Sherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers - Franziska Franke - E-Book

Sherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers E-Book

Franziska Franke

4,3

Beschreibung

Sherlock Holmes verlängert überraschenderweise seinen Aufenthalt in Florenz, da er den Auftrag erhalten hat, den Einbruch im Hause eines Kunstsammlers aufzuklären. Der Täter, der die überaus wertvollen Renaissancegemälde verschmäht hat, hat versucht, das riesige Gruppenporträt des zeitgenössischen Malers Adriano Benetti aus Livorno zu entwenden, auf dem fünf Mitglieder eines esoterischen Clubs namens Nuovo Circolo del Fuoco d'Inferno dargestellt sind. Was als ein wenig spektakulärer Routinefall beginnt, erhält eine ganz neue Brisanz, als der Künstler Adriano Benetti tödlich verunglückt, bevor Holmes mit ihm sprechen kann. Der englische Meisterdetektiv bezweifelt, dass Benetti wirklich einem Unfall zum Opfer gefallen ist. Er findet, unterstützt von seinem eifrigen Gehilfen, dem Buchhändler David Tristram, heraus, dass die meisten der auf dem Porträt dargestellten Personen finstere Geheimnisse zu verbergen haben.

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Franziska FrankeSherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Sherlock Holmes und die Büste der Primavera

Sherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers

Franziska Franke, in Leipzig geboren, hat nach ihrer Schulzeit, die sie in Essen, Schwetzingen und Wiesbaden verbrachte, an den Universitäten von Mainz und Frankfurt Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Kunstpädagogik studiert. Sie wohnt heute mit ihrem Mann in Mainz, wo sie freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist. Mit ihrem Krimi-Debüt »Sherlock Holmes und die Büste der Primavera« erweckte sie den größten Detektiv der Weltliteratur zu neuem Leben und begeisterte Krimifans und Holmesianer.

Franziska Franke

Sherlock Holmesund der Clubdes Höllenfeuers

Originalausgabe

© 2010 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von:

Henri Fantin-Latour – Hommage à Delacroix (1864)

Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-940077-93-6

E-Book-ISBN 978-3-95441-040-8

Vorwort des Herausgebers

Nach der Lektüre des ersten Bandes der Manuskripte, die auf dem Dachboden des Hauses aufgetaucht sind, das der Florentiner Arzt Dottor Lorenzo Tristram-Boldoni einer gemeinnützigen Stiftung hinterlassen hat, bezweifelte ich ernsthaft, dass auch die anderen Bände Berichte über den Aufenthalt von Sherlock Holmes in Florenz enthielten. Zu endgültig erschien der Abschied von Holmes, den Mister Tristram auf der letzten Seite des ersten Bandes schilderte.

Um nicht Gefahr zu laufen, für teures Geld die Geschäftsberichte der Firma Boldoni oder die Tagebücher des mitteilungsfreudigen Mister David Tristram ins Italienische übersetzen zu lassen, war es unerlässlich, den folgenden Band der Manuskripte genauer in Augenschein zu nehmen. Ohne übertriebenen Optimismus öffnete ich daher das ledergebundene Buch im Quartformat, in dessen Deckel die lateinische Zahl II. eingraviert war. Seine vergilbten, von Stockflecken übersäten Seiten waren mit winzigen Buchstaben in der gleichen kaum lesbaren Schrift vollgekritzelt, die ich schon aus dem vorangegangen Band kannte. Zu meiner freudigen Überraschung gelang es mir, beim Durchblättern mehrfach das Wort Holmes zu entziffern, weshalb ich den Band wieder in die versierten Hände der jungen Anglistin gegeben habe, die bereits den ersten Band übersetzt hat.

Nun, wo ich die Übersetzung in Händen halte, stelle ich mit Befriedigung fest, dass sich die Kosten mehr als ausgezahlt haben. Durch den vorliegenden Text konnte der Schleier wieder ein wenig gelüftet werden, der die Jahre 1891 bis 1894 verhüllt, in denen alle Welt glaubte, dass Holmes bei den Reichenballfällen gestorben sei.

Bekanntlich war es ihm aber im letzten Augenblick gelungen, sich in Sicherheit zu bringen. Da er jedoch nicht wusste, ob auch sein Kontrahent Professor Moriaty den Zweikampf am Wasserfall überlebt hatte, war Holmes vorsichtshalber unter dem Decknamen Henry Baker Radcliffe in Florenz untergetaucht. Dort hatte ihn der englische Buchhändler David Tristram wiedererkannt und zur Übernahme eines Fall überredet, der Holmes in die Villa des Kunsthändlers Mortimer Hopper geführt hatte, in der es angeblich spukte. Holmes entlarvte jedoch den angeblichen Spuk als faulen Zauber.

Florenz, den 2.1.2009,Giorgio Battista Scalzi, Anwalt und Notar

1. Ein unerwartetes Wiedersehen

Es war ein drückend heißer Morgen im Juni des Jahres 1891, und ich saß allein in der Küche der Boldoni und studierte die Tageszeitung. Vor einer Woche hatte ich sowohl meiner schlecht bezahlten Arbeitsstelle in der Buchhandlung Niccolò Machiavelli als auch unserer schäbigen Mietwohnung mit der neugierigen Hausmeisterin Lebewohl gesagt. Meine Frau und ich wohnten nun in dem Haus an der Piazza Santa Croce, das seit dem Tod meines Schwiegervaters meinem Schwager Andrea gehörte.

Ich war derart in die Lektüre eines Artikels über einen spektakulären Juwelendiebstahl in einem Florentiner Hotel vertieft, dass ich zuerst gar nicht bemerkte, wie Giovanna, die Haushälterin der Boldoni, mit mir sprach. Plötzlich schnappte ich »Mister Baker Radcliffe möchte Sie sprechen« auf und legte die Zeitung beiseite.

»Wer möchte mich sprechen?«, fragte ich zurück, da ich glaubte, mich verhört zu haben.

Konnte es tatsächlich sein, dass Sherlock Holmes, der in Florenz diesen Decknamen verwendet hatte, mich sprechen wollte? Hatte er Italien nicht längst den Rücken gekehrt?

»Mister Baker Radcliffe«, wiederholte Giovanna missmutig. Wie sie mit vor der Brust verschränkten Armen im morgendlichen Gegenlicht neben mir stand, war sie eine imposante Erscheinung. »Er erwartet Sie draußen, vor dem Haus.«

Noch immer glaubte ich, dass es sich nur um ein Missverständnis handeln konnte. »Aber er ist doch auf dem Weg nach Indien?«, entfuhr es mir daher.

»Offenbar hat er es sich anders überlegt«, erwiderte die Haushälterin mit einem Gesichtsausdruck, der erkennen ließ, dass sie diesen Planwechsel bedauerte. »Ich habe ihn eben mit eigenen Augen gesehen. Man kann ihn ja kaum mit jemand anderem verwechseln.«

Die tiefsitzende Abneigung, die Giovanna gegen Holmes hegte, war weniger darin begründet, dass dieser ihre Verwicklung in den Tod Maestro Boldonis aufgedeckt hatte. Viel mehr verübelte Giovanna Holmes, dass er niemals ein freundliches Wort über ihre Kochkünste verloren hatte. Für die Haushälterin waren Gäste, die man dazu nötigen musste, die von ihr zubereiteten, köstlichen Speisen zu verzehren, eine tödliche Beleidigung.

»Warum ist er nicht ins Haus hereingekommen?«, fragte ich irritiert, denn seit wann war es üblich, Gäste auf der Straße herumstehen zu lassen?

Leider hatte das Hausmädchen an diesem Morgen frei. Sonst hätte Vittoria – die niemals einen derartigen Fauxpas begangen hätte – sicherlich die Tür geöffnet.

»Darüber hat er kein Wort verloren«, antwortete Giovanna kurz angebunden.

Am liebsten hätte ich sie aufgefordert, Holmes hereinzubitten, aber ich wollte es mir weder mit der resoluten Haushälterin verderben noch mit meinem Schwager Andrea, der noch immer darüber verstimmt war, dass Holmes auf seine Kosten in halb Italien recherchiert hatte.

»Dann sollte ich ihn nicht warten lassen«, murmelte ich also vor mich hin. »Sagen Sie ihm bitte, dass ich gleich komme!« Die letzten Worte hatte ich der Haushälterin laut zugerufen.

Sie nickte stumm. Als sie sich durch die Küchentür schob, klapperten die Schlüssel, die sie als Zeichen ihrer Herrschaft über den Haushalt an ihrem Gürtel trug.

Bevor ich mich erhob, stürzte ich noch schnell eine Tasse Kaffee herunter. Dann wickelte ich ein Gebäckstück in eine Serviette, denn die sättigende Wirkung des in Italien üblichen spartanischen Frühstücks war nicht von langer Dauer, und wer mit Holmes zusammenarbeitete, durfte nicht auf drei geregelte Mahlzeiten am Tag hoffen. »Wenn meine Frau zurückkommt, dann seien Sie doch bitte so nett, ihr mitzuteilen, dass ich mit Mister Baker Radcliffe unterwegs bin«, bat ich die Haushälterin, die mittlerweile in die Küche zurückgekehrt war.

