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London im Herbst 1888: Ein brutaler Serienmörder versetzt die Bevölkerung des East Ends in Angst und Schrecken. Die Polizei kann dessen Taten, die von Mord zu Mord an Grausamkeit und Perfidität zunehmen, nicht verhindern. Wer ist dieser Unbekannte, der in kürzester Zeit unerkannt auf belebten Straßen mordet, ohne eine Spur zu hinterlassen? Ein sehr persönliches Motiv veranlasst den beratenden Detektiv Sherlock Holmes, die Ermittlungen aufzunehmen. Wird es ihm gelingen, die grausame Mordserie zu stoppen? Bei den „geheimen Fällen des Meisterdetektivs" handelt es sich ursprünglich um eine Hörspielserie des preisgekrönten Hörspiellabels TITANIA MEDIEN mit exklusiven Geschichten rund um den Meisterdetektiv Sherlock Holmes und seinen Begleiter und Chronisten Dr. Watson. Nun endlich erscheinen die spannenden Fälle des beliebten Ermittler-Duos auch als eigenständige Buchreihe mit sowohl neuen als auch bereits vertonten Geschichten. Die Hörspiele zur Serie sind auf allen gängigen Download- und Streaming-Plattformen oder auf CD erhältlich.
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Seitenzahl: 140
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Arthur Conan Doyle
Marc Gruppe
Im Schatten des Rippers
1. Auflage 2025
Copyright © 2025 Titania Medien GmbH
Elberfelder Straße 47, 40724 Hilden
Basierend auf einem Hörspiel von Marc Gruppe
Buchbearbeitung: Stephan Bosenius
Lektorat: Silke Horvath/Dr. Daniela Stöger
Illustration: Bastien Ephonsus
Satz und Layout: Lars Auhage
Sherlock Holmes Logo und Rahmen: Firuz Askin
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Dieses Werk basiert auf wahren Begebenheiten, ist aber dennoch Fiktion. Ähnlichkeiten der nicht historisch verbürgten Charaktere und Situationen mit lebenden oder toten Personen sind unbeabsichtigt und rein zufällig.
ISBN: 978-3-69027-000-7
www.titania-medien.de
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Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Epilog
Buchvorstellung
Hörspiele
Weitere Bücher
Kapitel 1
Mein Name ist Dr. John Hamish Watson. Obwohl ich eigentlich bloß ein einfacher Militärarzt bin, kennt man meinen Namen mittlerweile doch in der ganzen Welt.
Dies verdanke ich einzig einem Umstand in meinem Leben – und er hat nicht das Geringste mit meinem eigentlichen Beruf zu tun. Über viele Jahre genoss ich das Privileg, die Ermittlungsarbeit meines Freundes Sherlock Holmes als Chronist begleiten zu dürfen. Es war mir stets ein Vergnügen, meine Leser mit den Details der Abenteuer des Meisterdetektivs in Erstaunen zu versetzen.
Mitunter gab es aber auch Fälle, deren Berichte aus vielfältigen Gründen zunächst ausdrücklich nicht für eine Veröffentlichung bestimmt waren. Meist entsprang dies dem Wunsch der Auftraggeber nach Diskretion oder es war schlicht der Brisanz der geschilderten Ereignisse geschuldet. Versiegelt lagerten diese Berichte in einem Archiv, bis endlich die Zeit gekommen war, auch die geheimen Fälle des Meisterdetektivs zu erzählen.
Der Fall, in dem Holmes es mit dem sicherlich brutalsten Verbrecher seiner Laufbahn zu tun bekam, beschäftigt nicht nur mich bis heute, sondern er ist nach wie vor allwöchentlich Gegenstand von Presseberichten im In- und Ausland.
Man schrieb das Jahr 1888.
Ein gutes Jahr zuvor hatte Queen Victoria ihr fünfzigjähriges Thronjubiläum gefeiert.
