Young Mungo - Stuart Douglas - E-Book

Young Mungo E-Book

Stuart Douglas

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Beschreibung

„ ‚Young Mungo' beweist endgültig: Douglas Stuart ist ein Genie.“ (Washington Post) Der Bookerpreisträger erzählt von der Liebe zweier Jungen in einer von Gewalt geprägten homophoben Welt.

Für die hypermaskuline Welt der Arbeiterviertel im Glasgow der 90er Jahre ist Mungo zu hübsch und zu sanft. Sein Bruder Hamish, gefürchteter Bandenführer, will ihn zum Mann machen und schleift ihn zu den brutalen Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken – nur wer hart genug ist, kann hier überleben. Dann trifft Mungo auf James und mit ihm kann er sein, wie er ist. Mit ihm lernt er ein Begehren kennen, das geächtet ist, das ihn mit Scham erfüllt, aber auch mit Glück, das er selbst vor seiner Schwester Jodie verleugnen muss, mit der er sonst alles teilt. Denn die Liebe, die zwischen den Jungen wächst, ist lebensgefährlich – und zugleich ihre Rettung.
Ein großartiger Roman über Liebe in einer von Gewalt geprägten homophoben Welt und die Verheißung von Aufbruch und Befreiung.

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Das ist das Cover des Buches »Young Mungo« von Douglas Stuart

Über das Buch

Für die hypermaskuline Welt der Arbeiterviertel im Glasgow der 90er Jahre ist Mungo zu hübsch und zu sanft. Sein Bruder Hamish, gefürchteter Bandenführer, will ihn zum Mann machen und schleift ihn zu den brutalen Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken — nur wer hart genug ist, kann hier überleben. Dann trifft Mungo auf James und mit ihm kann er sein, wie er ist. Mit ihm lernt er ein Begehren kennen, das geächtet ist, das ihn mit Scham erfüllt, aber auch mit Glück, das er selbst vor seiner Schwester Jodie verleugnen muss, mit der er sonst alles teilt. Denn die Liebe, die zwischen den Jungen wächst, ist lebensgefährlich — und zugleich ihre Rettung.Ein großartiger Roman über Liebe in einer von Gewalt geprägten homophoben Welt und die Verheißung von Aufbruch und Befreiung.

Douglas Stuart

Young Mungo

Roman

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz

Hanser Berlin

Für Alexander

und alle sanften Söhne Glasgows

Der Mai danach

Eins

Als sie zur Ecke kamen, blieb Mungo stehen und schüttelte die Hand des Mannes von seiner Schulter. Die Entschlossenheit der Geste überraschte alle. Mungo drehte sich um, und als er zum Fenster heraufsah, begannen seine Augen nervös zu zucken. Seine Mutter beobachtete ihn durch die Ähren des Gardinenmusters und versuchte sich einzureden, der Tic wäre ein fröhliches Blinzeln, ein liebevoller Morsecode, mit dem er ihr mitteilte, dass alles in Ordnung war. O. k. So war er, ihr jüngster Sohn. Er lächelte, selbst wenn ihm nicht danach war. Er würde alles tun, um andere glücklich zu machen.

Mo-Maw schob die Gardine zur Seite und stützte sich auf die Fensterbank wie eine Frau, die Gesellschaft suchte. Sie hob mit einer Hand die Teetasse und trommelte mit den perlmuttrosa Fingernägeln der anderen an die Scheibe. Sie hatte sich für die Farbe entschieden, weil sie ihre Finger frischer aussehen ließ, und wenn ihre Hände jünger wirkten, dann vielleicht auch ihr Gesicht und der Rest von ihr. Als sie zu Mungo hinabsah, drehte er sich ein Stück weiter und seine Fußspitzen zeigten nach Hause. Sie wedelte mit den lackierten Fingern und scheuchte ihn fort. Geh schon!

Ihr Junge ließ die Schultern hängen, der Rucksack auf seinem Rücken sah aus wie ein kleiner Buckel. Weil er nicht gewusst hatte, was er mitnehmen sollte, hatte er lauter nutzloses Zeug eingepackt: einen zu großen Fair-Isle-Pullover, Teebeutel, sein zerfleddertes Skizzenbuch und ein paar fast leere Tuben Salbe. Jetzt stand er an der Ecke, als würde ihn der Rucksack rücklings in den Rinnstein ziehen. Doch Mo-Maw wusste, es war nicht der Rucksack, der zu schwer war. Sie wusste, es waren seine Knochen.

Das Ganze diente seinem Wohl, und er wagte es, mit diesem leidenden Blick zu ihr heraufzusehen. Es war zu heiß für sein Gedöns. Er raubte ihr noch den letzten Nerv. Geh schon!, formte sie wieder mit den Lippen und trank einen Schluck kalten Tee.