Im gleichen Augenblick wurde mir bewusst, dass Giovanna – auch ohne meine Aufforderung – nicht nur meiner Frau Violetta, sondern der gesamten Nachbarschaft alles brühwarm auftischen würde, was sie mitbekommen hatte. Vielleicht hätte ich sie besser um Diskretion bitten sollen, da Holmes momentan großen Wert darauf legte, dass die Welt ihn für tot hielt.

»Selbstverständlich, Mister Tristram«, erklärte Giovanna mit besorgter Miene. »Hoffentlich bleiben Sie diesmal nicht wieder tagelang fort.«

»Das habe ich nicht vor«, erwiderte ich lachend, denn ich konnte der Haushälterin den Vorwurf nicht verdenken. Schließlich war er alles andere als aus der Luft gegriffen, da uns unsere letzte Zusammenarbeit immerhin bis nach Rom und Venedig geführt hatte.

»Sie sollten Mister Baker Radcliffe zum Mittagessen mitbringen«, sagte Giovanna, während ich in der Diele nach dem Hut griff. Verblüfft drehte ich mich nach der Haushälterin um, die ganz plötzlich sichtlich milder gestimmt war. »Er wird immer blasser und dünner. Er besteht ja nur noch aus Haut und Knochen.«

»Ich werde es ihm ausrichten«, versprach ich und war froh, dass Giovanna das Kriegsbeil begraben hatte und gewillt war, Gnade vor Recht walten zu lassen.

Freudig erregt wie ein Kind am Weihnachtsabend öffnete ich die Haustür, lugte hinaus und erblickte tatsächlich die lange, hagere Gestalt von Holmes, der ungeduldig auf dem Bürgersteig auf und ab ging. Einen Augenblick lang war mir zumute, als ob meine Augen mir einen Streich spielten, aber Giovanna hatte recht: Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass es tatsächlich Sherlock Holmes war! Er trug die gleiche Kleidung wie bei unserem Abschied in Venedig, nur dass er sich in der Zwischenzeit einen neuen, äußerst eleganten Spazierstock zugelegt hatte.

»Die Küche von Giovanna bekommt Ihnen gut. Sie haben in kurzer Zeit mindestens ein Pfund zugenommen!«, erklärte er, als er auch mich bemerkte. »Ich hoffe, Sie haben etwas Zeit? Wir haben nämlich einen Auftrag.«

Es war unüberhörbar, dass dies eine rhetorische Frage war. Holmes ging selbstverständlich davon aus, dass ich ganz begierig darauf sein musste, ihm bei der Ermittlungsarbeit zu assistieren. Trotzdem war ich leicht verstimmt: Zwar wusste ich mittlerweile, dass Holmes kein Freund großer Worte oder übertriebener Herzlichkeit war, aber diese Selbstverständlichkeit, mit der er plötzlich aus dem Nichts auftauchte und über meine Zeit verfügte, befremdete mich doch etwas. Trotzdem erwog ich keinen Augenblick lang, seine Frage zu verneinen, denn ich hätte dies ewig bereut.

»So viel Zeit, wie Sie wollen«, erklärte ich daher wahrheitsgemäß, denn ich hatte zwar offiziell die englische Korrespondenz der Bildhauerwerkstatt Boldoni übernommen, aber in Wahrheit gab es für mich kaum etwas zu tun, denn die Geschäfte mit ausländischen Kunden wurden in der Regel von dem Kunsthändler Mortimer Hopper abgewickelt.

»Dann sollten wir uns auf den Weg machen«, sagte Holmes voller Enthusiasmus. Er wirkte wie ein passionierter Jäger vor Beginn einer Großwildjagd. »Ein gewisser Mister Harold Percy Wilson erwartet uns bereits.«

Vorsichtig schaute ich zum Haus zurück, inständig hoffend, dass Giovanna nicht an der Tür gelauscht hatte, bevor ich mir ins Gedächtnis rief, dass die alte Haushälterin schwerhörig war und daher unser Gespräch unmöglich hatte mitverfolgen können.

Als ich mich wieder umdrehte, war Holmes bereits dabei, die kopfsteingepflasterte Piazza mit großen Schritten zu überqueren, und ich hatte Mühe aufzuholen. »Ich dachte, Sie wollten nach Indien fahren«, fragte ich, als ich ihn endlich erreicht hatte, denn es verblüffte mich immer noch, dass er plötzlich wieder aus der Versenkung erschienen war.

Holmes warf mir einen tadelnden Blick zu, aber ich war mir nicht bewusst, eine dumme Frage gestellt zu haben.

»Als Engländer bin ich zwar bestens mit Regengüssen vertraut, aber trotzdem ziehe ich es vor, erst nach dem Ende des Monsunregens in Bombay anzukommen. Da das Postschiff, das ich zu nehmen gedenke, in Brindisi ablegt, bin ich nach Florenz zurückgekehrt, wo ich unter Landsleuten bin. Ich habe eine gute Woche Zeit. Dies dürfte mehr als ausreichend sein, um einen einfachen Fall zu lösen.«

Für Holmes war dies sicherlich eine längere Ansprache. Also verkniff ich mir die Frage, warum er sich nicht vorher bei mir gemeldet hatte, denn ich wusste, dass ich Holmes’ ungesellige Art nicht persönlich nehmen durfte.

»Wohnen Sie eigentlich wieder bei Signora Rossi?«, fragte ich nach einer Weile, denn schließlich musste ich Holmes im Zweifelsfall erreichen können.

»Selbstverständlich!«, antwortete Holmes. »Ich fühle mich bei ihr schon fast zu Hause. Daher habe ich die gute Signora auch angewiesen, bis auf Weiteres in meinem Raum nichts zu verändern.«

Diese Antwort erstaunte mich nicht wenig, denn warum hatte Holmes sich in Venedig von mir überhaupt verabschiedet, wenn er offenbar geplant hatte, nach Florenz zurückzukehren?

Meine Skepsis musste sich auf meinem Gesicht abgezeichnet haben, denn Holmes fügte hinzu: »Glauben Sie, ich würde meine Stradivari einfach in Florenz zurücklassen?«

»Die hatte ich ganz vergessen«, gab ich zu.

»Ich habe Signora Rossi gebeten, die Geige mit der Post meinem Bruder Mycroft nach London zu senden, wenn ich nicht binnen drei Wochen zurückgekehrt sein sollte. Aber wie Sie sehen, blieb mir vor Abfahrt des Dampfers noch genügend Zeit, um die Stradivari bei ihr abzuholen.«

»Und wohin genau gehen wir gerade?«, fragte ich, als wir die Piazza überquert hatten. Die Glocken des Campanile von Santa Croce schlugen elf Uhr, aber die Sonne brannte mir bereits erbarmungslos auf die Schultern. »Wenn der Weg weit ist, sollten wir bei dieser Hitze lieber eine Droschke nehmen.«

»Zu dem Kunstkritiker Harold Percy Wilson«, verkündete Holmes. »Man ist in seinen Palazzo eingebrochen und hat dabei versucht, ihm ein Gemälde zu stehlen, aber dies kann uns Mister Wilson sicher selbst am besten erklären. Er wohnt nicht weit von hier, am Ende des Borgo Santa Croce, in der Via de’ Benci. Daher ist es nicht der Mühe wert, eine Droschke zu rufen.«

»Hoffentlich ist das Gemälde keine Fälschung?«, gab ich zu bedenken. »Mir ist noch immer ganz schwindlig, wenn ich an die kopierten Büsten denke, mit denen wir uns bei unserem letzten Fall herumschlagen mussten.«

»Unwahrscheinlich«, erwiderte Holmes. Dann beschleunigte er sein Tempo und signalisierte mir damit, dass ich ihn nicht länger mit Fragen malträtieren sollte.

Wenn ich irgendetwas an Holmes geradezu hasste, so war es seine Geheimniskrämerei. Stets gab er nur die allernötigsten Informationen an mich weiter, aber ich wollte diesmal endlich eine etwas aktivere Rolle bei den Ermittlungen übernehmen. »Sie könnten mir doch wenigstens mitteilen, wie Sie von dem Diebstahl erfahren haben?«, hakte ich daher hartnäckig nach, als ich wieder aufgeholt hatte.

»Von Mortimer Hopper. Unser Klient ist nämlich Mitglied des Nuovo Circolo del Fuoco d’Inferno.1«

Fast hätte ich ausgerufen: Wieso weiß ausgerechnet Mortimer Hopper, dass Sie in Florenz sind, und ich wusste es bis heute morgen nicht?, aber ich beherrschte mich, denn mir bei unserer vergangenen Zusammenarbeit klar geworden, dass ich Holmes nehmen musste, wie er war.