Damals erweckte London den Eindruck, aus zwei Städten zu bestehen. Auf der einen Seite schien es im Schatten des opulenten und verschwenderischen Pomps der Aristokratie geradezu aufzublühen, auf der anderen Seite herrschte tiefste und bedrückendste Armut. Der Bau der neuen Shaftesbury Avenue hatte, ebenso wie der Ausbau der Eisenbahnlinie, von den Einwohnern einen gewaltigen Tribut gefordert, denn große Gebiete, die zuvor Wohnraum für Menschen mit geringem Einkommen geboten hatten, waren dafür abgerissen worden. Viele Geringverdiener oder Arbeitslose fanden sich daher mit einem Mal ohne Dach über dem Kopf wieder. Nacht für Nacht kämpften sie mit den zahlreichen anderen, denen es genauso ergangen war, um einen Schlafplatz in den berüchtigten Stadtteilen des East Ends, von denen Whitechapel einen besonders schlechten Ruf hatte.
Fast achtzigtausend Menschen lebten in diesem durchaus überschaubaren Viertel, das überwiegend aus Lagerhallen, Fabriken, Mietshäusern, Schlachthöfen, Wirtshäusern und dubiosen Herbergen bestand.
Die Verlierer des industriellen Aufschwungs, die kaum integrierten Zuwanderer unterschiedlichster sozialer Herkunft, mischten die Bevölkerung dieses Molochs im Stadtgebiet religiös, kulturell und sprachlich auf. Die meisten Mietshäuser waren alles andere als hochwertig gebaut und binnen kurzer Zeit zu weiten Teilen massiv von Ungeziefer befallen. Schwamm wucherte in den bröckelnden Mauern. Großfamilien lebten in schmutzigen Zimmern, die nicht größer als ein paar Quadratmeter waren. In Whitechapel gab es zudem über zweihundert Wohnheime, in denen man für vier Pence in einem stickigen, überfüllten Schlafsaal oder für acht Pence in einem verrotteten Doppelbett übernachten konnte. Wer dort keinen Unterschlupf fand, dem blieb in der Nacht lediglich die Hoffnung auf einen geschützten Platz im Freien oder in einem der völlig überfüllten Armenhäuser.
Nach langer Zeit hatte mich mein Weg wieder einmal ins St. Bartholomew‘s Hospital geführt, weil ich dort einen Kollegen um ein Gespräch über einen meiner Patienten gebeten hatte.
Während ich auf ihn wartete, fiel mir auf, wie viele auf eine Behandlung hoffende Menschen sich im Wartebereich der Notaufnahme befanden und vor allem, wie hoch die Zahl derer war, die wieder weggeschickt wurden, obwohl sie sicher auch für medizinische Laien als schwer krank erkennbar waren.
Auf meine empörte Nachfrage, warum dies so gehandhabt wurde, teilte mir mein Kollege mit, dass dies ein ganz normaler Vorgang sei. »Schauen Sie sich doch einmal in den Armenvierteln von London um, Dr. Watson. Im trüben Gaslicht ignorieren Betrunkene in schöner Regelmäßigkeit die Schlaglöcher auf den Bürgersteigen und Pflaster-Straßen und verletzen sich beim Sturz. Andere landen in der stinkenden Gosse und infizieren sich dabei in der trüben Brühe mit Krankheitserregern. Und damit noch nicht genug! Sehen Sie sich bloß mal die frisch gewaschenen Kleidungsstücke auf den Wäscheleinen an! Sie sind schwarz vom Ruß und stinken nach den Abgasen der Kohleöfen! Diese Abgase atmen die Menschen hier rund um die Uhr ein. Die unzähligen Prostituierten sind größtenteils Überträgerinnen von Geschlechtskrankheiten, und in vielen Notunterkünften schlafen Hunderte von Menschen in einem Raum, die wer weiß woher kommen. Sie werden sich denken können, wie schnell sich da Seuchen, Infekte und venerische Leiden verbreiten. Wir haben bedauerlicherweise nicht die finanziellen Mittel und erst recht nicht genügend Betten, um all die Obdachlosen, Prostituierten, Alkoholiker, Taugenichtse und Kriminellen zu verarzten. Viele nächtigen schon allein deshalb auf der Straße, weil sie nicht auf ihren Alkoholkonsum verzichten wollen, was jedoch die strikte Voraussetzung für die Aufnahme im Armenhaus ist.«
»Aber diese Menschen werden eines frühen Todes sterben, wenn sie nicht ausreichend medizinisch versorgt werden!«, rief ich erschüttert.
