort, was los ist, oder ich …«

»Er hat einen Ring gekauft«, sagte Tori.

Skylar atmete scharf ein und schlug die Hand vor den Mund, presste die Finger so fest auf ihre Lippen, als wagte sie nicht zu atmen. So blieb sie einen Moment lang stehen.

»Es tut mir so leid. Ich hab es echt vermasselt. Bitte, geh jetzt gleich hin. Er wartet und will dich überraschen. Also tu, als wärst du überrascht, und erzähl ihm nicht, dass ich was gesagt habe.«

»Ich kann nicht glauben, dass er das getan hat …«

»Er plant es schon seit Wochen. Heute vor fünf Jahren habt ihr euch kennengelernt. Bei uns zu Hause. Er wollte den Anlass zu etwas Besonderem machen.«

Toris Stimme klang so warm, dass Skylar merkte, wie ihr die Tränen kamen, als ihr die Freude die Kehle zusammenschnürte. Sie und Gary hatten einen Jahrestag – ihr erstes Date. Sie wusste gar nicht mehr genau, wann sie sich kennengelernt hatten, aber es war unglaublich süß von ihm, dass er daran gedacht und die ganze Mühe auf sich genommen hatte.

»Wir werden Schwestern«, sagte Skylar. »Also, in echt.«

»Das heißt, dass du ja sagst«, sagte Tori.

»Selbstverständlich sage ich ja.«

Sie plauderten noch einen Moment, dann legte Skylar auf. Sie musste los, zu Gary, und konnte ihre Aufregung kaum bändigen.

Hogg’s Bar lag am Union Highway, zwei Meilen außerhalb von Buckstown, direkt neben einer Tankstelle.

Skylar stand am Straßenrand und überlegte, was sie tun sollte.

Sie konnte in die Stadt laufen. Das hatte sie schon öfter getan. Aber heute Nacht war es heiß, und sie war seit zehn Stunden ununterbrochen auf den Beinen gewesen. Auf dem Highway war eigentlich immer Verkehr, und auf der Strecke nach Buckstown gab es eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Sie konnte ohne Weiteres trampen.

Das hatte sie schon öfter mal getan. Es gab nur ein einziges Taxiunternehmen im Ort. Keine der digitalen Taxifirmen hatte es bisher bis nach Alabama geschafft. Die Leute fuhren hier auch betrunken durch die Gegend.

Skylar wartete auf einen nüchternen, freundlichen Fahrer.

Gerade fing sie an, ihrem Vater eine Nachricht zu schreiben, dass er nicht auf sie warten sollte, als ein Sattelschlepper abbremste. Er blinkte auf, hielt neben ihr an, und die Beifahrertür ging auf. Skylar nahm den Türgriff und kletterte die Stufen hinauf, um einen Blick in die dunkle Fahrerkabine zu werfen.

Der Fahrer trug eine Kappe, sodass sie sein Gesicht nicht richtig erkennen konnte. Eine Hand hatte er am Lenkrad, die andere lag auf seinem Oberschenkel.

»Willst du mitfahren, Kleine?«, sagte er.

Irgendwas war seltsam an diesem Mann. Und es roch seltsam in der Fahrerkabine. Ihr Vater fuhr einen Truck, also war ihr der Geruch von Schweiß, Kautabak und Kaffee vertraut. Das war es nicht. Da war irgendwas anderes. Irgendwas war faul.

Ihr Vater konnte es nicht leiden, wenn sie trampte. Er sorgte sich oft um sie. Meinte, sie sei zu gutgläubig. Sie müsse realistischer werden, sonst machten die Leute mit ihr, was sie wollten. Natürlich hielt Skylar meist dagegen, aber in diesem Augenblick dachte sie, ihr Vater könnte vielleicht doch recht haben. Es war denkbar, dass sie in den Truck stieg und in den paar Minuten, die sie bis in die Stadt brauchten, eine Hand über den Sitz in ihre Richtung wanderte. Und dass der Truck dann nicht in der Stadt anhielt und sie nicht zu Gary konnte, dass sie sich nie verloben würden und ihr Gesicht am Ende auf einer Milchpackung landete. Andererseits war sie nicht sicher, ob Leute in ihrem Alter noch auf Milchkartons abgebildet wurden. Vielleicht tat man das heute gar nicht mehr, oder vielleicht nur bei Kindern.

Dann setzte der analytische Teil ihres Gehirns ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass auf ihrer kurzen Fahrt mit einem Fremden etwas passierte, war gering. Sehr gering. Vielleicht eins zu einer Million. Sie musste aufhören, sich Gedanken zu machen, und einfach in diesen verdammten Truck steigen.

Der Fahrer reichte ihr die Hand, um ihr hinaufzuhelfen.

Seine Hand war schmutzig und verschwitzt, und sie sah das leichte Zittern, vielleicht vor Aufregung, eine junge Frau in seinem Truck zu haben. Und eine hübsche noch dazu.

Irgendwas in ihr schrie NEIN.

»Wissen Sie was, geht schon. Tut mir leid, Sir. Gerade kam eine Nachricht von meinem Freund, dass er kommt und mich abholt«, sagte sie, während sie wieder runter auf den Asphalt neben der Straße kletterte.

Der Fahrer fluchte, aber sie konnte ihn nicht mehr verstehen, weil er die Beifahrertür schloss. Er trat aufs Gas und fuhr los, während Skylar sich alle Mühe gab, wieder ruhiger zu atmen.