»Ich dachte, Hopper hätte von diesen merkwürdigen Séancen Abstand genommen?«, fragte ich nach einer Weile, zumal mir die Aussicht, mit den Freunden des zwielichtigen Kunsthändlers zu verkehren, gar nicht gefiel.

»Er wird wohl seine Meinung geändert haben«, entgegnete Holmes mit aufreizender Beiläufigkeit. »So sind die Menschen nun einmal. Nun, wo es in seiner Villa nicht mehr spukt, ist er gleich wieder zu seiner vorherigen Lebensweise zurückgekehrt.« Holmes deutete auf einen Familienpalast aus dem späten Quattrocento am Ende der Straße. »Wir haben unser Ziel erreicht. Dies ist Mister Wilsons Palazzo.«

Die zur Straße gewandte Außenfassade des Gebäudes besaß etwas Schweres, sogar Abweisendes. Das Untergeschoss aus Bossenmauerwerk war nur von winzigen, vergitterten Fenstern durchbrochen. Auch die kleinen Rundbogenfester der beiden Obergeschosse, bei denen die Mauerfugen nur noch als flache Zeichnung zu sehen waren, beleuchteten das Innere des Hauses nur höchst unzureichend. Man konnte schon auf den ersten Blick erkennen, dass es sich bei den Florentiner Stadthäusern des Quattrocento in Wahrheit um Stadtburgen handelte, die auch der Verteidigung dienten.

»Kann man mit dem Verfassen von Kunstkritiken so viel Geld verdienen?«, fragte ich erstaunt, denn der Palazzo besaß zwar nur vier Fensterachsen, aber er war gut gepflegt und befand sich in zentraler Lage.

»Einige Aufsehen erregende Studien haben ihn in Fachkreisen bekannt gemacht«, erwiderte Holmes, während er am Klingelzug zog.

Ich vermutete aber eher, dass dieser Mister Wilson die Expertisen geschrieben hatte, die aus den Skulpturen meines verstorbenen Schwiegervater Originale der Frührenaissance gemacht hatten, nachdem diese durch die Hände Mortimer Hoppers gegangen waren.

Nur wenige Sekunden später öffnete ein Diener die Tür, ein hagerer Mann unbestimmbaren Alters im schwarzen Anzug mit Stehkragen und blank polierten Messingknöpfen.

»Mister Henry Baker Radcliffe und Mister David Tristram«, sagte Holmes und gab dem Diener seine Visitenkarte.

Ich beschloss, dass die Zeit mehr als reif war, dass auch ich mir Karten anfertigen ließ, obwohl ich diese normalerweise nicht benötigte.

»Mister Wilson erwartet uns. Wir sind die Ermittler, die Mortimer Hopper ihm empfohlen hat.«

»Wenn Sie vielleicht so freundlich sind, mir zu folgen!«, forderte uns der Diener mit der unnachahmlichen Hochnäsigkeit eines englischen Butlers auf. Offenbar hatte Mister Wilson ihm bereits uns betreffende Instruktionen erteilt.

Als wir eintraten, bemerkte ich, dass der Palazzo einen Innenhof mit schön verzierten Kapitellen besaß. Wir stiegen die Treppe nach oben, die in das Piano Nobile führte. Im Vergleich zur überbordenden Pracht des Domizils von Mortimer Hopper war die Ausstattung des Palazzos einfach, aber stilvoll. Sicherlich lag dies nicht zuletzt daran, dass es sich um ein echtes Renaissance-Gebäude handelte, während in der Villa Hoppers alles unecht war.

Wir gelangten in den Salon, der eine Renaissance-Decke aus dunkelbraunen Holzbalken besaß. Den Abzug des Kamins dekorierte eine Terracottaplatte des Typs, wie sie die Familie Robbia im fünfzehnten Jahrhundert angefertigt hatte. Sie zeigte zwei Putti, die eine tabula ansata2 hielten. Diese trug die Inschrift my home is my castle, aber ansonsten schien in diesem Raum – wie überhaupt in dem gesamten Palazzo – die Zeit seit dem Quattrocento stehen geblieben zu sein.

Ein mittelgroßer, korpulenter Mann kam uns entgegen, der schwarze Beinkleider und einen dunkelgrauen Rock trug, der trotz der Hitze zugeknöpft war. Sein graumelierter, zerzauster Haarkranz und die zu großen Gläser seiner Brille verliehen ihm das Aussehen einer Eule. Seine feisten Wangen waren von ungesunder Farbe, und auch seine schlechte Haltung und die gewohnheitsmäßig zusammengekniffenen Augen zeugten von langen Stunden der Lektüre bei karger Beleuchtung.

»Mister Baker Radcliffe! Mister Tristram! Schön, dass Sie kommen konnten!«, begrüßte er uns, und die Erleichterung stand ihm ins blasse Gesicht geschrieben. »Sie trinken doch ein Gläschen Sherry mit mir, bevor wir uns über diese schreckliche Angelegenheit unterhalten?«

Ehe Holmes ablehnen konnte, hatte uns der Kunstkritiker schon auf zwei unbequeme Savonarola-Stühle komplimentiert, deren authentische Wirkung sicherlich nicht durch die Verwendung von Kissen gelitten hätte. Er holte eine Flasche und drei Gläser vom Kaminsims und goss mit einer fahrigen Handbewegung die Drinks ein. Der besorgten Miene des hinter ihm stehenden Dieners war anzusehen, dass er befürchtete, der Hausherr könnte mit dieser Aufgabe überfordert sein.

»Was für ein zauberhaftes, altes Haus«, erklärte Holmes, der auf dem Weg in das Kaminzimmer – oder wie der Hausherr auch sonst diesen Raum nennen mochte – jede Einzelheit förmlich in sich aufgesaugt hatte.

»Ja, das ist es! Aber ich bin noch immer ganz erschüttert!«, sagte Mister Wilson, als er uns die zur Hälfte gefüllten Gläser reichte. »Dass man in seinem eigenen Hause nicht mehr sicher ist! Wir haben den Palazzo erst diesen Frühling bezogen! Wer hätte so etwas gedacht …«

»Ja, ich weiß«, unterbrach Holmes den Redestrom des Hausherrn. Im Gegensatz zu Mister Wilson und mir hatte er noch nicht einmal an dem Sherry genippt. »Es ist unübersehbar, dass Sie etwas derart aus der Fassung gebracht hat, dass Sie mit ihren Gewohnheiten gebrochen haben. Der Zustand Ihres Haars verrät, dass genau dies zwei Tage zurückliegt. Die leichte Druckstelle am Ringfinger ihrer rechten Hand zeigt, dass Sie üblicherweise einen Ehering tragen, den Sie aber heute Morgen im Badezimmer vergessen haben.«

Mister Wilson warf einen kurzen Blick auf seine rechte Hand, und auch ich bemerkte erst jetzt, dass er keinen Ehering trug.

»Da Sie es sagen ...«, stammelte er, völlig überwältigt von der Demonstration der von Holmes entwickelten Methode der Deduktion, die dieser ihm soeben demonstriert hatte. »Was wissen Sie sonst noch von mir?«

»Nichts, außer, dass Sie ein Kunstkritiker, ein Kirchgänger und ein Nichtraucher sind, der sich nichts aus Klaviermusik macht. Das sind Dinge, die klar auf der Hand liegen.«

Mister Wilson tat Holmes nicht den Gefallen, ihn zu fragen, wie er dies festgestellt hatte, sondern er starrte ihn nur in wortlosem Erstaunen an. Was mich betrifft, so konnte ich nur einen der Schlüsse nachvollziehen, nämlich den, dass unser Gastgeber ein eifriger Kirchgänger war, denn auf dem Kaminsims lag ein anglikanisches Gesangbuch, dessen Einband mir aus meiner Schulzeit vertraut war.

»Wenn ich Mister Hopper richtig verstanden habe, ist es dem Einbrecher nicht gelungen, etwas zu entwenden?«, ging Holmes ungerührt zur Tagesordnung über. »Wer hat dies zu verhindern gewusst?«

Mister Wilson kramte ein zerknülltes Taschentuch aus der Hosentasche und betupfte sich damit die Stirn, auf der sich Schweißperlen gesammelt hatten, was sicher nicht nur auf die frühsommerliche Hitze zurückzuführen war. Alles an Mister Wilson strahlte Nervosität und ängstliche Erregung aus. »Unser Hund hat den Einbrecher gestellt. Leider konnte der Halunke entkommen, aber er musste seine Beute zurücklassen. Wir haben auf dem Boden dieses Stück Stoff gefunden. Brutus – so heißt unser Hund – muss es dem Eindringling aus der Hose gerissen haben.« Mister Wilson überreichte Holmes einen Fetzen aus dickem, schwarzem Tuch, das der Diener ihm auf einem runden Holztablett präsentiert hatte. »Mister Hopper war es, der mir die Anschaffung eines Hundes wegen der wertvollen Kunstgegenstände in meinem Palazzo empfohlen hat. Dafür bin ich ihm im Nachhinein unendlich dankbar!«

»Haben Sie den Einbrecher gesehen?«, wollte Holmes wissen, nachdem er sich das Textilfragment unter der Lupe betrachtet hatte. »Können Sie ihn mir beschreiben?«

Harold Percy Wilson schürzte die Lippen. Dann kippte er den restlichen Inhalt seines Glases in einem Schluck hinunter. »Leider nicht! Wie ich schon sagte, der Einbrecher war bereits geflüchtet, als mich das Bellen des Hundes auf den Plan gerufen hat«, gab er zu. »Oder, wenn ich es mir recht überlege, ist es wohl besser so. Am Ende wäre der Einbrecher noch gewalttätig geworden!« Mister Wilson schwieg einen Augenblick lang, sichtlich mitgenommen von dieser unangenehmen Vorstellung.

