Sherlock Holmes und die Katakomben von Paris - Franziska Franke - E-Book

Sherlock Holmes und die Katakomben von Paris E-Book

Franziska Franke

4,4

Beschreibung

Der englische Buchhändler David Tristram besucht seinen Freund Sherlock Holmes im südfranzösischen Montpellier, wo dieser abseits der Großstadthektik seinen chemischen Experimenten nachgeht. Gemeinsam statten sie einem Antiquariat in Nîmes einen Besuch ab. Dort ist Holmes nämlich keine geringere Lektüre als das Tagebuch seiner Großmutter angeboten worden. Doch der Besitzer des Manuskripts, ein Anwalt, erscheint nicht zum vereinbarten Zeitpunkt, und am folgenden Tag müssen sie der Zeitung entnehmen, dass der Anwalt in Paris ermordet aufgefunden worden ist. Holmes und Tristram reisen daraufhin in die Hauptstadt, finden aber keine Spur des Tagebuchs im Nachlass des Mordopfers. Im Rahmen seiner Recherche findet Holmes heraus, dass die Aufzeichnungen seiner Verwandten Hinweise auf einen geheimnisvollen Schatz enthalten, den Marie Antoinette dereinst vor ihrer Inhaftierung und ihrer Hinrichtung auf der Guillotine verstecken konnte. Aber nicht nur Sherlock Holmes ist brennend an dem alten Manuskript interessiert, und das macht seine Suche so gefährlich ...

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Franziska FrankeSherlock Holmes und die Katakomben von Paris

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Sherlock Holmes und die Büste der Primavera

Sherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers

Sherlock Holmes und die Katakomben von Paris

Franziska Franke, in Leipzig geboren, hat nach ihrer Schulzeit, die sie in Essen, Schwetzingen und Wiesbaden verbrachte, an den Universitäten von Mainz und Frankfurt Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Kunstpädagogik studiert. Sie wohnt heute mit ihrem Mann in Mainz, wo sie freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist. Mit ihrem Krimi-Debüt »Sherlock Holmes und die Büste der Primavera« erweckte sie den größten Detektiv der Weltliteratur zu neuem Leben und begeisterte Krimifans und Holmesianer.

Franziska Franke

Sherlock Holmesund die Katakombenvon Paris

Originalausgabe

© 2011 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von:

© claudiameyer · www.fotolia.de

Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-942446-19-8

E-Book-ISBN 978-3-95441-041-5

Personenverzeichnis

Südfrankreich

Pierre Charles Carrière: Antiquar aus Nîmes

Armand Dellaporte: Holmes’ Musikpartner in Montpellier

Charles Begot: Bankangestellter, Holmes’ Musikpartner

Georges Dupont: Professor, Holmes’ Musikpartner

Paris

George Fromann: Anwalt

Mademoiselle Catherine Saugrain: Halbschwester Monsieur Fromanns, die ihm bis zu ihrem Tod den Haushalt geführt hat.

Madame Racine: Arztgattin

Docteur Gustave Michelin: Historiker an der Sorbonne

Louis Carrière: Sohn des Antiquars, arbeitet bei der Stadtverwaltung.

Patrice Legrand: Kommissar

Historische Personen

Émilie Chalgrin, geb. Vernet (getauft 1760-1794): heiratete 1776 den königlichen Architekten Jean-François Chalgrin (1739-1811), Freundin Madame Filleuls, Schwester von Holmes (fiktiver) Großmutter

Louise-Josèphe Saugrain, geb. Chalgrin (geb. 1777), Tochter Émilie Chalgrins

Rosalie Filleul (1753-1794), Pastellmalerin, Freundin Madame Chalgrins

Vorwort des Herausgebers

Wieder habe ich die große Freude, der Öffentlichkeit die Reinschrift eines der Quartbände zu präsentieren, in denen der in Florenz ansässige Engländer David Tristram von seiner Zusammenarbeit mit Sherlock Holmes berichtet.

Da die Schrift auf den Rücken der Manuskripte mit den Jahren verblichen war, habe ich erst nachträglich festgestellt, dass ich der Übersetzerin aus Versehen die Bände nicht in chronologischer Reihenfolge übergeben habe, wodurch sich zwischen dieser Erzählung und Sherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers ein Zeitsprung von mehreren Jahren ergab.

Dies hat aber mein Vergnügen an der Lektüre nicht geschmälert, denn wieder einmal gewähren uns David Tristrams Aufzeichnungen wertvolle Einblicke in die Jahre, die Sherlock Holmes fern von London auf der Flucht vor den Handlangern seines Erzrivalen Professor Moriarty verbracht hat – Informationen, die ohne den glücklichen Fund auf dem Dachboden der Florentiner Casa Tristram-Boldoni für immer verloren gegangen wären.

Florenz, den 20.1.2011,Giorgio Battista Scalzi, Anwalt und Notar

1. Montpellier

Es war einer dieser sonnigen und milden Frühlingstage, wie es sie nur am Mittelmeer gibt, als mein Zug sich endlich der Stadt Montpellier näherte, die sich bereits zwischen den Hügeln abzeichnete. Ich verließ mein Abteil, zog das Fenster im Gang herunter und ließ mir den lauwarmen Fahrtwind ins Gesicht wehen. Die herbe Landschaft des Languedoc mit ihren schroffen Felsen zog an mir vorüber. Aber ich hatte keine Freude an diesem Anblick, denn ich fragte mich, wie ich in Montpellier empfangen werden würde.

Drei Tage zuvor war ich per Schiff von Leghorn1 nach Marseille gefahren, was recht unkompliziert war. Aber um von dort nach Montpellier zu gelangen, musste ich in Tarascon und in Nîmes umsteigen, wobei mir in Nîmes bedauerlicherweise keine Zeit für den Besuch der berühmten römischen Monumente der Stadt verblieben war.

Von allein wäre ich niemals auf die Idee gekommen, nach Antwerpen zur Weltausstellung zu fahren, um zu überprüfen, ob die Produkte aus der Steinmetzwerkstatt meines Schwagers gebührend präsentiert wurden, wenn mir diese Reise nicht den Vorwand geboten hätte, unterwegs bei Sherlock Holmes vorbeizuschauen. Der Detektiv hatte sich nämlich vor einiger Zeit in Montpellier niedergelassen, um abseits der Großstadthektik in der französischen Provinz seine chemischen Experimente zu betreiben.