»Und wenn schon«, meinte mein Kollege achselzuckend und für meinen Geschmack reichlich kaltschnäuzig. »Früher oder später sterben sie doch sowieso! Geben wir ihnen Medikamente, dann verkaufen sie diese in acht von zehn Fällen im Nullkommanichts für eine Flasche Schnaps.«
Völlig außer mir über eine solche in meinen Augen verwerfliche und mit dem Hippokratischen Eid, den wir Ärzte schwören, wohl kaum zu vereinbarende Einstellung, verließ ich das Krankenhaus und berichtete zu Hause meiner Frau von dem, was ich Erschütterndes gesehen und gehört hatte.
»Ich habe eine Entscheidung getroffen, die mir nicht leichtgefallen ist, doch ich kann nicht anders. Ich muss etwas unternehmen, Mary. Es ist mir nicht möglich, tatenlos zuzusehen, wie Menschen reihenweise sterben, nur weil sie arm sind. Und das in London! Es ist meine Pflicht als Arzt, etwas dagegen zu tun. So gut ich es eben vermag!«
»Dein Mitgefühl in Ehren, John, aber wenn selbst das große St. Bartholomew’s Hospital das nicht schafft, wirst du als Einzelperson wohl kaum etwas ausrichten können.«
Tief in meinem Herzen war mir bewusst, dass sie im Grunde Recht hatte. Verzweiflung, Wut und ein unangenehmes Gefühl von Ohnmacht erfüllten mich. Mary und ich waren damals noch nicht allzu lange verheiratet. Ich liebte meine Frau abgöttisch und war sicher, dass sie mir gegenüber dasselbe empfand. Dennoch waren bereits rasch nach unserer Eheschließung dunkle Wolken am Horizont aufgezogen, denn mein Freund Sherlock Holmes hatte sich völlig zurückgezogen und ermittelte nicht mehr. Angeblich plante er, sich eine Weile ausschließlich seiner Violine zu widmen, um sich von unserem gemeinsamen Fall »Ein Skandal in Böhmen« zu erholen. Für mich hingegen stand felsenfest, dass er nach Irene Adlers abrupter Abreise unter schwerstem Liebeskummer litt, was er selbst jedoch vehement abstritt. Zwar genoss ich mein junges Eheglück und die Zeit in meiner eigenen Praxis sehr und hatte auch keinerlei Veranlassung, mich über mangelnde Beschäftigung zu beklagen, aber ich begann zunehmend, die intellektuellen Diskussionen mit Holmes und den Nervenkitzel bei den Ermittlungen mit dem Meisterdetektiv schmerzlich zu vermissen. Zumal die Behandlungen der vielfältigen Wehwehchen meiner Patienten aus dem gehobenen Bürgertum bei mir leider keinerlei Gefühl von Erfüllung hinterließ. Armen Menschen zu helfen, die Nacht für Nacht unter schlimmsten hygienischen Bedingungen um einen Schlafplatz und ihr Leben kämpfen mussten, schien mir demgegenüber eine weitaus sinnvollere Aufgabe zu sein, als allabendlich in einen elitären Club oder auf einen vornehmen Empfang zu gehen, um dort dann oberflächliche Unterhaltungen zu führen.
Mary vermochte meinen diesbezüglichen Sinneswandel nicht recht nachzuvollziehen und reagierte unerwartet verletzt und mit großem Unverständnis, als ich ihr mitteilte, dass ich beabsichtigte, für eine Weile nach Whitechapel zu ziehen, um dort unentgeltlich kranke Menschen ärztlich zu versorgen.
Ehrlich gesagt war ich zum damaligen Zeitpunkt selbst noch nicht gänzlich von meinem Vorhaben überzeugt. Es war mir schmerzlich bewusst, dass es kühn, wenn nicht sogar verrückt von mir war, mich in einem Stadtteil niederzulassen zu wollen, vor dem sich sogar die Polizisten fürchteten, die dort rund um die Uhr ihren Dienst versahen.
In George Yard war gerade ein grausamer Mord an einer Frau namens Martha Tabram verübt worden, die erstochen am Fuße einer Treppe aufgefunden worden war. Wie man sich allerorten hinter vorgehaltener Hand zuflüsterte, war der Täter noch auf freiem Fuß.