»Können Sie sich an die genaue Uhrzeit erinnern?«, fragte Holmes.

»Selbstverständlich! Als mich der Hund geweckt hat, habe ich auf die Uhr geschaut. Es war kurz nach zwei Uhr Morgens. Meine Gattin, die ebenfalls wach war, hat mir daraufhin Vorwürfe gemacht. Sie sagte, es sei meine Idee gewesen, dass wir uns diese Bestie zulegen und ich solle daher endlich etwas gegen das grässliche Gekläffe tun. Also bin ich aufgestanden, um nach dem Rechten zu sehen. Für alle Fälle habe ich eine der alten Waffen von der Wand geholt, mit denen das Schlafzimmer dekoriert ist. Dann bin ich auf Zehenspitzen dem Bellen gefolgt, bis ich Brutus fand, der triumphierend neben dem am Boden liegenden Gemälde saß, und ich habe ihm gut zugeredet, damit er aufhörte zu bellen.«

»Und der Lärm, den das Ganze verursacht haben muss, hat keinen der Dienstboten geweckt?«, fragte Holmes mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck.

Der Hausherr griff nach einer Zeitung, die auf dem Beistelltisch lag, und fächelte sich damit Luft zu. »Doch! Er hat sie alle geweckt, aber auch unsere Dienstboten kamen zu spät, um den Dieb zu sehen.«

Holmes nickte, als ob eine seiner Theorien soeben bestätigt worden sei. »Wie viele Personen leben in Ihrem Haus?«, wollte er wissen und zog ein Notizbuch aus seiner Jackentasche.

»Fünf. Außer meiner Frau und mir sind da der Diener, den Sie eben gesehen haben, die Köchin und ein Dienstmädchen! Aber sie haben bestimmt nichts mit dem Einbruch zu tun. Ich lege meine Hand für mein Personal ins Feuer.«

»Wissen Sie, wie der Einbrecher in das Haus gekommen ist?«, fragte Holmes, ohne auf Mister Wilsons Beteuerung einzugehen.

»Durch das Fenster. Eine Scheibe war eingeschlagen, und ich fand Lehmpartikel auf dem Teppich.«

Holmes nickte und klappte mit einer entschlossenen Bewegung sein Notizheft zu. »Kann ich jetzt das Gemälde sehen, das man Ihnen stehlen wollte?«, fragte er, und wieder war dies eigentlich eine rhetorische Frage.

»Hat Ihnen Mister Hopper denn nicht erzählt, dass er das Bild in seine Villa gebracht hat, weil es dort sicherer ist?«, erwiderte Mister Wilson leicht befremdet.

»Und dann fragen Sie sich noch, wer versucht hat, bei Ihnen einzudringen?«, rief ich spontan aus.

»Sie meinen doch nicht etwa Mister Hopper?« Harold Percy Wilson lachte. »Er wusste, dass dies nicht der Mühe wert war: Das ist es gerade, was mich befremdet! Ich bewahre in diesem Haus einige sehr wertvolle Renaissance-Gemälde auf, und der Einbrecher interessiert sich ausgerechnet für ein zeitgenössisches Werk. Das ist, als ob ein Dieb in ein Juweliergeschäft einbricht und nur ein billiges Imitat mitnimmt!«

»Und warum haben Sie sich dieses Bild dann überhaupt zugelegt, wenn es weit unter Ihrem sonstigen Niveau ist?«, fragte Holmes erstaunt, und ich wunderte mich, dass er nicht gefragt hatte, warum er uns mit der Sache belästigte.

»Weil wir uns ja kaum von Tizian porträtieren lassen konnten. Dieses Kunststück bringen nicht einmal meine Kameraden vom Nuovo Circolo del Fuoco d’Inferno fertig.« Mister Wilson schwieg einen Augenblick, um eine größere Wirkung seiner Worte zu erzielen, und schaute dabei beifallheischend zwischen uns hin und her. »Ich meine, selbst meine Clubkameraden können nicht den Geist Tizians dazu bewegen, ein Porträt von uns zu malen!« Er lachte über seinen eigenen Scherz, wurde aber sofort wieder ernst. »So mussten wir uns mit einem Zeitgenossen begnügen, nämlich mit dem Florentiner Maler Adriano Benetti.«

Holmes kramte nach seinem Notizbuch und notierte sich den Namen, ohne sich nach seiner Schreibweise zu erkundigen.

»Könnten Sie mir vielleicht seine Adresse geben?«, fragte er dann, »ein Gespräch mit dem Künstler könnte sich möglicherweise als aufschlussreich erweisen.«

Mister Wilson kratzte sich hinter dem Ohr. »Da muss ich passen. Ich weiß nur, dass Adriano Benetti in Leghorn3 wohnt«, sagte er dann in einem Tonfall, als ob es ehrenrührig sei, die Adresse des Malers zu kennen, »aber Sie können sich die Reise ans Meer ersparen, wenn Sie der Kirche Santa Trinità einen Besuch abstatten. Adriano Benetti ist momentan dort mit Restaurierungsarbeiten beschäftigt.«

»Signor Benetti ist also nicht auf Ölmalerei spezialisiert?«, fragte Holmes, erstaunt von seinen Notizen aufblickend.

»Doch, eigentlich schon, aber wie ich gehört habe, kann er von seiner Kunst kaum leben. Deshalb war er froh, sich ein Zubrot verdienen zu können. Im Inneren des Gotteshauses wird nämlich gerade die Fassade der Vorgängerkirche freigelegt.«

Ich fand es erstaunlich, wie gut Mister Wilson informiert war, denn ich selbst hatte von diesen Restaurierungsarbeiten in einer der bedeutendsten Florentiner Kirchen bis zu diesem Augenblick nichts gehört.

»Bei dem Gemälde handelt es sich wahrscheinlich um ein Doppelporträt von Ihnen und Ihrer Gemahlin?«, rekapitulierte Holmes, dem die Mitteilungsfreude unseres Klienten sichtlich zu weit ging.

Auch ich hatte mich schon gefragt, wen dieses »wir« umfasste, das unser Klient verwendet hatte.

»Nein!«, erwiderte Harold Percy Wilson. »Es ist ein Gruppenporträt von fünf Mitgliedern unseres Clubs, darunter meine Wenigkeit.«

Ein grauenhafter Verdacht stieg augenblicklich in mir empor. »Ist Mortimer Hopper einer davon?«, fragte ich argwöhnisch, obwohl ich die Antwort eigentlich schon kannte.

»Selbstverständlich. Er ist eines der Gründungsmitglieder unseres Clubs und einer meiner besten Freunde.«

»Und wer sind die anderen?«, wollte Holmes wissen.

Unser Klient nannte drei weitere Namen, darunter waren zwei offensichtlich weibliche Vornamen.

»Unter den Porträtierten sind auch Frauen?«, fragte Holmes in einem Tonfall, als ob dies etwas hochgradig Befremdliches sei.

»Ja, selbstverständlich«, bestätigte unser Gastgeber. »Elisabeth Dowland und Lady Rutherford, die uns leider verlassen hat.«

Holmes notierte sich auch diese Namen.

»Sie ist gestorben?«, fragte ich und erntete dafür tadelnde Blicke von Holmes, weil ich mich eingemischt hatte, und von Mister Wilson, weil ich ihn falsch verstanden hatte.

»Nein, sie ist mittlerweile bedauerlicherweise auf ihre Güter in Devonshire zurückgekehrt.«

»Aber Miss Dowland wohnt noch in Florenz?«, wollte Holmes wissen.