Endlich fuhr der Zug in die Gare Saint Roch ein, wie der Bahnhof von Montpellier genannt wurde. Während ich meinen schweren Koffer aus dem Zug hob, fragte ich mich, ob in dem kleinen Städtchen wohl sonntags Mietkutschen vor dem Bahnhof warteten. Ich gab mich nämlich nicht der Illusion hin, dass Holmes mich abholen könnte. Wahrscheinlich musste ich dafür dankbar sein, dass er mir überhaupt gestattet hatte, ihn zu besuchen. Mehr von einem derart ungeselligen Menschen zu verlangen, wäre vermessen gewesen.

Kaum hatte ich den Bahnsteig betreten, boten bereits Gepäckträger in schmucken, leuchtend blauen Uniformen mit polierten Messingknöpfen lautstark ihre Dienste an. Dazu trugen sie blaue Kappen, die mich an die Kopfbedeckungen von Postboten erinnerten. Aufs Geratewohl entschied ich mich für einen Vertrauen erweckenden, älteren Mann mit Bauchansatz, grauen Haaren und einem von der Hitze geröteten Gesicht. Bevor ich ihm meinen Koffer anvertraute, präsentierte ich dem Gepäckträger einen Zettel, auf dem Holmes’ Adresse notiert war. Mein Schulfranzösisch ließ nach all den Jahren zu wünschen übrig, und ich wollte mich deshalb lieber nicht festlegen, wie man die Anschrift korrekt aussprach.

»Ich möchte mit der Kutsche dorthin fahren«, fügte ich auf Italienisch hinzu, denn in Florenz hatte man mir versichert, die Franzosen verstünden die Sprache Dantes.

Das fassungslose Gesicht meines Gegenübers überzeugte mich schnell eines Besseren. Also wiederholte ich mein Anliegen auf Englisch, wobei ich mich bemühte, langsam zu sprechen. Der alte Mann antwortete mit einem Redeschwall, der wenig mit der überkandidelten Sprechweise des Comte de Monteclair zu tun hatte, einem Stammkunden meines Schwagers. Da ich das Wort »Sigerson« aufschnappte, nickte ich trotzdem enthusiastisch. Das war der Deckname, dessen sich Holmes bediente, seit er nach dem Kampf mit seinem Erzrivalen Professor Moriarty im Ausland lebte.

Der Gepäckträger marschierte so geschwind durch die Bahnhofshalle, dass ich Mühe hatte, Schritt zu halten. Der alte Mann mit der vierschrötigen Figur und dem faltigen Gesicht wirkte auf den ersten Blick gar nicht so sportlich. Ohne sich nach mir umzudrehen, überquerte er den Bahnhofsplatz, was mich ziemlich in Harnisch brachte. Warum setzte sich dieser Unglücksmensch über meine Weisungen hinweg und passierte die Droschken, die vor den weißen Kolonnaden des Bahnhofsportals auf Kundschaft warteten?

»Ich würde lieber die Kutsche nehmen!«, rief ich dem eigenmächtigen Gesellen wütend nach, der aber meine Proteste ignorierte und weiter vorausschritt.

Einige Passanten bedachten mich mit belustigten Blicken, als ich schwer atmend dem Träger nachhetzte, der in eine schmale Seitenstraße abbog, die unvermittelt vor einer steilen Treppe endete. Langsam begriff ich, dass mein Ziel nur über enge Gassen und Gehwege zu erreichen war und nahm zu Gunsten des Gepäckträgers an, dass er mir das vorhin mitzuteilen versucht hatte.

An einer Kreuzung las ich auf einem Straßenschild den Namen der Rue Petite, in der Holmes wohnte, und atmete erleichtert auf. Da Holmes geschrieben hatte, sein Domizil sei abseits gelegen, hatte ich angenommen, dass es sich am Stadtrand befand. Aber offenbar war es recht nahe am Zentrum, wenn auch in einer verwunschenen Gasse.

Schließlich blieb der Gepäckträger vor einem kleinen, unscheinbaren Haus mit verblichener, ockerfarbener Fassade stehen. Kein Namensschild hing neben der morschen Eichentür. Auch einen Klingelzug oder Türklopfer konnte ich nirgendwo ausmachen. Daher klopfte ich mit den Knöcheln gegen die Tür, wartete ein paar Sekunden, und als niemand antwortete, trat ich einen Schritt zurück, um das Anwesen zu begutachten: Von der hohen Steinmauer, die das schmale Grundstück umgab, bröckelte der Putz ab, und das verrostete Eisentor mit seinen vergoldeten Spitzen stand einen Spaltbreit offen.

Es würde mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als unangemeldet einzutreten. Doch vorher musste ich den Gepäckträger entlohnen.

»Was kostet …«, begann ich, brachte aber den Satz nicht auf Französisch zu Ende.

Als ich mich hilfesuchend zu dem alten Mann umwandte, war er spurlos verschwunden. Meinen Koffer hatte er hinter mir auf dem Bürgersteig abgestellt, obgleich er ihn ohne Weiteres hätte stehlen können. Was war das für ein seltsamer Zeitgenosse, der auf seinen Lohn verzichtete? Automatisch tastete ich die Innentasche meiner Jacke ab, fand aber zu meiner Erleichterung meine Brieftasche an ihrem angestammten Platz. Kopfschüttelnd blickte ich in die Gasse, konnte jedoch den Gepäckträger nirgends erkennen.

Noch immer zögerte ich einzutreten, denn das Gebäude besaß keine Hausnummer, und ich befürchtete, in ein fremdes Anwesen einzubrechen. Dann gab ich mir einen Ruck: Ich hob meinen Koffer hoch und schlüpfte durch das Gartentor, dessen Angeln laut quietschten. Der dahinterliegende Garten war liebevoll angelegt, aber mittlerweile arg verwahrlost und von Unkraut überwuchert, das die Beete unter sich begrub.

Neugierig spähte ich durch die Blätter der Büsche und erkannte Holmes inmitten des Wildwuchses. Eine Pfeife im Mundwinkel und mit einem breitkrempigen Imkerhut auf dem Kopf, dessen Schleier Schutz vor Insektenstichen bot, beugte Holmes sich über einen Bienenstock, den er mit beinahe liebevollen Blicken bedachte.

»Guten Tag, Mister Tristram!«, begrüßte er mich, als ich den Garten durchquert hatte, und ich wappnete mich innerlich gegen die exakte Schätzung des Gewichtes, das ich seit unserer letzten Begegnung zugelegt hatte. Aber Holmes ließ diesmal Gnade vor Recht ergehen. »Hatten Sie eine gute Reise?«, fragte er stattdessen nicht unfreundlich.

