Shape - Jordan Ellenberg - E-Book

Shape E-Book

Jordan Ellenberg

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die meisten Menschen erinnern sich an Geometrie als sterile Übungen im Staub der neunten Klasse. Eine obskure Reihe an seltsamen Schritten zu noch unverständlicheren Beweisführungen, nur um eine Tatsache über Dreiecke zu zeigen, Ihnen von vornherein klar war. Und doch ist das nur ein winziger Teil der eigentlichen Geometrie. Jordan Ellenberg - einer der führenden Mathematiker unserer Zeit - offenbart in Shape, dass es die Geometrie ist, die hinter einigen der wichtigsten wissenschaftlichen, politischen und philosophischen Probleme steckt, denen wir gegenüberstehen: Wie sollte eine Demokratie ihre Vertreter wählen? Wie kann man verhindern, dass eine Pandemie die Welt überschwemmt? Wie lernen Computer? Können antike griechische Proportionen den Aktienmarkt vorhersagen? Was sollten Kinder in der Schule lernen, wenn sie wirklich denken lernen wollen? Alles Fragen zur Geometrie. Denn schon das Wort »Geometrie« kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Vermessung der Welt«. Und selbst das ist eine Untertreibung: Denn die Geometrie misst die Welt nicht nur, sie erklärt sie auch. Jordan Ellenbergs Blickwinkel auf die Welt bietet eine radikal andere Perspektive auf die verborgene Geometrie hinter Biologie, Strategie, Information, Demokratie und eigentlich – absolut allem.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 790

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



JORDAN ELLENBERG

New York Times – Bestseller

JORDAN ELLENBERG

Die verborgene Geometrie von Biologie, Strategie, Demokratie und eigentlich absolut allem

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2022

© 2022 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 2021 bei Penguin Press, einem Imprint der Penguin Random House LLC unter dem Titel Shape. © 2021 by Jordan Ellenberg. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Projektleitung: Fabian Neidl

Übersetzung: Thomas Gilbert

Redaktion: Heike Holtsch

Korrektorat: Dr. Manuela Kahle

Umschlaggestaltung: Karina Braun

Umschlagabbildung: shutterstock/Funstock

Grafikbearbeitung: Tobias Prießner

Karten auf den Seiten 427/428: Caitllin Bourbeau

Satz: abavo GmbH, Andreas Linnemann, Daniel Förster

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-556-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-057-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-058-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Inhalt

Einleitung Wo die Dinge sind und wie sie aussehen

Kapitel 1 »Ich stimme für Euklid!«

Kapitel 2 Wie viele Löcher hat ein Strohhalm?

Kapitel 3 Unterschiedlichen Dingen denselben Namen geben

Kapitel 4 Ein Fragment der Sphinx

Kapitel 5 »Sein Markenzeichen war die Unbesiegbarkeit«

Kapitel 6 Die geheimnisvolle Wirkung von Versuch und Irrtum

Kapitel 7 Künstliche Intelligenz ist wie Bergsteigen

Kapitel 8 Sie sind Ihr eigener Negativ-Cousin ersten Grades, und andere Arten von Kartographie

Kapitel 9 Drei Jahre lang jeden Sonntag

Kapitel 10 Was heute geschieht, wird auch morgen geschehen

Kapitel 11 Das gnadenlose Gesetz des Anstiegs

Kapitel 12 Der Rauch im Blatt

Kapitel 13 Eine Falte im Weltraum

Kapitel 14 Wie Mathematik die Demokratie ruinierte (und sie vielleicht doch noch retten kann)

Schlussbemerkung Ich beweise ein Theorem und das Haus dehnt sich aus

Danksagungen

Anmerkungen

An die Bewohner des Weltraums im Allgemeinen Und CJ und AB im Besonderen

Einleitung

Wo die Dinge sind und wie sie aussehen

Ich bin Mathematiker, und zwar einer, der in der Öffentlichkeit über Mathematik spricht, und das scheint bei den Menschen etwas auszulösen. Sie erzählen mir alles Mögliche. Sie erzählen mir Geschichten, von denen ich das Gefühl habe, dass sie sie lange nicht mehr erzählt haben, vielleicht sogar noch nie. Geschichten über Mathematik. Manchmal sind es traurige Geschichten: von einem Mathelehrer, der das Selbstvertrauen eines Kindes mit Füßen tritt, aus reiner Boshaftigkeit. Manches ist aber auch erfreulicher: eine plötzliche Erleuchtung, die man als Kind hatte und von der man geistig wachgerüttelt wurde – eine so außergewöhnliche Erfahrung, dass man als Erwachsener immerzu versuchte, dieses Gefühl noch einmal zu erleben, was aber nie ganz gelang. (Und was so gesehen auch irgendwie traurig ist.)

Oft geht es in diesen Geschichten um Geometrie. Sie scheint die Erinnerungen an die Schulzeit so überdeutlich laut zu beherrschen wie ein schiefer Ton in einem Refrain. Manche Menschen hassen Geometrie und erzählen mir, dass sie von dem Moment an, als Geometrie zum Thema wurde, im Mathematikunterricht nichts mehr verstanden haben. Andere wiederum sagen, Geometrie sei der einzige Aspekt der Mathematik gewesen, den sie überhaupt nachvollziehen konnten. Geometrie ist quasi der Koriander der Mathematik: Nur wenige Menschen haben keine Meinung dazu.

Was macht Geometrie so besonders? Irgendwie hat sie etwas Ursprüngliches, sie ist in unseren Körper integriert. Von der Sekunde an, in der wir schreiend aus dem Mutterleib kommen, schätzen wir ab, wo die Dinge sind und wie sie aussehen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die behaupten, dass sich alles, was für unser Seelenleben wichtig ist, auf die Bedürfnisse einer zotteligen Gruppe Neandertaler aus Jägern und Sammlern zurückführen lässt, aber man kann kaum bezweifeln, dass diese Völker ein Wissen über Formen, Entfernungen und Örtlichkeiten entwickeln mussten, wahrscheinlich noch bevor sie die Worte hatten, um darüber zu sprechen. Wenn südamerikanische Mystiker (und ihre nicht-südamerikanischen Nachahmer) Ayahuasca, den heiligen halluzinogenen Tee, trinken, ist das Erste, was passiert – nun ja, das Erste, was nach dem unkontrollierbaren Erbrechen geschieht –, die Wahrnehmung reiner geometrischer Formen: sich wiederholende zweidimensionale Muster wie das Gitterwerk in einer klassischen Moschee oder vollkommen dreidimensionale Visionen hexaedrischer Zellen, die sich zu pulsierenden Wabenmustern zusammenfügen. Die Geometrie ist auch dann noch präsent, wenn der Rest unseres Verstandes ausgeschaltet ist.

Liebe Leserinnen und Leser, ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein: Anfangs hat mich Geometrie auch nicht interessiert. Was eigentlich komisch ist, denn inzwischen bin ich Mathematiker. Geometrie ist also mein Job!

Als ich als Kind in der Mathe-AG war, sah das noch ganz anders aus. Ja, es gab tatsächlich eine Mathematik-AG. Das Team meiner Highschool hieß Hell’s Angles, und wir kamen zu jedem Treffen in passenden schwarzen T-Shirts und mit einem Ghettoblaster, der Hip to Be Square von Huey Lewis and the News spielte. Und in dieser AG war ich unter meinen Mitschülern dafür bekannt, dass ich mich sträubte, wenn mir eine Aufgabe gestellt wurde wie: »Zeige, dass der Winkel APQ mit dem Winkel CDF kongruent ist.« Was nicht heißt, dass ich solche Aufgaben nicht gelöst hätte! Aber ich habe sie mit total umständlichen Rechenwegen gelöst, das bedeutet ich habe jedem der vielen Punkte im Diagramm numerische Koordinaten zugewiesen und dann seitenweise Algebra und numerische Berechnungen durchgeführt, um die Flächen von Dreiecken und die Längen von Geraden zu bestimmen. Alles, nur bloß nicht die üblichen Herangehensweisen an die Geometrie. Manchmal habe ich eine Aufgabe richtig gelöst, manchmal lag ich völlig daneben. Aber es war jedes Mal eine Tortur.

Wenn es so etwas wie eine natürliche Veranlagung zur Geometrie gibt, dann kann ich nichts dergleichen vorweisen. Im Gegenteil. Man kann mit einem Baby einen Geometrietest machen. Man zeigt ihm eine Reihe von Bildpaaren; meistens haben beide Bilder die gleiche Form, aber etwa jedes dritte Mal ist die Form auf der rechten Seite spiegelverkehrt. Die Babys sehen sich die spiegelverkehrten Formen länger an. Sie wissen, dass etwas anders ist als vorher, und ihr neugieriger Verstand interessiert sich dafür. Die Babys, die länger auf die gespiegelten Formen starren, schneiden in der Regel im Vorschulalter bei Tests zum mathematischen und räumlichen Denken besser ab. Sie sind schneller und genauer in der Lage, sich Formen vorzustellen und zu erkennen, wie sie aussehen, wenn man sie dreht oder zusammenfügt. Und ich? Mir geht diese Fähigkeit fast völlig ab. Kennen Sie das kleine Bild auf dem Kreditkartenautomaten an der Tankstelle, das Ihnen zeigt, wie Sie die Karte halten müssen, wenn Sie sie durchziehen? Dieses Bild ist für mich nutzlos. Es übersteigt meine geistigen Fähigkeiten, die flache Zeichnung in eine dreidimensionale Handlung zu übertragen. Jedes Mal muss ich alle vier Möglichkeiten durchspielen – Magnetstreifen nach oben und nach rechts, Magnetstreifen nach oben und nach links, Magnetstreifen nach unten und nach rechts, Magnetstreifen nach unten und nach links – bis der Automat bereit ist, meine Karte zu lesen und mir Benzin zu verkaufen.

Und dennoch gilt Geometrie im Allgemeinen als das Herzstück dessen, was man braucht, um in der Welt wirklich etwas zu erreichen. Katherine Johnson, die NASA-Mathematikerin, die als Heldin des Buches und des gleichnamigen Films Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen bekannt wurde, beschrieb ihren frühen Erfolg in der Flugforschungsabteilung so: »Die Männer hatten alle einen Hochschulabschluss in Mathematik; sie hatten alles vergessen, was sie jemals über Geometrie wussten … Ich konnte mich noch an alles erinnern.«

Mächtig ist der Zauber

William Wordsworth erzählt in seinem langen, größtenteils autobiografischen Gedicht »The Prelude« eine etwas unglaubwürdige Geschichte über einen Schiffbrüchigen, der auf einer unbewohnten Insel an Land gespült wird und nichts weiter besitzt als ein Exemplar von Euklids Elementen, dem Buch über geometrische Axiome und Sätze, das vor etwa zweieinhalb Jahrtausenden die Geometrie als offizielles Fach begründete. Der Schiffbrüchige hat Glück: Er ist zwar niedergeschlagen und hungrig, aber er kann sich ablenken, indem er sich durch Euklids Beweisführungen arbeitet, eine nach der anderen, und die Diagramme mit einem Stock in den Sand nachzeichnet. So war es eben als der junge, sensible, poetische Wordsworth, schreibt der ältere Wordsworth! Oder, um den Dichter selbst sprechen zu lassen:

Mächtig ist der Zauber dieser Abstraktionen

für einen von Bildern überwältigten

und von sich selbst heimgesuchten Geist.

(Ayahuasca-Konsumenten verspüren einen ähnlichen Effekt – die Droge startet das Gehirn neu und erhebt den Geist aus dem gequälten Labyrinth, in dem er zu stecken glaubt.) Das Merkwürdigste an Wordsworths Geschichte über Geometrie und Schiffbruch ist, dass sie im Grunde genommen wahr ist. Wordsworth entlehnte sie, wobei er einige Sätze unverändert übernahm, aus den Memoiren von John Newton, einem jungen Sklavenhändlerlehrling, der 1745 nicht etwa Schiffbruch erlitt, sondern von seinem Chef auf Plantain Island vor Sierra Leone zurückgelassen wurde, mit wenig zu tun und noch weniger zu essen. Die Insel war nicht unbewohnt; die versklavten Afrikaner lebten dort mit ihm zusammen, und seine Hauptpeinigerin war eine Afrikanerin, die die Lebensmittelversorgung kontrollierte: »Eine Person von einiger Bedeutung in ihrem eigenen Land«, beschreibt Newton sie und beklagt sich dann mit wirklich erstaunlichem Unvermögen, die Situation zu erfassen: »Diese Frau war (ich weiß nicht aus welchem Grund) von Anfang an seltsam voreingenommen gegen mich.«

Ein paar Jahre später kommt Newton auf See fast ums Leben, findet zum Glauben, wird anglikanischer Priester, schreibt »Amazing Grace« (das eine ganz andere Buchempfehlung dafür bereithält, wenn man deprimiert ist) und schwört schließlich dem Sklavenhandel ab. Er wird sogar zu einem wichtigen Akteur in der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei im britischen Empire. Aber zurück nach Plantain Island: Ja, er hatte ein Buch dabei, Isaac Barrows Ausgabe von Euklid, und in seinen düsteren Momenten vergrub er sich in dessen abstraktem Trost. »So lenkte ich oft von meinen Sorgen ab«, schreibt er, »und vergaß fast meinen Jammer.«

Wordsworths Verwendung von Newtons Geometrie-im-Sand-Geschichte war nicht sein einziger Flirt mit diesem Thema. Thomas De Quincey, ein Zeitgenosse von Wordsworth, schrieb in seinen Literarischen Erinnerungen: »Wordsworth war ein tiefer Bewunderer der höheren Mathematik, vor allem der höheren Geometrie. Das Geheimnis dieser Bewunderung für die Geometrie lag in der Gegensätzlichkeit zwischen dieser Welt der körperlosen Abstraktion und der Welt der Leidenschaft.« Wordsworth hatte in der Schule in Mathematik schlecht abgeschnitten, aber er schloss eine auf gegenseitiger Bewunderung beruhende Freundschaft mit dem jungen irischen Mathematiker William Rowan Hamilton, von dem einige glauben, dass er Wordsworth dazu inspirierte, seine berühmte Beschreibung von Newton (in dem Fall Isaac, nicht John) in »The Prelude« einzufügen: »Ein Geist, der für immer / Durch fremde Meere des Denkens reist, allein.«

Hamilton war von frühester Jugend an fasziniert von allen Formen schulischen Wissens – Mathematik, alte Sprachen, Poesie –, aber sein Interesse an der Mathematik wurde besonders durch eine Begegnung in seiner Kindheit geweckt, und zwar mit Zerah Colburn, einem amerikanischen Wunderknaben der Rechenkunst. Colburn, ein sechsjähriger Junge aus einer bescheidenen Farmerfamilie in Vermont, wurde von seinem Vater Abia überrascht, als er auf dem Boden saß und das Einmaleins aufsagte, das ihm niemand beigebracht hatte. Es stellte sich heraus, dass der Junge über enorme Rechenfähigkeiten verfügte, wie sie in Neuengland noch nie zuvor beobachtet worden waren. (Außerdem hatte er, wie die meisten Männer in seiner Familie, sechs Finger an jeder Hand und sechs Zehen an jedem Fuß.) Zerahs Vater brachte ihn zu verschiedenen lokalen Würdenträgern, darunter der Gouverneur von Massachusetts, Elbridge Gerry (auf den wir später in einem ganz anderen Zusammenhang zurückkommen werden), der Abia darauf aufmerksam machte, dass es nur in Europa Menschen gäbe, die die besonderen Fähigkeiten des Jungen verstehen und fördern könnten. Im Jahre 1812 überquerten sie den Atlantik und reisten durch Europa, wo Zerah zwar ausgebildet wurde, dafür aber regelmäßig und gegen Geld öffentlich seine Künste vorführen musste. In Dublin trat er zusammen mit einem Riesen, einem Albino und Miss Honeywell auf, einer Amerikanerin, die mit ihren Zehen Geschicklichkeitskunststücke vollbrachte. 1818, inzwischen vierzehn Jahre alt, nahm er an einem Rechenwettbewerb gegen Hamilton teil, seinen irischen Gegenspieler, ebenfalls ein »Wunderteenager« der Mathematik, bei dem Hamilton »mit Auszeichnung davonkam, obwohl sein Kontrahent im Grunde genommen der Sieger war«. Aber Colburn wollte nicht tiefer in die Mathematik eindringen; sein Interesse galt ausschließlich dem Kopfrechnen. Colburn las Euklid, und fand ihn einfach, aber auch »nüchtern und uninteressant«. Und als Hamilton den »Rechenjungen« zwei Jahre später wieder traf und ihn über seine Methoden ausfragte (»Keine Spur mehr von seinem sechsten Finger«, erinnerte sich Hamilton; Colburn hatte ihn von einem Londoner Chirurgen entfernen lassen), stellte er fest, dass Colburn selbst kaum nachvollziehen konnte, warum seine Rechenmethoden funktionierten. Nachdem Colburn seine Ausbildung abgebrochen hatte, versuchte er sich auf der englischen Bühne, hatte dort aber keinen Erfolg, also zog er zurück nach Vermont und verbrachte sein restliches Leben als Prediger.

Als Hamilton 1827 Wordsworth kennenlernte, war er gerade zweiundzwanzig Jahre alt und bereits zum Professor an der Universität Dublin und zum königlichen Astronom von Irland ernannt worden. Wordsworth war siebenundfünfzig. In einem Brief an seine Schwester beschrieb Hamilton ihre Begegnung: Der junge Mathematiker und der alte Dichter machten »einen Mitternachtsspaziergang, der sehr, sehr lange dauerte, ohne irgendeinen Begleiter außer den Sternen und unseren eigenen brennenden Gedanken und Worten«. Wie sein Stil hier erkennen lässt, hatte Hamilton seine dichterischen Ambitionen noch nicht ganz aufgegeben. Er begann sofort, seine Gedichte an Wordsworth zu schicken, der wohlwollend, aber kritisch darauf reagierte. Kurz darauf sagte sich Hamilton von der Poesie los, und zwar in Versen, indem er sich in einem Gedicht mit dem Titel »To Poetry« (An die Poesie), das er an Wordsworth schickte, direkt an die Muse wandte. Im Jahr 1831 änderte er jedoch seine Meinung und schrieb ein weiteres Gedicht mit dem Titel »To Poetry«. Auch dieses schickte er an Wordsworth. Wordsworths Antwort ist ein Klassiker unter den sanften Abfuhren: »Sie schicken mir eine Flut von Versen, die ich, wie wir alle, mit großem Vergnügen entgegennehme; dennoch haben wir die Befürchtung, dass diese Beschäftigung Sie von dem Pfad der Wissenschaft abbringen könnte, den Sie mit so viel Ehre für sich selbst und Nutzen für andere zu beschreiten bestimmt scheinen.«

Nicht jeder in Wordsworths Umfeld schätzte das Zusammenspiel von Leidenschaft und unterkühlter, befremdlich unverbindlicher Vernunft so sehr wie er selbst und Hamilton. Bei einer Dinnerparty im Haus des Malers Benjamin Robert Haydon Ende 1817 betrank sich Wordsworths Freund Charles Lamb und begann, Wordsworth aufziehen, indem er Newton beschimpfte und den Wissenschaftler als »einen Typen, der nichts glaubt, wenn es nicht so eindeutig ist wie die drei Seiten des Dreiecks« bezeichnete. John Keats schloss sich an und beschuldigte Newton, dem Regenbogen seine ganze Romantik genommen zu haben, indem er aufzeigte, dass ein Prisma denselben optischen Effekt habe. Wordsworth stimmte in das allgemeine Gelächter ein, doch er biss die Zähne zusammen, um einen Streit zu vermeiden.

De Quinceys Porträt von Wordsworth enthält den Hinweis auf eine weitere mathematische Szene in »Das Präludium«, das zu der Zeit noch unveröffentlicht war. Damals hatten Gedichte noch Trailer! In dieser Szene, die, wie De Quincey begeistert verspricht, »meiner Meinung nach das Nonplusultra der Erhabenheit erreicht«, schläft Wordsworth beim Lesen von Don Quijote ein und träumt von der Begegnung mit einem Beduinen, der auf einem Kamel durch die leere Wüste reitet. Der Araber hat zwei Bücher in der Hand, nur dass eines der Bücher, wie in Träumen üblich, nicht nur ein Buch, sondern auch ein schwerer Stein ist, und das andere Buch ist zusätzlich noch eine leuchtende Muschel. (Ein paar Seiten später entpuppt sich der Beduine selbst als Don Quijote.) Das Muschelbuch gibt apokalyptische Prophezeiungen von sich, wenn man es ans Ohr hält. Und das Steinbuch? Darin finden sich wieder Euklids Elemente, die hier nicht als bescheidenes Instrument der Selbsthilfe erscheinen, sondern als Mittel zur Verbindung mit dem gnadenlosen und unveränderlichen Kosmos: das Buch »vermählt Seele mit Seele in reinster Bande / Der Vernunft, ungestört durch Raum und Zeit«. Es ist nur logisch, dass De Quincey sich für dieses psychedelische Zeug interessierte; er war ein ehemaliges Wunderkind, das einer hartnäckigen Laudanum-Sucht verfiel und seine schwindelerregenden Visionen in Bekenntnisse eines englischen Opiumessers verewigte, einem sensationellen Bestseller des frühen 19. Jahrhunderts.

Wordsworths Sichtweise ist typisch für die Geometrie, wenn man sie aus der Distanz betrachtet. Bewunderung, ja, aber so wie wir einen olympischen Turner bewundern, der Sprünge und Verrenkungen ausführt, die für normale Menschen unmöglich erscheinen. So ist es auch im berühmtesten aller Geometrie-Gedichte, in Edna St. Vincent Millays Sonett »Euclid alone has looked on Beauty bare« (Euklid allein hat die Schönheit entblößt gesehen)1. Millays Euklid ist eine einzigartige, unwirkliche Gestalt, die an einem »heiligen, schrecklichen Tag« von einem Strahl der Erkenntnis erleuchtet wird. Nicht wie der Rest von uns, der, so Millay, wenn wir Glück haben, hört, wie die Schritte der Schönheit in einem weit entfernten Korridor verhallen.

Das ist nicht die Geometrie, um die es in diesem Buch geht. Verstehen Sie mich nicht falsch – als Mathematiker profitiere ich sehr vom Prestige der Geometrie. Es ist ein gutes Gefühl, wenn die Leute denken, die Arbeit, die man macht, sei geheimnisvoll, unvergänglich, erhaben über die gewöhnliche Welt. »Wie war dein Tag?« »Oh, heilig und schrecklich, wie immer.«

Aber je stärker man diesen Standpunkt vertritt, desto mehr neigt man dazu, das Studium der Geometrie als Pflicht zu betrachten. Es bekommt den leicht schalen Beigeschmack von etwas, das man bewundert, weil es gut für einen ist. Wie die Oper. Und diese Art von Bewunderung reicht nicht, um das Ganze aufrechtzuerhalten. Es gibt viele neue Opern – aber können Sie eine nennen? Nein: Wenn man das Wort »Oper« hört, denkt man an eine Mezzosopran-Sängerin im Pelz, die Puccini schmettert, wahrscheinlich in Schwarz-Weiß.

Es gibt auch viel neue Geometrie, die, wie die neue Oper, nicht so weitläufig bekannt ist, wie sie sein könnte. Geometrie ist nicht gleichzusetzen mit Euklid, und das ist sie schon seit langem nicht mehr. Sie ist kein kulturelles Relikt, dem der Geruch nach einem Klassenzimmer anhaftet, sondern ein lebendiges Thema, das sich heutzutage schneller entwickelt als je zuvor. In den kommenden Kapiteln werden wir die neue Geometrie der Pandemieausbreitung, des chaotischen politischen Prozesses in den USA, des professionellen Damespiels, der künstlichen Intelligenz, der englischen Sprache, der Finanzen, der Physik und sogar der Poesie kennenlernen. (Viele Geometer träumten insgeheim davon, wie William Rowan Hamilton, Dichter zu werden.)

Wir leben in einer wilden geometrischen Boomtown, und zwar auf globaler Ebene. Die Geometrie existiert nicht jenseits von Raum und Zeit, sie ist hier bei uns, mischt sich unter die Gedanken des täglichen Lebens. Ist sie schön? Ja, aber nicht, wenn sie entblößt ist. Geometer erkennen ihre Schönheit, wenn sie ihre Arbeitskleidung trägt.

Kapitel 1

»Ich stimme für Euklid!«

Im Jahre 1864 erinnerte sich Reverend J. P. Gulliver aus Norwich, Connecticut, an ein Gespräch mit Abraham Lincoln, in dem es darum ging, wie der Präsident seine berühmten rhetorischen Fähigkeiten erworben hatte. Die Grundlage, sagte Lincoln, sei die Geometrie gewesen.

Bei der Lektüre der Gesetzesbücher stieß ich immer wieder auf das Wort demonstrieren. Zuerst dachte ich, ich hätte seine Bedeutung verstanden, aber bald wurde mir klar, dass ich das nicht hatte … Ich schlug in Webster’s Dictionary nach. Dort stand als Erklärung »sicherer Beweis«, »Beweis über die Möglichkeit des Zweifels hinaus«; aber ich konnte mir keine Vorstellung davon machen, was für ein Beweis das sein sollte. Ich war der Meinung, dass viele Dinge zweifelsfrei bewiesen sind, ohne dass ein so außergewöhnlicher Argumentationsprozess erforderlich ist, wie ich ihn unter »Demonstration« verstand. Ich habe alle Wörterbücher und Nachschlagewerke konsultiert, die ich finden konnte, aber mit keinem besseren Ergebnis. Genauso gut hätten Sie einem Blinden die Farbe Blau erklären können. Schließlich sagte ich mir: »Lincoln, du kannst niemals Anwalt werden, wenn du nicht verstehst, was demonstrieren bedeutet.« Also ließ ich die Bücher in Springfield erst einmal liegen, machte mich auf den Weg zu meinem Elternhaus und blieb dort, bis ich alle Lehrsätze in den sechs Büchern von Euklid auswendig konnte. Schließlich fand ich heraus, was »demonstrieren« bedeutet, und widmete mich wieder meinem Jurastudium.

Gulliver war ganz Lincolns Ansicht und antwortete: »Kein Mensch kann gute Reden halten, wenn er nicht in der Lage ist, zunächst einmal selbst zu definieren, worüber er spricht. Wenn man Euklid richtig verstehen würde, könnte man die Welt von der Hälfte allen Unheils befreien, indem man die Hälfte des Unsinns verbannen würde, der derzeit für Irrsinn und Verderben sorgt. Ich habe oft gedacht, dass Euklid eines der besten Bücher wäre, das man in den Katalog der Zeugen Jehovas aufnehmen sollte, wenn man die Leute nur dazu bringen könnte, es zu lesen. Es wäre ein Akt der Gnade.« Lincoln, so berichtet Gulliver, pflichtete ihm lachend bei: »Ich stimme für Euklid.«

Lincoln hatte, wie der schiffbrüchige John Newton, Euklid als Quelle des Trostes in einer schwierigen Zeit seines Lebens auserkoren; in den 1850er Jahren, nach einer einzigen Amtszeit im Repräsentantenhaus, schien er mit der Politik fertig zu sein und versuchte, sich seinen Lebensunterhalt als gewöhnlicher reisender Anwalt zu verdienen. In seiner früheren Tätigkeit als Vermessungsingenieur hatte er die Grundzüge der Geometrie erlernt und bemühte sich nun, seine Lücken zu schließen. Sein Partner William Herndon, der, wenn er mit Lincoln auf Reisen war, oft in kleinen Landgasthöfen das Bett mit ihm teilen musste, erinnert sich an Lincolns Lernmethode: Herndon schlief ein, während Lincoln seine langen Beine über die Bettkante hängen ließ und sich bei Kerzenlicht bis spät in die Nacht in Euklid vertiefte.

Eines Morgens fand Herndon Lincoln in ihren gemeinsamen Büroräumen in einem Zustand geistigen Aufruhrs vor:

Er saß am Tisch, und vor ihm lag eine Menge unbeschriebenes Papier, große schwere Bögen, ein Zirkel, ein Lineal, zahlreiche Bleistifte, mehrere Fläschchen mit Tinte in verschiedenen Farben und überhaupt eine Fülle von Schreibwaren und Schreibgeräten. Offensichtlich war er mit einer gewichtigen Berechnung beschäftigt, denn es lagen zahlreiche Blätter herum, beschrieben mit ungewöhnlich vielen Zahlen. Er war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er kaum aufsah, als ich eintrat.

Erst später am Tag stand Lincoln schließlich von seinem Schreibtisch auf und erklärte Herndon, dass er sich an der Quadratur des Kreises versucht habe. Das heißt, er versuchte, ein Quadrat zu konstruieren, das der gleichen Fläche entsprach wie ein vorgegebener Kreis, wobei »konstruieren« im korrekten euklidischen Sinne bedeutet, etwas mit nur zwei Werkzeugen auf ein Blatt zu zeichnen – mit einem Lineal und einem Zirkel. Lincoln arbeitete zwei Tage lang an dem Problem, erinnert sich Herndon, »fast bis zur Erschöpfung«.

Man hat mir gesagt, dass die sogenannte Quadratur des Kreises eine praktische Unmöglichkeit ist, aber ich war mir dessen damals nicht bewusst, und ich bezweifle, dass Lincoln es war. Da sein Versuch, die These zu beweisen, gescheitert war, vermuteten wir im Büro, dass er diesbezüglich empfindlich sein könnte, und waren daher so diskret, es nicht zu erwähnen.

Die Quadratur des Kreises ist ein altbekanntes Problem, und vermutlich war sich Lincoln der Herausforderung tatsächlich bewusst, denn die »Quadratur des Kreises« ist seit langem eine Metapher für eine schwierige oder gar unmögliche Aufgabe. Dante erwähnt sie sogar im »Paradiso«, dem dritten Teil seiner Göttlichen Komödie: »Wie der Geometer, der alles versucht, um die Quadratur des Kreises zu erreichen, und dem doch nicht die Eingebung kommt, die ihm weiterhilft, so erging es mir.« In Griechenland, wo alles begann, lautet einer der üblichen, verärgerten Kommentare, wenn jemand eine Aufgabe komplizierter als nötig macht: »Ich verlange doch nicht die Quadratur des Kreises von dir!«

Dabei gibt es überhaupt keinen Grund für die Quadratur des Kreises – die Schwierigkeit und der Bekanntheitsgrad der Aufgabe sind an sich schon Motivation genug. Menschen mit Entdeckerdrang versuchten sich immer wieder an der Quadratur des Kreises, schon in der Antike bis 1882, als Ferdinand von Lindemann bewies, dass sie gar nicht möglich ist (und selbst danach versuchten es ein paar Hartnäckige weiter, sogar heute noch). Im 17. Jahrhundert dachte der politische Philosoph Thomas Hobbes, dessen Vertrauen in seine eigenen geistigen Fähigkeiten kaum Grenzen kannte, er hätte die Lösung gefunden. Laut seinem Biographen John Aubrey entdeckte Hobbes die Geometrie für sich, als er schon im mittleren Alter war, und das ganz zufällig:

Als er in einer Gentleman’s Library war, lagen Euklids Elemente aufgeschlagen da, und zwar die Proposition 47 aus Buch 1. Er las diesen Lehrsatz. Bei Gott, sagte er (er pflegte hin und wieder mit Nachdruck einen Eid zu schwören), das ist unmöglich! Also las er die dazugehörige Beweisführung, welche auf einen weiteren Lehrsatz rückverwies, den er dann ebenfalls las. Dieser verwies ihn auf einen weiteren, den er auch las. Et sic deinceps, so kam es schließlich, dass er sich durch diese Veranschaulichung von deren Wahrheitsgehalt überzeugen ließ. Somit war seine Liebe zur Geometrie geweckt.

Hobbes veröffentlichte ständig neue Ansätze und lieferte sich kleine Fehden mit den führenden britischen Mathematikern seiner Zeit. Einmal wurde er in einem Briefwechsel darauf hingewiesen, dass eine seiner Berechnungen nicht ganz korrekt sei, da die Entfernungen der beiden Punkte P und Q zu einem dritten Punkt R, die er als gleich bezeichnete, in Wirklichkeit, wenn auch nur geringfügig, unterschiedlich seien: und zwar um einen Wert von 41 beziehungsweise etwa 41,012. Darauf antwortete Hobbes, er habe die Punkte groß genug gezeichnet, um einen derart geringfügigen Unterschied auszugleichen. Bis zu seinem Tod behauptete er sogar noch, die Quadratur des Kreises sei ihm gelungen.1

Ein anonymer Berichterstatter lieferte 1833 in der Rezension eines Geometrielehrbuches eine Beschreibung des typischen Vertreters der Quadratur des Kreises, die sowohl auf Hobbes zwei Jahrhunderte zuvor zutrifft, als auch auf die ewig Unbelehrbaren im 21. Jahrhundert:

Alles, was sie über Geometrie wissen, ist, dass sie einige Aspekte enthält, von denen selbst diejenigen, die sie am gründlichsten studiert haben, längst zugegeben haben, dass sie sie nicht beherrschen. Da sie irgendwo gehört haben, die Autorität des Wissens habe eine zu große Macht über den Verstand der Menschen, schlagen sie vor, diese Macht durch die der Unwissenheit auszugleichen. Und wenn zufällig einmal jemand, der mit dem Thema vertraut ist, etwas Besseres zu tun hat, als ihnen zuzuhören, wenn sie ihre verborgenen Wahrheiten enthüllen, nennen sie ihn einen Fanatiker, einen Zerstörer des Lichts der Wahrheit und so weiter.

Da ist uns so jemand wie Lincoln doch wohl lieber: ehrgeizig genug, um es zu versuchen, und einsichtig genug, um zu akzeptieren, wenn etwas nicht funktioniert.

Lincoln übernahm von Euklid den Gedanken, dass man, wenn man umsichtig ist, durch schlüssiges, konsequentes Vorgehen ein hohes, standfestes Gebäude des Glaubens und der Zustimmung errichten kann, eine Etage nach der anderen, auf einem Fundament von Leitsätzen, die niemand anzweifeln kann: oder, wenn man so will, auf der Basis von Wahrheiten, die als selbstverständlich gelten. Wer diese Wahrheiten nicht für selbstverständlich hält, ist von der Diskussion ausgeschlossen. Da höre ich sogleich die Anklänge an Euklid in Lincolns berühmtester Rede, der Gettysburg Address, in der er die Vereinigten Staaten so definiert, dass sie »dem Grundsatz verpflichtet sind, dass alle Menschen gleich geschaffen sind«. Ein »Grundsatz« ist der Begriff, den Euklid für eine Tatsache verwendet, die sich logisch aus den selbstverständlichen Axiomen ergibt, die man rational einfach nicht leugnen kann.

Lincoln war nicht der erste Amerikaner, der eine Grundlage für die demokratische Politik in euklidischen Begriffen suchte – das hatte bereits der mathematikbegeisterte Thomas Jefferson getan. Lincoln schrieb in einem Brief, der 1859 bei einer Jefferson-Gedenkfeier in Boston verlesen wurde, an der er nicht teilnehmen konnte:

Man kann wohl mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass er jedes vernünftige Kind davon überzeugen könnte, dass die einfacheren Sätze von Euklid wahr sind; aber dennoch würde er bei jemandem, der die Definitionen und Axiome leugnet, völlig versagen. Die Grundsätze Jeffersons sind die Definitionen und Maximen der freien Gesellschaft.

Jefferson hatte sich als junger Mann während seines Studiums an der William and Mary University mit Euklid befasst und schätzte die Geometrie seitdem grundsätzlich sehr.2 Während seiner Zeit als Vizepräsident nahm sich Jefferson die Zeit, den Brief eines Studenten aus Virginia zu beantworten und schrieb über die Wahl seines Studienfachs: »Die Trigonometrie ist für jeden Menschen sehr wertvoll, und es gibt kaum einen Tag, an dem er sie nicht für einige Zwecke des täglichen Lebens nutzt« (obwohl er einen Großteil der höheren Mathematik als »Luxus« bezeichnete, als »einen vorzüglichen Luxus, aber nicht für jemanden, der einen Beruf ausüben muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen«).

Im Jahr 1812, als er sich aus der Politik zurückgezogen hatte, schrieb Jefferson an seinen Vorgänger im Amt des Präsidenten, John Adams:

Ich habe die Zeitungen gegen Tacitus und Thukydides, gegen Newton und Euklid eingetauscht, und damit bin ich sehr viel glücklicher.

Hier zeigt sich ein echter Unterschied zwischen den beiden von Geometrie begeisterten Präsidenten: Für Jefferson war Euklid Teil der klassischen Bildung, die man als Zugehöriger des kultivierten Bürgertums brauchte, ebenso wichtig wie die griechischen und römischen Geschichtsschreiber und die Wissenschaftler der Aufklärung. Nicht so für Lincoln, den Farmerssohn, der sich alles selbst beigebracht hatte. Diesbezüglich noch einmal Reverend Gulliver, der sich in Erinnerung ruft, wie sich Lincoln an seine Kindheit erinnert:

Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich, nachdem ich die Nachbarn den ganzen Abend lang mit meinem Vater reden gehört hatte, immer in mein kleines Zimmer ging und einen nicht geringen Teil der Nacht damit verbrachte, auf und ab zu gehen und zu versuchen, die genaue Bedeutung einiger ihrer für mich unverständlichen Äußerungen zu entschlüsseln. Dann konnte ich nicht einschlafen, obwohl ich es immer wieder versuchte, aber jedes Mal jagte ich doch wieder einem Gedanken nach, bis ich ihn verstanden hatte; und wenn ich glaubte, ihn verstanden zu haben, war ich erst zufrieden, wenn ich ihn immer und immer wieder wiederholt hatte, bis ich ihn in einer Ausdrucksweise formuliert hatte, die, wie ich dachte, jeder Junge, den ich kannte, verstehen konnte. Das war geradezu eine Besessenheit, und sie ist mir erhalten geblieben, denn noch heute gebe ich mich bei der Verfolgung eines Gedanken erst dann zufrieden, wenn ich ihn nach Norden und Süden, nach Osten und Westen abgegrenzt habe. Vielleicht erklärt das die Eigenart, die auch bei meinen Reden auffällt.

Das ist keine Geometrie, aber es ist die Geisteshaltung des Geometers. Man gibt sich nicht damit zufrieden, die Dinge halbwegs zu verstehen; man verdichtet seine Gedanken und verfolgt sie Schritt für Schritt rational zurück, so wie Hobbes es mit Erstaunen bei Euklid beobachtet hatte. Diese Art der systematischen Selbsterkenntnis betrachtete Lincoln als die einzige Möglichkeit aus Verwirrung und Unwissenheit herauszufinden.

Im Gegensatz zu Jefferson verstand Lincoln die euklidische Vorgehensweise nicht als etwas, das nur jemandem von hohem Stand oder mit höherer Schulbildung vorbehalten ist, denn beides traf auf Lincoln nicht zu. Er betrachtete es als eine selbstgezimmerte Blockhütte des Geistes. Richtig gebaut, kann sie jeder Herausforderung standhalten. Und in einem Land, wie Lincoln es sich vorstellte, konnte jeder eine solche Hütte errichten.

Starre Formelhaftigkeit

Lincolns Vision von der Geometrie für die amerikanischen Massen wurde, wie viele seiner guten Ideen, nur unvollständig verwirklicht. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Geometrie vom College in die öffentliche Highschool vorverlegt worden; aber beim üblichen Schulunterricht wurde Euklid als eine Art Museumsstück präsentiert, dessen Beweise auswendig gelernt, rezitiert und in gewissem Maße gewürdigt werden sollten. Wie jemand auf diese Beweise gekommen sein könnte, darüber wurde nicht gesprochen. Der Urheber der Beweise selbst verschwand fast gänzlich: Ein Schriftsteller jener Zeit bemerkte, dass »manch ein Jugendlicher sechs Bücher der Elemente liest, bevor er zufällig erfährt, dass Euklid nicht der Name einer Wissenschaft ist, sondern der eines Mannes, der darüber geschrieben hat«. Das Paradoxon der Bildung: Was wir am meisten bewundern, stecken wir in eine Schublade und verlernen es.

Fairerweise muss man sagen, dass es nicht viel über den historischen Euklid zu sagen gibt, weil wir nicht viel über Euklid als historische Figur wissen. Er lebte und arbeitete in der großen Stadt Alexandria in Nordafrika, irgendwann um 300 vor Christus. Das war’s – das ist alles, was wir wissen. Seine Elemente sind eine Sammlung des geometrischen Wissens, das griechische Mathematiker zu jener Zeit besaßen, und nebenbei bilden sie die Grundlage der Zahlentheorie. Vieles von dem Material war den Mathematikern schon vor Euklids Zeit bekannt, aber was radikal neu und sofort revolutionär war, ist die Organisation dieses riesigen Wissensbestands. Aus einem kleinen Satz von Axiomen, die kaum anzuzweifeln waren3, leitet man Schritt für Schritt den ganzen Apparat von Theoremen über Dreiecke, Linien, Winkel und Kreise ab. Vor Euklid – wenn es überhaupt einen Euklid gab und nicht ein schattenhaftes Kollektiv von geometriebegeisterten Alexandrinern, die unter diesem Namen schrieben – wäre eine solche Struktur unvorstellbar gewesen. Danach war sie ein Modell für alles Bewundernswerte an Wissen und Denken.

Es gibt natürlich auch eine andere Art, Geometrie zu lehren, die den Schwerpunkt auf Kreativität legt und versucht, die Schüler in das euklidische Cockpit zu setzen, mit der Befugnis, ihre eigenen Definitionen zu erarbeiten und zu sehen, was dabei herauskommt. Ein solches Lehrbuch, Inventional Geometry, geht von der Prämisse aus, dass »die einzig wahre Bildung die Selbstbildung ist«. Schauen Sie sich nicht die Konstruktionen anderer an, rät das Buch, »zumindest nicht, bis Sie eine eigene Konstruktion entdeckt haben«, und vermeiden Sie es, sich mit anderen Schülern zu vergleichen, denn jeder lernt in seinem eigenen Tempo, und Sie werden den Stoff eher beherrschen, wenn Sie Spaß daran haben. Das Buch selbst ist nicht mehr als eine Reihe von Rätseln und Aufgaben, insgesamt 446. Einige davon sind ganz einfach: »Kannst du mit zwei Linien drei Winkel bilden? Kannst du mit zwei Linien vier Winkel bilden? Kannst du mit zwei Linien mehr als vier Winkel bilden?« Einige dieser Aufgaben, so warnt der Autor, sind eigentlich nicht lösbar, aber nur so könne man sich in die Lage eines wahren Wissenschaftlers versetzen. Und einige der Aufgaben, wie die allererste, haben überhaupt keine eindeutig »richtige Lösung«: »Legen Sie einen Würfel mit einer Seite flach auf den Tisch, und zwar so, dass er mit einer der anderen Seiten zu Ihnen zeigt, und dann sagen Sie, welche der Seiten für die Tiefe, welche für die Breite und welche für die Länge steht.« Alles in allem handelt es sich um genau die Art von »kindzentriertem«, forschendem Ansatz, den Traditionalisten als das verhöhnen, was mit der Bildung heutzutage nicht mehr stimmt. Dieses Buch, Inventional Geometry, wurde 1861 veröffentlicht.

Vor ein paar Jahren kam die Mathematikbibliothek der Universität von Wisconsin in den Besitz einer riesigen Sammlung alter Mathematiklehrbücher, Bücher, die von den Schülern in Wisconsin in den letzten 100 Jahren benutzt4 und schließlich zugunsten neuerer Materialien ausrangiert worden waren. Wenn man sich die abgegriffenen Bücher anschaut, merkt man, dass jede Kontroverse im Bildungswesen schon mehrfach ausgetragen worden ist, und dass alles, was wir für neu und ungewöhnlich halten – Mathematikbücher wie Inventional Geometry, in denen die Schüler aufgefordert werden, selbst Beweise zu finden, Mathematikbücher, die Probleme »relevant« machen, indem sie sie mit dem Alltagsleben der Schüler in Verbindung bringen, Mathematikbücher, die darauf abzielen, soziale Anliegen zu fördern, seien sie nun fortschrittlich oder nicht – ebenfalls alt ist, zu seiner Zeit aber als ungewöhnlich angesehen wurde und zweifellos auch in Zukunft neu und ungewöhnlich sein wird.

Eine Anmerkung am Rande: In der Einleitung zu Inventional Geometry wird erwähnt, dass die Geometrie »einen Platz in der Erziehung aller hat, nicht ausgenommen jener der Frauen« – der Autor des Buches, William George Spencer, war ein früher Befürworter der Gleichberechtigung. Eine allgemeinere Einstellung des 19. Jahrhunderts zu Frauen und Geometrie wird in Die Mühle am Floss von George Eliot5, das im selben Jahr wie Spencers Lehrbuch veröffentlicht wurde, zum Ausdruck gebracht (aber nicht befürwortet): »Mädchen verstehen nichts von Euklid, nicht wahr, Sir?«, fragt eine Figur den Schuldirektor Mr Stelling, der antwortet: »Sie sind oberflächlich betrachtet sehr klug, aber sie können nicht weit in die Tiefe gehen.« Stelling repräsentiert in satirisch überspitzter Form die traditionelle Art der britischen Pädagogik, gegen die Spencer rebellierte: ein langer Marsch durch das Auswendiglernen der Meister, bei dem der langsame, mühsame Prozess des Aufbaus eines Verständnisses nicht nur vernachlässigt, sondern aktiv bekämpft wird. »Mr Stelling war nicht der Mann, der den Verstand seines Schülers durch Vereinfachen und Erklären schwächte und entmannte.« Euklid, eine Art Stärkungsmittel für die Männlichkeit, sollte pur ertragen werden, wie ein starker Drink oder eine eiskalte Dusche.

Selbst in den höchsten Kreisen der mathematischen Forschung hatte sich Unzufriedenheit mit Einstellungen wie der von Stelling breitgemacht. Der britische Mathematiker James Joseph Sylvester, über dessen Geometrie und Algebra (und Abneigung gegen die festgefahrene Sturheit der britischen Wissenschaft) wir später noch sprechen werden, war der Meinung, dass Euklid »weit außerhalb der Reichweite der Schüler« versteckt und die Geometrie durch ihre Beziehung zu den physikalischen Wissenschaften gelehrt werden sollte, wobei der Schwerpunkt auf der Geometrie der Bewegung liegen müsse, die Euklids statische Formen ergänze. »Es ist dieses lebendige Interesse an dem Thema«, schrieb Sylvester, »das in unseren traditionellen und mittelalterlichen Unterrichtsmethoden so sehr fehlt. In Frankreich, Deutschland und Italien, überall dort, wo ich auf dem Kontinent gewesen bin, wirkt der Verstand direkt auf den geistigen Horizont in einer Art und Weise, die der erstarrten Formelhaftigkeit unserer akademischen Institutionen unbekannt ist.«

Schaut euch das an!

Heutzutage lassen wir die Schüler nicht mehr Euklid auswendig lernen und rezitieren. Im späten 19. Jahrhundert enthielten die Lehrbücher erstmals Übungen, in denen die Schüler aufgefordert wurden, ihre eigenen Beweise für geometrische Sätze zu konstruieren. Im Jahr 1893 schrieb das »Committee of Ten«, ein vom Harvard-Präsidenten Charles Eliot einberufenes Bildungsplenum, das mit der Rationalisierung und Standardisierung der amerikanischen Highschool-Ausbildung beauftragt war, diesen Wandel fest. Der Sinn der Geometrie in der Highschool, so hieß es, sei es, den Verstand der Schüler an das streng deduktive Denken heranzuführen. Diese Idee hat sich durchgesetzt. In einer 1950 durchgeführten Umfrage wurden fünfhundert amerikanische Highschool-Lehrer nach ihren Zielen im Geometrieunterricht befragt: Die bei weitem beliebteste Antwort war, »die Gewohnheit des klaren Denkens und des präzisen Ausdrucks zu entwickeln«. Diese Antwort kam fast doppelt so häufig vor wie, »die Kenntnis der Fakten und Prinzipien der Geometrie zu vermitteln«. Mit anderen Worten: Wir sind nicht dazu da, unsere Schüler mit den allseits bekannten Fakten über Dreiecke vollzustopfen, sondern dazu, ihnen die geistige Disziplin zu vermitteln, mit der sie diese Fakten aus den ersten Gesetzmäßigkeiten heraus selbst ableiten können. Eine Schule für kleine Lincolns.

Und wozu dient diese geistige Disziplin? Dazu, die Schüler in die Lage zu versetzen, irgendwann im späteren Leben endgültig und unwiderlegbar beweisen zu können, dass die Summe der Außenwinkel eines Polygons 360 Grad beträgt?

Ich warte immer noch darauf, dass mir das passiert, aber es ist nie geschehen.

Der eigentliche Grund, warum man Kindern beibringen sollte, einen Beweis zu formulieren, ist nicht, dass die Welt voll von Beweisen oder Beweisbarem ist. Es geht darum, dass die Welt voller Nicht-Beweise ist, und Kinder müssen den Unterschied kennen. Es ist schwer, sich mit einem Nicht-Beweis zufriedenzugeben, wenn man sich erst einmal mit einem echten Beweis vertraut gemacht hat.

Lincoln kannte den Unterschied. Sein Freund und Anwaltskollege Henry Clay Whitney erinnerte sich: »Oft habe ich gesehen, wie er einen Trugschluss entlarvte und sowohl den Trugschluss als auch seinen Urheber bloßstellte.« Wir begegnen ständig Nicht-Beweisen im Gewand des Beweises, und wenn wir nicht besonders aufmerksam sind, entgehen sie allzu oft unserer Aufmerksamkeit. Es gibt Hinweise, auf die man achten kann. Wenn ein Autor in der Mathematik einen Satz mit »eindeutig« beginnt, will er damit eigentlich sagen: »Das scheint mir klar zu sein, und ich hätte es wahrscheinlich überprüfen sollen, aber ich war etwas verwirrt und habe mich damit begnügt zu behaupten, dass es eindeutig ist.« Das Pendant des Zeitungsjournalisten ist der Satz, der mit »Sicherlich können wir uns alle darauf einigen« beginnt. Wann immer Sie diesen Satz sehen, sollten Sie sich auf keinen Fall sicher sein, dass alle mit dem, was folgt, einverstanden sind. Sie werden aufgefordert, etwas als Axiom zu betrachten, und wenn es etwas gibt, das wir aus der Geschichte der Geometrie lernen können, dann ist es, dass man ein neues Axiom erst dann in sein Buch aufnehmen sollte, wenn es sich wirklich bewahrheitet hat.

Seien Sie immer skeptisch, wenn Ihnen jemand sagt, er gehe »einfach rein logisch« vor. Wenn es dieser Person darum geht, eine wirtschaftspolitische Maßnahme zu kommentieren oder eine kulturelle Persönlichkeit, deren Verhalten sie missbilligt, oder wenn es um ein Zugeständnis Ihrerseits geht, und nicht um eine Kongruenz von Dreiecken, dann ist die Argumentation nicht »rein logisch«, denn sie bewegt sich in einem Kontext, in dem die logische Schlussfolgerung – wenn sie überhaupt zutrifft – nicht von allem anderen getrennt werden kann. Dann will man, dass Sie eine selbstbewusst vorgetragene Meinungskette als Beweis für ein Theorem missverstehen. Aber wenn Sie einmal das scharfe Klicken eines ehrlichen Beweises erlebt haben, wenn Ihnen so ein Licht aufgegangen ist, werden Sie nie wieder darauf hereinfallen. Sagen Sie Ihrem »logischen« Gegner, er soll sich lieber die Quadratur des Kreises vornehmen.

Was Lincoln auszeichnete, so Whitney, war nicht nur, dass er über einen überragenden Intellekt verfügte. Viele Menschen im öffentlichen Leben, gesteht Whitney ein, sind sehr klug, und unter ihnen findet man sowohl die Guten als auch die Schlechten. Nein: Was Lincoln besonders auszeichnete, war, dass »es für Lincoln moralisch unmöglich war, unehrlich zu argumentieren; er konnte es genauso wenig, wie er stehlen konnte; es war für ihn im Grunde dasselbe, einen Menschen durch Diebstahl oder durch unlogische oder schamlose Argumentation seines Eigentums zu berauben.« Was Lincoln von Euklid übernommen hatte (oder was bereits in Lincoln vorhanden war und mit dem harmonierte, was er bei Euklid fand), war Integrität, das Prinzip, dass man nichts sagt, wenn man nicht fair und ehrlich begründet hat, dass man das Recht hat, es zu sagen. Die Geometrie ist eine Form der Ehrlichkeit. Man hätte Lincoln auch Geometrical Abe nennen können.

Der einzige Punkt, an dem ich mit Lincoln nicht übereinstimme, ist die Bloßstellung des Urhebers eines Irrtums. Denn am schwierigsten ist es, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, und es sind unsere selbstverursachten Irrtümer, deren Entlarvung uns die meiste Zeit und Mühe kostet. Sie sollten Ihre Überzeugungen immer wie einen lockeren Zahn prüfen, oder besser gesagt, einen Zahn, bei dem Sie sich nicht ganz sicher sind, ob er locker sitzt. Und wenn etwas nicht feststeht, braucht man sich nicht zu schämen, sondern kann sich in aller Ruhe auf den Boden der Tatsachen zurückbegeben und neu abschätzen, wie man von dort aus weiterkommt.

Das ist es, was uns die Geometrie im Idealfall zu lehren hat. Aber die »starre Formelhaftigkeit«, über die sich Sylvester beklagte, ist noch längst nicht verschwunden. In der Praxis entspricht die Lektion, die wir den Kindern im Geometrieunterricht oft beibringen, genau dem, was der auf Mathematik spezialisierte Buchautor, Cartoonist und Anekdotenerzähler Ben Orlin folgendermaßen ausdrückt:

Ein Beweis ist die unverständliche Demonstration einer Tatsache, die einem bereits bekannt war.

Orlins Beispiel für einen solchen Beweis ist der »Satz von der Kongruenz der rechten Winkel«, die Behauptung, dass zwei beliebige rechte Winkel kongruent zueinander sind. Was könnte man von einem Neuntklässler verlangen, wenn man ihm diese Behauptung vorlegt? Das typischste Format ist der zweispaltige Beweis, der seit mehr als einem Jahrhundert eine tragende Säule des Geometrieunterrichts ist und der in diesem Fall etwa so aussehen würde:

Winkel 1 und Winkel 2 sind beide rechtwinklig

vorausgesetzt

Das Maß von Winkel 1 beträgt 90 Grad

Definition des rechten Winkels

Das Maß von Winkel 2 beträgt 90 Grad

Definition des rechten Winkels

Das Maß von Winkel 1 ist gleich dem Maß von Winkel 2

Transitivität der Gleichheit

Winkel 1 ist kongruent zu Winkel 2

Definition der Kongruenz

Die »Transitivität der Gleichheit« ist einer von Euklids »allgemeinen Begriffen«, eines der arithmetischen Prinzipien, die er zu Beginn der Elemente aufführt und die er sogar als vorrangig vor den geometrischen Axiomen betrachtet. Es handelt sich um den Grundsatz, dass zwei Dinge, die demselben Ding gleich sind, auch einander gleich sind.6

Ich will gar nicht abstreiten, dass man sich damit zufriedengeben kann, alles auf so kleine, präzise Schritte zu reduzieren. Sie fügen sich so praktisch zusammen, wie Lego! Dieses Gefühl möchte man als Lehrer gerne vermitteln.

Und dennoch … ist es nicht offensichtlich, dass zwei rechte Winkel einander gleich sind, wenn sie nur an einer anderen Stelle auf dem Blatt stehen und in eine andere Richtung zeigen? In der Tat macht Euklid die Gleichheit zweier rechter Winkel zum Vierten seiner Axiome, den grundlegenden Spielregeln, die ohne Beweis als wahr vorausgesetzt werden und von denen sich alles andere ableitet. Warum also sollte eine moderne Highschool von den Schülern verlangen, einen Beweis für diese Tatsache zu erbringen, wenn selbst Euklid bereits sagte: »Das ist doch offensichtlich?« Weil es viele verschiedene Ausgangsaxiome gibt, aus denen man die Geometrie in der Ebene ableiten kann, und weil eine Vorgehensweise wie die von Euklid im Allgemeinen nicht mehr als die konsequenteste oder pädagogisch sinnvollste Wahl angesehen wird. David Hilbert formulierte 1899 die gesamten Grundlagen um, und die heute in amerikanischen Schulen verwendeten Axiome beruhen in der Regel eher auf denen, die George Birkhoff 1932 aufstellte.

Ob es nun ein Axiom ist oder nicht, die Tatsache, dass zwei rechte Winkel gleich sind, ist etwas, das die Schüler einfach wissen. Man kann niemandem verübeln, dass er frustriert ist, wenn man ihm sagt: »Du glaubst, dass du das weißt, aber du wirst es nicht wirklich wissen, bis du die Schritte des zweispaltigen Beweises durchgegangen bist.« Das kommt nicht gut an!

Im Geometrieunterricht geht es viel zu häufig darum, das Offensichtliche zu beweisen. Ich erinnere mich noch gut an einen Kurs in Topologie, den ich im ersten Jahr meines Studiums belegte. Der Professor, ein sehr angesehener älterer Wissenschaftler, verbrachte zwei Wochen damit, die folgende Aussage zu beweisen: Wenn man eine geschlossene Kurve in der Ebene zeichnet, egal wie verschnörkelt und seltsam sie auch sein mag, schneidet die Kurve die Ebene in zwei Teile: den Teil außerhalb der Kurve und den Teil innerhalb.

Wie sich herausstellte, ist es einerseits ziemlich schwierig, einen formalen Beweis für diese als Jordanscher Kurvensatz bekannte Tatsache abzufassen.7 Andererseits verbrachte ich diese zwei Wochen in einem Zustand kaum kontrollierbarer Verunsicherung. War es das, worum es in der Mathematik wirklich ging? Das Offensichtliche kompliziert zu machen? Ich schaltete einfach ab, liebe Leser. Das taten meine Kommilitonen auch, von denen übrigens viele Mathematiker oder Wissenschaftler wurden. Ein Student und eine Studentin, die direkt vor mir saßen, die ihr Studium sehr ernsthaft betrieben und die später an einer der Top-Five-Universitäten in Mathematik promovierten, knutschten jedes Mal wie wild herum, wenn sich der ehrwürdige, ältere Meister wieder einmal umdrehte und eine weitere komplizierte Beweiskette zur Berechnung eines Vielecks mit ungeraden Seiten an die Tafel schrieb. Und damit meine ich, dass die beiden sich so richtig ins Zeug legten, als ob sie durch die Energie ihrer jugendlichen Begierde irgendwie in einen anderen Teil des Kontinuums katapultiert werden könnten, wo diese Beweiskette keine Gültigkeit hatte.

Ein hochqualifizierter Mathematiker, wie ich es heute bin, würde vielleicht die Schultern straffen und sagen: Tja, ihr jungen Leute seid einfach noch nicht reif genug, um zu erkennen, welche Aussagen wirklich offensichtlich sind und in welchen sich noch Feinheiten verbergen. Vielleicht würde ich die gefürchtete Alexander-Hornkugel ins Spiel bringen, die zeigt, dass sich analoge Fragen im dreidimensionalen Raum nicht so einfach beantworten lassen, wie man denken mag.

Aber aus pädagogischer Sicht halte ich das für eine ziemlich schlechte Reaktion. Wenn wir uns im Unterricht die Zeit nehmen, Dinge zu beweisen, die offensichtlich erscheinen, und darauf bestehen, dass diese Aussagen nicht offensichtlich sind, werden unsere Schüler eine tiefe Abneigung entwickeln, so wie ich es getan habe, oder sich etwas Interessanterem zuwenden, wenn der Lehrer nicht hinsieht.

Ich bevorzuge die Art und Weise, wie der Lehrmeister Ben Blum-Smith das Problem beschreibt: Damit die Schüler das Feuer der Mathematik wirklich spüren, müssen sie den Anstieg der Selbstvertrauenskurve erleben – das Gefühl, sich von etwas Offensichtlichem zu etwas nicht Offensichtlichem zu bewegen, angetrieben durch den Motor der formalen Logik. Andernfalls würden wir ihnen bloß vermitteln: »Hier habt ihr eine Liste von Axiomen, die ziemlich offensichtlich korrekt zu sein scheinen; bringt sie in Zusammenhang, bis ihr eine weitere Aussage findet, die auch ziemlich offensichtlich korrekt zu sein scheint.« Das ist so, als würde man jemandem etwas über Legosteine beibringen, indem man ihm zeigt, wie man aus zwei kleinen Steinen einen großen Stein macht. Das kann man tun, und manchmal muss man es auch, aber das ist definitiv nicht der Sinn von Lego.

Es ist doch offensichtlich besser, die Steigerung des eigenen Selbstvertrauens zu erfahren, als nur darüber zu reden. Wenn Sie es selbst erleben wollen, denken Sie einen Moment lang an ein rechtwinkliges Dreieck.

Man geht von einer Ahnung aus: Wenn die senkrechte und die waagerechte Seite festgelegt sind, ist die diagonale Seite es auch. Wenn man 3 Kilometer nach Süden und dann 4 Kilometer nach Osten geht, befindet man sich in einer bestimmten Entfernung vom Ausgangspunkt; das ist unbestritten.

Aber wie groß ist diese Entfernung? Dafür gibt es den Satz des Pythagoras, den ersten echten Lehrsatz, der jemals in der Geometrie bewiesen wurde. Er besagt, dass, wenn a und b die senkrechten und waagerechten Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks sind und c die Diagonale ist, also die sogenannte Hypotenuse, dann gilt

Wenn a gleich 3 und b gleich 4 ist, dann ist c2 gleich 32 + 42, also 9 + 16, also 25. Und wir wissen, welche Zahl, wenn man sie quadriert, 25 ergibt; es ist die 5. Das ist die Länge der Hypotenuse.

Das große Quadrat ist auf beiden Abbildungen identisch. Aber es ist auf zwei verschiedene Arten aufgeteilt. Auf der ersten Zeichnung sieht man vier Mal unser rechtwinkliges Dreieck und ein Quadrat, dessen Seiten die Länge c haben. Auf der zweiten Zeichnung sieht man ebenfalls vier Mal das Dreieck, aber die Dreiecke sind anders angeordnet, denn anstelle eines großen Quadrats in der Mitte hat man jetzt zwei kleinere Quadrate, und zwar eines mit der Seitenlänge a und eines mit der Seitenlänge b. Die Fläche, die übrig bleibt, wenn man vier Mal das Dreieck aus dem großen Quadrat herausnimmt, muss in beiden Zeichnungen gleich sein. Das bedeutet, dass c2 (die Fläche, die in der ersten Zeichnung übrig bleibt) gleich sein muss wie a2 + b2 (die Fläche, die in der zweiten Zeichnung übrig bleibt).

Wenn wir pingelig sein wollen, könnten wir uns darüber beschweren, dass wir nicht genau bewiesen haben, dass die Figur im ersten Bild tatsächlich ein Quadrat ist (dass seine Seiten alle gleich lang sind, reicht nicht aus, denn wenn man die gegenüberliegenden Ecken eines Quadrats zwischen Daumen und Zeigefinger zusammendrückt, erhält man eine diamantartige Form, die Rhombus genannt wird und definitiv kein Quadrat ist, aber dennoch vier gleich lange Seiten aufweist). Aber was soll’s. Bevor Sie das Bild sehen, haben Sie keinen Grund zu glauben, dass der Satz des Pythagoras richtig ist, aber nachdem Sie es gesehen haben, wissen Sie, warum er richtig ist. Beweise wie dieser, bei denen eine geometrische Figur zerlegt und neu zusammengesetzt wird, nennt man Zerlegungsbeweise – sie sind für ihre Klarheit und ihre Genialität bekannt. Im 12. Jahrhundert stellte der Mathematiker und Astronom Bhaskara8 einen Beweis für den Satz des Pythagoras in dieser Form dar und hielt das Bild für eine so überzeugende Demonstration, dass es seiner Meinung nach keiner verbalen Erklärung bedurfte, sondern lediglich einer Bildunterschrift, die lautet: »Schaut euch das an!«9

Der Amateur-Mathematiker Henry Perigal kam 1830 auf seinen eigenen Zerlegungsbeweis für den Satz des Pythagoras, während er sich wie Lincoln an der Quadratur des Kreises versuchte; er schätzte seine Darstellung so sehr, dass er sie sechzig Jahre später in seinen Grabstein meißeln ließ.

Jenseits der Eselsbrücke

Natürlich müssen wir Geometrie durch rein formale Schlussfolgerungen beherrschen; aber die Geometrie ist nicht nur eine Folge rein formaler Schlussfolgerungen. Wäre sie das, wäre sie nicht besser geeignet, die Kunst des systematischen Denkens zu lehren als tausend andere Dinge. Dann könnten wir ebenso gut Schachprobleme oder Sudoku unterrichten. Oder wir könnten uns ein System von Axiomen ohne jeglichen für Menschen anwendbaren Praxisbezug ausdenken und unseren Schülern auferlegen, Schlussfolgerungen daraus abzuleiten. Doch stattdessen lehren wir Geometrie, weil Geometrie zwar ein formales System, aber nicht nur ein formales System ist. Es beeinflusst die Art und Weise, wie wir über Raum, Ort und Bewegung denken. Wir können gar nicht anders, als uns auf Geometrie zu verlassen. Mit anderen Worten: Wir haben so etwas wie eine Intuition.

Der Geometer Henri Poincaré bezeichnete in einem Aufsatz von 1905 Intuition und Logik als die beiden unverzichtbaren Säulen des mathematischen Denkens. Jeder Mathematiker tendiert in die eine oder andere Richtung, und es sind die Intuitionisten, so Poincaré, die wir »Geometer« zu nennen pflegen. Wir brauchen beide Säulen. Ohne Logik wären wir hilflos, wenn wir etwas über ein tausendseitiges Polygon sagen wollten, also über ein Objekt, das wir uns in keinem sinnvollen Zusammenhang vorstellen können. Aber ohne Intuition verliert das Thema seinen ganzen Reiz. Laut Poincaré ist Euklid allerdings ein »toter Schwamm«:

Sicherlich haben Sie schon einmal die zarten Ansammlungen von Kieselnadeln gesehen, die das Skelett bestimmter Schwämme bilden. Wenn die organische Substanz verschwunden ist, bleibt nur ein zartes und elegantes Geflecht zurück. Es ist zwar nichts außer Kieselsäure vorhanden, aber das Interessante ist die Form, die diese Kieselsäure angenommen hat, und wir könnten sie nicht deuten, wenn wir uns nicht den lebenden Schwamm vorstellen könnten, der ihr genau diese Form gegeben hat. So prägen die Zusammenhänge die unsere Vorfahren vor langer Zeit intuitiv herstellten, auch wenn wir selbst diese Zusammenhänge gar nicht mehr bewusst herstellen, immer noch unser Vorstellungsvermögen, indem wir sie auf die logischen Konstruktionen anwenden, die wir an ihre Stelle gesetzt haben.

Irgendwie müssen wir den Schülern beibringen, Schlussfolgerungen zu ziehen und dabei dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass bereits ein intuitives Vorstellungsvermögen vorhanden ist, gewissermaßen ein lebendiges Schwammgewebe. Und doch wollen wir nicht zulassen, dass unsere Intuition komplett das Steuer übernimmt. Die Geschichte des Parallelenaxioms ist hier lehrreich. Euklid führte dieses als eines seiner fünf Axiome auf: »Bei einer beliebigen Linie L und einem beliebigen Punkt P, der nicht auf L liegt, gibt es nur eine einzige Linie durch P, die parallel zu L verläuft«10.

Das ist kompliziert und sperrig im Vergleich zu seinen anderen Axiomen, bei denen es sich um schlichtere Dinge handelt, wie »zwei beliebige Punkte sind durch eine Linie verbunden«. Es wäre schöner, so dachte man, wenn das fünfte Axiom aus den anderen vier abgeleitet werden könnte, was sich irgendwie originärer anfühlen würde.

Und doch blieben die Mathematiker hartnäckig, versuchten und scheiterten und versuchten und scheiterten an dem Beweis, dass das fünfte Axiom aus den anderen folgt. Schließlich zeigten sie, dass sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren, denn es gab andere Geometrien, in denen »Linie«, »Punkt« und »Ebene« etwas anderes bedeuteten als das, was diese Begriffe für Euklid (und möglicherweise auch für Sie) bedeuteten, die aber dennoch die ersten vier Axiome bestätigten, wohingegen das letzte nicht bestätigt wurde. In einigen dieser Geometrien gab es unendlich viele Linien durch P, die parallel zu L verliefen, in anderen gab es überhaupt keine.

Ist das nicht Betrug? Wir haben nicht nach irgendwelchen entlegenen bizarren geometrischen Gebilden gefragt, die seltsamerweise auch als »Linien« bezeichnet werden. Wir haben von tatsächlichen Linien gesprochen, auf die Euklids fünfter Satz mit Sicherheit zutrifft.

Sicher, es steht Ihnen frei, diesen Kurs einzuschlagen. Aber damit verschließt man sich absichtlich dem Zugang zu einer ganzen Welt von Geometrien, nur weil sie nicht der Geometrie entspricht, die man gewohnt ist. Die nicht-euklidische Geometrie erweist sich als grundlegend für große Bereiche der Mathematik, einschließlich der Mathematik, die den physischen Raum beschreibt, den wir tatsächlich bewohnen. (Darauf werden wir etwas weiter unten zurückkommen.) Wir hätten uns aus festgefahrenen, euklidisch-puristischen Gründen weigern können, sie zu entdecken. Aber das wäre für uns ein Verlust gewesen.

Auch hier ist eine sorgfältige Abwägung zwischen formaler Logik und Intuition erforderlich. Angenommen, ein Dreieck ist gleichschenklig,

Das heißt, die Seiten AB11 und AC sind gleich lang. Hier ein Theorem: Die Winkel an B und C sind ebenfalls gleich.

Diese Aussage wird als pons asinorum, als »Eselsbrücke« bezeichnet, weil fast jeder von uns vorsichtig über sie hinübergeführt werden muss. Euklids Beweis hat etwas mehr zu bedeuten als die Sache mit den rechten Winkeln oben. Wir springen hier gewissermaßen ins kalte Wasser, denn in einem echten Geometriekurs würden wir erst nach mehreren Wochen der Vorbereitung auf die Eselsbrücke stoßen. Deshalb nehmen wir also Euklids Satz 4 aus Buch I als gegeben hin, der besagt, dass man, wenn man zwei Seitenlängen eines Dreiecks und den Winkel zwischen diesen beiden Seiten kennt, auch die verbleibende Seitenlänge und die beiden verbleibenden Winkel kennt. Das heißt, wenn ich Folgendes zeichne:

Dann gibt es nur eine Möglichkeit, den Rest des Dreiecks zu »vervollständigen«. Man kann es auch anders ausdrücken: Wenn ich zwei verschiedene Dreiecke habe, bei denen zwei Seitenlängen und der Winkel dazwischen gleich sind, dann sind alle Winkel und alle Seitenlängen der beiden Dreiecke gleich. Sie sind, wie es in der Geometersprache heißt, »kongruent«.

Wir haben dies bereits für den Fall geltend gemacht, dass der Winkel zwischen den beiden Seiten ein rechter Winkel ist, und ich glaube, das ist unabhängig von der Art des Winkels für jeden verständlich.

(Es trifft übrigens auch zu, dass, wenn die drei Seitenlängen zweier Dreiecke übereinstimmen, die beiden Dreiecke kongruent sein müssen; wenn die Seitenlängen zum Beispiel 3, 4 und 5 sind, muss das Dreieck das oben gezeichnete rechtwinklige Dreieck sein. Aber das ist weniger offensichtlich, und Euklid beweist es erst etwas später, als Proposition I.8. Wenn Sie glauben, dass dies selbstverständlich ist, sollten Sie Folgendes bedenken: Wie steht es mit einer vierseitigen Figur? Erinnern Sie sich an die Raute, der wir gerade begegnet sind; sie hat dieselben vier Seitenlängen wie ein Quadrat, ist aber definitiv kein Quadrat).

Nun zum pons asinorum. So könnte ein zweispaltiger Beweis aussehen.

L sei eine Linie durch A, die den Winkel BAC halbiert

okay, das akzeptiere ich

D sei der Punkt, an dem L die Linie BC halbiert.

immer noch kein Einwand

Hey, ich bin’s noch mal, ich weiß, wir sind hier mitten im Beweis, aber wir haben einen neuen Punkt gemacht und ein neues Liniensegment AD erzeugt, also sollten wir unser Bild lieber aktualisieren! Übrigens: Erinnern Sie sich an unsere Hypothese, dass unser Dreieck gleichschenklig ist? Daraus folgt, dass AB und AC die gleiche Länge haben; das werden wir jetzt nutzen.

AD und AD haben die gleiche Länge

ein Segment ist mit sich selbst identisch

AB und AC haben die gleiche Länge

vorausgesetzt

die Winkel BAD und CAD sind kongruent

Wir haben mit AD den Winkel BAC halbiert

die Dreiecke ABD und ACD sind kongruent

Euklid I.4, ich sagte ja, dass wir das brauchen

Winkel B und Winkel C sind gleich

die jeweiligen Winkel in kongruenten Dreiecken sind gleich groß

QED.12

Dieser Beweis ist etwas anspruchsvoller als der erste, den wir gesehen haben, denn man muss tatsächlich etwas machen. Man erfindet eine neue Linie L und gibt dem Punkt, an dem L auf BC trifft, den Namen D. Das erlaubt es einem, B und C mit den Seiten zweier neu entstandener Dreiecke ABD und ACD zu verbinden, von denen wir dann zeigen, dass sie kongruent sind.

Aber es gibt einen raffinierteren Weg, der etwa sechshundert Jahre nach Euklid von Pappos von Alexandria, einem anderen nordafrikanischen Geometer, in seinem Kompendium Synagoge niedergeschrieben wurde (was sich in der Antike auf eine Sammlung von geometrischen Sätzen beziehen konnte, nicht nur auf eine Versammlung von Juden beim Gebet).

AB und AC haben die gleiche Länge

vorausgesetzt

der Winkel bei A entspricht dem Winkel bei A

ein Winkel ist mit sich selbst identisch

AC und AB haben die gleiche Länge

das hast du schon gesagt; worauf willst du hinaus, Pappos?

die Dreiecke BAC und CAB sind kongruent

wieder Euklid I.4

Winkel B und Winkel C sind gleich

die jeweiligen Winkel in kongruenten Dreiecken sind gleich groß

Moment mal, was ist da passiert? Es schien so, als würden wir nichts tun, und dann tauchte auf einmal die gewünschte Schlussfolgerung aus diesem Nichts auf, wie ein Kaninchen, das aus dem nicht vorhandenen Hut springt. Das erzeugt ein gewisses Unbehagen. Das war nicht die Art von Dingen, die Euklid selbst gerne gemacht hat. Aber es ist, jedenfalls für mich, ein echter Beweis.