»Ja, sie hat eine Wohnung nahe des Bahnhofs gemietet«, bestätigte Mister Wilson. »Miss Dowland ist eine hochintelligente und ausgesprochen gebildete Frau, aber mit den Gedichten, die sie schreibt, komme ich, ehrlich gesagt, nicht zurande.«

»Ja, ein Künstler hat es immer schwer, sich bei seinen Zeitgenossen durchzusetzen. Oft erkennt ihn erst die Nachwelt an«, bemerkte Holmes, der mittlerweile eine ganze Seite mit Notizen gefüllt hatte. »Aber ich vermute, dass ihr Club mehr als fünf Mitglieder besitzt?«

»Selbstverständlich!« Mister Wilson sah ihn erstaunt an. »Die Personen auf dem Gemälde gehören alle zum inneren Kreis des Clubs, aber nicht ich war für ihre Auswahl verantwortlich, sondern Sir Rupert Epperstone. Er hat das Gruppenporträt bei Adriano Benetti bestellt, aber da es ihm überhaupt nicht zusagte, habe ich es ihm spontan abgekauft. Wir hatten damals gerade dieses Haus erworben, und es fehlte mir noch ein Blickfang für das Speisezimmer.«

»Haben alle fünf Personen zugleich für das Gemälde Modell gesessen?«, fragte Holmes, und ich wunderte mich darüber, was dies wohl mit dem Diebstahl zu tun haben könnte.

»Glücklicherweise hat Benetti von unseren Körpern nur eine grobe Skizze angefertigt, die die Komposition festlegt. Die Gesichter hat er dann nach Fotografien angefertigt«, erwiderte Mister Wilson, und er holte wieder das Taschentuch aus der Hosentasche, um sich damit die Stirn zu trocknen. »Das Modellsitzen war doch eine höchst langweilige und anstrengende Angelegenheit«.

»Zweifelsohne«, bemerkte Holmes lakonisch, »wie lange hat das Ölbild dann bei Ihnen gehangen, bevor man versucht hat, es zu stehlen?«

Mister Wilson sah uns einen Augenblick lang echauffiert an. Dann stieß er einen lautlosen Seufzer aus. »Das ist genau, was mich so beunruhigt! Stellen Sie sich vor: Das Gemälde war erst drei Tage zuvor geliefert geworden. Die Farbe war sozusagen noch frisch.«

Holmes steckte seinen Notizblock ein.

»Würden Sie nun die Freundlichkeit besitzen, mich einen Blick auf den Tatort werfen zu lassen?«, sagte er. »Vor allem möchte ich den Speiseraum und das eingeschlagene Fenster begutachten.«

»Gern«, erwiderte Harold Percy Wilson mit einer betretenen Miene, die im Widerspruch zu seinen Worten stand. »Aber ich muss Ihnen leider schon im Vorfeld mitteilen, dass die Scheibe bereits ausgewechselt wurde und dass das Dienstmädchen auf Befehl meiner Gattin besonders gründlich im Obergeschoss geputzt hat.«

Holmes blickte unseren Klienten mit einem geradezu gequälten Gesichtsausdruck an.

»Ein derartiger Akt des Vandalismus sollte bestraft werden, und zwar mit mindestens zehn Jahren Kerkerhaft bei Wasser und Brot im Bargello«, sagte er todernst. »Aber ich möchte mir trotzdem ein Bild von der räumlichen Situation machen.«

Mister Wilson machte eine einladende Geste in Richtung Treppe, und wir folgten ihm. Da Holmes unterwegs jedes Detail der Einrichtung mit angespannter Miene studierte, kamen wir jedoch nur sehr langsam von der Stelle. »Mich erstaunt, dass wir nicht das Vergnügen hatten, die Bekanntschaft von Mrs Wilson zu machen«, sagte er unvermittelt, während er eine Stehlampe betrachtete, als ob sich der Täter darin verborgen haben könnte.

»Meine Gattin war von dem schrecklichen Vorfall so mitgenommen, dass sie für einige Tage ans Meer gefahren ist«, antwortete Mister Wilson, und ich verkniff mir mühsam den Kommentar, dass es nirgendwo in Italien mehr Diebe gab als an den Badestränden, wo sich die Touristen tummelten. Wenn die Saison begann, strömten jedes Jahr die Taschendiebe aus den armen Regionen des Landes dorthin.

Außerdem interessierte mich erneut, wieso Mister Wilson so viel Geld besaß. Diesen Palazzo hatte er – wie er selbst gesagt hatte – erst vor Kurzem erworben, und schon machte seine Frau Urlaub an der Küste! Das wollte schließlich alles finanziert sein. Von dem Hund ganz zu schweigen! Ich gleichen Augenblick fragte ich mich besorgt, wo Brutus momentan stecken mochte.

»Sie hat den Hund mitgenommen«, fügte Mister Wilson hinzu, als ob er meine Gedanken gelesen hätte, »und das obwohl sie ihn noch vor einer Woche nicht ausstehen konnte. Inzwischen fühlt sie sich sicherer, wenn Brutus sie begleitet.«

»Haben Sie den Hund Mortimer Hopper abgekauft?«, erkundigte ich mich, denn ich sah vor meinem inneren Auge einen blutdürstigen Kampfhund und war daher heilfroh darüber, dass Mrs Wilson mit der Bestie außer Haus war.

»Aber nein! Wo denken Sie hin? Wir haben ihn bei einer angesehenen Mops-Züchterin gekauft. Sein Stammbaum reicht lückenlos bis in das 18. Jahrhundert zurück!«, erwiderte Harold Percy Wilson geradezu erschrocken, und ich wunderte mich erneut über seinen Wohlstand, denn Rassehunde mit Stammbaum waren ein teures Vergnügen, auch wenn es sich um so groteske Geschöpfe wie Möpse handelte.

»Brutus ist ein Mops?«, fragte Holmes, der offensichtlich über diese Information genauso erstaunt war wie ich selbst.

»Selbstverständlich!« erwiderte Harold Percy Wilson strahlend. Dann öffnete er eine Porzellandose, die auf einem Terrazzo-Tisch lag, und holte einen goldenen Rahmen heraus, der eine Fotografie enthielt. »Das ist unser mutiger Brutus, der den Einbrecher in die Flucht gejagt hat.«

Auf dem Bild posierte eine strenge Frau um die Vierzig stocksteif für den Fotografen. Neben ihr hockte auf einem Samtkissen ein grauer Mops, der mit drolliger Ernsthaftigkeit aus dem Bild herausblickte. Beide wirkten, als ob sie geflissentlich bestrebt waren, jeglichen körperlichen Kontakt zu dem jeweils anderen zu vermeiden.

»Mrs Wilson hat nichts dagegen, dass sie an okkultistischen Sitzungen teilnehmen?«, fragte Holmes mit einem bewundernswürdig ernsten Gesichtsausdruck, während ich große Mühe hatte, nicht zu lachen.

»Nein, warum sollte sie?« Mister Wilson wirkte verblüfft. »Ganz im Gegenteil, sie ist froh, wenn ich etwas unter Menschen komme. Wissen Sie, ich bin ein äußerst häuslicher Typ. Da ich von Berufs wegen das Haus nicht verlassen muss, würde ich sonst womöglich wochenlang keinen Fuß vor die Haustür setzten. So treffe ich mich jeden Dienstag mit meinen Clubmitgliedern, während meine Gemahlin zu ihrem Damenkreis geht, um Bridge zu spielen.«

»Kann ich die Fotografie vielleicht aus der Nähe betrachten?«, fragte Holmes nachdenklich.

»Aber selbstverständlich!« Mister Wilson händigte das Medaillon vor Besitzerstolz strahlend aus. »Ist Brutus nicht ein prächtiger Bursche?«

»Ich interessiere mich eigentlich eher für Ihre Frau«, präzisierte Holmes. »Die Dame auf dem Bild ist doch Ihre Frau?«

Der Kunstkritiker nickte selbstgefällig.

»Irgendwoher kommt sie mir bekannt vor«, sinnierte Holmes.

»Das geht vielen Menschen so«, erklärte Mister Wilson mit hörbarem Stolz. »Sie war in ihrer Jugend eine gefeierte Pianistin.«

Diese Feststellung versetzte mich abermals in Erstaunen. Hatte nicht Holmes dem Kunstkritiker auf den Kopf zugesagt, dass er sich nichts aus Klaviermusik machte?

»Dies dürfte es wohl erklären. Ich habe ihre Frau sicher schon einmal auf einem Bild in der Zeitung gesehen«, sagte Holmes und gab das Medaillon behutsam seinem Besitzer zurück. »Jetzt sollten wir aber endlich den Tatort unter die Lupe nehmen.«

Wir gingen also in den Speiseraum, der einen großen Teil des ersten Geschosses einnahm und an dessen mit rotem Samt bespannter Rückwand das Gruppenporträt gehangen hatte.

»Durch dieses Fenster ist der Einbrecher eingestiegen«, sagte Harold Percy Wilson, auf eines der beiden mit Rundbögen abgeschlossenen Fenster zeigend, die den Raum mehr schlecht als recht erhellten.

Es musste ein sehr schlanker Einbrecher gewesen sein, der es geschafft hatte, sich durch dieses kleine Fenster hindurchzuzwängen. Mir wäre dies jedenfalls unmöglich gewesen.

Holmes öffnete das Fenster, und wir blickten beide hinaus. Obwohl der Palazzo hohe Decken besaß, wäre es selbst für mich ein Kinderspiel gewesen, mit einer Leiter hier hinaufzusteigen. Das einzig Gefährliche daran war – wenn man von der Gefahr, im Fensterrahmen stecken zu bleiben, absah –, dass das Fenster zur Straße führte und man deshalb riskierte, von Passanten beobachtet zu werden. Daher hatte der Einbrecher es auch verständlicherweise vorgezogen, sein schändliches Handwerk um zwei Uhr morgens auszuüben, wenn anständige Bürger schliefen.

»Ich habe keine Leiter gefunden«, erklärte Harold Percy Wilson, der offenbar umso gesprächiger wurde, je näher wir an den Tatort kamen.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete Holmes den hochflorigen Orientteppich, der den Boden des Speisesaals bedeckte und auf dem sich wohl die Lehmspuren befunden haben mochten. »Sind Sie sicher, dass die Scheibe von außen eingeschlagen worden ist und nicht von innen?«, fragte er dann.

»Ganz sicher«, erwiderte Mister Wilson. »Schließlich lagen die Splitter auf dem Teppich und nicht unten auf der Straße.«

»Dies wäre auch der Fall gewesen, wenn man das Fenster im geöffneten Zustand eingeschlagen und es dann wieder geschlossen hätte«, präzisierte Holmes, »zu schade, dass Ihre putzwütige Gemahlin alle Spuren hat vernichten lassen.«

Harold Percy Wilson machte zwar einen betretenen Eindruck, wirkte aber auf mich wie ein Mann, der seine Frau nicht vom Putzen hätte abhalten können, selbst wenn er dies gewollt hätte.

»Sie sagten, dass der Dieb wertvollere Gemälde als das Gruppenporträt verschmäht hat?«, fragte Holmes, sich im Raum umblickend, dessen Wände nun kahl waren.

Wortlos öffnete unser Gastgeber eine Tür, und es zeigte sich, dass auf den Speiseraum ein Galerieraum folgte. Ich verstehe nicht viel von Gemälden, aber ich hatte schon auf den ersten Blick den Eindruck, dass die Sammlung von Mister Wilson hochkarätig war.

Auch Holmes wurde von den Bildern magisch angezogen. Er betrachtete ein Gemälde nach dem anderen durch die Lupe, gefolgt von unserem Klienten, dem anzusehen war, dass er geradezu körperlich litt, als Holmes einer der Leinwände so nahe kam, dass er sie fast mit der Nase berührte.

»Wonach suchen Sie eigentlich in meinem Galerieraum?«, fragte der Hausherr, der immer nervöser wurde.

»Nach nichts Bestimmten«, erwiderte Holmes. »Ich möchte mir nur ein Bild der Lage machen. Was ich Sie noch fragen wollte: Haben Sie in jener Nacht sonst noch etwas Ungewöhnliches bemerkt? Zigarettenrauch zum Beispiel?«

Mister Wilson schnappte hörbar nach Luft. »Wo Sie es sagen!«, rief er aus. »Mir ist die schlechte Luft aufgefallen, aber ich habe sie nicht mit dem Einbruch in Verbindung gebracht.«

Holmes steckte mit einer entschlossenen Bewegung seine Lupe ein. »Gut, dann will ich Ihre Zeit nicht mehr länger in Anspruch nehmen«, sagte er unvermittelt und hob die Hand zum Gruß.

Harold Percy Wilson unternahm keinerlei Anstalten, ihn zum Bleiben zu bewegen.

Holmes stürmte aus dem Haus, und ich folgte ihm, einen Abschiedsgruß vor mich hinmurmelnd.

»Fahren wir jetzt zu Hopper?«, fragte ich beklommen, als sich die Tür des Palazzos hinter uns schloss, und ich bekam bei der bloßen Vorstellung ein flaues Gefühl im Magen, denn mir graute vor der verwunschenen Villa des Kunsthändlers und vor seiner Hundemeute.

»Leider kann er uns heute nicht empfangen, denn er besucht einen Kunden in Settignano«, ließ mich Holmes wissen, und mir fiel ein Stein vom Herzen. »Also werden wir mit dem Maler dieses begehrten Gemäldes vorlieb nehmen müssen.« Holmes konsultierte seine Taschenuhr.

»Es ist höchste Zeit, um zu Mittag zu essen«, kommentierte ich die Tatsache, dass die Mittagsstunde schon verstrichen war.

Holmes strafte meine profane Bemerkung mit Missachtung. »Bevor wir uns auf den Weg zur Kirche Santa Trinità machen, möchte ich noch einen Blick auf die Stelle werfen, an der unser glückloser Einbrecher seine Leiter aufgestellt hat.« Holmes identifizierte ohne Schwierigkeiten das Fenster im ersten Stock, hinter dem sich der Speiseraum befand, obwohl die Fenster alle gleich aussahen. Offenbar hatte er im Inneren des Palazzos die Fenster mitgezählt. »Es ist sehr leichtsinnig von Mister Wilson, wertvolle Gemälde in einem Raum aufzubewahren, dessen Fenster zur Straße führen«, sagte er, die sauber gefegten Pflastersteine unter seinen Füßen betrachtend. »Hoffentlich war ihm der unerfreuliche, aber doch glimpflich ausgegangene Zwischenfall eine Lehre.«

»Und dann wundern Sie sich, dass er das Fensterglas hat sofort ersetzen lassen?«, gab ich zu bedenken.

»Dies ist in der Tat verständlich, aber Mrs Wilson hätte die Spuren auf dem Teppich nicht beseitigen dürfen.« Holmes gab sich einen sichtbaren Ruck. »Wir verschwenden hier nur unsere Zeit«, erklärte er, während er noch einmal die Fassade des Palazzos begutachtete. »Wir sollten lieber den Maler an seinem Arbeitsplatz besuchen.«

Ich wagte nicht, noch einmal auf die Mittagsessenszeit hinzuweisen, und so machten wir uns auf den Weg.

»Was halten Sie von der Sache?«, fragte Holmes, als wir außer Sicht- und Hörweite des Palazzos waren.

»Was für eine banale Geschichte!«, erwiderte ich empört. »Es wunderte mich, dass Sie damit Ihre kostbare Zeit verschwenden! Das Bild ist offenbar völlig wertlos! Außerdem ist es noch nicht einmal tatsächlich gestohlen worden! Wahrscheinlich war der Florentiner Polizei die Sache zu banal, um sich damit abzugeben!«

Holmes sah mich belustigt von der Seite an. »Das ist durchaus möglich, zumal der Polizei meist die Phantasie fehlt, um zu erkennen, dass die Geschichte ernstere Folgen haben könnte, als es den Anschein hat! Ich habe immer wieder festgestellt, dass die ganz alltäglichen Fälle häufig die interessantesten sind. Ungewöhnliche Dinge ereignen sich häufiger bei kleinen als bei großen Verbrechen. Daher stimme ich mit Mister Hopper überein, dass es ein Fehler wäre, die Sache auf sich beruhen zu lassen.«

Einige Minuten lang setzten wir unseren Weg schweigend fort.

»Außerdem sind die Tage der große Verbrecher leider vorüber«, bemerkte Holmes nach einer Weile, »ich muss mich also mit dem bescheiden, was mir angeboten wird.«

Es war einer dieser Augenblicke, in denen ich nicht zu entscheiden vermochte, ob Holmes scherzte oder ob dies tatsächlich seine Überzeugung war.

»Aber wir sollten den Fall rekapitulieren: Wir sind uns einig, dass der glücklose Dieb nicht zufällig in den Speiseraum von Harold Percy Wilson eingebrochen ist«, stellte Holmes fest, aber ich musste mir innerlich eingestehen, dass mir dies alles andere als klar gewesen war. »Anderenfalls hätte er versucht, eines der Renaissance-Gemälde zu entwenden, die sich im angrenzenden Galerieraum befinden. Haben Sie eine Idee, für wen das Gemälde dieses Signor Benetti einen derartigen Wert darstellen könnte, dass er in den Palazzo einzubrechen versucht, um es sich widerrechtlich anzueignen?«

»Eigentlich nur für den Maler selbst«, schlug ich vor. Die Tatsache, dass Holmes mich freiwillig zu Mister Wilson mitgenommen hatte, beflügelte mich zu eigenen Hypothesen. »Ich habe vor einiger Zeit eine Geschichte gelesen, in der es einem Goldschmied schier unmöglich war, sich von seinen Kreationen zu trennen. Also hat er seine Kunden ermordet und sich die Juwelen zurückgeholt.«4

»Das ist eine interessante These«, erwiderte Holmes. Doch sein Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass er sie abwegig fand. »Man sollte nichts von Anfang an ausschließen. Ich habe immer festgestellt, dass das Leben Geschichten schreibt, die seltsamer sind als alles, was sich die Dichter auszudenken vermögen.« Holmes sah mich aufmunternd an. Offenbar wartete er auf einen weiteren Vorschlag.

»Mir versagt die Phantasie«, gab ich zu, »ich würde kein modernes Bild mit fünf hässlichen Männern stehlen, wenn ich auch einen Tizian mitnehmen könnte!«

»Es sind nur drei hässliche Männer dargestellt, sowie zwei mehr oder weniger schöne Frauen«, präzisierte Holmes. »Denken Sie vor allem daran, dass es sich um ein Gruppenporträt handelt. Wir sollten also die dargestellten Personen etwas genauer unter die Lupe nehmen.«

Trotzdem beschäftigten mich mittlerweile noch zwei Fragen. »Warum haben Sie eigentlich darauf verzichtet, das Personal zu befragen?«, begann ich mit der einfacheren.

»Weil es selten vorkommen dürfte, dass Dienstboten versuchen, das Porträt ihres Arbeitgebers zu stehlen.«

»Das kann man wohl sagen«, stimmte ich zu und dachte dabei an den Besitzer der Buchhandlung, in der ich bis vor Kurzem gearbeitet hatte.

»Ihnen wird aufgefallen sein, dass Mister Wilson keinesfalls so reich ist, wie Sie anfangs vermutet haben«, stellte Holmes fest, ehe ich meine zweite Frage geäußert hatte.

Fast hätte ich – um mir keine Blöße zu geben – selbstverständlich geantwortet, aber dann wäre mir Holmes die Erklärung für diese Bemerkung schuldig geblieben.

»Nein! Woraus haben Sie dies bloß geschlossen?«, fragte ich daher bescheiden.

»Die Hosenbeine und Ärmel seines Anzugs sind von einem Schneider gekürzt worden. Der Anzug wurde also nicht für Mister Wilson maßgeschneidert, sondern für einen größeren Mann. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde er dann für seinen jetzigen Besitzer geändert. Dieses Bild wird abgerundet durch die Abwesenheit von Mrs Wilson. Ich wette, dass sie nicht an einen Badestrand gefahren ist, sondern die Haushaltskasse durch Klavierstunden aufbessert.«

»Aber sie hat doch ihren Mops mitgenommen!«, wandte ich ein.

»Das will nichts heißen«, meinte Holmes, »vielleicht wagt sie sich momentan nicht ohne ihren Hund auf die Straße. Manche Menschen reagieren äußerst sensibel auf einen solchen Schock, wie ihn ein Einbruch verursachen kann.«

»Wo Sie gerade von Mrs Wilson sprechen«, begann ich, »woher um Himmels willen haben Sie gewusst, dass Mister Wilson sich nichts aus Klaviermusik macht? Und das, obwohl er mit einer Pianistin verheiratet ist!«

Holmes warf mir einen erstaunten Seitenblick zu. »Beim Durchqueren des Palazzos bemerkte ich, dass im Erdgeschoss ein Konzertflügel – entgegen aller Gepflogenheiten – in einem kleinen, ansonsten unmöblierten Raum untergebracht war. Dieses Zimmer lag nicht unter dem Salon, sodass der Kunstkritiker möglichst wenig von der Hausmusik mitbekommt.«

»Ach so«, war alles, was mir dazu einfiel, und wieder einmal wurde mir schmerzlich bewusst, was für ein schlechter Beobachter ich war.

1 Name eines okkultistischen Clubs, zu deren Mitgliedern auch der Kunsthändler Mortimer Hopper zählte.

2 Anm.: So nennt man eine in antikem Stil gestaltete Inschrifttafel mit zwei Handgriffen.

3 Anm.: Leghorn ist der englische Name der italienischen Hafenstadt Livorno. Nach ihm wurde auch die bekannte Hühnerrasse benannt.

4 Anm.: Wahrscheinlich meint Mister Tristram die Erzählung Das Fräulein von Scudery von ETA Hoffmann.

2. Der Maler

Während dieses Wortwechsels waren wir der Via de’ Benci bis zu ihrem Ende gefolgt. Dann passierten wir – am Arno-Ufer entlanggehend – die Uffizien und den Ponte Vecchio. Touristen aus aller Welt gaben Unsummen dafür aus, um diese Aussicht wenigstens einmal im Leben zu genießen, aber Holmes war noch immer völlig immun gegen die Schönheit Italiens. Beim Gehen starrte er mit angespanntem Gesichtsausdruck auf das Straßenpflaster, und ich wagte es daher nicht, ihm einen Besuch der Gemäldegalerie ans Herz zu legen, die in den ehemaligen Büroräumen der Uffizien untergebracht war, zumal ich befürchtete, dass Holmes sich nur für Gemälde interessierte, wenn sie gestohlen worden waren.

»Ich finde, wir sollten zur Mitte des Ponte Santa Trinità gehen, bevor wir diese finstere Kirche betreten«, schlug ich dennoch vor, als wir uns der berühmten Arnobrücke näherten. »Von dort hat man einen ausgezeichneten Blick auf den Ponte Vecchio. Außerdem wurde der Ponte Santa Trinità nach den Plänen Michelangelos errichtet und ist mit seinen drei elegant geschwungenen Bögen eine der schönsten Brücken der Welt.«

Holmes gab nicht zu erkennen, ob er meinen gut gemeinten Vorschlag überhaupt zur Kenntnis genommen hatte, sondern eilte mit seinen langen Beinen auf die zweigeschossige Renaissancefassade von Santa Trinità zu, der nicht anzusehen war, welch ein altes Gemäuer sich dahinter verbarg. Ich versuchte gar nicht erst, Schritt mit Holmes zu halten, denn ich bemerkte schon aus einiger Entfernung, dass alle Holztüren geschlossen waren. Dies ist in Italien ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Kirche chiuso5 ist. Anderenfalls hätte mindestens eines der Portale sperrangelweit geöffnet den Passanten zum Gebet eingeladen.

»Die Kirche wird wohl über Mittag geschlossen haben!«, rief ich Holmes nach, um ihn zu warnen. »Schließlich ist es bereits fünf nach eins.«

Aber Holmes gab sich nicht so schnell geschlagen. Erst als er an allen drei Türen gerüttelt hatte, akzeptierte er, dass man ihm tatsächlich den Zutritt in die Kirche verwehrte. »Mir ist schleierhaft, wie Sie hier leben können«, meinte er dann kopfschüttelnd. »Den halben Tag verbringen die Einheimischen mit Essen! Für Besuche ist es stets entweder zu früh oder bereits zu spät, aber der Gipfel sind diese überbordenden Mittagspausen! Wann wird hier eigentlich gearbeitet?«

»Am frühen Morgen und am Nachmittag«, erklärte ich zur Ehrenrettung der Italiener.

Holmes schnaubte verächtlich.

»Unvorstellbar, dass in einer Stadt dieser Größe mittags das gesamte öffentliche Leben zum Erliegen kommt!«

»Machen wir doch das Beste daraus: Wir könnten in einer dieser kleinen Trattorias essen, die es hier an jeder Häuserecke gibt«, schlug ich nicht ganz uneigennützig vor, da mir mittlerweile der Magen knurrte. »Mit etwas Glück verkehrt dort Adriano Benetti oder ein anderer der Handwerker, die mit der Restaurierung der Kirche beschäftigt sind.«

»Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich, denn Handwerker werden nicht besonders üppig bezahlt, und die Restaurantpreise in Florenz sind doch recht unerfreulich«, widersprach Holmes, aber er begleitete mich trotzdem zur nahe gelegenen Trattoria Trinità.

Noch bevor der Wirt uns einen Tisch zugewiesen hatte, gab ich die Bestellung auf: »Bitte zweimal das Tagesgericht und den dazu passenden Wein!«

Mit dieser Überrumpelungstaktik wollte ich verhindern, dass Holmes sich mit einer Vorspeise oder einem Salat begnügte. Schließlich war ich kein Tourist, sondern lebte in Florenz, und hier war man schnell als Geizkragen verschrien.

Holmes ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, der so klein war, dass nur fünf Tische darin Platz fanden, und murmelte dann: »Hab ich es doch gesagt« vor sich hin, denn entgegen meiner Prognose waren wir die einzigen Gäste im Lokal. »Signora! Wissen Sie zufällig, wie lange die Kirche Santa Trinità über Mittag geschlossen ist?«, fragte er die Wirtin, als diese den Wein in einer gläsernen Karaffe brachte.

»Bis halb drei Uhr, Signore«, erklärte die Matrone, und ich freute mich über diese Antwort, denn dies bedeutete, dass ich in aller Ruhe mein Mittagessen genießen konnte.

Holmes hingegen schaufelte das köstliche Mahl – bestehend aus einer Zuppa di Fagioli6, einer Hühnerspeise, deren Namen ich nicht kannte und als Nachtisch Obstsalat – geistesabwesend in sich hinein. Wahrscheinlich musste man ihm dafür dankbar sein, dass er überhaupt die Geduld für ein dreigängiges Menü aufbrachte, zumal die einzelnen Gänge in großen Abständen serviert wurden.

So war es bereits kurz nach zwei, als die Wirtin die leeren Kompottschalen abräumte. Ich bestellte bei ihr zwei Espressi, und Holmes stopfte bedächtig seine Pfeife. Mittlerweile hatten zwei Angestellte am Nachbartisch Platz genommen, aber wie Holmes vorhergesagt hatte, hatten wir keine Kontakte mit den Arbeitern aus der Kirche knüpfen können. Holmes zog genüsslich an seiner Pfeife, bis er in bläuliche Rauchwolken gehüllt war. Dann lehnte er sich in dem kippelnden Holzstuhl zurück und zog seine Taschenuhr aus der Westentasche.

»In einer Viertelstunde öffnet endlich die Kirche«, verkündete er mit einem zufriedenen Kopfnicken.

Um Holmes nicht zu beunruhigen, verschwieg ich ihm, dass italienische Kirchenportale häufig nicht ganz so pünktlich geöffnet wurden wie sie geschlossen worden waren.

Als wir die Trattoria verließen, hatten graue Wolken die Sonne verdeckt, und es war schwül geworden. Mein Anzug klebte unangenehm an der Haut. Es roch nach Regen, und ich ärgerte mich, dass ich keinen Schirm mitgenommen hatte, aber wenigstens war das Portal der Kirche nun geöffnet.

Während wir das Kopfsteinpflaster der Piazza überquerten und ich vor mit die zweigeschossige, von einem Dreiecksgiebel bekrönte Fassade der Kirche sah, erinnerte ich mich daran, dass Santa Trinità bedeutende Kunstschätze barg.

»Sie müssen unbedingt die Sassetti-Kapelle mit den berühmten Fresken von Domenico Ghirlandaio besichtigen!«, rief ich daher Holmes nach, der schon fast hinter der großen Holztür verschwunden war. »Sie …«

Ich beendete den Satz nicht, denn im Inneren der Kirche herrschte nicht – wie ich erwartete hatte – beschauliche Ruhe, sondern das schiere Chaos. Als sich meine Augen an die schlechten Lichtverhältnisse angepasst hatten, sah ich, dass die Hälfte der Westwand eingerüstet war. Vor der anderen Hälfte lag ein ungeordneter Haufen von Holzplanken auf dem Boden, um den sich wie ein Krähenschwarm mindestens zehn dieser schwarz gekleideten, älteren Frauen versammelt hatten, an denen in italienischen Kirchen kein Mangel herrscht. Obwohl sie alle durcheinander sprachen, bekam ich doch mit, dass sich ein schwerer Unfall ereignet hatte.

»Wir würden gern mit Signor Benetti, dem Maler sprechen!«, sagte ich, obwohl mir nichts Gutes schwante, zu dem Küster, der unbeteiligt neben den Frauen stand.

»So ein Unglück! Der arme Signor Benetti«, antwortete statt seiner eine der Matronen. »Ein Teil des Gerüstes ist zusammengebrochen.« Sie deutete anklagend auf die Bretter. »Signor Benetti ist von dort oben herabgestürzt. Man hat den Armen ins Ospedale gebracht!«

Dies war genau die Antwort, die ich befürchtet hatte. Mich schauderte es bei dem Gedanken, dass die Planken auf dem Kirchenboden die traurigen Überreste des Gerüsts waren, auf dem Adriano Benetti gearbeitet hatte. Ich drehte mich um und betrachtete den noch aufrecht stehenden Teil des Gerüstes, der bedenklich schief war und mit großer Wahrscheinlichkeit schwankte, wenn man ihn betrat. Ich dachte, dass ich für kein Geld der Welt dort hinaufgestiegen wäre!

»Kann dies ein Zufall sein?«, fragte ich Holmes auf Englisch.

»Wohl kaum«, erwiderte dieser mit erstaunlichem Gleichmut.

»Alles wegen des Gruppenporträts?«, entfuhr es mir.

Holmes schüttelte den Kopf.

»Wie ich schon vorhin sagte: Es steckt sicherlich mehr hinter der Sache, als es den Anschein hat!«

Immer mehr Menschen strömten in die Kirche, mehr Frauen als Männer und die meisten von ihnen betagt. Hatte es sich herumgesprochen, dass sich hier ein Unglück ereignet hatte, oder wurde bald eine Messe gelesen? Ich hoffte, dass letzteres nicht zutraf, denn dies hätte das Ende unserer Untersuchung bedeutet.

»Hat man bereits die Polizei verständigt?«, fragte Holmes in die Runde.

»Selbstverständlich! Dem Arzt waren die Umstände des Unfalls von Signor Benetti verdächtig erschienen«, erwiderte der Küster, unter dessen Würde es eben noch gewesen war, von meiner Wenigkeit Kenntnis zu nehmen. »Der Comissario hat uns angewiesen, nichts zu verändern, aber …«

»Die Polizei ist bereits da gewesen?«, entfuhr es Holmes hörbar befremdet. »Man hat mir gesagt, diese Kirche sei wegen Mittagspause bis halb drei geschlossen!«

»Keinesfalls«, widersprach der Küster. »Seit dieser Saison dauert die Pause nur noch bis um zwei. Außerdem hatten die Handwerker natürlich einen eigenen Schlüssel.«

In diesem Augenblick hoffte ich inständig, dass Holmes mir später keine Vorwürfe machen würde, dass wir unsere Zeit in der Trattoria verschwendet hatten, aber es war schließlich nicht meine Schuld, dass die Wirtin die Öffnungszeiten der benachbarten Kirche nicht kannte.

»Der Comissario hat uns wissen lassen, dass alle Indizien darauf hinweisen, dass es sich um einen tragischen Unfall handelt«, erklärte der Küster ungefragt, offenbar bemüht, so schnell wie möglich zur normalen Tagesordnung übergehen zu können, »zumal das Gerüst nicht besonders professionell ist. Leider konnte der Comissario Adriano Benetti nicht selbst befragen, denn er war noch immer bewusstlos, als ihn die Sanitäter abgeholt haben.«

»Was das Gerüst betrifft, möchte ich dem Comissario nicht widersprechen, aber ansonsten sollte man sich niemals auf den ersten Eindruck verlassen«, erwiderte Holmes. Er deutete auf einen Kreidekreis, der um einige Holzsplitter gezogen war. »Ich gehe doch richtig in der Annahme, dass der Unglückliche hier gelegen hat?«

»Ja! An dieser Stelle hat man ihn gefunden!«, lamentierte eine der Matronen. »Was für ein Unglück, mitten in der Kirche, unter den Augen der Heiligen …«

»Und es gab keinen Zeugen des Unglücks?«, unterbrach Holmes, dem dieser Gefühlsausbruch sichtlich unangenehm war.

Wieder redeten alle zugleich, aber leider sagten alle dasselbe, nämlich, dass sich niemand außer dem Maler in der Kirche befunden hatte, als dieser vom Gerüst gefallen war.

»Hat Signor Benetti einen Gehilfen?«, fragte Holmes, während sein Blick über die Unglücksstelle kreiste. Der Küster nickte, sagte aber nichts. Spätestens jetzt wunderte ich mich, dass niemand Holmes fragte, was ihn dies eigentlich anginge. »Wieso hat er dann allein gearbeitet und noch dazu während der geheiligten Mittagspause?«

»Sein Geselle hat bei seiner Frau zu Mittag gegessen. Er wohnt in der Nähe«, antwortete der Küster, der nun langsam etwas enerviert wirkte. »Signor Benetti hingegen kommt aus Livorno. Niemand kocht für ihn. Also hat er die Mittagspause manchmal in der Kirche verbracht. Als der Geselle von zu Hause zurückkam, hatte sich das Unglück bereits ereignet.«

»Signor Benetti fährt doch sicher nicht jeden Tag von Livorno nach Florenz und zurück!«, entfuhr es mir. »Da bliebe ihm doch keine Zeit mehr, um zu arbeiten!«

»Nein, selbstverständlich nicht! Er übernachtet im Pfarrhaus«, antwortete der Küster, und ich war ihm dankbar, dass er endlich meine Existenz zur Kenntnis nahm. »Ich weiß auch nicht, warum man ihn dort nicht verköstigt hat, aber das geht mich sicherlich nichts an.«

»Dem Gesellen ist übrigens ein Mann begegnet, als er die Kirche betrat«, verkündete eine der alten, schwarz gekleideten Frauen, »das hat er jedenfalls der Polizei erzählt.«

»Tatsächlich?«, fragten Holmes und ich zugleich.

»Also war das Portal der Kirche geöffnet, als man Signor Benetti fand«, fügte Holmes hinzu.

Der Küster nickte selbstgefällig. »Selbstverständlich, ich habe es pünktlich geöffnet.«

»Und der Geselle …«, begann Holmes.