Und dann hörte sie, dass ein Wagen hielt, genau da, wo eben noch der Sattelschlepper gestanden hatte. Sie warf einen Blick hinein, sah den Fahrer.

Der war okay. Das war kein Fremder. Es war vielleicht der letzte Mensch, den sie erwartet hätte. Aber sie musste keine Angst haben, bei ihm einzusteigen. Sie kannte den Fahrer. Noch vor zwanzig Minuten hatte sie ihn in Hogg’s Bar reden gehört, als sie die schmutzigen Gläser einsammelte.

Natürlich bot er an, sie mitzunehmen.

Skylar stieg auf der Beifahrerseite ein, meinte, sie wollte nur in die Stadt, und fing an, ihrem Vater eine Nachricht zu schreiben.

Warte nicht auf mich. Ich kann mitfahren bei …

Skylar brachte die Nachricht nicht zu Ende.

Als der Fahrer ihr ins Gesicht schlug, rutschte das Handy in den Spalt zwischen Sitz und Mittelkonsole. Und dort blieb es auch.

Skylar hatte keine Gelegenheit zu schreien oder zu denken oder zu fühlen.

Sie würde nie bei Tori ankommen. Sie würde nie wieder Gary küssen und würde auch nicht seinen Antrag hören und ihm ihr Herz schenken.

DREI MONATE SPÄTER

KAPITEL EINS

EDDIE

Ich suche keinen Ärger. Muss ich nicht.

Der findet mich von ganz allein.

Wenn er etwas Geld einbringen würde, wäre es vielleicht nicht so schlimm. Manche Leute werden Anwalt in der Hoffnung, damit reich zu werden. Geld ist ganz nett – nicht, dass man mich falsch versteht. Wie jeder andere habe auch ich gern etwas Bares in der Tasche, aber ich möchte nachts auch gut schlafen können. Je mehr Geld man besitzt und je mehr Scheißkerlen man zur Freiheit verholfen hat, desto schwerer fällt es, einzuschlafen. Der Reichtum eines Strafverteidigers lässt sich messen an seinem Bankkonto und der Last, die auf seiner Seele liegt. Bis zu dem Tag, jenem magischen Tag, an dem er aufhört, sich um irgendwas zu scheren. Von da an geht es nur noch um Geld, und das genießt er, ohne dass ihm sein Gewissen in die Quere kommt.

Diesen Weg bin ich nie gegangen. Einen schuldigen Mandanten rauszuhauen, war gegen die Regeln. Meine Regeln. Das macht mich entweder zum schlechtesten Strafverteidiger der Welt oder zum besten, je nachdem, wie man es sehen will. Und sollte mir wirklich mal das Geld ausgehen, könnte ich mich immer noch ein Wochenende in die Casinos von Las Vegas setzen, das würde mir erst mal weiterhelfen. Ein Vorleben als Trickbetrüger kommt ganz gelegen, wenn die Kanzlei nicht so gut läuft. Im Moment lief alles super. Kate Brooks, meine neue Partnerin, war ein Knaller. Meist knallte sie großen Anwaltskanzleien und Unternehmen Sammelklagen wegen sexueller Belästigung um die Ohren. Darin war sie verdammt gut. Bloch, unsere Ermittlerin, die Kate mit in die Kanzlei gebracht hatte, war so ziemlich die einfallsreichste Privatermittlerin, der ich je begegnet war. Bloch und Kate waren von Kindesbeinen an befreundet, was einiges dazu beitrug, dass das Eis auf Blochs Zunge schmolz. Sie redete nicht viel. Meist nur mit Kate. Das hieß nicht, dass sie unfreundlich war – sie meldete sich zu Wort, wenn sie was zu sagen hatte, und es lohnte sich, ihr zuzuhören.

Meine Kanzlei lief wirklich gut. Harry Ford, pensionierter Richter und jetzt mein Berater, konnte Mandanten im Büro empfangen, während ich mir in der Centre Street und im Gerichtsgebäude von Brooklyn die Hacken wund lief. Harry zog es vor, im Büro zu bleiben, damit er seinen Hund nicht allein lassen musste. Clarence war inzwischen mehr oder weniger zu unserem Bürohund geworden.

Das Einzige, was unserer neuen Firma fehlte, war eine gute Bürokraft, die Anrufe entgegennahm, Schreibkram erledigte und unser Chaos organisierte. Ein Anwalt ist immer nur so gut wie seine Sekretärin – und normalerweise nur halb so clever.

Kate hatte eine Suchanzeige für eine Rechtsanwaltsgehilfin online gestellt und ging die Bewerbungen durch. Irgendwann an diesem Morgen sollte jemand zu einem Vorstellungsgespräch kommen, und Kate wollte, dass ich dabei war. Wir waren gleichberechtigte Partner, alles halbe-halbe, einschließlich aller Entscheidungen, egal ob gut oder schlecht. Es war fast Viertel nach neun. Unser Büro lag in Tribeca, direkt über einem Tattoostudio. Kate hätte lieber nach einem Büro in einem der glitzernden Türme nahe der Wall Street gesucht – alles Glas, edle Hölzer und Leder. In so einem Laden könnte ich niemals arbeiten, und Kate hatte Mitleid gezeigt und eingewilligt, dass wir eine Bruchbude über einem Tätowiersalon namens Stinkin’ Ink anmieteten.