Marys schieres Entsetzen und ihre ablehnende Haltung gegenüber meinen Zukunftsplänen schienen also in gewisser Weise durchaus nachvollziehbar. Gleichzeitig aber fühlte ich mich von meiner Mission so erfüllt, dass es kein Zurück mehr für mich gab. Unter den wortreichen Protesten, Tränen, Beschimpfungen und Drohungen meiner Frau organisierte ich daher, durchaus etwas trotzig, meinen Umzug in eine Umgebung, die elender und brutaler war, als ich es mir je hätte vorstellen können. Denn so richtig wurde mir erst bewusst, wie privilegiert ich bis zu diesem Zeitpunkt mein ganzes Leben lang gelebt hatte, als ich in mein kleines Zimmer in der Goulston Street eingezogen war.
Die Straße, in der meine neue Bleibe lag, wurde von den sogenannten Wentworth Dwellings flankiert. Das waren lange, schmucklose Wohnblocks, die an Fabrikgebäude oder Militärkasernen erinnerten. Außer mir wohnten in dem Gebäudekomplex fast ausschließlich Juden, die sich ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht durch das Schneider-Handwerk oder andere handwerkliche Tätigkeiten verdienten.
Das mir entgegenschlagende Misstrauen der Bewohner dieses Elendsviertels war immens.
Statt der erwarteten Dankbarkeit ließ mich eine beinahe feindselige Ablehnungshaltung hart auf dem Boden der Realität aufschlagen, als ich damit begann, potenzielle Patienten auf der Straße anzusprechen. Gleichzeitig erfuhr ich dabei vieles über erschütternd tragische Schicksale.
So hatte Mary Ann Nichols, genannt Polly, ihren Mann, ihre fünf Kinder und ihr finanziell abgesichertes Leben verlassen und war dann – auch wegen ihrer starken Alkoholsucht – irgendwann obdachlos geworden. Ich traf zufällig am 31. August auf dem Weg zum Frying Pan Pub an der Ecke Thrawl Street in Spitalfields auf Polly. Wieder einmal war sie, wie ich rasch bemerkte, im Begriff, das Geld für eine Übernachtung im wenigstens ansatzweise sauberen und nur für Frauen zugänglichen Wilmott-Wohnheim lieber für Alkohol auszugeben. Sie trug eine auffällige Mütze aus schwarzem Samt und schimpfte wie ein Rohrspatz über ein Wohnheim namens White House, in dem sowohl Männer als auch Frauen untergebracht würden, und in das sie deshalb auf keinen Fall zurückkehren wolle. Ich war durchaus erstaunt über die verbliebene Würde dieser Frau, die sich bewusst war, dass sie nach einer durchzechten Nacht heute wohl im Freien übernachten musste, aber gleichzeitig ihre eigenen Vorstellungen von Moral nicht aufzugeben bereit war. Ein zweites Mal traf ich sie kurz vor halb drei Uhr nachts, als ich wegen eines Brandes im Trockendock von Shadwell wieder auf die Straße ging, um nach einigen Verletzten zu sehen. Sie lehnte mit ihrer Freundin, einer gewissen Ellen Holland, an einer schmierigen Hauswand in der Osborn Street. Dabei konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten, so volltrunken war sie mittlerweile.
»Dreimal schon hatte ich genug Geld für einen Schlafplatz, und jedes Mal habe ich es wieder ausgegeben, Doktorchen!«, rief sie mir kichernd zu.
Womit sie das Geld verdient hatte, blieb ihr Geheimnis. Ich fragte nicht danach, sondern setzte meinen nächtlichen Weg fort, der mich durch die Buck’s Row führte. Gedankenverloren schlenderte ich an einer Reihe kleiner Arbeiterhäuser vorbei und passierte dabei auch eine langgestreckte Fassade mit einem größeren Einfahrtstor.
Was ich damals nicht ahnte, war, dass ich Polly Nichols soeben zum letzten Mal gesehen hatte, und dass ich zudem gerade an genau jenem Ort vorbeigeschritten war, der wenig später zu einem blutigen Tatort werden sollte.
Am ersten September klopfte ein für diese Gegend erstaunlich gut gekleideter Mann an meine Tür. Er trug einen leicht abgewetzt wirkenden schwarzen Gehrock, eine farblich identische Hose, die schon bessere Zeiten gesehen hatte, dazu eine passende Krawatte und einen Zylinder. Mir fiel sofort auf, dass der Mann ziemlich aufgewühlt zu sein schien, denn er war nicht imstande, mir länger in die Augen zu sehen.
Zugegebenermaßen irritierte mich dieser unerwartete Besuch eines mir völlig Fremden.
Ich fragte daher: »Kann ich etwas für Sie tun?«
»Sie sind doch der Arzt, der hier unentgeltlich den Bedürftigen hilft!«, kam er gleich zur Sache. Ich bejahte.
»Sie kennen doch auch eine Mary Ann Nichols, genannt Polly, wie ich gehört habe.« Als ich nickte, fuhr er fort: »Mein Name ist William Nichols. Ich bin Pollys Ehemann, aber wir leben schon seit längerem getrennt. Jetzt hat mich die Polizei gebeten, mir im Leichenschauhaus eine Tote anzuschauen, weil es sich angeblich um Polly handelt. Ich … ich soll sie identifizieren.«
»Um Himmels Willen!«, rief ich erschüttert aus. »Das kann doch nur ein Irrtum sein! Ich habe Polly gestern Nacht noch gesehen! Da war sie quicklebendig!«
»Um ehrlich zu sein, habe ich Angst, allein dorthin zu gehen. Ich habe noch nie einen Leichnam gesehen. Und wenn das wirklich Polly sein sollte, die da liegt, dann werde ich bestimmt sofort ohnmächtig. Ich habe sie früher sehr geliebt, wissen Sie?«
»Wenn Sie es sagen«, erwiderte ich mitfühlend.
»Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie mich als Arzt begleiten würden. Und da Sie sie ja auch kennen …«, er stockte und verbesserte sich rasch, »… kannten, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir zur Seite stehen könnten.«
Selbstverständlich willigte ich ein, William Nichols auf dem schweren Gang, den er vor sich hatte, zu begleiten. Ich kleidete mich in Windeseile dem Anlass entsprechend um, und da es unlängst zu nieseln begonnen hatte, griff ich zudem nach meinem Regenschirm.
Erfüllt von der vagen Hoffnung, dass die Tote eine der unzähligen anderen gefallenen Frauenzimmer dieser Gegend sein würde, schritt ich neben dem innerlich und äußerlich zunehmend zitternden Mann her, der einst mit Polly eine Familie gegründet und einer rosigen gemeinsamen Zukunft mit ihr entgegengesehen hatte.
In düstere Gedanken versunken erreichten wir das Leichenschauhaus. Der diensthabende Inspektor, Frederick Abberline mit Namen, war ein Mittvierziger mit schütterem Haar und freundlichen Augen. Nach einer sehr knappen Begrüßung führte er uns durch die Hintertür in einen Hof, an dessen Seite wir einen einfachen gemauerten Schuppen sahen. Nachdem wir eingetreten waren, nahmen wir beide, einem spontanen Impuls folgend, beinahe gleichzeitig unsere Hüte ab.
In der Mitte des Raumes stand ein schlichter Sarg aus Kiefernholz. Als der Deckel mit einem unschönen Knirschen aufgeklappt wurde, begann der nun vollends erbleichte Mann neben mir augenblicklich zu wimmern.
Auch ich erkannte Polly Nichols sofort wieder. Ihre Halsschlagadern waren durchtrennt worden, zudem wies ihr nackter Leichnam eine Vielzahl an Schnittwunden im Bereich des Unterleibs auf.
Der Inspektor teilte uns mit tonloser Stimme mit, sie sei heute früh leblos in der Buck’s Row aufgefunden worden. Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte. Polly war vor neben dem Tor liegend gefunden worden, das ich in der vergangenen Nacht passiert hatte!
»Ich verzeihe dir!«, flüsterte neben mir der bis ins Mark erschütterte Gatte der Toten. »Ich vergebe dir alles, was du mir und den Kindern angetan hast!«
Es dauerte eine Weile, bis Inspektor Abberline den Witwer hinausgeleiten konnte. Ich setzte ihn schließlich in eine Droschke, die ihn nach Hause in die Coburg Road bringen sollte.
Fünf Kinder hatten ihre Mutter verloren. Das sechste Kind des Paares war schon viele Jahre zuvor begraben worden.
Ich musste an Sherlock Holmes denken. Sollte ich ihn wegen des abscheulichen Mordes an dieser unglücklichen Frau aufsuchen, um ihn zu bitten, den Täter zu ermitteln?