Eine Schwadron Bienen begann mich zu umkreisen. Nur mühsam gelang es mir, sie mit meinem Hut abzuwehren.

»Ja, es hat alles wie am Schnürchen geklappt! Allerdings war der Gepäckträger in Montpellier recht seltsam«, erklärte ich und schilderte dann ausführlich, was mir widerfahren war.

Holmes Gesichtszüge erhellten sich und er brach in schallendes Gelächter aus. Leider zogen sich aber die Bienen trotz dieses abrupten Heiterkeitsausbruchs nicht in ihren Stock zurück. »Sie haben mich also nicht wiedererkannt?«

Einen Augenblick war ich perplex. Dann begriff ich endlich: Der renitente, alte Gepäckträger war Holmes gewesen! Ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich ihm wieder einmal auf den Leim gegangen war.

»Was sollte diese Maskerade?«, entfuhr es mir, denn ich hatte diese kindischen Scherze langsam satt.

»Ich wollte ganz sicher gehen, dass Ihnen niemand hierher folgt.«

Wieder musste ich einige Bienen verscheuchen. Warum musste sich Holmes als Hobby ausgerechnet die Bienenzucht aussuchen? Ich würde hier auf Dauer wohl nicht umhinkommen, mit dem Rauchen zu beginnen, um mir diese stechwütigen, kleinen Kreaturen vom Leib zu halten. »Wer um Himmels willen sollte mir gefolgt sein? Außer mir selbst sind nur einige französische Geschäftsleute und drei einheimische Hausfrauen aus dem Zug gestiegen, und keiner hat sich für mich interessiert«, bemerkte ich entgeistert. Langsam ging mir Holmes’ Verfolgungswahn wirklich zu weit!

»Man kann gar nicht vorsichtig genug sein, wenn man unter einem angenommenen Namen im Verborgenen lebt«, entgegnete er, und einige Sekunden lang herrschte Schweigen. »Ich gehe davon aus, dass Sie nichts dagegen haben, übermorgen einen kleinen Ausflug nach Nîmes zu unternehmen?«, fragte Holmes dann unvermittelt, und ich wunderte mich, dass er sich neuerdings für Archäologie zu interessieren schien.

»Natürlich nicht! Ich werde Sie mit dem größten Vergnügen begleiten«, antwortete ich hocherfreut, denn noch immer wurmte es mich, dass ich bei meiner Anreise auf den Besuch der römischen Baudenkmäler hatte verzichten müssen.

»Ich habe nichts anderes erwartet.«

»Was haben Sie denn in Nîmes vor?«, fragte ich, da Holmes keine Anstalten machte, es mir freiwillig mitzuteilen.

»Ach, nichts Besonderes! Ich werde es Ihnen nachher erzählen.«

Holmes’ Gleichgültigkeit wirkte etwas aufgesetzt. Nur mühsam konnte er verbergen, dass ihm der Ausflug am Herzen lag.

»Und was machen die chemischen Experimente?«, erkundigte ich mich, dabei auf das Haus deutend. Die geöffnete Tür der Veranda gab den Blick frei auf das Tohuwabohu, das im Inneren herrschte. Unvorstellbar, dass Holmes hier erst seit wenigen Wochen hauste! Durch meine Frage hoffte ich, Holmes auf die Idee zu bringen, mich endlich hereinzubitten und mir einen Willkommensdrink anzubieten. Ich hatte nämlich keine Lust, weiterhin seinen Bienen als Zielscheibe zu dienen.

»Sie verlaufen zufriedenstellend«, meinte Holmes mit undefinierbarer Miene. Dann musterte er mich von Kopf bis Fuß, und wieder war ich auf das Schlimmste gefasst. »Ich hoffe, Mrs. Tristram geht es gut?«

»Ja, ausgezeichnet«, entgegnete ich, dabei mit meinem Hut die Bienen wegwedelnd. »Sie hätte mich gern nach Antwerpen begleitet, ist aber dann doch wegen Giovanni zu Hause geblieben.«

Eigentlich wollte ich unseren Sohn Sherlock nennen, aber meine Frau Violetta hatte diesem Vorschlag vehement widersprochen, weil es im italienischen Alphabet den Buchstaben K nicht gibt. Bei der Erwähnung Giovannis zuckte Holmes kaum merklich zusammen. Zwar hatte er auch meine Frau eingeladen, aber offenbar nicht bedacht, dass dann ein äußerst lebhaftes Kleinkind seinen Haushalt auf den Kopf stellen würde. Falls dies überhaupt noch möglich war!

»Möchten Sie einen Sherry?«, erkundigte sich Holmes endlich, während er den linken Lederhandschuh von der Hand streifte.

Ich hatte fast nicht mehr gehofft, diese Worte zu hören! »Ja gerne, wenn es Ihnen nichts ausmacht!«

Zu guter Letzt betrat ich das Haus, wo ich meinen Koffer in einer Ecke des Flurs deponierte, da ich keine andere freie Stellfläche fand. Von der Diele führten Türen in den Salon, einen weiteren Raum, dessen Tür verschlossen war, sowie in die Küche mit der anschließenden Speisekammer.

Holmes geleitete mich in den Salon, der einen mediterranen Steinfußboden besaß. Ein hoher Kamin nahm die Mitte der Wand ein, die der Tür gegenüberlag. Davor standen ein niedriger, runder Tisch, zwei rustikale Sessel und eine Chaiselongue, auf der ich Platz nahm. Aber ich tauschte sie sofort wieder gegen einen der Sessel ein, da ich feststellte, dass ihr Polster viel zu weich war. Unter dem Tisch lag ein Heft, das ich aufhob. Es war die Partitur eines Stückes für mehrere Stimmen.

»Sie musizieren mit anderen zusammen?«, fragte ich erstaunt, denn Holmes war ein unverbesserlicher Eigenbrötler.

»In der Tat! Ich spiele einmal die Woche mit drei Bekannten Streichquartette«, erklärte Holmes und hängte seinen Imkerhut über eine Stuhllehne. Auf dem dazugehörigen Stuhl lag schmutzige Wäsche, die Holmes geflissentlich ignorierte. »Nachher kommt Jeanne, die Wirtschafterin meiner Nachbarin vorbei. Sie kümmert sich auch um meinen Haushalt und kann Ihr Gepäck aufs Zimmer bringen, falls dort das Bett bereits gemacht worden sein sollte. Das Gästezimmer befindet sich übrigens im ersten Stock, links neben der Treppe.«

Nach dieser – für seine Begriffe – längeren Ansprache verschwand Holmes in die Küche, während ich meinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Die Wände waren von dunklen Holzregalen überzogen, die so schwer mit Büchern, Schachteln und allem möglichen Kleinkram beladen waren, dass sie sich bogen. Auf einem Büffet aus Eichenholz stand eine Schale mit Obst, die den Raum wohnlich gemacht hätte, wenn nicht vor den Sprossenfenstern Beistelltische platziert gewesen wären, auf denen Glasgefäße und komplizierte Apparaturen herumstanden. Wenigstens blubberte und stank das chemische Experiment nicht, das sich auf dem mittleren Tisch vollzog. Aber die Gerätschaften machten es unmöglich, die mittlerweile arg verschmutzten Fensterflügel zu öffnen, die nur noch gedämpft das Tageslicht hindurchließen.

Holmes kam mit zwei gefüllten Gläsern und einem zusammengefalteten Brief zurück, den er auf den Tisch legte, nachdem er mir mein Glas überreicht hatte. »Ich fahre übermorgen nach Nîmes, da mir ein dort ansässiger Antiquar das Tagebuch meiner Großmutter väterlicherseits zum Kauf angeboten hat. Sie stammt aus Frankreich, und ich weiß fast nichts über ihr Leben auf dem Kontinent2«, erklärte Holmes.

Ich stutzte. War es tatsächlich möglich, dass Holmes französische Vorfahren besaß? Er war mir immer als der Inbegriff eines Engländers erschienen!

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, denn ich war so verblüfft, dass mir die Worte fehlten, und Holmes war von Hause aus nicht sehr gesprächig.

»Woher wusste dieser Antiquar, dass Sie der Enkel der Tagebuchschreiberin sind?«, fragte ich nach einer Weile.

»Ein Mitarbeiter des Stadtarchivs von Bordeaux hat ihm meine Adresse gegeben. Er kannte mich, denn ich habe dort über meine Vorfahren recherchiert.«

»Ihre Familie stammt also aus Bordeaux?«, hakte ich erstaunt nach, denn ich war mit der größten Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass Holmes’ Großmutter Pariserin war. Schließlich war ihr Enkel ein eingefleischter Großstädter.

»Nein. Meine Großmutter ist zufällig in Bordeaux geboren. Ihr Vater war der Landschaftsmaler Claude Joseph Vernet, der seit 1753 an einem Projekt arbeitete, das ihn durch ganz Frankreich führte. Er hatte nämlich den Auftrag erhalten, die vierundzwanzig wichtigsten Häfen des Landes zu malen, um die Werke des Königs und die Seemacht Frankreichs zu preisen. An jeder Station blieb er längere Zeit mit seiner Familie und der Dienerschaft. So dauerte sein Aufenthalt in Bordeaux nicht weniger als zwei Jahre.«

»Und wann ist Ihre Großmutter nach England gekommen?«

»Sie hat meinen Großvater 1789, im Jahr des Sturms auf die Bastille, geheiratet«, antwortete Holmes. »Ich hatte gehofft, im Stadtarchiv von Bordeaux mehr zu erfahren. Leider konnte man mir nicht weiterhelfen, aber der Archivar, ein Monsieur Pierre Lenoir, hat meine Adresse notiert und sie an einen Antiquar weitergereicht, der ein ausgewiesener Experte für neuere französische Geschichte ist und ein Ladengeschäft in Nîmes betreibt.«

»Dieser Antiquar hat Ihnen nun das Tagebuch Ihrer Großmutter angeboten?«

Holmes nickte.

»In dem Pass auf den Namen Sigerson, dessen Sie sich momentan bedienen, ist doch Ihre Nationalität als Norweger angegeben?«

Holmes blickte mich fragend an.

»Wie haben Sie dann dem Antiquar erklärt, dass Sie trotzdem mit den Vernets verwandt sind?«, fragte ich vorsichtig, denn mir schien das recht weit hergeholt.

»Ich habe behauptet, meine Großmutter sei wie viele Königstreue nach Koblenz geflüchtet. Dort habe sie die Bekanntschaft eines skandinavischen Arztes gemacht, der auf Europareise war.«

»Diese Geschichte ist zu unglaublich, um den Argwohn zu erwecken, sie könnte erfunden sein.«

»Es haben sich schon weit merkwürdigere Dinge tatsächlich zugetragen«, entgegnete Holmes nachdenklich. »Das Leben schreibt Geschichten, die seltsamer sind als alles, was die Dichter erfinden.«

»Ich wusste gar nicht, dass Ihre Großmutter Französin war«, bemerkte ich, während Holmes einen Schluck Sherry trank.

»Sie war halbe Engländerin«, stellte er, nachdem er das Glas auf den Tisch gestellt hatte, mit Nachdruck fest. »Ihre Mutter – also meine Urgroßmutter – hieß Virginia Parker, und es erfüllt mich mit einem gewissen Stolz, dass sie die Tochter des Kapitäns der päpstlichen Marine war.«

Holmes war somit nur zu einem Achtel Franzose. Wie aber mochte es dazu gekommen sein, dass sich eine in Italien lebende Halbengländerin mit einem Franzosen zusammengetan hatte? »Wo haben sich Ihre Urgroßeltern kennen gelernt?«

»In Rom. Mein Urgroßvater war Künstler und hat mehrere Jahre lang in der Ewigen Stadt gelebt.«

»Es wohnen noch immer viele ausländische Maler in Rom«, kommentierte ich. »Wegen der südlichen Sonne, der niedrigen Lebenshaltungskosten, aber auch wegen der vielen reichen Touristen.«

»Ich habe mich immer gefragt, warum meine Großmutter zu sagen pflegte, sie sei die ›Schwester Carle Vernets‹. Warum hat sie sich nicht als die ›Tochter Claude Joseph Vernets‹ bezeichnet? Ihr Bruder war ein bekannter Darsteller napoleonischer Schlachten, aber ihr Vater eine Berühmtheit von europäischem Rang.« Holmes stockte nachdenklich und ich begriff erst jetzt, dass er von einem berühmten Maler sprach.

»Sie sprechen doch nicht von dem Vernet, dessen Bilder im Louvre hängen?«

»Doch, von genau dem spreche ich!« Holmes blickte mich leicht amüsiert an, dann huschte ein Schatten über sein Gesicht. »Wollte meine Großmutter vielleicht andeuten, dass Claude Joseph Vernet nicht ihr Vater war …?«

Diese Bemerkung machte mir Mut, etwas zu sagen, das ich sonst für mich behalten hätte. »Vielleicht hat Ihre Urgroßmutter ein Kind mit in die Ehe gebracht?«

Holmes schaute mich tadelnd an. »Dies wäre höchst unschicklich gewesen! Außerdem wurde meine Großmutter vierzehn Jahre nach der Eheschließung ihrer Eltern geboren.« Holmes faltete endlich den Brief auseinander, den ich schon die ganze Zeit neugierig beäugt hatte, und überreichte ihn mir. »Was folgern Sie aus diesem Schreiben?«

Ich genehmigte mir einen großen Schluck Sherry. Dann las ich den Text, der wie folgt lautete:

Sehr geehrter Herr Sigerson,

ein Kunde beabsichtigt, mir das Tagebuch Eloïse Vernets in Kommission zu überlassen. Möglicherweise haben Sie Interesse, das Manuskript zu erwerben? Sollte dies zutreffen, möchte ich Sie bitten, mir dies telegrafisch zu bestätigen und sich freundlicherweise am kommenden Donnerstag um 14.00 Uhr in meinem Antiquariat in Nîmes einzufinden.

Mit vorzüglicher Hochachtung,Pierre Charles Carrière

Ich ließ das Blatt sinken. Es war meiner Meinung nach kein gutes Zeichen, dass der Antiquar kein Wort über den Preis verlor. »Die Adresse des Händlers steht sicherlich auf dem Briefumschlag?«, fragte ich vorsichtig nach, da ich nicht wusste, was Holmes von mir hören wollte.

»Selbstverständlich«, entgegnete Holmes trocken. »Was halten Sie von dem Angebot?«

»Hoffentlich macht er Ihnen einen akzeptablen Preis«, gab ich zu bedenken, »Antiquare und Antiquitätenhändler sind manchmal recht unverschämt.«

»Ich gehe davon aus, dass ich mir den Erwerb des Manuskripts leisten kann. Vor meiner Abreise aus England habe ich dem französischen Staat und einem europäischen Fürstenhaus Dienste erwiesen, die mir so großzügig honoriert wurden, dass ich finanziell unabhängig bin. Selbst in den Jahren meines Exils waren meine Einnahmen recht manierlich, da ich von Zeit zu Zeit einen Fall angenommen hatte«, erklärte Holmes in einem indifferenten Tonfall. »Aber ich wollte eigentlich wissen, was Sie von dem Schreiben halten.«

»Das Englisch des Händlers ist hundsmiserabel«, begann ich vorsichtig. »Außerdem würde der Eigentümer des Manuskripts sich nicht unter dem Mäntelchen der Anonymität verstecken, wenn er nichts zu verbergen hätte. Schließlich ist es nicht verboten, Tagebücher zu verkaufen. Entweder der Unbekannte will Ihnen eine Fälschung andrehen oder das Tagebuch ist gestohlen.«

»Es ist in der Branche nicht üblich, den Namen eines Verkäufers weiterzureichen. Durch diese Vorsichtsmaßnahme soll verhindert werden, dass der Kunde sich mit dem Verkäufer in Verbindung setzt, wodurch der Händler seine Provision verlieren würde«, wandte Holmes ein, während er seine längst erloschene Pfeife ausklopfte. »Außerdem beginnen Sie wieder einmal mit Schlussfolgerungen, bevor Sie sich zur Schrift, zum Briefpapier und zu anderen objektiven Dingen geäußert haben!«

Ich zuckte hilflos mit den Schultern und blickte verlegen zu Boden.

»Das Briefpapier ist von durchschnittlicher Qualität«, begann Holmes in einem Tonfall, in dem man eine Binsenweisheit sagt. »Man braucht sich seiner nicht zu schämen, aber es ist auch kein besonders repräsentatives Papier. Es stammt aus einer Pariser Manufaktur und ist weder in Montpellier noch in Nîmes erhältlich. In Paris hingegen ist dieses Briefpapier weit verbreitet. Der Verfasser …« Holmes blickte mich an. »Es kann nämlich nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass es sich um einen Mann handelt – hat eine schöne, gleichmäßige Schrift, die nicht recht zu einem älteren Herrn passen will. Daher hat wohl der Besitzer des Tagebuchs diese Zeilen geschrieben und nicht der Antiquar. Der Winkel, in dem sich die Feder auf dem Papier bewegt hat, lässt auf einen mittelgroßen Schreiber schließen, zumindest falls er nicht an einem extrem niedrigen oder hohen Tisch gesessen haben sollte. Die Tinte ist von allererster Qualität. Schauen Sie sich nur das intensive, gesättigte Königsblau an!« Holmes schwenkte das Corpus delicti vor meiner Nase und deutete dabei auf den Text, aber ich hätte lügen müssen, wenn ich behauptet hätte, Holmes’ Folgerungen nachvollziehen zu können.

Holmes faltete den Brief wieder zusammen, steckte ihn in seine Jackentasche und erhob sich von seinem Sessel. Ganz gemächlich schlenderte er zu seinem Experiment und beugte sich über die Apparatur auf dem mittleren Beistelltisch.

»Was haben Sie nun vor?«, entfuhr es mir ganz automatisch, obwohl Holmes mir unmissverständlich signalisiert hatte, dass meine Audienz beendet war.

»Mich der Imkerei widmen und dabei nachdenken!«, erklärte Holmes, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen.

Ich hatte keine Lust, den Rest des schönen Frühlingstages in Holmes’ verräuchertem Salon zu vertrödeln. Der Garten hingegen war mir wegen der Bienen verleidet. »Dann werde ich mir heute Nachmittag etwas die Stadt ansehen. Ich bringe nur schnell meinen Koffer auf das Zimmer und hole den Reiseführer heraus. Es macht mir nichts aus, falls das Bett noch nicht gemacht sein sollte«, erklärte ich, ergriff das Gepäckstück und eilte zur Treppe, damit Holmes mich nicht von meinem Vorhaben abhielt.

»Ich kann Ihnen nur wärmstens den Besuch des Botanischen Gartens empfehlen. Er ist der älteste Frankreichs«, rief er mir nach. »Versäumen Sie auch nicht, das Hôtel Saint-Côme zu besichtigen. Dort gibt es ein hochinteressantes anatomisches Amphitheater, das der erste Chirurg Ludwigs XV. der Stadt testamentarisch gestiftet hat.«

»Ein anatomisches Theater?« Ich drehte mich auf dem Treppenabsatz um. »Das ist doch hoffentlich nicht, was ich mir darunter vorstelle?«

»Doch, das ist es! Auf der runden Bühne steht ein Tisch, auf dem anatomische Demonstrationen stattfanden. Von den nach oben ansteigenden Sitzen konnten die Studenten zuschauen und ihre Kenntnisse verbessern.«

Mich schauderte bei der bloßen Vorstellung, und ich beschloss, bei meinem nachmittäglichen Spaziergang einen großen Bogen um diese horrible Stätte zu machen.

Als ich das Haus verließ, stand die Sonne bereits über dem Hügelland westlich der Stadt. Das milde Abendlicht tauchte die Straßenzüge in warme Töne. Trotzdem waren die an Paris gemahnenden Boulevards und die repräsentativen Gebäude, die das Stadtbild von Montpellier prägten, wenig anheimelnd, auch wenn die meisten Plätze mit anmutigen Fontänen geschmückt waren.

Ich bestaunte das Hôtel de Ville und fragte mich, was die Zimmer in diesem palastartigen Etablissement wohl kosten mochten. Dann passierte ich die trutzige Kathedrale, erreichte die grandiose Place de la Comédie und bog in die Gässchen des Ecusson ein, wo barocke Stadtpaläste standen, die reiche Kaufleute und Staatsdiener errichtet hatten. Nach außen wirkten sie mit ihren kleinen Fenstern abweisend und wenig mediterran. Erst wenn man das Portal geöffnet und den Eingangsbereich hinter sich gelassen hatte, enthüllten sie ihren wohnlichen Charakter. Ich hoffte, dass es uns mit dem Tagebuch genauso ergehen mochte.

Die Hausfrauen riefen von schmiedeeisernen Balkonen ihre Kinder zum Abendessen, denn in den Häuserschluchten war es bereits finster. Es war, als ob die Dämmerung hier rascher einsetzte als anderswo, und ich beschloss, meinen Spaziergang zu beenden, um mich nicht zu verlaufen.

1 Englischer Name von Livorno. Die Hafenstadt ist nicht weit von Florenz entfernt.

2 Holmes erwähnt seine französische Großmutter später noch einmal in Der griechische Dolmetscher.

2. Die Anzeige

Als ich am nächsten Morgen die Treppe zum Salon herunterstieg, saß Holmes mit einem scharlachroten Morgenmantel bekleidet vor dem Kamin und schaute gedankenverloren in die Luft. Ich wollte mich schon unauffällig zurückziehen, doch Holmes hatte meine Anwesenheit bereits bemerkt.

»Jeanne serviert Ihnen das Frühstück in der Küche«, rief er mir zu, machte aber keine Anstalten, mir Gesellschaft zu leisten.

Eine Dankesfloskel vor mich hinmurmelnd zog ich mich zurück, durchquerte die Diele und öffnete die Tür der Küche. Sie war zwar nicht sehr geräumig, aber sehr gemütlich und mit einer beachtlichen Anzahl von Töpfen, Pfannen und Tellern ausgestattet. An der Wand hingen provenzalische Kräuter, deren Geruch den Raum erfüllte, und durch das geöffnete Fenster drang Vogelgesang.

Die Frau, der ich es zu verdanken hatte, dass ich – trotz der Nachlässigkeit des Pächters – in diesem Haus nicht verhungern musste, schnitt gerade ein Stangenbrot in Scheiben. Jeanne war eine gesund wirkende, etwas hausbackene, mollige Frau, die ich auf Anfang dreißig schätzte. Ihr lockiges, braunes Haar hatte sie hochgesteckt, und ohne ihre Schürze hätte ich sie nicht für eine Hausangestellte gehalten, so manierlich war sie gekleidet.

Als ich eintrat, unterbrach sie ihre Arbeit und blickte mich neugierig an. »Guten Morgen! Sie müssen Monsieur Tristram sein?«, fragte sie und verkniff sich mühsam ein Kichern. Kein Wunder, dass sich in ihrem Gesicht bereits die ersten Lachfältchen ankündigten.

Als ich bejahte, machte Jeanne eine einladende Geste zum Tisch, und ich ließ mich auf der Eckbank nieder. Die junge Frau zündete eine Flamme des Gasherdes an und setzte einen Wasserkessel darauf. Dann kredenzte sie mir das, was man auf dem Kontinent unter einem Frühstück verstand, nämlich ein paar Scheiben Weißbrot, etwas Butter und zwei Sorten Marmelade. Dabei musterte sie mich verstohlen aus den Augenwinkeln und vergaß darüber den Wasserkessel, dessen Schnauze bereits dünne Dampfschwaden entließ. Der Kessel begann zu pfeifen, Jeanne schrak zusammen und zog ihn vom Gasherd. Sie brühte meinen Kaffee auf, goss mir vorsichtig etwas von dem dampfenden Getränk in eine Schale und verließ dann hastig die Küche.

Lustlos bestrich ich eine Weißbrotscheibe mit Butter. Seit ich England den Rücken zugekehrt hatte, war kein Morgen vergangen, an dem ich nicht wehmütig an Rührei, Bacon und dicke Bohnen gedacht hatte.

Nach diesem kargen Frühstück kehrte ich in den Salon zurück, aber Holmes nahm keine Notiz von mir. Enttäuschung stieg in mir auf. Ich hatte nicht erwartet, dass Holmes den Fremdenführer für mich spielen würde, aber etwas mehr Aufmerksamkeit hätte er mir schon widmen können! Sein abweisendes Verhalten verstieß gegen die elementarsten Regeln der Gastfreundschaft!

Tief in meinem Inneren hatte ich gehofft, Holmes könnte bei meiner Ankunft in Montpellier einen aufregenden Fall bearbeiten, aber offenbar widmete er sich ausschließlich der Imkerei, der Chemie und der Musik. Wenn sich nicht bald etwas Grundsätzliches änderte, so würde mein Aufenthalt in Südfrankreich kein sehr großes Vergnügen sein. Höchste Zeit, mein Geschick in meine eigenen Hände zu nehmen! Zu allem entschlossen riss ich meinen Hut von der Garderobe und verabschiedete mich von Holmes.

»Ich mache nur einen kleinen Spaziergang«, behauptete ich, was in gewisser Weise auch der Wahrheit entsprach.

»Monsieur Dellaporte hat uns morgen Abend zum Diner eingeladen«, informierte mich Holmes, ohne von seinem Experiment aufzuschauen.

»Es ist sehr freundlich von ihm, seine Einladung auch auf mich auszudehnen! Ich nehme mit dem größten Vergnügen an«, antworte ich automatisch, glaubte aber einen Moment lang, mich verhört zu haben. Seinem Brief hatte ich entnommen, dass Holmes in Montpellier so zurückgezogen wie ein Eremit lebte. Dann fielen mir seine Musikpartner ein. »Ist Monsieur Dellaporte der Cellist Ihres Streichquartetts?«, fragte ich spontan zurück.

»So ist es!« Endlich blickte Holmes von seinem Erlenmeyerkolben hoch. »Aber woher wissen Sie, dass er Cello spielt?«

»Er ist Mitglied eines Streichquartetts, das aus Geige, zwei Celli und Bratsche besteht. Also sprach die Wahrscheinlichkeit für das Cello!«, erklärte ich stolz.

»Keinesfalls! Ein Streichquartett besteht aus zwei Geigen, Bratsche und Cello. Sie haben also geraten und dabei Glück gehabt«, stellte Holmes sachlich fest. »Wir treffen uns für gewöhnlich einmal die Woche zum Musizieren, während die Gemahlinnen meiner drei Musikpartner ein Damenkränzchen besuchen. Diese Woche hat uns Monsieur Dellaporte überraschenderweise zum Abendessen eingeladen. Daher muss meine Violine diesmal zu Hause bleiben.«

»Ich bin schon neugierig darauf, Ihre Musikpartner kennen zu lernen«, erklärte ich und zog hinter mir die Haustür zu.

Mein Plan war, eine Annonce in der lokalen Tageszeitung aufzugeben. Auf dem Weg zum Redaktionsgebäude machte ich einen Abstecher in eine Buchhandlung, wo ich ein Wörterbuch und einen Sprachführer mit dem Titel Französisch für Anfänger erwarb. Mit diesen Hilfsmitteln ausgestattet machte ich es mir in einem Café gemütlich und übersetzte folgende Zeilen mehr schlecht als recht ins Französische: Privatermittler arbeitet schnell, effizient und zu fairen Preisen. Antworten bitte unter Chiffre …

Falls man mir einen Fall anbieten sollte, würde ich ihn selbstredend an Holmes weiterreichen. Mir war keine andere Möglichkeit eingefallen, um Holmes dazu zu bewegen, seine Experimente für eine oder zwei Wochen zu unterbrechen. Scherzhaft überlegte ich, welches Verbrechen ich mir wünschen würde, wenn ich die freie Wahl hätte, und entschied mich für Spionage.

Dann marschierte ich gut gelaunt zur Zeitung, wo ich einem freundlichen, älteren Herrn meinen Wunsch begreiflich zu machen suchte. Doch er verstand mich nicht, obwohl ich Hände und Füße zu Hilfe nahm. Schließlich verschwand er im Nachbarraum und kam mit einem Kollegen zurück, der einen Zwicker trug und einen pedantischen und wortkargen Eindruck machte. Aber zum Glück sprach er etwas Englisch und wir wurden endlich handelseinig.

»Die Anzeige erscheint morgen?«, fragte ich, als ich bezahlt und meine Quittung in Empfang genommen hatte.

»Keinesfalls, Monsieur!« Mein Gesprächspartner blickte entrüstet durch seinen Kneifer. »Selbstverständlich erscheint sie bereits in der heutigen Abendzeitung!«

Einen Augenblick lang hatte ich Angst vor der eigenen Courage. Noch konnte ich alles rückgängig machen! Aber ich gab mir einen Ruck und verabschiedete mich von dem Zeitungsangestellten, obwohl ich das ungute Gefühl hatte, einen Fehler begangen zu haben.

Den restlichen Tag verbrachte ich im Botanischen Garten mit dem Studium meines Sprachführers. Schließlich wollte ich am folgenden Abend bei diesem Monsieur Dellaporte nicht den Taubstummen mimen müssen. Zu meiner Erleichterung kam ich endlich der Verwandtschaft zwischen dem Französischen und dem Italienischen auf die Spur. Nur leider wurden die Wörter völlig anders ausgesprochen als das Schriftbild es suggerierte. Ich versuchte, mich mit den Verben vertraut zu machen, doch nach einer Weile brummte mir vor lauter Ausnahmen der Schädel, und ich fragte mich, ob auch nur ein einziges Verb der Regel folgte.

Mein Magen begann zu knurren, und ich machte mich auf den Rückweg. Als ich die juristische Fakultät der Universität passierte, schritt mir ein korrekt gekleideter französischer Herr entgegen, der wie ein Geschäftsmann wirkte.

Er fasste sich zur Begrüßung an den Hut und fragte mit einer angedeuteten Verbeugung: »Guten Tag, Monsieur! Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie einfach so anspreche, aber ich habe mich verlaufen. Könnten Sie mir vielleicht den Weg zum Bahnhof zeigen?«

Es erfüllte mich mit großem Stolz, dass ich ihn verstanden hatte. »Gehen Sie immer geradeaus«, begann ich, denn zufällig hatte ich diesen Satz gerade gelernt. Leider wusste ich aber nicht, was abbiegen heißt und begann herumzugestikulieren. »Ich gehe in die gleiche Richtung«, fügte ich dann entschuldigend hinzu, aber der Mann hatte die Geduld verloren.

Eine halbherzige Dankesfloskel vor sich hin murmelnd, winkte er eine Droschke herbei und sprang hinein, ehe ich vorschlagen konnte, gemeinsam zum Bahnhof zu fahren.

»Was machen die Sprachstudien?«, wollte Holmes wissen, als ich kurze Zeit später seinen Salon betrat und ich fragte mich, wieso er wusste, womit ich meine Zeit verplempert hatte.

»Bestens«, log ich und überlegte, ob Holmes der Geschäftsmann gewesen sein könnte.

»Vorhin fand ich zufällig in der Zeitung diese Anzeige.« Holmes zog einen winzigen Zeitungsausschnitt aus einer Zigarrenkiste.

Mir erstarrte fast das Blut in den Adern, denn schon aus drei Fuß Entfernung erkannte ich meine eigene Annonce.

»Sie haben in Montpellier eine Geschäftsanzeige aufgegeben?«, fragte Holmes amüsiert, und ich fühlte mich wie ein Ochse, dem man mit dem Hammer gegen die Stirn geschlagen hat.

»Woher wissen Sie …«

»Das herauszufinden war ein Kinderspiel.«

Ich musste diese Feststellung erst einmal verdauen. Also ging ich zur Hausbar und bediente mich selbst.

»Die Grammatikfehler lassen keinen Zweifel daran, dass der kurze Text von einem Engländer verfasst wurde. Zu dieser Beobachtung passt, dass ich Sie heute Morgen das Haus verärgert verlassen sah. Nun kehren Sie sichtlich hochgestimmt zurück, und aus Ihrer Jackentasche lugt ein Sprachführer. Aber Sie erwähnten Ihre Neuerwerbung mit keiner Silbe, was ansonsten gar nicht Ihre Art ist. Wenn man dann noch bedenkt, wie begierig Sie immer darauf waren mir …«

»Genug! Sie können auf dem Jahrmarkt als Hellseher auftreten!«, unterbrach ich ihn lachend, wurde aber sofort wieder ernst. Mir war es peinlich, dass Holmes den Eindruck gewinnen könnte, ich habe vor, mich für längere Zeit bei ihm einzunisten. »Eigentlich habe ich die Anzeige nur aufgegeben, um Ihnen einen neuen Fall zu vermitteln«, stammelte ich nach Worten suchend. »Sie sollten Ihre einmaligen Talente auf keinen Fall weiterhin mit diesen …«, fast hätte ich gesagt kindischen, »… chemischen Experimenten verschwenden.«

Holmes schaute enerviert zur Decke. »Mit irgendetwas muss ich meinen brachliegenden Geist doch schließlich beschäftigen. Die Zeit der genialen Verbrecher ist vorbei. Was bleibt, sind nur Banalitäten. Auf Ihre Anzeige werden sich daher sicherlich nur die Besitzer entlaufener Katzen und verlegter Handschuhe melden. Daher bin ich auf das Studium des Manuskripts gespannt, das ich morgen zu erwerben gedenke«, erklärte er und diese Bemerkung gab mir wieder etwas Auftrieb. Wir hatten also doch einen Fall, wenn auch einen ziemlich alltäglichen.

3. Nîmes

Wir saßen in einem Abteil erster Klasse, das wir für uns allein hatten, was Holmes die Gelegenheit bot, seine Zeitung über mehrere Sitze zu verteilen und hemmungslos zu rauchen. Hinter dem Fenster zogen ausgedehnte Weinfelder wie ein grünes Meer an uns vorbei, und die Olivenbäume glänzten silbrig im Sonnenlicht. Trotz der reizvollen Aussicht brütete ich dumpf vor mich hin, da ich dem bevorstehenden Treffen mit gemischten Gefühlen entgegensah. Einerseits hoffte ich natürlich für Holmes, dass die Übergabe des Tagebuches reibungslos verlaufen möge. Andererseits würde dies unweigerlich bedeuten, dass ich bald keinen Vorwand mehr hätte, in Südfrankreich zu bleiben. Schließlich wollte ich Holmes’ Gastfreundschaft nicht über Gebühr beanspruchen.

Holmes hingegen war die Ruhe selbst. Während der kurzen Fahrt nach Nîmes blätterte er in seiner Zeitung herum, die er erst zur Seite legte, als wir bereits in den Bahnhof eingefahren waren.

Das Ladengeschäft des Antiquars befand sich im Stadtzentrum, nahe der berühmen Maison Carrée3. Glücklicherweise ergatterten wir vor dem Bahnhof eine der Droschken, die unter Alleebäumen warteten.

Während die Räder unseres Gefährts über das Kopfsteinpflaster polterten, staunte ich über die Betriebsamkeit auf den Straßen. Droschken und offene Fuhrwerke von Händlern kamen uns entgegen. Auf den Bürgersteigen flanierten dunkelgekleidete Herren mit Baskenmützen und Damen in hellen, gebauschten Blusen, die Sonnenschirme aufgespannt hatten, obwohl die Frühjahrssonne noch mild war.

Ich hatte die Stadt Nîmes bisher nur mit den weltbekannten römischen Ruinen in Verbindung gebracht. Nun stellte ich fest, dass sich auch die nachantike Stadt durchaus sehen lassen konnte. Wir passierten die römische Arena, die frierend inmitten eines stark frequentierten Kreisverkehrs stand. Wie die Planeten um die Sonne rasten Kutschen und Fuhrwerke um den altehrwürdigen Bau, über dessen Eingang die überdimensionierte Skulptur eines schwarzen Stiers aus Pappmaché angebracht war.

»Wissen Sie zufällig, was dieser Stier zu bedeuten hat?«, fragte ich, da ich einer Bemerkung von Holmes entnommen hatte, dass er die Stadt ganz gut kannte.

»In der Arena werden seit einiger Zeit4 Stierkämpfe veranstaltet.«

»Ich dachte, so etwas gibt es nur in Spanien«, entfuhr es mir.

»Das habe ich früher auch geglaubt, aber das Leben bietet immer wieder Überraschungen.«

Durch das Fenster sah ich einen beflaggten Bau, über dessen Eingang in großen Lettern Hôtel de Ville stand. Gab es in jeder französischen Stadt ein Nobelhotel dieses Namens? Fast hätte ich Holmes gefragt, aber dann schaute ich doch lieber in meinen Reiseführer. Fassungslos las ich, dass Hôtel de Ville auf Französisch Rathaus hieß. Wie gut, dass ich nicht nachgefragt hatte!

Um exakt 14 Uhr verließen wir die Kutsche und überquerten den kleinen Platz, an dem sich das Ladengeschäft des Antiquars befand. Im Schaufenster lagen dicke Schwarten zur französischen Geschichte des 18. Jahrhunderts, sowie Stiche mit Modeillustrationen im Rokokostil.

Als Holmes die Ladentür aufzog, ertönte eine schrille Glocke. Im Innenraum hing der beißende Rußgeruch unlängst gelöschter Kerzen, der sich mit dem Aroma frisch gemahlenen Kaffees mischte. Schlagartig wurde mir bewusst, wie träge und apathisch mich die Zugfahrt gemacht hatte. Der Verkaufsraum war mit Regalen aus rotem Mahagoni möbliert, denen es nicht geschadet hätte, wenn sie ab und zu gesäubert worden wären.

Die prächtigen Lederrücken der Bücher mit ihrem Goldschnitt standen in starkem Kontrast zu der Staubschicht auf den Möbeln.

Der Antiquar kam mit eckigen Bewegungen aus einem Hinterraum geschritten. Bei unserem Anblick setzte er ein gewinnendes Lächeln auf. »Bonjour, Messieurs, womit kann ich dienen?«, fragte er mit einem drolligen, französischen Akzent, und es gab mir zu denken, dass er uns auf den ersten Blick als Briten identifiziert hatte.