Die beiden Männer warteten an der Ecke. Sie tauschten einen Seufzer und einen Blick und ein Grinsen, bevor sie ihr Gepäck absetzten und sich eine Zigarette anzündeten. Mo-Maw merkte ihnen an, dass sie es eilig hatten — fremde Gesichter waren in den engen Straßen nicht gern gesehen —, und sie sah, dass sie sich zusammenreißen mussten, um ihren Jungen nicht zu hetzen. Doch die Männer waren schlau genug, Mungo keinen Druck zu machen, noch nicht, nicht, solange er noch abhauen konnte. Mit verkniffenen Augen warfen sie ihm Blicke zu, beobachtend, abwartend, was er als Nächstes tat, während sie die Hände in die Hosentaschen schoben und sich den Sack von den Schenkeln pulten. Vor ihnen lag ein stickiger, schwüler Tag. Der Jüngere fingerte sich im Schritt herum. Mo-Maw leckte an der Rückseite ihrer Zähne.

Mungo hob die Hand, um zu winken, aber Mo-Maw warf ihm einen finsteren Blick zu. Offenbar hatte er gesehen, wie sie die Miene verzog, oder das Winken kam ihm plötzlich kindisch vor, denn er brach die Geste ab und griff in die Luft wie ein Ertrinkender.

In den weiten Shorts und der übergroßen Regenjacke wirkte er wie ein Straßenkind in Kleidern von der Heilsarmee. Doch als er sich die Wolke der Locken aus dem Gesicht strich, sah Mo-Maw, wie er die Zähne zusammenbiss, und erkannte den willensstarken jungen Mann, zu dem er heranwuchs. Sie klopfte noch einmal an die Scheibe. Guck mich nicht so böse an.

Der jüngere der Männer trat vor und legte den Arm um Mungos Schultern. Mungo zuckte unter dem Gewicht zusammen. Mo-Maw sah, wie er sich die Seite rieb, und dachte an die violetten Blutergüsse, die auf seinen Rippen blühten. Sie klopfte an die Scheibe: Mein Gott, jetzt hau schon ab! Endlich senkte ihr Sohn den Blick und ließ sich wegführen. Die Männer lachten, als sie dem Jungen auf die Schulter klopften. Braver Kerl. Guter Kerl.

Mo-Maw war nicht fromm, aber sie reckte die rosa lackierten Finger zum Himmel, schüttelte sie und sang Halleluja. Dann kippte sie den kalten Tee in die vertrocknete Graslilie, füllte die Tasse mit Likörwein, drehte die Musik auf und schleuderte die Schuhe weg.

Die drei Reisenden nahmen den Stadtbus zur Sauchiehall Street. Es herrschte eine für Glasgow untypische Hitze, und sie mussten sich durch einen Strom grölender hemdloser Männer kämpfen, die die Sonne schon rot gesotten hatte. Auf den Parkbänken aufgereiht saßen dickarmige Großmütter in ihren guten Wollmänteln und adretten Hüten mit schweißtriefender Oberlippe. Während die Kinder mit klebrigen Gesichtern über die Straße hüpften, senkten die Frauen das Kinn auf die fleischige Brust und dösten in der Hitze. Sie erinnerten Mungo an die Mietshaustauben, fette faule Vögel mit halb geschlossenen Augen, die Köpfe vom Halsgefieder verschluckt.

Die Luft war erfüllt vom Lärm der Straßenmusikanten, die mit dem Schlachtgerassel einer probenden Oranierkapelle wetteiferten. Die Marschflöten tirilierten wie zwitschernde Vögel zu den schweren Schlägen der Lambeg Drum. Es war eine so herzerweichende Melodie, dass ein eleganter älterer Herr ins Träumen kam und dicke, kullernde Tränen weinte. Mungo musste sich beherrschen, um den Herrn nicht anzustarren, der da so ungeniert heulte. Ob aus Kummer oder Rührung, war schwer zu sagen. Unter seinem Jackett-Ärmel blitzte eine teure Uhr auf, und weil Mungo sonst keinen Hinweis sah, kam er zu dem Schluss, dass das Schmuckstück zu protzig, zu auffällig für einen Katholiken war.

Die Männer trotteten schwerfällig durch den Sonnenschein. Sie waren mit dünnen Plastiktüten beladen, einer Angeltasche und einem Campingrucksack. Mungo hörte, wie sie sich über ihren Durst beklagten. Er kannte sie erst seit einer Stunde, aber davon redeten sie die ganze Zeit. Offenbar war Durst ihr ständiger Begleiter. »Ich japse nachem Schlücksgen«, jammerte der Ältere. Er war schon puterrot und schmorte in seinem dicken Tweedanzug. Der andere ignorierte ihn. Er ging mit eiernden Schritten, als scheuerten die engen Jeans an der Innenseite seiner Schenkel.

Sie führten den Jungen in den Busbahnhof und stiegen mit klimpernden Münzen in einen Überlandbus, der sie aus Glasgow hinaus nach Norden in Richtung der grünen Hügel von Dumbarton bringen sollte.

Bis sie sich zu der Plastikbank ganz hinten durchgekämpft hatten, waren die Männer schweißgebadet und schnappten nach Luft. Mungo setzte sich zwischen sie und machte sich so klein wie möglich. Wenn einer von ihnen aus dem Fenster sah, studierte er sein Gesicht von der Seite. Wenn der Mann sich umdrehte, schaute Mungo interessiert zum anderen Fenster raus, um seinem Blick auszuweichen.

Während er zusah, wie draußen die graue Stadt vorbeiglitt, drückte Mungo das Kinn an die Brust und versuchte, den nervösen Juckreiz zu ignorieren, der sich in seinem Gesicht ausbreitete. Er wusste, es war wieder so weit, die gerümpfte Nase, das Blinzeln, die Grimasse, wie ein Nieser, der nie kam. Er konnte spüren, dass der ältere Mann ihn anstarrte.

»Weiß nich, wann ichs letzte Mal auße Stadt rausgekommen bin.« Seine Stimme war rau, als hätte er ein Stück trockenen Toast im Hals. Manchmal holte er mitten im Satz Luft und stockte, als könnte jedes Wort sein letztes sein. Mungo versuchte ihn anzulächeln, aber der Mann hatte etwas Frettchenhaftes an sich, und es war schwer, ihm in die Augen zu blicken.

Er wandte sich wieder dem Fenster zu, und Mungo nutzte die Gelegenheit, um ihn von Kopf bis Fuß anzusehen. Er war knochig, um die sechzig, und hatte offensichtlich harte Jahre hinter sich. Mungo kannte diesen Schlag. Die jungen protestantischen Hooligans aus der Siedlung machten zum Spaß Jagd auf Männer wie ihn; sie kreisten die torkelnden Säufer vor dem Arbeiterclub ein, trieben sie unter Spott zur Fish-and-Chips-Bude und schlugen zu, wenn den armen Schluckern die letzten Münzen aus den löchrigen Taschen fielen. Schlechtes Essen und die Sauferei hatten ihn ausgemergelt und vergilbt. Zu viel Haut hing über zu wenig Fett, und sein gelbes Gesicht schrumpelte wie ein überreifer Apfel.

Sein schäbiges Jackett passte nicht zur Anzughose, deren Knie ausgebeult waren wie noch mehr schlaffe Haut. Unter dem Jackett trug er ein T-Shirt mit dem Logo eines Klempners von der Southside, das Kragenbündchen war eingerissen und löste sich vom Rest. Mungo hatte den Verdacht, dass es seine einzigen Kleider waren; sie mieften, als würde er sie bei jedem Wetter tragen.

Irgendwie tat er Mungo leid. Der Alte zitterte leicht. Die Jahre, die er sich in dunklen Pubs vor dem Tageslicht verkrochen hatte, hatten ihn schreckhaft und nervös gemacht, und seine kleinen rastlosen Augen und die langen zuckenden Glieder erinnerten an einen misshandelten Hund. Er schien immer kurz davor, panisch das Weite zu suchen.

Als die letzten Hochhäuser aus dem Blickfeld verschwanden, gab der Tweed-Mann kleine Geräusche von sich, um das Schweigen zu füllen und die anderen zum Gespräch einzuladen. Mungo senkte das Kinn wieder auf die Brust und sagte nichts. Der jüngere Mann kratzte sich im Schritt. Mungo musterte ihn aus dem Augenwinkel.

Er sah aus wie Anfang zwanzig. Er trug dunkelblaue Jeans und hatte den Gürtel unter dem Label durchgezogen, damit das Armani-Logo nicht verdeckt wurde. Er war hübsch — oder vielleicht mal nahe dran gewesen —, aber irgendwas an ihm wirkte jetzt schon verdorben, wie gutes Metzgerfleisch, das zu lange liegengeblieben war. Trotz der Hitze trug er eine dicke Bomberjacke. Als er sie auszog, sah Mungo die sehnigen Muskelstränge an seinen Armen, die von schwerer Arbeit oder von jahrelangen Straßenkämpfen zeugten, oder beidem.

Sein Haar war kurz geschnitten. Er hatte es sich mit Gel nach vorn gekämmt, und der Pony bildete kleine Sägezähne, wie mit der Zackenschere geschnitten. Mungo starrte seine aufgeschürften Fingerknöchel an. Seine Haut war honigfarben, untypisch für Schottland; vielleicht waren seine Leute Frittenbuden-Italiener oder spanischstämmige Iren.

Doch der Hauch von Exotik verpuffte, als er mit dem breiten, stimmlosen Glasweger Akzent sagte: »Oh Mann, stell einfach auf Durchzuch.« Er redete, ohne einen der beiden direkt anzusehen. »Der olle Sankt Christopher ist sone Schlaftablette, dassem Pferd der Arsch einpennt.«

Mungo fragte sich, was er mit einem Heiligen im Bus machte, während der Jüngere sich wieder dem Nasebohren widmete. Als er mit dem kleinen Finger sein Nasenloch auslotete, sah Mungo, dass er an jedem Finger einen Münzring trug und seine Unterarme von verschlungenen Tätowierungen bedeckt waren. Er war ein Mann voller Wörter: von den Logos auf der Brust, den Schuhen und der Jeans bis zur Haut. Er hatte seinen ganzen Körper mit einer Nähnadel beschriftet, Frauennamen, Gangnamen: Sandra, Jackie, RFC, The Mad Squad. An manchen Stellen war die Kugelschreibertinte verschwommen, unter die Haut gesickert wie Wasserfarbe, und verlieh ihr ein schönes Violett. Mungo las aufmerksam, was auf den Armen stand. Er prägte sich ein, so viel er konnte.

Sankt Christopher griff in eine der Einkaufstüten und hielt mit einem verschlagenen Augenzwinkern ein Sixpack Tennent’s Super hoch. Den Blick auf den Hinterkopf des Busfahrers geheftet, drehte er zwei Dosen aus den Plastikösen und bot sie dem Jungen und dem Tätowierten an. Mungo schüttelte den Kopf, aber der junge Mann griff dankbar ächzend zu. Er riss die Dose auf und schloss die Lippen um den überlaufenden Schaum. Mit drei großen Schlucken hatte er das Bier geleert.

Sankt Christopher schien Mungos Gedanken gelesen zu haben, denn er sagte: »Die nennen mich Sankt Christopher, weil ich immer sonntachs bein Anonymen Alkolikern auffe Hope Street bin. Aus Sonntags-Christopher hamse Sankt Christopher gemacht, nich zu verwechseln min Castlemilk-Chris odern lütten roten Chrissy.« Der Mann trank einen Schluck, und Mungo sah seinen Kehlkopf gierig hüpfen. »Sankt Christopher, verstehste?«

Mungo kannte die Art von Spitznamen. Mo-Maw kam von Montag-Donnerstag-Maureen. Das war der Name, nach dem die anderen Alkoholiker fragten, wenn Mungo zu Hause ans Telefon ging. Sie wollten sichergehen, dass sie nicht aus Versehen »Millerston-Maureen« oder die »lütte Mo aus Milk« an der Strippe hatten. Diese Unterscheidungen waren wichtig, wenn man sich ansonsten ans Prinzip der Anonymität halten wollte.

»Manchma hab ich son Flattermann, dass ich einglich mittwochs auch manchma hinmüsste. Aber dit geht ehm nich.« Sankt Christopher machte ein trauriges Gesicht. »Verstehste?«

Mungo gab sich Mühe, aber häufig fiel es ihm schwer zu verstehen, was die Leute eigentlich meinten. Mo-Maw und seine Schwester Jodie zogen ihn damit auf. Offenbar gab es manchmal viel Spielraum zwischen dem, was die Leute sagten, und dem, was man verstehen sollte. Jodie sagte, Mungo wäre treudoof. Mo-Maw sagte, sie wünschte, sie hätte ihn zu mehr Pfiffigkeit erzogen, und weniger zum Einfaltspinsel. Es war komisch, eine Enttäuschung zu sein, weil man ehrlich war und das auch von den anderen erwartete. Von den Spielchen der Leute bekam er Kopfschmerzen.

Sankt Christopher schlürfte seine Dose aus, als Mungo sagte: »Vielleicht sollten Sie mittwochs einfach auch hingehen. Ich meine, wenns Ihnen guttut?«

»Aye, aber ich häng ehm an meim Titel.« Er griff sich in den Ausschnitt und zog ein kleines Blechmedaillon des heiligen Christophorus heraus, das er sich vor die pockennarbige Nase hielt. »Sankt Christopher. Das is das Netteste, was je einer über mich gesagt hat.«

»Können Sie denen nicht einfach Ihren Nachnamen geben?«

»Dann wärs wohl nich mehr anonym, oder?«, unterbrach der Tätowierte. »Wennde anfängst, deine Karten auffen Tisch zu legen, und dann von deinen Dämonen erzählst, hamse dich auf der Straße am Sack.«

Mungo wusste sehr gut, dass die Leute Dämonen hatten. Mo-Maws Dämon kam raus, wenn sie auf dem Trockenen saß. Ihr Dämon war eine plattgedrückte, aalartige Schlange mit den Zähnen und Knopfaugen eines Wiesels und dem verfilzten Fell einer räudigen Ratte. Er war ein hinterlistiges Vieh an einer Kette, das an ihr zerrte und sie zu Dingen schleifte, von denen sie sich besser fernhielt. Er war gierig, und er war gerissen. Manchmal stellte er sich schlafend, wartete ab, bis die Kinder zur Schule gingen, ihrer Mutter zum Abschied einen Kuss gaben, und dann fiel er über Mo-Maw her und würgte sie wie eine zitternde Maus. Oder er rollte sich in ihr zusammen und legte sich schwer auf ihr Herz. Der Dämon war immer da, unter der Oberfläche, selbst an guten Tagen.

Wenn sie der Versuchung nachgab und trank, ließ sich der Dämon eine Weile beruhigen. Aber manchmal trank Mo-Maw so viel, dass sie sich in eine andere Frau verwandelte, in ein ganz anderes Wesen. Das erste Zeichen war, dass ihre Haut schlaff wurde, als würde ihr Gesicht abrutschen, um die fremde Frau freizulegen, die sich darunter verbarg. Mungo und seine Geschwister nannten sie Tattie-Bogle, weil sie so schäbig und herzlos war wie eine Vogelscheuche. Egal, wie viel Liebe die Kinder ihr schenkten, egal, wie viel Mühe sie sich gaben, ihre Mutter zu stützen und wieder zusammenzusetzen, sie saugte alle Fürsorge und Aufmerksamkeit auf und fühlte sich trotzdem immer leer.

Wenn Tattie-Bogle redete, hing ihr Unterkiefer herunter und die Zunge rollte im Mund herum, schmutzig, lasziv, als wollte sie unbedingt etwas ablecken. Tattie-Bogle hatte immer das Gefühl, dass sie gerade eine Party verpasste, dass es anderswo aufregender war, gleich um die Ecke, heimlich nebenan im nächsten Treppenaufgang. Sie grollte ihren Kindern und scheuchte sie weg wie armselige kleine Vögel. Tattie-Bogle war überzeugt, dass bessere Dinge, buntere Lichter, lautere Lacher nur den Frauen passierten, die keine Kinder hatten.

Tattie-Bogle stürzte sich Hals über Kopf in Freundschaften mit Frauen, die sie gerade erst kennenlernte, vertraute ihnen über einer Flasche Black-&-White-Whisky ihre intimsten Geheimnisse an und war beleidigt, wenn die neue beste Freundin ihre Gefühle nicht mit der gleichen Tiefe teilte. Wenn sie dann in handfesten Streit gerieten, schleifte sie die andere durchs Zimmer und die Treppe hinunter, oder umgekehrt. Am nächsten Morgen fand Mungo Strähnen parfümierten Haars im Flur, die im Luftzug, der unter der Haustür durchpfiff, tanzten wie das Stroh einer kaputten Vogelscheuche. Er oder Jodie ließen die Haare mit dem Teppichkehrer verschwinden und verloren kein Wort darüber.

Es war Jodie, die ihre Mutter in zwei Personen geteilt hatte. Der Trick half Mungo, Mo-Maw im kalten Morgenlicht zu verzeihen, nachdem der Schnaps sie rachsüchtig und gemein gemacht hatte. »Das war nicht Mo-Maw«, tröstete ihn Jodie, wenn sie ihn in der Besenkammer im Arm hielt. »Das war bloß die schreckliche alte Tattie-Bogle, und die schläft jetzt.«

Mungo wusste, wie Dämonen aussahen. Als der Bus nach Norden tuckerte, saß er still da und dachte an seine eigenen.

»Der Scheißfahrer soll ma Gas geben«, knurrte der tätowierte Mann. Er griff in die Tasche zwischen seinen Füßen, an deren Gurt bunte Köder steckten. Zwischen Angelschnurspulen kramte er einen Beutel Tabak heraus. Er rollte sich eine dicke Zigarette und ließ die Zungenspitze über das Papier flitzen. Als er sie angesteckt hatte, zog er tief und blies den Rauch in die leere Bierdose. Er hielt die Öffnung zu, als hätte er eine Spinne gefangen, aber der Tabakgestank zog längst durch den Bus. Mehrere Fahrgäste drehten sich um und warfen böse Blicke zur Rückbank. Mungo lehnte sich mit einem verlegenen Lächeln über seinen Sitznachbarn und öffnete den Riegel des klapprigen Fensters.

»Rauchst du?«, fragte der Mann zwischen gierigen Zügen. Seine Augen waren leuchtend grün mit glänzenden goldenen Einsprengseln.

»Nein.«

»Gut.« Er nahm noch einen tiefen Lungenzug. »Is schlecht für dich.«

Sankt Christopher streckte zitternd die Hand aus, und der Tätowierte überließ ihm widerwillig die Zigarette. Sankt Christopher inhalierte, bis er randvoll mit Rauch war. Das feuchte Papier klebte an seinen trockenen Lippen. Der Tätowierte rempelte Mungo mit der Schulter an. »Meine Kumpel nennen mich Gallowgate, wegen, weil ich da herkomm.« Er rückte sich die Münzringe zurecht und nickte in Richtung des ahnungslosen Busfahrers. »Bisten nervöser kleiner Kerl, was? Keine Angst. Wenn der uns blöd kommt, stech ich ihn ab.«

Sankt Christopher saugte an der Kippe, bis er sich die Finger verbrannte. »Angelste gerne?«

»Weiß nicht.« Mungo war froh, als die Zigarette endlich aus war. »Ich war noch nie angeln.«

»Aus dem Loch, wo wir hinfahn, kannste Hechte, Aale und Saiblinge holen«, sagte Gallowgate. »Da kannste das ganze Wochenende angeln, ohne dass einern Angelschein sehen will. Auf dreißig, fünfzig Kilometer triffste keine Menschenseele.«

Sankt Christopher nickte. »Aye. Näher ans Paradies kommste mit drei Bussen nich.«

»Vier«, berichtete Gallowgate, »vier Busse.«

Bei der Vorstellung, wie abgelegen ihr Ziel war, zog sich Mungos Herz zusammen. »Esst ihr die Fische?«

»Kommt auf die Größe an«, sagte Gallowgate. »In der Paarungszeit fängste so viele, dass dune Tiefkühltruhe brauchst. Hat deine Mammy ne Tiefkühltruhe?«

Mungo schüttelte den Kopf. Er dachte an Mo-Maws kleines Eisfach und die dicke Eisschicht darin. Er fragte sich, ob sie sich über einen dicken Saibling freuen würde, aber er bezweifelte es. Sie schien sich über nichts zu freuen, was er tat. In letzter Zeit hatte er ihrem Herzen Kummer gemacht, das hatte sie zu ihm gesagt. Er musste sich das Lachen verkneifen, als sie es sagte, weil er unwillkürlich das Bild im Kopf hatte, wie ihr Herz sich im Wohnzimmer ihres Brustkorbs ein Taschentuch an die Augen drückte. Jodie hatte nur die Augen verdreht und gefragt: »Wem erzählst du das, Maureen? Du hast doch gar kein Herz.«

Mungo kratzte sich am Wangenknochen, als der Bus Dumbarton passierte und die ockerfarbenen Ufer des Loch Lomond vor ihnen auftauchten. Er dachte an die bleischweren Dinge, die Mo-Maw gesagt hatte. Er wusste, warum er hier war; es war seine eigene Schuld.

»Wie alt bist du einglich?«, fragte Gallowgate.

»Fünfzehn.« Mungo versuchte sich zu voller Größe aufzurichten, aber seine Rippen taten immer noch weh, und der Bus war miserabel gefedert. Er war nicht besonders groß für sein Alter, einer der Letzten in der Klasse, die in die Höhe schossen. Sein älterer Bruder Hamish griff ihm manchmal ans Kinn und drehte sein Gesicht ins Licht. Er prüfte den dünnen Flaumstreifen auf Mungos Oberlippe wie ein Gärtner, der nach einem kümmerlichen Setzling sieht. Dann pustete er in den Flaum, um Mungo zu ärgern. Mungo war nicht besonders groß, aber er war größer als Hamish. Das ging Hamish gegen den Strich.

Sankt Christopher griff nach Mungos Handgelenk und schloss die langen Finger darum. »Bist nochen kleiner Knirps, was? Ich hätt dich höchstens auf zwölf, dreizehn geschätzt.«

»Ach was, der ist fast ein Mann.« Gallowgate legte den tätowierten Arm um Mungos Schultern. Er wechselte einen verschlagenen Blick mit seinem Freund. »Na, sind deine Eier schon draußen, Mungo?«

Mungo antwortete nicht. Sein Sack hing faltig und nutzlos herum. Wenn die Eier rauskamen, wo sollten sie hin?

»Du weißt schon, deine Nüsse?« Gallowgate boxte dem Jungen in den Schritt.

»Weiß nicht.« Mungo beugte sich schützend vor.

Die Männer lachten leise, und Mungo versuchte mitzulachen, aber es kam verlegen heraus, neben der Spur. Sankt Christopher hustete keuchend, und Gallowgate sah verächtlich aus dem Fenster. »Keine Sorge, Mungo. Wir zeigen dir, wos langgeht«, sagte er. »Wir machen unsen paar lustige Tage, und du kannst deiner Mammy nen frischen Fisch mitbringen.«

Mungo massierte seine schmerzenden Eier. Er dachte wieder an Mo-Maws kummervolles Herz.

»Aye. Deine Mammy is ne gute Frau. Eine der wenigen, dies noch gibt.« Gallowgate begann, sich die Hornhaut vom Zeigefinger abzukauen und auf den Boden zu spucken. Plötzlich drehte er sich um. »Kann ich ma sehn?« Bevor Mungo protestieren konnte, griff er nach dem Bund von Mungos Regenjacke. »Lass uns ma kurz sehn.«

Mungo hob die Arme und ließ den Mann die Jacke hochziehen, bis der Nylonstoff sein Gesicht bedeckte und alles in ruhiges blaues Licht tauchte. Mungo sah nichts, aber er hörte die Männer und das abgehackte Muster ihres Atems. Ein trauriges Luftholen, eine Pause, ein Seufzer. Gallowgates Fingerspitze war feucht, weil er daran gekaut hatte. Er berührte die schwarz werdenden Flecken an Mungos Brustkorb, und Mungo spürte, wie er mit dem Finger vom Brustbein um den Bogen seiner untersten Rippe fuhr, als würde er eine Landkarte nachzeichnen. Gallowgate betastete seine Rippen, dann drückte er prüfend auf den blauen Fleck. Mungo zuckte vor Schmerz zusammen und wand sich weg. Er zog sich die Jacke wieder herunter und merkte, dass er knallrot war. Gallowgate schüttelte den Kopf. »Schlimme Sache. Deine Mammy hat uns erzählt, dass du von den dreckigen Fenier-Arschlöchern Kloppe kassiert hast. Katholiken, Mann. Scheinheiliges Pack.«

Mungo hatte versucht, die Erinnerung zu verdrängen.

»Keine Angst«, grinste Gallowgate. »Mit uns kommste mah aus der Siedlung raus. Wir ham ein richtig schönes Jungswochenende vor uns. Machen einen Mann aus dir, was?«

Sie stiegen um, und dann stiegen sie noch mal um, und dann warteten sie fast drei Stunden auf den letzten Bus. Sie hatten Loch Lomond weit hinter sich gelassen, und Mungo kam der Verdacht, dass die Männer selbst nicht genau wussten, wo sie waren. Er fand, es sah alles gleich aus.

Die beiden Schluckspechte lagen im Ginster hinter dem metallenen Wartehäuschen und tranken die letzten Tennent’s-Dosen aus. Ab und zu flog eine leere Dose über die Hecke auf die Landstraße, und Gallowgate fragte den Jungen, ob der Bus schon in Sicht war. Mungo sammelte den Müll ein und sagte nein, »kein Bus«.

Als Mungo fröstelnd in der Sonne stand, ließ er seinem Tic freien Lauf, unbehelligt von den aufdringlichen Blicken Fremder. Wenn er allein war, versuchte er auf die Art den Tic zu verschleißen, aber es funktionierte nie.

Auf dem Land war es kälter als in der Stadt. Die träge Sonne des Nordens klebte am Himmel, doch durch die Glens fegte ein langatmiger Wind, der ihre Wärme einkassierte. Mungos Nase lief. Trotzdem fing er sich wahrscheinlich einen Sonnenbrand ein.

Er ging in die Hocke. Er hatte eine Kruste am rechten Knie, und die Haut darunter juckte und spannte. Mungo sah sich um. Dann drückte er die Lippen aufs Knie, fuhr mit der Zunge über die Haut, um sie weich zu machen, und saugte, bis er einen metallischen Geschmack im Mund hatte. Er wusste, dass er der Versuchung nicht widerstehen würde, immer wieder an der Wunde zu lecken, also zog er die Regenjacke über die nackten Beine und versteckte seine Knie vor der wärmelosen Sonne. In der Siedlung hatte eine so außergewöhnliche Hitze geherrscht, dass er überhaupt nicht daran gedacht hatte, mehr als die dünnen Fußballshorts mitzunehmen. Mo-Maw hatte ihm keine Zeit zum Packen gelassen, und sie hatte ihn auch nicht aufgehalten, als er viel zu dünn angezogen das Haus verließ.

Er nahm den dicken Fair-Isle-Pullover aus dem Rucksack und zog ihn unter die Regenjacke. Die trockene Shetlandwolle kitzelte, als er ihn über das Gesicht streifte. Mungo sah nach, ob die Säufer noch im Ginster lagen. Dann zog er sich den Pullover wieder über die Nase und leckte an der Innenseite der Maschen. Die Wolle roch nach frischer Luft, Sägemehl und dem stechenden Ammoniak des vollgepinkelten Taubenschlags. Sie erinnerte ihn an zu Hause. Mit dem Daumen schob er sich die Wolle in den Mund und schloss die Augen. Er stopfte so viel hinein, dass er würgen musste.

Als endlich der Bus kam, waren die Männer sturzbetrunken. Mungo half ihnen mit den Tüten und dem Angelzeug beim Einsteigen, und dann wartete er, während Sankt Christopher die Fahrkarten bezahlte. Der Betrunkene schwankte und kramte eine Handvoll Silber- und Kupfermünzen heraus. Frauen mit schuppigen Gesichtern schnaubten ungeduldig, weil die Einkaufstüten zu ihren Füßen tauten, und Mungos Hals glühte, als er das Kleingeld aus Sankt Christophers hohler Hand fischte und Geldstück für Geldstück auf das Tablett fallen ließ. Der Junge spürte sein Lid zucken und war erleichtert, als der Fahrer endlich sagte: »Okay, okay. Das reicht, Kleiner.« Er schämte sich, dass er so langsam im Rechnen war. In die Schule ging er selten, seit Mo-Maw wieder so viel trank.

Der Fahrer löste die Handbremse. Mungo wich den Blicken der Landfrauen aus, aber er musste lachen, als Sankt Christopher hinter ihm hertorkelte und den grimmigen Gesichtern einen »prächtigen und frohen Nachmittag« wünschte. Gallowgate war auf dem Haufen aus Plastiktüten und Angelzeug schon fest eingeschlafen. Mungo setzte sich einen Platz vor ihn und knibbelte an der schwarzen Gummidichtung des Fensters.

Der breite Bus rumpelte über die Serpentinenstraße. Er blieb an jeder Ecke stehen und ließ kleine weiße Frauen vor ihren kleinen weißen Häusern aussteigen. Der Dieselmotor knatterte ein Schlaflied, und der Junge spürte, wie seine Lider schwer wurden. Ein Wäldchen rückte dichter an die Straße, und durch die Kiefern- und Eibennadeln fiel ihm geflecktes Sonnenlicht ins Gesicht. Mungo lehnte den Kopf an die Scheibe. Er sank in einen unruhigen Schlaf.

Da war Hamish. Sein Bruder lag in dem schmalen Bett gegenüber von seinem. Am Winkel, in dem sich das Tageslicht in seinen dicken Brillengläsern spiegelte, sah Mungo, dass es Spätnachmittag war. Hamish schaufelte Schokopops in sich hinein, und die Milch rann ihm über die haarlose Brust. Mungo lag still da und beobachtete seinen Bruder verstohlen. Er mochte solche Momente, wenn der andere nicht merkte, dass er ihn ansah. Hamish lächelte vor sich hin. Die linke Seite seines Gesichts verzog sich zu einem schmutzigen Grinsen, als er das Magazin durchblätterte. Mungo sah die angestrengten, angemalten Gesichter der nackten Frauen, die breitbeinig dalagen und Hamish verzerrt anstarrten. Doch als er seinen Bruder wieder ansah, war es Hamish, der ihn beobachtete. Er lächelte nicht mehr. »Sag es, Mungo. Ist es meine Schuld?«

Gallowgate schüttelte den Jungen aus dem Traum. Seine Oberlippe klebte am Belag auf seinen Zähnen, und im ersten Moment wusste Mungo nicht, ob er grinste oder die Zähne fletschte.

Als sie aus dem Bus kletterten, knickte Sankt Christopher um und fiel in den Grasstreifen. Sie waren an einem Straßenstück, wo dichtes Erlenlaub die Luft grün und feucht und träge machte. Sankt Christopher krümmte sich am Boden und zog sich das Jackett enger um die Hühnerbrust. »Warum haste uns nicht geweckt, verdammt nochmal!« In seinen Mundwinkeln hing wütender Schaum. »Wir sind tausend verkackte Kilometer zu weit gefahn.«

»Ich wusste nicht, wo wir hinfahren. Hier sieht alles gleich aus.«

Gallowgate trat einen Schritt vor, als wollte er den Jungen schlagen, und Mungo wich instinktiv zurück und hob schützend die Arme.

»Scheiße, Mann.« Sein Atem roch sauer nach Bier und Schlaf. »Nur die Ruhe. So weit isses noch nicht.« Er nahm ein paar Tüten vom staubigen Boden und hängte sie sich über die Schulter. Dann ging er in die Richtung los, aus der sie gekommen waren, mitten auf der Straße, als müssten die Autos sich vor ihm in Acht nehmen. »Wir müssen zig Kilometer zurück, also bewegt eure Scheißärsche.«

Obwohl niemand unterwegs war, blieben Mungo und Sankt Christopher im Schutz der Böschung, auch wenn sie ständig mit den Taschen am Dornengestrüpp hängenblieben. Mungo machte den Reißverschluss der blauen Regenjacke bis zum Hals zu, und dann bis über den Mund. Er zog den Kopf ein, bis nur noch ein Paar zuckende Augen heraussah.

Sie waren eine Dreiviertelstunde unterwegs, als Sankt Christopher zu jammern anfing; die Tüten schnitten ihm in die Finger, die Lederschuhe scheuerten an seinen pergamentartigen Fersen. Gallowgate warf den beiden finstere Blicke zu wie ein Vater seinen ungezogenen Kindern. Er nahm Mungos Arm, bog seinen Daumen auf und stellte ihn in Richtung des nicht vorhandenen Verkehrs. Dann kletterte er über die Feldsteinmauer am Straßenrand, und der ältere Mann folgte ihm meckernd. Sie lagen hinter der Mauer im Gras, während Mungo an der leeren Landstraße stand und versuchte, ein Auto anzuhalten. Niemand kam, aus keiner Richtung. Ein Stück weiter war die Straße von Schafen blockiert.

Mungo wusste nicht, wie viel Uhr es war, aber er fror im Schatten der Erlen. Seine nackten Beine waren blau marmoriert, und er vertrieb sich die Zeit, indem er die Regenjacke auszog und mit den Beinen in die Ärmel schlüpfte. Als ihm an den Rippen kälter wurde als an den Beinen, zog er sie sich wieder über den Kopf. Eine Stunde verging, dann zwei. Kein einziges Auto war unterwegs. Er hörte, wie hinter der Mauer zischend weitere Bierdosen geöffnet wurden. Hin und wieder stand Sankt Christopher auf und redete ihm gut zu. »Aye, du machst das toll, Junge. Wirklich große Klasse.«

Die männlich wirkende Frau war sichtlich erschrocken, mitten auf der Landstraße einen Jungen zu sehen. