Shuggie Bain - Stuart Douglas - E-Book

Shuggie Bain E-Book

Stuart Douglas

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Beschreibung

Für seinen Roman „Shuggie Bain“ wurde Douglas Stuart mit dem Booker Preis 2020 ausgezeichnet. „Das beste Debüt, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.“ (Karl Ove Knausgård) „Dieses Buch werdet ihr nicht mehr vergessen.“ (Stefanie de Velasco)

Shuggie ist anders, zart, fantasievoll und feminin, und das ausgerechnet in der Tristesse und Armut einer Arbeiterfamilie im Glasgow der 80er-Jahre, mit einem Vater, der virile Potenz über alles stellt. Shuggies Herz gehört der Mutter, Agnes, die ihn versteht und der grauen Welt energisch ihre Schönheit entgegensetzt, Haltung mit makellosem Make-up, strahlend weißen Kunstzähnen und glamouröser Kleidung zeigt - und doch Trost immer mehr im Alkohol sucht. Sie zu retten ist Shuggies Mission, eine Aufgabe, die er mit absoluter Hingabe und unerschütterlicher Liebe Jahr um Jahr erfüllt, bis er schließlich daran scheitern muss. Ein großer Roman über das Elend der Armut und die Beharrlichkeit der Liebe, tieftraurig und zugleich von ergreifender Zärtlichkeit.

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Über das Buch

Für seinen Roman »Shuggie Bain« wurde Douglas Stuart mit dem Booker Preis 2020 ausgezeichnet. »Das beste Debüt, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.« (Karl Ove Knausgård) »Dieses Buch werdet ihr nicht mehr vergessen.« (Stefanie de Velasco)Shuggie ist anders, zart, fantasievoll und feminin, und das ausgerechnet in der Tristesse und Armut einer Arbeiterfamilie im Glasgow der 80er-Jahre, mit einem Vater, der virile Potenz über alles stellt. Shuggies Herz gehört der Mutter, Agnes, die ihn versteht und der grauen Welt energisch ihre Schönheit entgegensetzt, Haltung mit makellosem Make-up, strahlend weißen Kunstzähnen und glamouröser Kleidung zeigt — und doch Trost immer mehr im Alkohol sucht. Sie zu retten ist Shuggies Mission, eine Aufgabe, die er mit absoluter Hingabe und unerschütterlicher Liebe Jahr um Jahr erfüllt, bis er schließlich daran scheitern muss. Ein großer Roman über das Elend der Armut und die Beharrlichkeit der Liebe, tieftraurig und zugleich von ergreifender Zärtlichkeit.

Douglas Stuart

Shuggie Bain

Roman

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz

Hanser Berlin

Inhalt

1992

1981

1982

1989

1992

Danksagungen

Für meine Mutter, A. E. D.

1992

SOUTH SIDE

Eins

Der Tag war mau. Am Morgen hatte ihn sein Geist verlassen, und sein Körper spukte hier unten allein herum. Stumpfsinnig erledigte seine leere Hülle die Routine, bleich und mit stierem Blick unter den Neonröhren, während seine Seele über den Gängen schwebte und an morgen dachte. Morgen war etwas, worauf man sich freuen konnte.

Shuggie bereitete seine Schicht akribisch vor. Er hatte die öligen Dips und Soßen in saubere Schalen umgefüllt. Er hatte die Ränder blank gewischt, damit die Spritzer nicht braun wurden und die Illusion von Frische zerstörten. Er hatte die aufgeschnittenen Schinken kunstvoll mit Plastikpetersilie garniert, und die Oliven gewendet, damit ihnen der zähe Saft wie Rotz über die grüne Haut rann.

Ann McGee war schon wieder so dreist gewesen, sich morgens krankzumelden und ihm die undankbare Aufgabe zu überlassen, neben seiner Feinkosttheke auch noch ihren Grillstand zu bedienen. Kein Tag war gut, der mit sechs Dutzend rohen Broilern anfing, und ausgerechnet heute raubten sie seinen Tagträumen die Süße.

Er rammte die Spieße durch die kalten, toten Vögel und reihte sie ordentlich auf. Da hingen sie, die kurzen Flügel über der fetten, kleinen Brust gekreuzt, wie lauter kopflose Babys. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er auf seine Ordnung stolz gewesen wäre. Eigentlich war es nicht schwer, das Metall durch das hubbelige rosa Fleisch zu bohren; schwer war es, dem Drang zu widerstehen, das Gleiche mit den Kundinnen zu tun. Sie gafften über die heiße Scheibe und nahmen jeden Kadaver unter die Lupe. Sie wollten das allerbeste Hähnchen, weil sie nicht kapierten, dass durch die industrielle Geflügelproduktion sowieso alle identisch waren. Shuggie würde danebenstehen, sich auf die Innenseite der Wangen beißen und ihre Unentschlossenheit mit einem gezwungenen Lächeln über sich ergehen lassen. Und dann fing der Zirkus erst richtig an. »Machma drei Brüste, fünf Schenkel und een Flügel, Lütter.«

Er betete um Kraft. Warum wollte heute niemand mehr ein ganzes Hähnchen? Er würde die Vögel mit einer langstieligen Grillzange herunternehmen, darauf achten, dass er die anderen nicht mit dem Handschuh berührte, und dann würde er sie sauber (Haut intakt) mit der Geflügelschere zerlegen. Wenn er vor den Bratrostlampen stand, kam er sich vor wie ein Hampelmann. Seine Kopfhaut schwitzte unter dem Haarnetz, und seinen Händen fehlte die letzte Kraft, um den Viechern mit den stumpfen Klingen fachmännisch das Rückgrat durchzuknipsen. Er beugte sich leicht vor, verstärkte mit den Rückenmuskeln den Druck seiner Hände und lächelte die ganze Zeit dabei.

Wenn er richtig Pech hatte, rutschte er mit der Zange ab, und das Hähnchen glitt ihm weg, fiel auf den Boden und schlitterte auf den dreckigen Fliesen davon. Dann musste er so tun, als würde er noch mal von vorne anfangen, auch wenn er nie ein Huhn verschwendete, nur weil es schmutzig war. Sobald ihm die Frauen den Rücken zukehrten, steckte er das Vieh wieder zu seinen Schwestern unter die heißen gelben Lampen. Eigentlich hielt er viel von Hygiene, aber die kleinen heimlichen Triumphe bewahrten ihn davor, ausfällig zu werden. Die meisten der pingeligen, mannsgesichtigen Hausfrauen, die hier einkauften, hatten es nicht anders verdient. Unter ihren abschätzigen Blicken lief sein Nacken knallrot an. An besonders miesen Tagen brachte er im Taramasalata alle möglichen Körperausscheidungen unter. Den Spießerscheiß verkaufte er wie geschnitten Brot.

Er arbeitete seit über einem Jahr bei Kilfeathers. So lange hatte er nie bleiben wollen. Aber er musste essen und jede Woche Miete zahlen, und der Supermarkt war der einzige Laden, der ihn nahm. Mr Kilfeather war ein geiziger Sack; er stellte gerne Leute ein, die er nicht wie Erwachsene bezahlen musste, und Shuggie konnte kurze Schichten übernehmen, die in die Lücken seines Stundenplans passten. Er träumte davon weiterzukommen. Am glücklichsten war er immer gewesen, wenn er Haare bürsten und frisieren konnte; das war das Einzige, worüber er wirklich die Zeit vergaß. An seinem sechzehnten Geburtstag hatte er sich fest vorgenommen, auf die Friseurschule im Süden des River Clyde zu gehen. Er hatte alles zusammengesucht, was ihn inspirierte, die Skizzen, die er aus dem Littlewoods-Katalog abgezeichnet hatte, und die herausgerissenen Seiten aus den Sonntagsmagazinen. Dann war er nach Cardonald gefahren, um sich nach Abendkursen zu erkundigen. An der Bushaltestelle vor dem College stieg er mit einem halben Dutzend Achtzehnjährigen aus. Sie trugen neue, supermodische Klamotten und überspielten mit strotzendem Selbstbewusstsein ihre Nervosität. Shuggie trottete hinter ihnen her. Er sah, wie sie im Eingang verschwanden, dann wechselte er die Straßenseite und nahm den Bus zurück. Eine Woche später hatte er bei Kilfeathers angefangen.

In der Vormittagspause ging Shuggie die beschädigten Konserven in den Sonderangebotskörben durch. Er fand drei kleine Dosen schottischen Lachs, die kaum etwas abbekommen hatten — die Etiketten waren zerkratzt und verschmiert, aber die Dosen selbst noch in Ordnung. Mit dem letzten Rest seines Lohns zahlte er für den kleinen Einkauf und verstaute die Dosen in seiner alten Schultasche, die er wieder in den Spind schloss. Dann stieg er die Treppe zur Kantine hoch und versuchte cool zu wirken, als er am Tisch der Studenten vorbeiging, die im Sommer immer die leichten Schichten hatten und sich in den Pausen mit ihren dicken Ordnern wichtigmachten. Shuggie richtete den Blick auf einen unbestimmten Punkt im Raum und setzte sich nicht direkt zu den Mädels von den Kassen, aber in ihre Nähe.

Die Mädels waren drei gestandene Glaswegerinnen. Ena, die Anführerin, war eine Bohnenstange mit Pokerface und fettigem Haar. Sie hatte kaum Augenbrauen, aber einen Damenbart, was Shuggie unfair fand. Ena war selbst für dieses Ende von Glasgow derb, aber sie war warmherzig und großzügig, wie es bei Menschen, die viel mitgemacht haben, häufig der Fall war. Die jüngste war Nora mit dem straffen Pferdeschwanz. Wie Ena hatte sie kleine, stechende Augen, und sie war mit dreiunddreißig schon Mutter von fünf. Die dritte im Bunde war Jackie. Im Unterschied zu den beiden anderen sah sie sehr weiblich aus. Jackie war ein lautes Klatschmaul, ein dickes, vollbusiges Sofa von einer Frau. Sie mochte Shuggie am liebsten.

Er setzte sich in ihre Nähe und bekam noch das Ende der Saga von Jackies letztem Kerl mit. Man konnte sich darauf verlassen, dass die drei immer einen Haufen harmlosen Tratsch auf Lager hatten. Zweimal hatten sie ihn zum Bingoabend mitgenommen, und während die Frauen tranken und wiehernd lachten, saß er dazwischen wie ein Teenager, den man nicht allein zu Hause lassen konnte. Es hatte ihm gefallen, wie entspannt sie zusammensaßen. Das Bollwerk ihrer massigen Körper und die weichen Fleischrollen, die gegen ihn drückten. Er mochte es, wie sie ihn bemutterten, und obwohl er sich sträubte, mochte er auch, wie sie ihm das Haar aus der Stirn strichen und sich den Daumen anleckten, um seine Mundwinkel abzuwischen. Umgekehrt bot Shuggie den Frauen eine Art von männlicher Aufmerksamkeit, bei der es keine Rolle spielte, dass er erst sechzehn Jahre und drei Monate alt war. Bei La Scala Bingo hatte jede von ihnen mindestens einmal versucht, ihm unter dem Tisch wie zufällig an den Schwanz zu fassen. Die Berührungen waren zu lang, zu suchend, um als Zufall durchzugehen. Für die augenbrauenlose Ena war es fast zum Kreuzzug geworden. Je tiefer sie ins Glas schaute, desto hemmungsloser wurde sie. Sie schickte ihre beringten Finger los, klemmte sich die dicke Zunge zwischen die Zähne und sah ihn mit sengendem Blick von der Seite an. Wenn Shuggie dunkelrot vor Verlegenheit wurde, schnalzte sie mit der Zunge, und Jackie schob der triumphierenden Nora zwei Pfundnoten über den Tisch zu. Natürlich war er eine Enttäuschung, aber als sie noch weiter tranken, beschlossen sie, dass es keine echte Abfuhr gewesen war. Irgendwas stimmte mit dem Jungen nicht, und wenigstens konnten sie Mitleid mit ihm haben.

Shuggie saß im Dunkeln und lauschte dem unregelmäßigen Schnarchen durch die Wand. Er versuchte vergeblich, die einsamen Männer zu ignorieren, die keine Familie hatten. In der Morgenkälte waren seine nackten Schenkel tartanblau, also wickelte er sich in ein dünnes Handtuch und kaute nervös an einem Zipfel, der beruhigend zwischen seinen Zähnen quietschte. Er reihte den Rest seines Supermarktlohns an der Tischkante auf. Dann sortierte er die Münzen, erst nach Wert, dann nach Glanz und Prägestempel.

Nebenan erwachte der Mann mit dem rosa Gesicht ächzend zum Leben. Geräuschvoll kratzte er sich auf der schmalen Pritsche und betete seufzend um die Willenskraft aufzustehen. Seine Füße landeten flatschend am Boden, wie zwei schwere Metzgertüten, und es klang, als kostete es ihn Anstrengung, durch das kleine Zimmer zur Tür zu schlurfen. Er machte sich an den vertrauten Schlössern zu schaffen und trat in den immer dunklen Flur, wo er sich blind vorantastete. Seine Hand glitt über die Wand und fiel gegen Shuggies Tür. Der Junge hielt die Luft an, als die Finger über die Türfüllung rutschten. Erst als er das Klicken des Schnurschalters im Bad hörte, atmete er auf. Der alte Mann begann zu husten und seine Lungen wachzuräuspern. Shuggie versuchte nicht hinzuhören, als er beim Pissen Schleimbatzen in die Schüssel spuckte.

Das Morgenlicht hatte die Farbe von zu milchigem Tee. Es schlich sich ins Zimmer wie ein listiges Gespenst, kroch über den Teppich und kletterte an Shuggies nackten Beinen hoch. Er schloss die Augen und versuchte zu spüren, wie es heraufkam, aber es war keine Wärme darin. Er wartete, bis er dachte, dass er vielleicht ganz im Licht saß, dann öffnete er die Augen wieder.

Einhundert gemalte Augenpaare starrten ihm entgegnen, einsam oder mit gebrochenem Herzen, genau wie immer. Die Porzellanballerinas mit ihren kleinen Welpen, die Spanierin mit den tanzenden Matrosen und der rosige Bauernjunge, der seinen faulen Gaul hinter sich herzog. Shuggie hatte die Figuren ordentlich auf dem Fensterbrett aufgestellt. Er dachte sich stundenlang Geschichten für sie aus. Der feiste Schmied mit den engelsgesichtigen Chorknaben, oder seine Lieblingsszene, sieben riesige Katzenbabys, die grinsend den faulen Hirten bedrohten.

Sie heiterten die Absteige wenigstens ein bisschen auf. Das möblierte Zimmer war höher als lang, und das schmale Bett stand in der Mitte wie ein Raumteiler. Auf einer Seite davon war ein altmodisches Zweiersofa, ein Holzgestell mit dünnen Polstern, durch die man die Sprossen im Rücken spürte. Auf der anderen Seite standen ein Minikühlschrank und ein kleiner Belling-Herd mit zwei Platten. Bis auf das nicht gemachte Bett war alles ordentlich: kein Staub, keine Kleider von gestern, kein Lebenszeichen. Shuggie versuchte sich zu beruhigen, indem er die unpassenden Laken glattstrich. Seine Mutter hätte die Bettwäsche gehasst, die zusammengewürfelten Muster und Farben, als wäre ihm egal, was die Leute dachten. Der Anblick hätte ihren Stolz verletzt. Irgendwann würde er Geld für neue Bettwäsche sparen, seine eigene, weich und warm und alles in derselben Farbe.

Er konnte froh sein, dass er das Zimmer in Mrs Bakhshs Herberge bekommen hatte. Er hatte Glück gehabt, dass der Alte, der vor ihm hier war, gern einen über den Durst trank und deswegen in den Knast gewandert war. Das große Erkerfenster ragte stolz auf den Albert Drive hinaus, und Shuggie schätzte, dass das Zimmer früher mal das Wohnzimmer einer ziemlich eleganten Wohnung mit drei Schlafzimmern gewesen war. Er hatte ein paar der anderen Zimmer gesehen. In der ehemaligen Küche, die Mrs Bakhsh auch als Wohnraum vermietete, war noch das alte karierte Linoleum, und in den drei anderen schuhkartongroßen Zimmern lag immer noch der ursprüngliche fadenscheinige Teppich. Der Mann mit dem rosa Gesicht bewohnte offenbar ein ehemaliges Kinderzimmer mit gelb geblümter Tapete und einer fröhlichen Häschen-Bordüre unter dem Stuck. Sein Bett, sein Sessel und sein Herd standen nebeneinander an einer Wand, ohne Zwischenraum. Shuggie hatte es durch den Türspalt gesehen, und er war froh über sein großes Erkerfenster.

Es war ein Glück, dass er die Pakistanis gefunden hatte. Von den anderen hatte keiner an einen fünfzehnjährigen Jungen vermieten wollen, der behauptete, er wäre gestern sechzehn geworden. Sie hatten es zwar nicht laut gesagt, aber sie hatten zu viele Fragen gestellt. Sie hatten sein bestes Schulhemd und die polierten Schuhe argwöhnisch beäugt. Da stimmt was nicht, hatte ihr Blick gesagt. Er sah an ihren Mundwinkeln, dass sie dachten, es sei eine Schande für einen Jungen in seinem Alter, keine Mammy zu haben, keine eigenen Leute.

Mrs Bakhsh war es egal. Sie warf einen Blick auf seinen Schulrucksack und die Monatsmiete, die er im Voraus zahlte, und dann kümmerte sie sich wieder darum, ihre eigenen Blagen satt zu kriegen. Den Umschlag mit der ersten Miete hatte Shuggie mit blauem Kugelschreiber verziert. Damit wollte er ihr zeigen, dass ihm Manieren wichtig waren, dass er verlässlich war, sich Mühe gab. Er hatte eine Seite aus seinem Geografieheft gerissen und ein verschnörkeltes Paisley-Muster daraufgemalt, das sich um ihren Namen schlang, und dann hatte er die Zwischenräume ausgemalt, so dass die Pfauenaugen in kobaltblauer Pracht hervorstachen.

Die Wirtin wohnte auf der anderen Straßenseite in einer identischen Wohnung mit üppigen Möbeln und voll aufgedrehter Zentralheizung. In der zweiten, kalten Wohnung hielt sie fünf Männer in fünf Zimmern für achtzehn Pfund und fünfzig Pence, wochenweise, nur in bar. Die beiden, deren Miete nicht das Sozialamt übernahm, mussten freitagabends den Großteil ihres Lohns bei ihr unter der Tür durchschieben, bevor sie den Rest versoffen. Auf der Fußmatte kniend harrten sie einen Moment aus und inhalierten die Behaglichkeit, die von innen nach außen strömte: blubbernde Töpfe mit duftendem Hähnchencurry, fröhliche Kinder, die sich ums Fernsehprogramm balgten, und das Lachen dicker Frauen, die am Küchentisch fremde Wörter sprachen.

Die Wirtin ließ Shuggie in Ruhe. Sie setzte nie einen Fuß in die Zimmer, außer wenn jemand mit der Miete spät dran war. Dann kam sie in Begleitung anderer dickarmiger Pakistanerinnen und klopfte laut an die Türen der Männer. Aber meistens kam sie nur, um den fensterlosen Flur zu saugen oder einmal durchs Bad zu wischen. Einmal im Monat kippte sie Bleiche in die Kloschüssel, und manchmal legte sie einen neuen Teppichrest vors Klo, um die Pisse aufzusaugen.

Shuggie lehnte das Gesicht an seine Tür und lauschte, ob der Mann mit dem rosa Gesicht seine Waschungen beendet hatte. In der Stille hörte er, wie er den Riegel der Badezimmertür zurückschob und wieder in den Flur kam. Der Junge schlüpfte in seine alten Schulschuhe. Dann zog er die Jacke über die Unterhose, ein raschelnder nylonhäutiger Parka, dessen Kapuze mit verfilztem Pelz gesäumt war. Er schloss den Reißverschluss bis zum Kinn und steckte eine Einkaufstüte von Kilfeathers und zwei dünne Geschirrtücher in die großen Taschen.

Er hatte den Spalt unter der Tür mit einem Schulpullover abgedichtet. Als er ihn wegnahm, roch er im kalten Luftzug die anderen Männer. Einer hatte wieder die ganze Nacht geraucht; der andere hatte Fisch zu Abend gegessen. Shuggie öffnete die Tür und glitt in die Dunkelheit.

Mrs Bakhsh hatte die einzige Glühbirne aus der Fassung gedreht, weil sie sagte, die Männer verschwendeten gutes Geld, indem sie Tag und Nacht die Lampe brennen ließen. Im Flur hing der Geruch der Männer wie die Fährten alter Geister, ohne Luft oder Licht konserviert. Jahre, in denen sie im Bett rauchten, in Fett Gebratenes vor dem Heizofen verdrückten, Sommertage bei geschlossenen Fenstern verbrachten. Die schalen Gerüche von Schweiß und Sperma vermischt mit der statischen Hitze von Schwarzweißfernsehern und der Schärfe von holzigem Aftershave.

Shuggie hatte gelernt, die Männer auseinanderzuhalten. Im Dunkeln hörte er den Mann mit dem rosa Gesicht, wenn er aufstand, um sich zu rasieren und Brillantine ins Haar zu kämmen, und er roch den muffigen Mantel des Manns mit den gelben Zähnen, der nur Dinge aß, die nach buttertreifendem Popcorn oder Sahne-Fisch stanken. Später, wenn die Pubs zumachten, wusste Shuggie genau, wann jeder Mann wieder wohlbehalten zu Hause war.

Die Tür des Gemeinschaftsbads hatte eine Strukturglasscheibe. Er schob den Riegel vor, blieb einen Moment stehen und drückte die Klinke, um sicherzugehen, dass das Schloss griff. Er zog sich den schweren Parka aus und legte ihn in die Ecke. Als er den Warmwasserhahn anstellte und die Hand darunterhielt, lief ein Rest lauwarmes Wasser heraus, bevor der Hahn zweimal prustete und es kälter wurde als der River Clyde. Der Schock war so eisig, dass sich Shuggie die Finger in den Mund schob. Er nahm ein Fünfzig-Pence-Stück, drehte es wehmütig hin und her, dann steckte er es in den Durchlauferhitzer und sah zu, wie die kleine Gasflamme aufflackerte.

Als er den Hahn wieder aufdrehte, war das Wasser erst eiskalt, und dann schoss es mit einem Rülpser kochend heiß heraus. Shuggie hielt das Geschirrtuch darunter und rieb sich die kalte Brust und den weißen Hals damit ab, froh über die dampfende Hitze. Er tauchte Gesicht und Kopf in die willkommene Wärme, hielt sie einen Moment dort und träumte davon, eine Badewanne bis zum Rand volllaufen zu lassen. Er stellte sich vor, im heißen Wasser zu liegen, weit weg von den Gerüchen der anderen Mieter. Es hatte lange nicht das Gefühl gehabt, richtig aufzutauen, dass ihm überall gleichzeitig warm war.

Er hob den Arm und rieb ihn vom Handgelenk bis zur Schulter ab. Dann spannte er die Muskeln an und ließ die Finger um seinen Bizeps kreisen. Wenn er wollte, konnte er fast die Hand darum schließen, und wenn er drückte, spürte er die Umrisse seiner Knochen. Seine Achsel war mit feinen Flusen gepudert, wie die Federn frisch geschlüpfter Enten. Er hielt die Nase daran; seine Achsel roch süß und sauber und nach nichts. Er zwickte und drückte die Haut, versuchte, das weiche Fleisch zu melken, bis es rot war; dann roch er an seinen Fingern, aber immer noch nichts. Während er sich fester abrieb, murmelte er vor sich hin: »Scottish Football League. Rangers: 22 gewonnen, 14 unentschieden, 8 verloren, 58 Punkte. Aberdeen: 17 gewonnen, 21 unentschieden, 6 verloren, 55 Punkte. Motherwell: 14 gewonnen, 12 unentschieden, 10 verloren.«

Im Spiegel war sein nasses Haar kohlschwarz. Als er es sich über das Gesicht kämmte, stellte er überrascht fest, dass es ihm bis zum Kinn reichte. Er betrachtete sich, versuchte, etwas Männliches zu finden, das er bewundern könnte: die schwarzen Locken, die milchige Haut, die hohen Wangenknochen. Er fing seinen Blick im Spiegel auf. Etwas stimmte nicht mit ihm. Richtige Jungs waren anders gebaut. Wieder rieb er sich ab. »Rangers: 22 gewonnen, 14 unentschieden, 8 verloren, 58 Punkte. Aberdeen: 17 gewonnen, 21 …«

Im Flur waren Schritte zu hören, das vertraute Quietschen schwerer Lederschuhe, und dann nichts. Die dünne Tür rappelte nachdrücklich im Schloss. Shuggie griff nach dem Parka und schlüpfte mit nasser Haut hinein.

Als er bei Mrs Bakhsh eingezogen war, hatte ihn nur einer der anderen Bewohner beachtet. Der Mann mit dem rosa Gesicht und der Mann mit den gelben Zähnen waren zu blind oder zu versoffen, um ihn zu bemerken. Doch an seinem ersten Abend, als Shuggie auf dem Bett saß und einen gebutterten Kanten Weißbrot aß, hatte es an seine Tür geklopft. Lange war der Junge ganz still geblieben, bevor er sich durchrang, die Tür aufzumachen. Der Mann, der davorstand, war groß und untersetzt und roch nach Kiefernseife. Er hielt eine Tüte mit zwölf Dosen Lager in der Hand, die klimperten wie gedämpftes Kirchengeläut. Mit fester Pranke stellte er sich als Joseph Darling vor und hielt dem Jungen lächelnd die Tüte hin. Shuggie hatte versucht, höflich nein danke zu sagen, wie man es ihm beigebracht hatte, aber irgendwas an dem Mann hatte ihn eingeschüchtert, und Shuggie hatte ihn doch hereingelassen.

Sie hatten schweigend dagesessen, Shuggie und sein Besucher, auf der Kante des ordentlich gemachten Einzelbetts, und auf die Mietskasernen gegenüber gestarrt. Protestantische Familien aßen vor dem Fernseher, und die Putzfrau nebenan aß allein an ihrem Klapptisch. Schweigend tranken die beiden und beobachteten die Fremden bei ihren täglichen Verrichtungen. Mr Darling behielt seine dicke Tweedjacke an. Unter seinem Gewicht gab die Matratze nach, und Shuggie rutschte in seine Breitseite. Im Augenwinkel sah Shuggie, wie seine dicken gelben Fingerspitzen nervös aneinandertippten. Shuggie hatte nur aus Höflichkeit einen Schluck getrunken, und während der Mann sprach, konnte er nur an den Geschmack des Dosen-Ale denken, wie fade und traurig es schmeckte. Es erinnerte ihn an Dinge, die er lieber vergessen würde.

Mr Darling hatte eine nachdenkliche, halbverschlossene Art. Shuggie gab sich Mühe, nett zu sein und zuzuhören, als der Mann erzählte, dass er früher Hausmeister einer protestantischen Schule gewesen sei, die sie geschlossen und mit der katholischen zusammengelegt hatten, um dem Fiskus Geld zu sparen. Die Tatsache, dass die Protestanten-Kinder friedlich mit den Katholiken-Bälgern herumrennen sollten, erschütterte Mr Darling offenbar mehr, als dass er arbeitslos geworden war.

»Nich zu fassen!«, sagte er, mehr zu sich selbst. »Früher hat Religion noch wat ausgesagt über die Leute. Wennde zur Schule gefahn bist, haste dich durch Busladungen kohlfressender Katholiken-Kacker durchboxen müssen. Biste stolz drauf gewesen. Aber heute springen ordentlich Mädchen genauso schnell min räudigen Mick inne Kiste wie min Hund.«

Shuggie tat so, als würde er noch einen Schluck trinken, aber er spülte sich mit dem Bier nur die Zähne und ließ es zurück in die Dose laufen. Mr Darling ließ den Blick über die Wände wandern, als suchte er nach einem Zeichen. Dann warf er einen verstohlenen Seitenblick auf den Jungen, als seien ihm plötzlich Zweifel an seinem Publikum gekommen: »Auf wat fürner Schule warst du eigentlich?«

Shuggie wusste, worauf er hinauswollte. »Ich bin weder noch, und ich gehe noch zur Schule.« Es stimmte, er gehörte weder zu den Katholiken noch zu den Protestanten, und er ging noch zur Schule, wenn er sich leisten konnte, nicht im Supermarkt zu stehen.

»Ach ja? Und wat kannste am besten?«

Der Junge zuckte die Schultern. Es war keine falsche Bescheidenheit, er war einfach in nichts gut. Er fehlte oft, und deshalb war es schwer, dem Stoff zu folgen. Meistens ging er hin und setzte sich leise nach hinten, damit ihm wegen der Fehlstunden nicht das Schulamt auf die Pelle rückte. Wenn in der Schule rauskam, wie er lebte, wären sie gezwungen, was zu unternehmen.

Der Mann trank die zweite Dose aus und griff schon zur dritten. Shuggie spürte das Brennen von Mr Darlings heißem Finger an seinem Bein. Er hatte die Hand auf die Matratze gelegt, und der kleine Finger mit dem Münzring berührte Shuggie kaum. Er lag ganz still da, zuckte nicht mal. Er war einfach da, und deswegen brannte er umso mehr.

Jetzt stand Shuggie im feuchten Bad und hielt sich den Parka zu. Mr Darling begrüßte ihn altmodisch, indem er sich an den Schild seiner Tweedmütze tippte. »Hab nur geklopft, um zu hören, ob du später noch da bist?«

»Heute? Ich weiß nicht. Ich muss ein paar Gänge machen.«

Enttäuschung glitt über Mr Darlings Gesicht. »Mieser Tag dafür.«

»Ich weiß. Aber ich hab es jemand versprochen.«

Mr Darling saugte an seinen großen, weißen Zähnen. Er war so hochgewachsen, dass es dauerte, bis er sich zu voller Größe aufgerichtet hatte. Shuggie stellte sich Generationen von protestantischen Kindern vor, die im Gänsemarsch durch die Schule schlichen und eine Heidenangst vor seinem langen Schatten hatten. Er sah, dass sein Gesicht schon rot war und sich über seinen Brauen ein Streifen Säuferschweiß bildete. Er hatte durchs Schlüsselloch gelinst, Shuggie war sich ganz sicher.

»Das is aber schade. Ich wollt grade die Stütze abholen, vielleicht bein Brewers Arms haltmachen un nochne schnelle Wette abschließen. Aber später hattich gehofft, wir könntn nochn paar Dosen zusammen trinken. Vielleicht auffer Flimmerkiste die Fußballergebnisse gucken? Und ich könnt dir wat über die englische Liga beibringen?« Der Mann sah auf den Jungen herab und versenkte die Zunge in den hinteren Backenzähnen.

Wenn Shuggie es geschickt anstellte, war der Mann immer für ein paar Pfund gut. Aber es würde zu lange dauern, bis Mr Darling sein Arbeitslosengeld ausgezahlt bekam, von der Post zum Wettbüro zum Pub stapfte, und dann nach Hause, falls er den Weg nach Hause überhaupt noch fand. So lange konnte Shuggie nicht warten.

Der Junge ließ den Parka los, und Mr Darling tat so, als würde er nicht hinstarren, als die Jacke vorne aufging. Aber er konnte sich nicht beherrschen, und Shuggie sah, wie das graue Licht in seinen grünen Augen nach unten rutschte. Shuggie spürte das Brennen auf seiner weißen Brust, als der Blick des Mannes abwärtswanderte, über die weite Unterhose zu den nackten Beinen, diesen unscheinbaren weißen haarlosen Stecken, die wie lose Fäden aus dem Saum seiner schwarzen Jacke hingen.

Erst dann lächelte Mr Darling.

1981

SIGHTHILL

Zwei

Agnes Bain drückte die Zehen in den Teppich und lehnte sich, so weit es ging, in die Nachtluft hinaus. Feuchter Wind liebkoste ihren heißen Nacken und fuhr in ihr Kleid. Er fühlte sich an wie die Hand eines Fremden, ein Lebenszeichen, eine Erinnerung an das Leben. Sie schnippte die Zigarettenkippe weg und sah der leuchtenden Glut hinterher, die sechzehn Stockwerke nach unten auf den dunklen Vorplatz tanzte. Agnes wollte der Stadt ihr weinrotes Samtkleid zeigen. Sie wollte von Fremden beneidet werden, wollte mit Männern tanzen, die sie stolz an sich drückten. Aber vor allem wollte sie was trinken und sich ein bisschen amüsieren.

Mit gestreckten Waden drückte sie die Hüfte gegen den Fensterrahmen, verlagerte den Schwerpunkt, nahm alles Gewicht von den Zehen. Ihr Körper kippte nach vorn zu den gelben Lichtern der Stadt, und in ihre Wangen strömte Blut. Sie streckte die Arme nach den Lichtern aus, und einen kurzen Moment lang konnte sie fliegen.

Niemand achtete auf die fliegende Frau.

Sie spielte mit dem Gedanken, noch weiter zu kippen, als Mutprobe. Wie leicht es wäre, sich einzureden, sie könnte wirklich fliegen, bis sie nur noch fiel und unten auf dem Beton aufschlug. Die Hochhauswohnung, die sie immer noch mit ihren Eltern teilte, engte sie ein. Alles in dem Zimmer hinter ihr fühlte sich klein an, so niedrig und stickig, vom Zahltag bis zur Sonntagsmesse, ein Leben auf Pump, wo nichts rechtmäßig ihr zu gehören schien.

Neununddreißig und mit ihrem Mann und ihren drei Kindern, von denen zwei schon fast erwachsen waren, in Mammys Wohnung eingepfercht, es war ein Gefühl, als wäre sie gescheitert. Er, ihr Mann, der, wenn er da war, an der äußersten Bettkante zu liegen schien, machte sie wütend mit seinen hingeworfenen Versprechen eines besseren Lebens. Agnes wollte das alles hier hinter sich bringen, das ganze Zeug wegkratzen wie alte Tapeten. Sie wollte die Fingernägel darunterschieben und alles abreißen.

Gelangweilt ließ sich Agnes in das muffige Zimmer zurückfallen und spürte wieder Mammys sicheren Teppich unter den Füßen. Die anderen hatten nicht einmal aufgesehen. Lustlos ließ sie die Nadel über den Plattenteller schrammen. Sie griff sich ins Haar und drehte die Lautstärke auf. »Ach, kommt schon, bitte, nur einen kleinen Tanz?«

»Tschut, nich jetz«, zischte Nan Flannigan. Fieberhaft sortierte sie ihre Silber- und Kupfermünzen zu ordentlichen Türmen. »Ich wollt euch grad anschaffen schicken.«

Reeny Sweeny verdrehte die Augen und drückte ihre Karten an sich. »Du hast ne schmutzige Fantasie!«

»Nich dasser sagt, ich hätt euch nich gewahnt.« Nan biss in ein Stück Backfisch und leckte sich das Fett von den Lippen. »Wenn ich euch mitte Kahten hier dat Haushaltsgeld abgeknöppt hab, müsster heim und das olle Suppenhuhn vögeln, dasser Ehemann nennt, damitter was zu beißen kriegt.«

»Keine Chance!« Reeny bekreuzigte sich träge. »Den lass ich seit Aschermittwoch nich ran, und ich habs auch bis Weihnachten nich vor.« Sie schob sich eine dicke, goldene Fritte in den Mund. »Habma mal so lang dichtgehalten, bissichn neuen Farbfernseher fürs Schlafzimmer gekriegt hab.«

Die Frauen gackerten, ohne sich von ihren Karten ablenken zu lassen. Es war schwül und stickig im Wohnzimmer. Agnes sah zu, wie Little Lizzie, ihre Mammy, ihr Blatt studierte, der Koloss von Nan Flannigan auf der einen Seite und Reeny Sweeny auf der anderen. Die Frauen saßen Schenkel an Schenkel und verputzten die letzten Reste der Fish ’n’ Chips. Mit fettigen Fingern verschoben sie Münzen und klatschten Karten auf den Tisch. Ann Marie Easton, die jüngste von ihnen, war damit beschäftigt, aus dem losen Tabak in ihrem Schoß übel aussehende Zigaretten zu rollen. Die Frauen hatten ihr Haushaltsgeld auf dem niedrigen Teetisch ausgeleert und schoben die Fünf- und Zehn-Pence-Einsätze hin und her.

Es langweilte Agnes. Früher, vor den ausgebeulten Strickjacken und den ausgemergelten Ehemännern, hatte es eine Zeit gegeben, da hatte sie alle mit zum Tanzen geschleppt. Als junge Dinger hatten sie aneinandergehangen wie eine Schnur Perlen und den ganzen Weg runter zur Sauchiehall Street aus vollem Hals gesungen. Sie waren noch minderjährig, aber Agnes hatte schon mit fünfzehn genug Selbstbewusstsein gehabt, um sie alle reinzukriegen. Die Türsteher hatten Agnes immer am Ende der Schlange funkeln sehen und nach vorn gewinkt, und sie hatte die anderen Mädels mitgezogen, als wären sie aneinandergekettet. Die Mädchen hatten sich an Agnes’ Gürtel festgehalten und leise protestiert, aber Agnes hatte den Türstehern ihr bestes Lächeln geschenkt, das Lächeln, das sie für Männer reservierte, das Lächeln, das sie vor ihrer Mutter geheim hielt. Wie gerne sie damals ihr Lächeln verteilt hatte. Sie hatte die Zähne von ihrem Vater geerbt, und die Campbell-Zähne waren immer schlecht gewesen, ein Grund zur Demut in einem sonst schönen Gesicht. Ihre bleibenden Zähne waren klein und krumm herausgekommen, von Anfang an nie weiß gewesen, vom Rauchen und von Lizzies starkem Tee. Mit fünfzehn hatte Agnes ihre Mutter angefleht, sie sich alle ziehen lassen zu dürfen. Dass die falschen Zähne drückten, war ein kleiner Preis für das Filmstarlächeln, das ihr das Gebiss vermeintlich verlieh. Jeder Zahn breit und gleichmäßig und so kerzengerade wie die von Liz Taylor.

Agnes saugte an ihren Porzellanzähnen. Und jetzt hockten sie hier, jeden Freitagabend dieselben Frauen, und spielten bei ihrer Mutter im Wohnzimmer Karten. Kein Strich Make-up in der ganzen Runde. Heute war keiner von ihnen mehr nach Singen.

Agnes sah zu, wie sich die Frauen über ein paar Pfund in Kupfer stritten, und seufzte gelangweilt. Auf die Kartenrunde am Freitag freuten sie sich die ganze Woche. Es war ihre Auszeit vom Bügeln vor dem Fernseher und dem Aufwärmen von Dosenbohnen für die undankbaren Blagen. Gewöhnlich heimste Big Nan die Gewinne ein, außer wenn Lizzie eine Glückssträhne hatte und dafür eine geschmiert bekam. Big Nan konnte sich nicht beherrschen. Wenn es um Geld ging, wurde sie fickerig, und sie hasste es, zu verlieren. Agnes hatte gesehen, wie sie ihrer Mutter wegen zehn Schilling ein Veilchen verpasste.

»Hey du!« Nan brüllte Agnes an, die in ihr Spiegelbild im Fenster versunken war. »Du bescheißt!«

Agnes verdrehte die Augen und trank einen tiefen Schluck schales Stout. Zu lahm, der Bus, für den Ort, wo sie hinwollte. Sie kippte das Bier herunter und wünschte, es wäre Wodka.

»Lasse in Ruhe«, sagte Lizzie. Sie kannte Agnes’ verträumten Blick.

Nan sah wieder in ihre Karten. »Hättich mir denken könn, dasser unter einer Decke steckt. Diebisches Pack, alle beide!«

»Ich hab mein Lebtag nix geklaut!«, sagte Lizzie.

»Lügnerin! Ich hab dich bei Dienstschluss gesehn. Dick wie Grütze und schwer wien Hafersack! Hast dir die Kitteltaschen vollgestopft mit Krankenhausklopapier und Spülmittel.«

»Weißt du, wie teuer das Zeug ist?«, fragte Lizzie empört.

»Ja, weiß ich«, schniefte Nan. »Weil ich für meins nämich bezahle.«

Agnes war durchs Zimmer gewandert, weil sie nicht zur Ruhe kam. Jetzt stieß sie fast den Kartentisch um mit einem Arm voller Plastiktüten. »Ich hab euch was Kleines gekauft«, sagte sie.

Normalerweise hätte Nan keine Störung geduldet, aber da es was umsonst gab, hielt sie die Klappe. Sie schob sich die Karten tief in den Ausschnitt, und als die Plastiktüten herumgingen, nahm jede von ihnen eine kleine Schachtel heraus. Eine Weile war es still. Alle studierten das Bild auf der Packung. Lizzie sagte als erste etwas, mit einem Anflug von Empörung. »Ein BH? Wat soll ich mit einem BH?«

»Das ist kein normaler BH. Das ist einer von diesen Wunderkreuz-BHs. Die zaubern dir die perfekte Form hin.«

»Probier ihn an, Lizzie!«, sagte Reeny. »Der alte Wullie fällt über dich her, als wär der Jahrmarkt in der Stadt.«

Ann Marie nahm ihren BH aus der Schachtel. Er war ihr offensichtlich zu klein. »Das is nich meine Größe.«

»Na ja, ich hab geraten, so gut ich konnte. Aber ich hab noch ein paar da, also schau nach, vielleicht passt dir einer.« Agnes war schon dabei, den Reißverschluss am Rücken ihres Kleids zu öffnen. Ihre alabasterweißen Schultern hoben sich grell von dem weinroten Samt ab. Sie hakte ihren alten BH auf, und ihre Porzellanbrüste glitten heraus; dann schlüpfte sie schnell in den neuen, und ihre Brüste hoben sich mehrere Zentimeter. Agnes beugte sich vor und drehte sich vor den Frauen. »Son Kerl auf dem Paddy’s Market hat sie direkt aus dem Laster verkauft. Fünf Stück für zwanzig Pfund. Echte Zauberei, was?«

Ann Marie wühlte in der Tüte herum und fand ihre Größe. Sie war nicht so freizügig wie Agnes und drehte den anderen den Rücken zu, um die Strickjacke auszuziehen und ihren alten BH abzustreifen. Die Träger hatten unter dem Gewicht ihrer Brüste rote Striemen auf ihren Schultern hinterlassen. Bald hatten alle außer Lizzie ihre Kleider heruntergezogen oder ihre Kittelschürzen aufgehakt und saßen in ihren neuen Büstenhaltern da. Lizzie hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Die anderen, obenrum fast nackt, fuhren mit den Fingern über die Satinträger, starrten auf ihr eigenes Dekolleté und gurrten beeindruckt.

»Datis vielleicht dat bequemste, watich je anhatte«, gab Nan zu. Ihr BH saß am Rücken zu locker und schaffte es kaum, die riesigen Brüste über dem ausladenden Bauch anzuheben.

»Das sind die Busen, die ich von früher kenne, als wir junge Mädchen waren«, sagte Agnes zufrieden.

»Lieber Gott, hätten wer damals bloß gewusst, wattwer heute wissen, wat?«, sagte Reeny. »Ich hätt jeden Knilch, der mal anfassen wollte, rangelassen, ohne mich groß rumzuzieren.«

Nan rollte lasziv die Zunge. »Red kein Stuss! Du hast doch eh nie die Hand auf deim halben Penny behalten.« Sie war ungeduldig, zurück ins Geschäft zu kommen, und schob wieder Münzen auf dem Tisch herum. »Na schön, könnter jetz aufhörn, euch selber anzustarren wien Haufen blöder Hühner?« Sie sammelte die Karten ein und begann, den Stapel zu mischen. Die Frauen hatten sich immer noch nicht wieder angezogen.

Lizzie versuchte leise das Zellophan einer neuen Zigarettenschachtel aufzureißen. Die anderen Frauen sahen neidisch zu, sie hatten es satt, die schwarzen Selbstgerollten zu rauchen und sich die Tabakfäden von der Zunge zu zupfen. Lizzie schniefte: »Ich dachte, jeder raucht seine eigenen?« Aber es war, als würde man Eisbein vor einem Rudel Streuner essen; sie würden ihr keine Ruhe lassen. Widerwillig reichte sie das neue Päckchen herum, und jede der Frauen zündete sich eine an und genoss den Luxus einer Filterzigarette. Nan lehnte sich in ihrem BH zurück, hielt den Rauch tief in den Lungen und schloss die Augen. Es wurde wieder heiß und diesig, und der Rauch waberte durchs Zimmer und tanzte mit der Paisley-Tapete.

Hin und wieder zog ein Windstoß durchs Fenster im sechzehnten Stock, und die Frauen blinzelten, so beißend war die frische Luft. Lizzie trank ihren kalten schwarzen Tee und sah zu, wie die Laune der anderen abstürzte. Das war die Wirkung von Sauerstoff auf Betrunkene. Die aufgekratzte, redselige Energie verpuffte und wurde von etwas Trägem, Schwerem ersetzt.

Dann meldete sich eine neue Stimme. »Mammy, er schläft nicht ein!«

In der Wohnzimmertür stand Catherine mit sichtlicher Verzweiflung. Sie trug ihren kleinen Bruder auf der Hüfte. Eigentlich war Shuggie zu groß, um getragen zu werden, aber er klammerte sich fest an sie und genoss offensichtlich ihre knochige Nähe.

Catherine heischte Mitgefühl, kniff ihm genervt in die Handgelenke und pulte ihn demonstrativ von sich ab. »Bitte. Ich kann nicht mehr.«

Der kleine Junge rannte zu seiner Mutter, und Agnes riss Shuggie in die Arme. Sein Nylonschlafanzug knisterte statisch, als sie ihn herumwirbelte, glücklich, dass endlich jemand mit ihr tanzte.

Catherine ignorierte die Tatsache, dass die Frauen halb nackt in ihren neuen Büstenhaltern im Wohnzimmer herumsaßen. Sie spähte auf die Platte mit den Fish-’n’-Chips-Resten. Am liebsten aß sie die ganz kleinen braunen Fritten, die verhutzelten Schalen, die zu lange im Öl geschwommen und hart geworden waren.

Lizzie strich Catherine über die Hüfte. Alles an ihrer Enkelin wirkte mager, irgendwie unweiblich. Catherine war siebzehn, aber schlaksig und jungenhaft, mit hüftlangem Haar, das glatt wie Spaghetti war, und ohne nennenswerte Kurven. Enge Röcke waren an ihr die reine Verschwendung. Unbewusst hatte sich Lizzie angewöhnt, die Hüfte ihrer Enkelin zu reiben, als könnte sie damit ihre Weiblichkeit anregen. Gewohnheitsmäßig schob Catherine Lizzies tätschelnde Hand weg.

»Hier!«, sagte Lizzie. »Erzähl denen mal von der bombigen Stelle, die du inne Stadt gekriegt hast.« Doch sie ließ ihrer Enkelin keine Zeit zu antworten, sondern wandte sich selbst an die Runde. »Ich bin so stolz auf sie. Assistentin von Vorstand. Datis fast so, als wär sie selbst der Boss, wat?«

»Granny!«

Lizzie zeigte auf Agnes. »Tja! Die dachte, die kommt mit ihrn Äußeren durch. Teufel sei Dank, dass wenigstens eine wat im Kopp hat.« Lizzie bekreuzigte sich hastig. »Fürs Aufschneiden geh ich gern zur Beichte.«

»Und fürs Fluchen«, sagte Catherine.

Nan Flannigan sah nicht von ihren Karten auf. »Jetzt, wode arbeitest, Lütte. Machma zuallererst zwei Bankkonten auf. Eins für wenne dirn Mann zulegst. Dat annere nur für dich. Und kein Sterbenswort darüber, eh?«

Die Frauen stimmten Nans Weisheit murmelnd zu.

»Gehste gar nich mehr zur Schule, Süße?«, fragte Reeny.

Catherine warf ihrer Mutter einen Seitenblick zu. »Nee. Keine Schule mehr. Wir brauchen das Geld.«

»Aye. So wie die Welt heut is, musste eh am Ende jeden Mann, dende kriegst, durchfüttern.« Die Frauen hatten alle Männer zu Hause. Männer, die im Sessel versauerten, weil sie keine anständige Arbeit fanden.

Nan wurde wieder ungeduldig. Sie rieb sich die rauen Hände. »Hömma, Catherine, ich hab dich echt lieb, Lütte«, sagte sie katzenfreundlich. »Wennde unsere erste schottische Astronautin bist, schmier ich dir auchn paar Brote fürs Weltall. Aber bis dahin …« Sie zeigte auf die Karten und dann zur Tür. »Verpiss dich.«

Catherine trottete zu ihrer Mutter und nahm Shuggie widerwillig von Agnes’ Hüfte. Ihr kleiner Bruder war fasziniert von dem kleinen Plastikschieber am Büstenhalter seiner Mutter.

»Ist unser Alexander heute Nacht zu Hause?«, fragte Agnes.

»M-hm. Ich glaub schon.«

»Was heißt, du glaubst? Ist Alexander im Kinderzimmer oder nicht?« Das Kinderzimmer war zu klein, um einen hochgeschossenen Fünfzehnjährigen darin zu übersehen. Es war kaum Platz für das Stockbett und Shuggies Kinderbett. Andererseits war Leek ein stilles Wasser, der gern vom Rand aus zusah und die Gabe hatte, sich, noch während man mit ihm sprach, in Luft aufzulösen.

»Mammy, du weißt doch, wie er ist. Kann sein, dass er da ist.« Mehr sagte sie nicht. Catherine drehte sich auf dem Absatz um, ließ den Fächer ihres kastanienbraunen Haars durch die Luft wirbeln und bohrte Shuggie die Fingernägel in die weichen Schenkel, als sie ihn aus dem Zimmer trug.

Mehr Karten wurden ausgeteilt, mehr Haushaltsgeld wurde verspielt, und Agnes legte Platten auf, selbst wenn keiner zuhörte. Wie vorherzusehen war, türmten sich vor Nan die Münzen, während die Türme der anderen schrumpften. Agnes begann sich mit dem Bier in der Hand allein auf dem Teppich zu drehen. »Oh, oh, oh. Das ist mein Song, Ladys. Kommt, steht alle auf!« Mit wedelnden Fingern lockte sie sie auf die Tanzfläche.

Eine nach der anderen stand auf, die Pechvögel erleichtert, Nans augenfälligem Silberhaufen den Rücken zu kehren. Sie tanzten glücklich in ihren alten Strickjacken und neuen BHs. Der Boden bebte unter ihrem Gewicht. Nan wirbelte Ann Marie herum, die kreischte, bis beide gegen den Sofatisch krachten. Die Frauen tanzten hemmungslos und tranken dabei aus alten Teetassen in großen Schlucken Bier. Sie bewegten hauptsächlich Schultern und Hüften, rhythmisch und lüstern, wie die jungen Mädchen im Fernsehen. Es stand fest, dass die armen mageren Männer, die sie zu Hause hielten, später von ihnen erdrückt würden. Nach Essig und Bier stinkend würden die Frauen nach Hause kommen und sie besteigen. Sie würden kichern und schwitzen und sich in ihren neuen Büstenhaltern einen Moment wieder wie mit fünfzehn fühlen. Sie würden sich bis auf die löchrigen Strumpfhosen ausziehen und ihre schwingenden Brüste aufhaken. Betrunkene, offene Münder, heiße rote Zungen und schweres, plumpes Fleisch. Glückseligkeit am Freitagabend.

Lizzie tanzte nicht. Sie hatte bekanntgegeben, dass sie nicht mehr trank. Sie und Wullie versuchten, der Familie ein gutes Beispiel zu geben. Wenn sie Agnes ins Gewissen redete, dabei aber selbst die eine oder andere Dose intus hatte, kam sie sich wie eine schlechte Katholikin vor. Deswegen hatte sie das Sweetheart-Stout und den Whisky aufgegeben, fast. Agnes sah ihre Mammy mit ihrem kalten Tee in der Tasse und glaubte ihr kein Wort. Sie saß so stolz da, aber ihre Augen waren trotzdem wässrig und trüb, das gerötete Gesicht von einem fernen Blick vernebelt.

Agnes wusste genau, dass Wullie und Lizzie sich heimlich aus dem Zimmer stahlen, wenn sie dachten, keiner sah hin. Sonntags standen sie vom Esstisch auf oder gingen einmal zu oft aufs Klo. Dann setzten sie sich auf die Kante ihres großen Ehebetts, Schlafzimmertür zu, und holten die Plastiktüten unter dem Bett hervor. Schenkten sich was in eine alte Tasse und tranken schnell und leise im Dunkeln wie Teenager. Wenn sie zurück an den Küchentisch kamen, räusperten sie sich, die Augen glücklicher und glasiger, und alle taten so, als würden sie den Whisky nicht riechen. Agnes musste ihren Vater nur ansehen, wenn er versuchte, die Sonntagssuppe zu essen, um zu wissen, ob er einen sitzen hatte oder nicht.

Knisternd ging die erste Seite der Schallplatte zu Ende. Lizzie entschuldigte sich und watschelte zum Bad. Big Nan ergriff die Gelegenheit und sah ihr in die Karten. Dabei entdeckte sie die ungeöffneten Stout-Dosen, die Lizzie hinter Wullies altem Sessel gebunkert hatte. »Jackpot!«, rief sie. »Die Alte hat sich hintern Sessel ne Kneipe eingerichtet!« Verschwitzt und atemlos hockte sie sich hin und bediente sich. Nan war nicht zum Spaß hier und war nüchterner geblieben als die anderen. Den ganzen Abend hatte sie das Geld auf dem Kartentisch mitgezählt und an den Schinken gedacht, den sie für die Sonntagssuppe kaufen könnte, und an das Geld, das ihre Blagen nächste Woche für die Schule brauchten. Aber jetzt war das Kartenspiel vorbei, und Nan hatte Durst auf das versteckte Stout.

»Lizzie Campbell, die olle Lügnerin. Hat gar nich mim Saufen aufgehört«, sagte Reeny.

»Die hat mim Saufen aufgehört wie ich mim Kuchenessen«, sagte Nan und knöpfte die Strickjacke straff über dem neuen Büstenhalter zu. Sie rief in den dunklen Flur an Lizzies Adresse: »Weiß nich, warum ich mich überhaupt mit euch diebischem Katholikenpack abgebe!« Sie nahm das Stout und füllte die Tassen und Gläser auf dem Tisch nach; je betrunkener die anderen, desto besser. Plötzlich war sie wieder im Geschäft. »So, Mädels. Spielnwa fertig oder holnwan Katalog raus? Ich hab die Nase voll, euch ollen Weibern bein Tanzen zuzusehen, als wärta das Fernsehballett.« Zu ihren Füßen stand eine schwarze Lederhandtasche, aus der sie einen dicken, eselsohrigen Katalog zog. Auf dem Umschlag stand Freemans, und darunter war eine Frau mit Strohhut und Spitzenkleid auf einer sonnigen, goldenen Wiese zu sehen, irgendwo weit weg von hier. Ihr Haar sah aus, als würde es nach grünen Äpfeln riechen.

Nan legte den Katalog auf die Spielkarten und schlug ihn auf. Das Rascheln des glänzenden Papiers war wie Sirenengesang. Die Frauen hörten auf, sich zur Musik herumzuwerfen, versammelten sich um den Tisch und drückten die fettigen Finger auf Fotos von Ledersandalen und Polyesternachthemden. Sie fanden eine Doppelseite mit Frauen auf Fahrrädern in hübschen Jerseykleidern und gurrten einstimmig. Flink griff Nan noch einmal in die Ledertasche und holte eine Handvoll bibelgroßer Kassenbücher heraus. Ein Stöhnen ging durch die Runde. Aber auch wenn sie ihre Freundinnen waren, das hier war ihr Job, und Nan hatte hungrige Mäuler zu stopfen.

»Och, Nan, ich hab die Woche einfach nix«, sagte die junge Ann Marie und wich vor dem Katalog zurück.

Nan lächelte durch geschlossene Zähne und entgegnete, so höflich sie konnte: »Klar haste das Scheißgeld. Und wenn ich dich an deinen fetten Knöcheln zum Fenster raushalten muss, heute kriggich meine Kohle.«

Agnes lächelte in sich hinein und dachte, Ann Marie hätte aufhören sollen, bevor es zu spät war. Aber die junge Frau kriegte einfach den Hals nicht voll. »Es iss bloß, der Badeanzug passt mir überhaupt nicht.«

»Du blöde Kuh. Alsden gekriegt hast, hatter gut gepasst.« Nan sah die grauen Bücher durch. Sie zog eins hervor, auf dem in verschnörkelter Kugelschreiberschrift »Ann Marie Easton« stand, und warf es auf den Tisch.

»Es iss bloß, mein Freund sagt, er kann mich nich mehr mit in Urlaub nehmen.« Mit großen Kulleraugen heischte Ann Marie bei den anderen nach Mitleid. Aber die Frauen blieben ungerührt. Der letzte Urlaub, den die meisten von ihnen hatten, war ein Aufenthalt in Stobhill auf der Entbindungsstation.

»Jammer. Schade. Nimm. Bessere. Männer. Nimm. Mehr. Klasse.« Nan übte Druck aus, wie sie es tausend Mal getan hatte, kassierte alle Frauen ab und trug die Beträge in ihre Bücher ein. Es dauerte eine Ewigkeit, bis eine Schuluniformhose oder ein Set Handtücher abbezahlt war. Bei fünf Pfund im Monat dauerte es Jahre, wenn noch die Zinsen obendrauf kamen. Es fühlte sich an, als mieteten sie ihr Leben. Dann wurde die nächste Katalogseite aufgeschlagen, und die Frauen fingen zu streiten an, wer was wollte.

Agnes hob zuerst den Kopf, als sich der Luftdruck im Zimmer veränderte. In der Tür stand Shug, die schwere Gürteltasche in der Hand. Der feuchte Zug verriet Agnes, dass er die Wohnungstür offen gelassen hatte und nicht bleiben würde. Sie stand auf und ging auf ihren Ehemann zu, das Kleid immer noch bis zur Taille heruntergezogen. Zu spät rückte sie sich das Oberteil zurecht, faltete die Hände und setzte ihr nüchternstes Lächeln auf. Shug lächelte nicht zurück. Er sah einfach durch sie durch, angewidert, und sagte abrupt: »Alles klar, wen soll ich heimfahren?«

Die Anwesenheit eines Mannes hatte die störende Wirkung einer Schulglocke. Die Frauen begannen ihre Sachen einzusammeln. Nan ließ zwei von Lizzies versteckten Stouts mitgehen. »Na schön, Ladys! Nächsten Donnerstag bei mir«, bellte sie und sagte an Shug gewandt: »Und wenn sich irgendn Kerl einbildet, er kann mein Katalogabend sprengen, kriegter die Hucke voll.«

»Bildhübsch wie immer, Mrs Flannigan«, sagte Shug und säuberte sich mit dem Taxi-Schlüssel die Fingernägel. Von allen Frauen würde er Nan niemals vögeln. Er hatte seine Standards.

»Wie reizend.« Nan lächelte dünn zurück. »Schieb dir die Arme innen Arsch und drück dein Inneres fest von mir.«

Agnes knöpfte sich das Samtkleid zu. Sie stand still da, die Hände flach auf dem Rock. Die Frauen machten die dicken Mäntel zu und nickten höflich, als sie sich umständlich an Shug vorbeizwängten, der immer noch in der Tür stand. Alle senkten den Blick, und Agnes sah, wie Shug unter dem Schnurrbart jede von ihnen auf dem Weg nach draußen anlächelte. Nur für Nans massigen Körper trat er einen Schritt zur Seite.

Er sah nicht mehr so gut aus wie früher, doch er war immer noch stattlich, anziehend. Sein Blick hatte eine Direktheit, die bei Agnes komische Dinge auslöste. Sie hatte ihrer Mutter mal erzählt, dass Shug, als sie ihn kennenlernte, einen Glanz in den Augen hatte, bei dem man sich einfach die Kleider vom Leib reißen wollte, wenn er es verlangte. Und er verlangte es oft, hatte sie gesagt. Der Trick war sein Selbstbewusstsein, denn er war kein Adonis, und bei jedem weniger charmanten Mann wäre seine Eitelkeit widerlich gewesen. Aber Shug hatte das Talent, es dir zu verkaufen, als gäbe es nichts auf der Welt, das du dringender haben wolltest. Er hatte die Glasweger Schnauze.

Jetzt stand er da, in seinem gebügelten Hemd und der schmalen Krawatte, den ledernen Taxigürtel in der Hand, und begutachtete die hinausgehenden Frauen mit dem kühlen Blick eines Viehhändlers bei der Rinderauktion. Agnes hatte immer gewusst, dass ihm alle gefielen, vom oberen bis zum unteren Ende; er sah in den meisten Frauen ein Abenteuer. Er hatte eine Art, schöne Frauen zu erniedrigen, indem er sich nicht von ihnen einschüchtern ließ. Er brachte sie zum Lachen, ließ sie rot werden und für seine Gegenwart dankbar sein. Und er hatte eine Geduld und einen Charme, die hässliche Frauen selbstbewusst machten, als wären sie die lieblichsten Geschöpfe, die je in flachen Schuhen gewandelt waren.

Shug war ein egoistisches Tier, das wusste Agnes längst, auf eine schmutzige, sexuelle Art, die sie wider ihr besseres Wissen erregte. Sie sah es daran, wie er aß, wie er sich das Essen in den Mund schob und die Soße von den Fingern leckte, ohne sich darum zu scheren, was die anderen von ihm dachten. Sie sah es daran, wie er ihre Freundinnen mit Blicken verschlang, als sie die Kartenrunde verließen. Zurzeit sah sie es zu oft.

Für Shug hatte sie ihren ersten Mann verlassen. Ihr erster Mann war Sonntagskatholik gewesen, fromm genug für die Siedlung, treu ergeben nur ihr allein. Agnes war in einem Maß schöner als er, dass fremde Männer Hoffnung schöpften und Frauen Brendan McGowan in den Schritt starrten und sich fragten, was sie übersehen hatten. Aber sie hatten nichts übersehen; er war, was er war, ein fleißiger Mann mit wenig Fantasie, der wusste, welches Glück er mit Agnes hatte, und sie deswegen auf Händen trug. Während die anderen Männer ins Pub gingen, brachte er jede Woche seine Lohntüte nach Hause, der braune Umschlag ungeöffnet, und händigte ihn ihr ohne Widerstand aus. Sie hatte die Geste nie gewürdigt. Der Inhalt des Umschlags hatte ihr nie gereicht.

Big Shug Bain war im Vergleich mit dem Katholiken betörend gewesen. Er war eitel, wie es nur Protestanten sein konnten, stellte seinen windigen Wohlstand zur Schau und leuchtete rosig vor Prasserei und Verschwendung.

Lizzie hatte es immer gewusst. Als Agnes mit ihren zwei Ältesten und dem protestantischen Taxifahrer bei ihr auf der Matte stand, hätte sie ihr am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen, aber Wullie hatte es nicht erlaubt. Was Agnes betraf, hegte Wullie einen Optimismus, den Lizzie für Blindheit hielt. Als Shug und Agnes schließlich heirateten, waren weder Wullie noch Lizzie zum Standesamt gekommen. Sie sagten, es sei falsch, die Konfessionen zu mischen, außerhalb der eigenen Kirche zu heiraten. Doch in Wirklichkeit war es Shug Bain, den sie nicht mochten. Denn Lizzie hatte es gleich gewusst.

Ann Marie ging als eine der letzten, ließ sich viel Zeit beim Einsammeln ihrer Strickjacke und Zigaretten, obwohl alles genau da lag, wo sie es bei ihrer Ankunft hingelegt hatte. Sie wollte etwas zu Shug sagen, aber er fing ihren Blick auf, und sie biss sich auf die Zunge. Agnes beobachtete den stummen Austausch.

»Reeny, wie gehts dir, Süße?«, fragte Shug mit einem selbstgefälligen Grinsen.

Agnes wandte den Blick von Ann Marie ab, sah ihre alte Freundin an, und ihre Rippen knackten aufs Neue.

»Aye, gut, danke, Shug«, antwortete Reeny verlegen, ohne den Blick von Agnes abzuwenden.

Agnes’ Brustkorb drückte gegen ihr Herz, als Shug sagte: »Zieh dir den Mantel an, sonst holst du dir den Tod. Ich fahre dich rüber.«

»Lassma. Mach dir keine Umstände.«

»Unsinn.« Er lächelte wieder. »Agnes’ Freundinnen sind auch meine Freundinnen.«

»Shug, ich mach dir was zu essen, bleib nicht zu lang«, sagte Agnes kratzbürstiger, als sie klingen wollte.

»Ich hab keinen Hunger.« Leise schloss er die Tür. Die Vorhänge hingen wieder leblos herab.

Reeny Sweeny wohnte im Pinkston Drive 9, dem Hochhaus, das Schulter an Schulter mit Nummer 16 stand. Der schwarze Hackney musste nur eine hübsche Pirouette drehen, und Reeny wäre in weniger als einer Minute zu Hause. Agnes setzte sich, zündete sich eine Zigarette an und wusste, dass sie Stunden warten würde, bis Shug sein Gesicht wieder zeigte.

Sie spürte Lizzies brennenden Blick von der Seite. Ihre Mutter sagte nichts, sie starrte nur. Es war zu viel, im Wohnzimmer ihrer Mutter eingesperrt zu sein und von ihr verurteilt zu werden, zu viel, sie bei jeder Ehekrise als Zuschauerin in der ersten Reihe zu haben. Agnes nahm ihre Zigaretten und ging durch den kurzen Flur, um nach ihren Kindern zu sehen. Das Zimmer war dunkel bis auf den Lichtkegel einer Taschenlampe. Leek hatte sie sich unters Kinn geklemmt und zeichnete mit einem stillen Ausdruck im Gesicht in ein schwarzes Skizzenbuch. Er sah nicht auf, und seine grauen Augen wurden vom Schatten seines weichen Ponys verborgen. Im Zimmer war es warm und stickig vom Atem seiner schlafenden Geschwister.

Agnes faltete ein paar der Kleider zusammen, die auf dem Boden verstreut lagen. Sie nahm ihm den Bleistift aus der Hand und klappte das Buch zu. »Du machst dir die Augen kaputt, mein Schatz.«

Er war fast ein Mann, viel zu alt für einen Gutenachtkuss, aber sie küsste ihn trotzdem und ignorierte, wie er vor ihrer Stout-Fahne zurückwich. Leek richtete die Taschenlampe für sie aufs Kinderbett. Agnes sah nach ihrem Jüngsten, deckte Shuggie fest bis zum Kinn zu. Am liebsten hätte sie ihn geweckt, ihn mit ins Bett genommen, überwältigt vom plötzlichen Bedürfnis nach einem Körper, der sich fest an sie schmiegte. Doch Shuggies Mund stand offen, seine Lider zuckten sanft im Schlaf, er war zu weit weg, um gestört zu werden.

Leise schloss Agnes die Tür und ging in ihr Zimmer. Sie schob die Hand unter die Matratze und zog die fast leere Wodka-Flasche heraus. Sie schenkte sich einen Gnadenbecher ein, dann setzte sie den Flaschenhals an die Lippen und sah hinunter auf die Lichter der Stadt.

Als Shug zum ersten Mal nach der Nachtschicht fortgeblieben war, hatte Agnes in den Morgenstunden die Krankenhäuser abtelefoniert und sämtliche Fahrer des Taxistands, die sie kannte. Später hatte sie ihr schwarzes Buch genommen, alle ihre Freundinnen angerufen und sie beiläufig gefragt, wie es ihnen ging, ohne zu erwähnen, dass Shug sich herumtrieb, oder sich selbst einzugestehen, dass er es schließlich getan hatte.

Während die Frauen über alles Mögliche redeten, hatte Agnes nur auf die Geräusche im Hintergrund gelauscht und versucht zu erraten, ob er im Raum war. Jetzt wollte sie den Frauen sagen, dass sie alles wusste. Sie wusste von den verschwitzten Taxifenstern, von seinen gierigen Händen, und wie sie Shug keuchend angefleht hatten, sie fortzubringen von dem Elend hier, während er seinen Schwanz in sie reinsteckte. Agnes fühlte sich alt und sehr allein. Sie wollte ihnen sagen, dass sie es verstand. Sie wusste Bescheid, denn vor langer Zeit war sie an ihrer Stelle gewesen.

Vor langer Zeit hatte der schneidende Wind vom Meer ihre Schenkel blau gefärbt, aber Agnes hatte die Kälte nicht gespürt, weil sie glücklich war. Die tausend bunten Lichter der Promenade regneten auf sie herab, und sie ging ihnen mit offenem Mund entgegen. Sie war so hingerissen, dass sie kaum atmen konnte. Die schwarzen Pailletten ihres neuen Kleids fingen die bunten Lichter ein und warfen sie funkelnd zurück in die Jahrmarktmenge, bis Agnes selbst strahlte wie die Festbeleuchtung.

Shug hob sie hoch und stellte sie auf eine leere Bank. Die Lichter brannten am ganzen Ufer, so weit das Auge reichte. Die Fassaden blinkten jede mit tausend bunten Birnen um die Wette. An manchen prangten Western-Saloon-Schilder mit galoppierenden Pferden und winkenden Cowboys, an anderen Showgirls aus Las Vegas. Agnes blickte Shug an, der zu ihr heraufstrahlte. Er sah so gut aus in seinem schicken, schmalen schwarzen Anzug. Er sah aus, als wäre er jemand.

»Ich weiß nicht, wann du das letzte Mal mit mir tanzen warst«, sagte sie.

»Ich leg immer nochne heiße Sohle aufs Parkett.« Er half ihr sanft auf den Boden zurück und drückte ihre weiche Mitte. Shug konnte den Strand durch ihre Augen sehen, den billigen Glanz der Tanzclubs und das Abenteuer der Vergnügungshallen. Er fragte sich, ob das alles auch irgendwann den Reiz für sie verlor. Dann zog er die Anzugjacke aus und hängte sie ihr um die Schultern. »Tja, da können die Lichter von Sighthill nicht mithalten.«

Agnes schauderte. »Reden wir nicht von zu Hause. Tun wir so, als wären wir durchgebrannt.«

Sie schlenderten am flimmernden Ufer entlang und versuchten, nicht an den kleinlichen Alltag zu denken, der sie auseinandertrieb, der dafür sorgte, dass sie immer noch in der Hochhauswohnung lebten und durch die Schlafzimmerwand ihre Eltern schnarchen hörten. Agnes sah, wie die Lichter an- und ausgingen. Shug sah, wie die Männer gierig nach Agnes schielten, und spürte einen kranken Stolz in der Brust.

Am Morgen hatte sie im grauen Tageslicht den Strand von Blackpool zum ersten Mal gesehen. Die Enttäuschung hatte ihr leise das Herz gebrochen. Heruntergekommene Gebäude vor einem dunklen, aufgewühlten Meer und ein kalter Sandstrand, an dem blaugefrorene Bälger in Unterhosen herumrannten. Eimer und Schippen und Rentner mit Regenhüten. Tagesausflügler aus Liverpool und Busladungen aus Glasgow. Er hatte den Ausflug geplant, um endlich mal wieder alleine zu sein. Sie hatte sich auf die Innenseite der Wangen gebissen, weil alles so gewöhnlich war.

Jetzt, bei Nacht, sah sie die Schönheit. Die wahre Magie war die Beleuchtung. Es gab keine Oberfläche, die nicht strahlte. Die alten Straßenbahnen, die in der Mitte der Straße fuhren, waren mit Lichterketten geschmückt, und die windschiefen Holzpiers, die ins brackige Meer hinausragten, waren so hell erleuchtet wie Flugzeugpisten. Selbst die albernen Kiss-Me-Quick-Hüte blinkten, als wären sie vor Lust verrückt geworden. Shug nahm ihr Handgelenk und führte sie durch die Menge auf der gleißenden Promenade. Vom Pier kreischten Kinder auf der Walzerbahn. Autoscooter röhrten und flackerten, Spielautomaten rasselten. Shug zog sie durch die Menschen zum Blackpool Tower, überholte rechts und überholte links, wie er es als Taxifahrer gewohnt war.

»Liebling, ras doch nicht so«, bat sie. Die Lichter flogen schneller vorbei, als sie sie aufsaugen konnte. Sie wand das Handgelenk aus seinem Griff, und wo er sie festgehalten hatte, war ihr Arm rot.

Shug blinzelte und schwitzte im Wochenendgedränge. Eine Mischung aus Wut und Verlegenheit trieb ihm die Hitze ins Gesicht. Fremde Männer schüttelten den Kopf, als wüssten sie besser, wie man mit einer solchen Frau umging. »Du fängst nicht schon wieder an, oder?«

Agnes rieb sich den Arm. Sie versuchte, kein böses Gesicht zu machen. Dann hakte sie den kleinen Finger in seinen, das Gold seines Freimaurerrings kalt und tot an ihrer Hand. »Du hast mich gehetzt. Lass es mich einfach genießen. Ich hab das Gefühl, ich komme nie aus dem Haus.« Sie drehte sich weg, den Lichtern zu, aber der Zauber war verpufft. Sie waren wirklich billig.

Agnes seufzte. »Komm, gehen wir was trinken. Das wärmt uns auf, und wir kriegen vielleicht wieder bessere Laune.«

Shug kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der Faust über den Schnurrbart, als wollte er die harten Worte abfangen, die er am liebsten gesagt hätte. »Agnes. Ich flehe dich an. Kannst du es bitte heute Abend langsam angehen lassen?« Aber sie war schon weg, lief über die Straßenbahnschienen auf den zwinkernden Cowboy zu.

»Howdy«, sagte die Frau hinter der Bar mit starkem Lancashire-Akzent. »Mächtig schönes Kleid.«

Agnes setzte sich auf den drehbaren Plastikbarhocker und schlug elegant die Beine übereinander. »Einen Brandy Alexander bitte.«

Shug drehte den Hocker neben ihr wie einen Kreisel, bis er höher war als ihrer. Mit einem Sprung stemmte er sich hoch und wandte sich ihr zu, so dass sie Auge in Auge dasaßen. »Eine kalte Milch, bitte.« Er nahm zwei Zigaretten aus dem Päckchen, und Agnes bat ihn mit einer Handbewegung, ihr eine anzuzünden. Die Barfrau stellte die Getränke auf die Theke. Sie hatte die Milch in ein Kinderglas geschenkt. Shug schob es zurück und verlangte ein anderes.

Er steckte Agnes die Zigarette zwischen die Lippen und streichelte ihren Nacken, wo sich eine Locke gelöst hatte. Sie griff in die Handtasche, steckte die Strähne zurück in ihre Hochfrisur und betonierte sie mit einem Zosch süßriechendem Haarspray fest. Dann nahm sie einen tiefen Schluck von ihrem süßen Drink und schmatzte genüsslich. »Elizabeth Taylor war mal in Blackpool. Ich frage mich, ob sie gerne Schnecken isst?«

Shug bohrte mit dem kleinen Finger, an dem er den Ring trug, in der Nase. Er rollte den Popel zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. »Wer isst die nicht gern?«

Sie drehte sich zu ihm. »Vielleicht sollten wir hierherziehen. Es könnte immer so sein.«