Kate und Bloch schoben Papiere auf dem Kopierer herum, Harry saß mit Clarence auf der Couch im kleinen Empfangsbereich. Er hatte Clarence ein schickes neues Halsband mit GPS-Ortung gekauft. Seit zehn Minuten versuchte er erfolglos, dieses Halsband zu aktivieren. Ich versuchte, die Kaffeemaschine dazu zu bewegen, dass sie etwas zustande brachte, was mir nicht drei Hautschichten vom Gaumen schabte, als es unten an der Tür klingelte.

»Eddie, könntest du hingehen? Ich schätze, das ist Denise«, sagte Kate.

»Wer?«

»Denise Brown, die sich bei uns als Sekretärin beworben hat. Hast du ihren Lebenslauf nicht gelesen?«

»Du hast mir einen Lebenslauf gegeben?«

»Letzte Woche. Wahrscheinlich liegt er noch auf deinem Schreibtisch.«

Ich konnte mich nicht erinnern, irgendwas in der Art gelesen zu haben. Was nicht heißen musste, dass ich es nicht bekommen hatte. Verwaltung ist eine meiner Schwachstellen.

Ich drückte den Knopf zum Öffnen der Haustür und wartete oben an der Treppe.

Als ich die schweren Schritte hörte, dachte ich noch, ob Denise wohl Stiefel trug. Ich beugte mich über das Geländer. Der Mensch, der da die Treppe raufkam, war der Allerletzte auf der Welt, den ich hier sehen wollte.

Er trug einen Trilby auf dem Kopf und einen grauen Regenmantel, der nur das Geschenk eines verblichenen Ehepartners sein konnte, denn das war die einzige Entschuldigung, so etwas zu tragen. Unter dem Mantel zeigte sich ein maßgeschneiderter Anzug, und in diesem Anzug steckten neunzig Kilo geballter Ärger.

»Wenn Sie für den Bürojob gekommen sind, können Sie gleich wieder gehen«, sagte ich.

Als er das obere Ende der Treppe erreicht hatte, tippte er an seinen Hut und lächelte mich an wie ein Krokodil, das mir in den Arsch beißen wollte.

»Meine Fähigkeiten in Büroarbeit sind nicht mehr das, was sie mal waren«, sagte er.

»Können Sie tippen und Kaffee kochen? Wenn ja, sind Sie dabei. Die Bezahlung ist schlecht, dafür ist die Arbeit lausig.«

»Ich komme wegen eines Jobs, Eddie. Aber der hat nichts mit Tippen zu tun. Darf ich reinkommen?«

Sein Name war Alexander Berlin. Bei unserer letzten Begegnung arbeitete er noch für das Außenministerium. Soweit ich wusste, hatte er seitdem die Runde gemacht – CIA, NSA, Justizministerium. Er war ein Strippenzieher, ein Problemlöser, der das Recht beugte, um einen Erfolg für die staatliche Behörde zu erwirken, die ihn gerade zufällig entlohnte. Und wenn er mir einen Job anbieten wollte, dann hatte ich daran kein Interesse.

»Ich brauche keinen Job. Was es auch sein mag: Ich sage nein.«

»Sie haben doch noch gar nicht gehört, worum es geht. Lassen Sie mich zehn Minuten rein, auf eine Tasse Kaffee. Wenn Sie dann immer noch nicht wollen … Auch gut, dann gehe ich. Kein Problem. Ich bin nicht nachtragend.«

»Die Hoffnung, dass Sie mir nichts nachtragen werden, scheint mir etwas vorschnell. Sie haben meinen Kaffee noch nicht probiert. Und Ihnen wird meine Antwort nicht gefallen. Ich bin nicht interessiert, Berlin.«

Draußen hatte es geregnet. Sein alter Mantel war triefnass und tropfte die Treppe voll. Wir hatten noch keine Zeit gehabt, die Teppiche zu reinigen, und sein Mantel hinterließ eine saubere Pfütze zwischen den Flecken.

»Hören Sie mich an, Eddie. Bitte«, sagte Berlin.

»Nennen Sie mir einen Grund, wieso ich das tun sollte.«

Berlin nahm seinen Hut ab, sah mich mit müden, feuchten Augen an. »Wenn Sie es nicht tun, wird ein neunzehnjähriger Junge ermordet.«

»Ermordet? Von wem?«

»Im Grunde von mir.«

KAPITEL ZWEI

EDDIE

Tropfend hing Berlins Mantel am Garderobenständer in der Ecke von meinem Büro.

Berlin zog eine Brille aus der Tasche und fing an, sie mit seiner Krawatte trocken zu wischen. Wenn der Mantel das Geschenk einer alten Liebe war, dann sah seine Krawatte aus, als hätte er sie von einem Todfeind bekommen. Ich bot ihm einen Platz an, schloss die Akte, die vor mir auf dem Schreibtisch lag, und widmete ihm meine ganze Aufmerksamkeit.

»Wer ist der Junge, und wieso sind Sie verantwortlich für seinen Tod?«

»Das ist eine lange Geschichte. Wissen Sie, was ich bei der Regierung tue?«, fragte er.

»Dazu hätte ich die eine oder andere Frage.«

»Die ich nicht beantworten darf. Nicht, ohne geheime Informationen preiszugeben und damit Hochverrat zu begehen. Ich darf Ihnen nur verraten, dass ich für verschiedene Ministerien Probleme löse.«

»Ich wusste, dass Sie so etwas wie ein Problemlöser sind. Was für Probleme lösen Sie?«

»Die Sorte von Problemen, die große Firmen mit der Regierungspolitik haben, die Sorte von Problemen, die Strafverfolgungsbehörden haben, wenn ihnen die Hände gebunden sind, und die Sorte von Problemen, die wir beide vor zwei Jahren hatten.«

Ich war Berlin zum ersten Mal in Upstate New York begegnet, nachdem ein FBI-Agent erschossen worden war. Berlin hatte uns damals bei den Ermittlungen geholfen.

»Ist wieder einer Ihrer Hunde bissig geworden?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Sagen wir, es gehört zu meinen Aufgaben, den Status quo zu erhalten. Regierungen mögen keine Veränderung. Ganz egal, wer im Weißen Haus sitzt – die täglichen Aufgaben des Regierens und der Rechtsprechung verlangen nach Ordnung und Beständigkeit. Das gilt auf Staats- wie auf Bundesebene. Wir sind in unserem Kompetenzbereich unbegrenzt. Es gibt da einen Bezirksstaatsanwalt namens Randal Korn in Sunville County, Alabama, und mir wurde deutlich gemacht, dass er wiedergewählt werden sollte.«

»Sie haben die Wahl von einem Bezirksstaatsanwalt manipuliert?«

Berlin rollte mit den Augen.

»Ich bitte Sie, Eddie. Wir haben die Wahlen in mehr Ländern manipuliert, als ich zählen kann. Das war doch Kleinkram. Es gibt Konzerne, die unsere Politiker finanzieren, und die nehmen immer Einfluss auf Regionalwahlen. Korns Gegenkandidat verfügte über Glaubwürdigkeit und das nötige Geld, also habe ich ein paar seiner Unterstützer angerufen – habe sie dazu bewegt, ihr Scheckbuch wieder einzustecken. Mehr war nicht nötig. In den USA gewinnt man Wahlen mit Geld. Normalerweise gewinnt derjenige, der am meisten ausgibt.«

»Okay, also – was?«

»Dann hat mich etwas stutzig gemacht. Korn ist seit siebzehn Jahren Bezirksstaatsanwalt von Sunville County. Während seiner Amtszeit hat er der Verbrechensrate im County zu einem rekordmäßigen Tiefstand verholfen. Deshalb mochten wir ihn. Gut fürs Geschäft, gut für die Immobilienpreise in der Gegend, gut für Investoren. Erhaltung des Status quo. Ich hätte das Ganze nach der Wahl einfach vergessen sollen, aber irgendwas stimmte mit diesem Mann nicht. Ich habe etwas tiefer gegraben, und was ich gefunden habe, war verstörend.«

»Was war das?«

Bevor Berlin antworten konnte, wurde er abgelenkt von einem Geräusch draußen vor meinem Büro. Der übliche Aufruhr. Ich stand auf, um nachzusehen, was los war. Harry schimpfte über das neue Digitalhalsband, das er für Clarence gekauft hatte, denn er schaffte es immer noch nicht, das GPS-Signal per Handy zu aktivieren, und sein Ärger übertrug sich auf den Hund, der jedes Mal bellte, wenn Harry fluchte. Der Fotokopierer klemmte schon wieder, und Bloch schlug mit der Faust dagegen. Das Telefon klingelte, bis Kate ranging, während sie in der anderen Hand einen Laptop hielt und ihr Handy mit der Schulter ans Ohr klemmte. Organisiertes Chaos. Ich schloss die Tür. Setzte mich. Bedeutete Berlin, fortzufahren.

»Scheint ordentlich was los zu sein da draußen«, sagte er.

Er zögerte. Es gab da etwas, das er dringend sagen wollte, aber er konnte nicht. Noch nicht.

»Nehmen Sie kein Blatt vor den Mund. Ich unterliege der anwaltlichen Schweigepflicht. Was Sie sagen, bleibt unter uns.«

Berlin betrachtete die Fotos auf meinem Schreibtisch. Meine Tochter, Amy, im Sommercamp, beim Paddeln im Kanu. Fotos meiner Ex-Frau stellte ich nicht mehr auf. Sie hatte inzwischen einen Neuen.

»Süßes Mädchen«, sagte Berlin. »Wie alt?«

»Fünfzehn. Hören Sie, haben Sie langsam genug Spucke zusammen, um mit der Geschichte rauszukommen?«

Tiefe Sorge sprach aus seinen geröteten Augen. Mit einem Mal wirkten die Tränensäcke noch schwerer.

»Sunville County ist in den USA führend, was Todesurteile angeht. Es gibt da noch ein paar größere Ortschaften, aber keine richtigen Städte. Und doch hat Randal Korn mehr Menschen in die Todeszelle gebracht als jeder andere Bezirksstaatsanwalt in der Geschichte. Momentan wurde jeder Zwanzigste der Todeskandidaten von Korn auf den elektrischen Stuhl befördert. Hundertfünfzehn Verurteilungen in siebzehn Jahren.«

Ich sagte nichts. Ich hatte von diensteifrigen Staatsanwälten im Süden gehört, die Ehe, Kirche, Familie, Sturmgewehre und Todesstrafe über alles stellten. Trotzdem konnten diese Zahlen unmöglich stimmen.

»Etwa zwei bis drei Prozent der amerikanischen Bezirke sind verantwortlich für den Großteil der Todesurteile. Sunville County steht da ganz oben. Als ich darauf gestoßen bin, dachte ich dasselbe, was Sie jetzt denken – Unsinn. Das kann nicht sein. Eddie, es stimmt hundertprozentig. Ich habe mir die Akten selbst angesehen.«

»Das muss ein Irrtum sein.«

»Ein Ankläger kann mehr oder weniger nach eigenem Ermessen aus einer schweren Straftat ein Verbrechen machen. Korn hat nie einen Mörder angeklagt, ohne die Todesstrafe zu fordern. Es wurde nie erfolgreich Berufung eingelegt, und er hat nie einen Fall verloren.«

»Wieso plädiert er jedes Mal auf die Todesstrafe? Und warum ist es noch nie jemandem aufgefallen?«

»Oh, es ist wohl aufgefallen. Bei meinen Nachforschungen zu Korn habe ich ein paar Hinweise gefunden, die noch von früheren Untersuchungen stammten. Haben alle nichts erbracht, denn Korn ist immer noch Bezirksstaatsanwalt, dank mir. Sie fragen, wieso der Kerl jedes Mal auf Todesstrafe plädiert? Ist das nicht offensichtlich?«

»Für mich nicht«, sagte ich.

»Warum gehen die Leute zur Armee? Die meisten sagen, weil sie ihrem Land dienen wollen, viele gehen wegen der Familie hin, noch mehr wegen der Bezahlung oder der Ausbildung, und dann gibt es einen geringen Prozentsatz, der aus einem einfachen Grund zur Armee geht. Diese Leute wollen jemanden töten.«

»Sie sagen, dieser Typ – Korn – ist Bezirksstaatsanwalt geworden, damit er Leute umbringen kann?«

»Nein, nicht ich sage das, sondern er – ununterbrochen. Er ist der König der Todeszelle. Er trägt den Titel wie einen Orden. Ich hatte schon mit üblen Typen zu tun. Nach einer Weile sieht man es in ihren Augen. Korn ist ein Killer. Und ich habe ihm dazu verholfen.«

»Wer ist dieser Junge, der hingerichtet werden soll?«

»Er heißt Andy Dubois. In einer Woche kommt er wegen Mordes vor Gericht. Er ist unschuldig, aber Korn will sehen, wie der Junge gegrillt wird. Seit ich über Korn Bescheid weiß, habe ich jemanden abgestellt, der seine Fälle im Auge behält. Der Junge wird beschuldigt, eine junge Kellnerin aus einer Bar am Highway ermordet zu haben. Andy könnte keiner Fliege was zuleide tun. Momentan kann ich nichts unternehmen, um Korn loszuwerden. Ich hatte meine Chance. Also habe ich in Sunville einen Anwalt engagiert, der Andy vertreten soll. Sein Name ist Cody Warren. Er hat mir die Akten des Falls kopiert. Sie liegen unten in meinem Wagen. Seit einer Woche habe ich von Warren nichts mehr gehört. Seine Sekretärin hat ihn vor drei Tagen vermisst gemeldet. Ich glaube, er ist tot.«

»Wow, das ist aber eine wilde Vermutung. Ein Anwalt verschwindet, und Sie denken gleich, er ist tot? Wieso? Meinen Sie, Korn hat ihn ermordet?«

Ich konnte nicht sagen, ob es am Licht lag, das durch die Jalousien an meinem Fenster hereinfiel, aber Berlins Miene schien sich zu verfinstern, und er sprach ganz leise, als er sagte: »Korn hat das Sagen im größten Ort von Sunville – Buckstown. Und er arbeitet Hand in Hand mit dem County Sheriff. Er ist blutrünstig, hinterhältig und gewissenlos. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Verteidiger auf mysteriöse Weise verschwindet. Wenn Korn es nicht selbst getan hat, dann hatte er Hilfe. Ich denke, Korn könnte für Warrens Verschwinden gesorgt haben – ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Dann rufen Sie das FBI«, sagte ich.

»Die Feds würden über den Ort herfallen und ihn ein halbes Jahr lang auseinandernehmen, ohne am Ende etwas in der Hand zu haben. Ich brauche hier keinen Vorschlaghammer. Ich brauche jemanden, der clever genug ist, es mit Korn vor Gericht aufzunehmen, um den Jungen freizubekommen. Sollte Warren etwas zugestoßen sein, wird man ihn niemals finden. Korn ist zu umsichtig. Für Warren kann ich jetzt nichts mehr tun. Ich will nur wissen: Fliegen Sie nach Alabama, um diesem Jungen das Leben zu retten?«

»Ich weiß nichts über diesen Fall. Was ist, wenn der Junge es doch getan hat? Ich bin kein Freund der Todesstrafe, aber ich will auch niemandem das Leben retten, wenn er schuldig ist.«

»Haben Sie mich nicht gehört? Ich habe den Jungen genau gecheckt. Ich bin überzeugt davon, dass er unschuldig ist, und das werden Sie auch sein. Er sitzt im Bezirksgefängnis. Um ihn zu isolieren. Eddie, das ist doch genau Ihr Ding.«

Der Lärm draußen vor dem Büro wurde immer lauter.

»Das muss ich mir gut überlegen, aber ich will wissen, warum Sie das alles tun. Ihr Job bringt mit sich, dass Sie Ihr Gewissen am ersten Arbeitstag an der Garderobe abgeben mussten. Ohne dass ich Ihnen damit zu nahe treten möchte.«

Berlin starrte vor sich hin, sein Blick ging zwanzig Jahre und tausend Meilen in die Ferne, als er sagte: »Ich wusste nicht, wer Korn ist, als ich seinen Gegner aus dem Rennen geworfen habe. Alles hat seine Grenzen. Wenn ein Sadist Macht über Leben und Tod hat und ich ihm zu dieser Macht verholfen habe, dann trage ich eine persönliche Verantwortung. Ich habe einen Eid abgelegt. Vor langer Zeit, als ich zum ersten Mal eine Waffe umgeschnallt habe. Korns momentane Amtszeit geht auf meine Kappe, also sind wir durch das Schicksal miteinander verbunden. Ich brauche Beweise, irgendwas, das greifbar genug ist, um die richtigen Telefonate zu führen, damit er sich in aller Stille zur Ruhe setzt.«

»Es geht also um Selbsterhaltung«, sagte ich.

»Das ist es nicht allein. Wenn noch Zeit wäre, würde ich eine Anklage gegen Korn vorbereiten. Langsam, solide – Stein für Stein. Aber die Uhr tickt. Ich kann nicht warten. Ich muss was unternehmen, bevor er diesen Jungen in den Tod schickt. Wenn ich ein Leben retten kann …«

Berlin sah mich an, sah mir lange tief in die Augen.

Ich kannte diesen Blick.

Menschen machen Fehler, andere nehmen Schaden. Dann kommt der Moment, in dem einem klar wird, dass man die Ausfahrt schon lange verpasst hat, und man kann die Jahre nicht zurückdrehen, aber man kann verdammt noch mal alles tun, was in der eigenen Macht steht, um dafür zu sorgen, dass nicht noch jemand zu Schaden oder sogar zu Tode kommt. Berlin wurde von seinem Gewissen eingeholt. Seine Art von Arbeit hatte ihren Preis, und der wurde nun fällig. Am Ende sucht jeder nach Vergebung. Das alte Lied. Ich sang es selbst schon eine ganze Weile.

»Ich muss mit meinen Leuten sprechen«, sagte ich.

»Ich warte«, sagte Berlin.

Er würde nicht weggehen und wiederkommen. Er brauchte eine Antwort, jetzt gleich. Vielleicht meinte er, er hätte mich schon halbwegs überredet und wollte nicht riskieren, seinen Vorteil zu verlieren. Ich erhob mich und öffnete die Tür, stutzte. Irgendwas war faul. Einen Moment lang wusste ich nicht, was es war, da wurde es mir klar.

Draußen war alles still. Kein Geschrei. Kein Geklopfe. Kein Fluchen und kein Bellen.

Ich riss die Tür auf und erwartete, ein leeres Büro vorzufinden.

Clarences neues Halsband funktionierte, Harry bearbeitete selig sein Telefon. Der Fotokopierer spuckte fröhlich summend Papier aus, Bloch stand zufrieden grinsend daneben. Kate saß in ihrem Büro und tippte auf die Tasten ihres Laptops ein, und eine mir unbekannte Frau saß an dem Schreibtisch, den wir als Empfang nutzten. Sie war vielleicht Mitte vierzig, mit kurzen blonden Haaren, und sie lächelte, während sie Papiere auf dem Tisch ordnete und immer wieder einen Blick auf den Bildschirm vor sich warf.

Als Clarence zu ihr hinübertappte, beugte sie sich zu ihm herab. »Dein neues Halsband gefällt mir. Brauchen Sie noch mehr Hilfe mit der App, Harry?«

Harry sagte: »Nein, danke, Ma’am. Sie haben heute Morgen schon genug Wunder getan. Ach, Eddie, das ist Denise. Sie arbeitet jetzt hier.«

Sie wandte sich von Clarence ab, stand auf und näherte sich mir. Sie reichte mir die Hand, und ich griff zu.

»Ich bin Denise. Ihr Büro gefällt mir.«

»Langsam gefällt es mir auch«, sagte ich, da hörte ich, dass Kate zu uns herüberkam.

»Eddie, ich weiß, wir haben gesagt, wir wollten die Bewerbungen für die freie Stelle gemeinsam besprechen … aber Denise hier …«

»Lass mich raten. Sie hat das mit Clarences Halsband geklärt, den Kopierer repariert und sämtliche Unterlagen für deinen Fall sortiert.«

»Und die Kaffeemaschine repariert«, sagte Denise fröhlich.

Ich nahm mir einen Moment Zeit, einen Blick in die Runde zu werfen. Zum ersten Mal seit wir die neuen Räume bezogen hatten, waren alle glücklich und zufrieden.

»Denise«, sagte ich, »Sie sind nicht nur eingestellt. Es ist Ihnen verboten, diesen Laden jemals wieder zu verlassen.«

»Von jetzt an läuft alles rund«, sagte Kate.

»Tja, ich schätze, es wird wohl Zeit, euch allen mitzuteilen, dass ich überlege, eine Weile wegzugehen. Wir haben einen potenziellen Fall in einem anderen Staat. Einen Mordfall. Es könnte sein, dass ich Hilfe brauche.«

»Ich habe nächste Woche einen großen Scheidungsfall«, sagte Kate.

»Keine Sorge, Harry und ich könnten das regeln.«

»Worum geht’s?«, fragte Harry.

»Ein Junge soll auf den elektrischen Stuhl, für einen Mord, den er nicht begangen hat. Wir würden unentgeltlich arbeiten, aber ein Freund würde für unsere Kosten aufkommen.«

»Kennst du den Jungen?«, fragte Kate.

»Hab ihn noch nie gesehen.«

»Du willst also ohne Honorar in einem anderen Staat einen Mordfall übernehmen, für einen Jungen, den du noch nie gesehen hast?«, rief Bloch aus der Küche.

»Jep. Bei unserem Job geht es nicht darum, den Leuten zu helfen, die man kennt. Es geht darum, den Leuten zu helfen, die man nicht kennt.«

»Mach ruhig. Ich denke, wir haben hier alles im Griff«, sagte Kate.

Ich sah Denise an. »Scheint so. Aber da gibt es noch was. Der Anwalt des Jungen wird vermisst. Es könnte gefährlich werden.«

»Du würdest den Fall nicht übernehmen, wenn es anders wäre«, sagte Harry. »Es gibt da nur ein Problem, Eddie. Du hast außerhalb von New York keine Zulassung.«

Berlin trat aus meinem Büro, zog einen braunen Umschlag aus seinem Jackett. »Um drei Uhr heute Nachmittag hat er eine.«

DER ERSTE TAG

KAPITEL DREI

KORN

Um 9:01 Uhr warf Randal Korn leicht hinkend die Türen zum Büro der Bezirksstaatsanwaltschaft von Sunville County auf und stolzierte wortlos durch die Reihen der Schreibtische seiner Assistenten und Sekretärinnen. Man tauschte keinen Morgengruß. Die Arbeit war wichtiger. Und außerdem musste er gar nichts sagen.

Man spürte seine Anwesenheit.

Die Tür zu Korns Büro war mit einer Glasscheibe versehen und mindestens siebzig Jahre alt. Die Namen der jeweiligen Bezirksstaatsanwälte von Sunville waren mit dem Wechsel der Amtsträger an die Scheibe gemalt, entfernt und neu gemalt worden. Kaum hatte Randal die Hand an der Tür, da folgte ihm bereits einer seiner Assistenten mit einem Dokumentenordner unterm Arm. Korn ließ sich auf seinem grünen Ledersessel hinter dem ausladenden Mahagonischreibtisch nieder und blickte zu dem Assistenten auf, einem Mann von dreißig Jahren im weißen, kurzärmligen Hemd mit blauer Krawatte. Tom Wingfield war Korns stellvertretender Bezirksstaatsanwalt.

»Das ist die Liste der potenziellen Geschworenen im Fall Dubois?«

Tom nickte.

»Wo stehen wir mit Andy Dubois?«, fragte Korn. »Und erzählen Sie mir keinen Quatsch, Tom. Ich will wissen, wie es aussieht. In drei Tagen wählen wir die Geschworenen.«

Tom richtete den Knoten seiner Krawatte. Er hatte in letzter Zeit etwas zugelegt. Weil er bei jeder Gelegenheit Proteinshakes in sich hineinschüttete. Er war von Haus aus nicht gerade klein, aber jetzt sahen seine Arme und Schultern aus wie Heliumballons. Wenn Tom nicht im Büro war, pumpte er im Sportstudio Gewichte. Sein Hemd war so alt, dass es sich noch an schlankere Zeiten erinnerte.

»Die forensischen Untersuchungen liegen vor. Gutachten komplett, Zeugen instruiert. Der Fotograf zieht die Bilder vom Mordopfer schön groß, so wie Sie es wollten …«

»Wie groß?«

»Lebensgroß, oder zumindest so ungefähr. Die Geschworenen werden glauben, sie sehen die echte Leiche.«

»Denken Sie daran, dass ich darum gebeten habe, die Farben hervorzuheben. Erinnern Sie ihn daran. Ich will, dass das Blut in ihrem Gesicht knallrot aussieht. Diese Fotos müssen die Jury schockieren. Das ist der erste Schritt. Sie erinnern sich?«

Tom nickte.

Korn nahm sich die Zeit, seinen Stellvertreter darin zu unterrichten, wie man in einem Mordprozess das gewünschte Urteil erreichte. Geschworene auszuwählen und davon zu überzeugen, dass sie einen Mann in den Tod schicken sollen, ist nicht leicht. Menschen sind darauf bedacht, Leben zu schützen, weil das eine natürliche Reaktion ist. Die erste Aufgabe bestand darin, die Geschworenen so eindringlich wie möglich zu schockieren, vorzugsweise durch den Einsatz von Bildern, die sie ihr Leben lang nie mehr vergessen würden. Je grausamer und blutiger, desto besser.

Als Nächstes gab man ihnen jemanden, den sie verachten konnten. Einen Angeklagten, der die Untat zu verantworten hatte. Dazu gehörte es, das Opfer förmlich in den Heiligenstand zu erheben. Man stellte es als reale Person dar – ein braves, aufrichtiges, gottesfürchtiges Mitglied der Gemeinschaft. Man machte das Opfer zum Mitglied der Jury, sorgte dafür, dass es jedem Geschworenen so vertraut und nachvollziehbar wurde wie ein Ehepartner, ein Kind oder die Eltern.

Je mehr das Opfer den Geschworenen am Herzen lag, desto inniger verabscheuten sie den Angeklagten.

Der letzte Schritt war entscheidend. Da gab es zwei Ansätze. Je christlicher die Jury, desto mehr baute Korn auf Bibelzitate zum Thema Rache, die er sich im Laufe der Jahre eingeprägt hatte – Auge um Auge, all die Hits. Neben der Bibel gab es das Persönliche. Man musste die Geschworenen glauben lassen, ihr Kind, ihr Ehepartner oder die Eltern könnten die nächsten Opfer sein, wenn sie nicht handelten, um die Gesellschaft zu schützen und den Teufel auf den elektrischen Stuhl zu schicken.

Eine Todesstrafe durchzusetzen, war eine Übung darin, den Angeklagten zu entmenschlichen – ihn in ein Monster zu verwandeln, das man fürchten und töten musste. War die Jury erst davon überzeugt, ließ sich leicht belegen, dass der Angeklagte schuldig war. Hass ist ein großartiger Motivator, reicht aber nicht aus, um Geschworene zum Töten zu bewegen. Angst ist da viel besser. Angst ist eine mächtige Waffe. Sie einzusetzen, hatte Korn schon vor langer Zeit gelernt.

»Was ist mit Dubois’ Anwalt, diesem Cody Warren? Kann man davon ausgehen, dass er kommt?«

»Keine Ahnung. Seine Sekretärin hat ihn seit Tagen nicht gesehen. Richter Chandler meint, der Prozess findet statt, ob er nun auftaucht oder nicht.«

»Gut«, sagte Korn.

»Da ist nur noch eine Sache«, sagte Tom. Er zögerte, hielt einen Zeigefinger an seine Lippen und schloss die Augen. Es war, als hinderte ihn eine unsichtbare Macht am Sprechen. Ein Pflichtgefühl vielleicht. Noch etwas, das Korn ihm abgewöhnen musste.

»Gestern Abend habe ich gehört, wie sich ein paar Leute im Richterzimmer unterhalten haben. Allem Anschein nach wurde eine einstweilige Anwaltszulassung genehmigt.«

»Irgend so ein Anwalt auf der Suche nach Sammelklagen?«

»Nein«, sagte Tom. »Glaube ich zumindest nicht. Soweit ich es verstanden habe, kommt da jemand aus New York, um Andy Dubois zu verteidigen.«

»Wann haben Sie das gehört?«, fuhr Korn ihn an.

»Spät gestern Abend. Als ich das Büro abgeschlossen habe, um nach Hause zu gehen.«

»Ein Anwalt aus New York? Wer?«

»Ein Typ namens Eddie Flynn.«

Ein kleines Buschfeuer flammte hinter Korns Augen auf. Er leckte über seine Lippen, sagte: »Gehen Sie, und finden Sie raus, was Sie rausfinden können. Flynn ist ein ernst zu nehmender Gegner. Ich habe von seinen Fällen gelesen. Ich will alles wissen. Es muss da eine Verbindung zwischen Dubois und Flynn geben. Dubois hat kein Geld. Der könnte sich keinen Anwalt leisten. Die Bürgerrechtler von der ACLU würden Flynn auch nicht finanzieren. Die würden einen ihrer eigenen Anwälte schicken. Könnte eine Verbindung zu Cody Warrens Kanzlei sein, aber das ist doch eher unwahrscheinlich. Reden Sie mit den Leuten, den Richtern oder sonst wem, aber finden Sie raus, warum Flynn herkommt, um einen miesen, kleinen Mörder zu verteidigen«, sagte Korn, dann wandte er sich seinen Unterlagen zu und blätterte darin herum.

»Kein Problem. Ich finde raus, was geht. Wer ist er? Hab noch nie von Eddie Flynn gehört.«

»Er kann uns gefährlich werden, so viel ist sicher. Es gibt da Gerüchte. Angeblich war er Trickbetrüger, bevor er Anwalt wurde, und seitdem trickst er in New York die Geschworenen aus.«

Winfield nickte, zog sich rückwärts aus dem Raum zurück und überließ Korn seinen Gedanken.

Es war ein schlichtes Büro mit Aktenschränken auf der einen Seite und ein paar gerahmten Fotos von Korn zusammen mit diversen Bürgermeistern und hochgestellten Politikern auf der anderen. Er rotierte auf seinem Stuhl herum und betrachtete die einhundertfünfzehn einzeln gerahmten Verbrecherfotos an der Wand hinter sich. Männer in unterschiedlichem Zustand der Verstörtheit, die Augen groß vor Angst oder schwer und müde vom Alkohol. Diese Wand vor sich zu sehen, ließ ihn aufrechter dasitzen, weckte seine Lebensgeister. Das war sein Vermächtnis. Sein Lebenswerk. Das waren die Männer, die er auf den elektrischen Stuhl gebracht hatte. Neunundsiebzig davon hatte er sterben sehen. Aber das reichte nicht, noch lange nicht.

Seinem Vater war es vor allem um den Ruf der Familie gegangen. Er hatte an der Börse ein Vermögen gemacht und den größten Teil davon Korn vererbt. Aber Korn interessierte sich nicht für das Geld seines Vaters. Und auch nicht für das Geld von anderen. Geld war immer reichlich da gewesen und hatte von daher keine große Bedeutung. Trotz der dreißig Millionen auf seinem Bankkonto war es ihm im Grunde egal. Was sich Korn zu Herzen genommen hatte, war das, was sein Vater über Familientradition gesagt hatte. Das war ihm wichtiger.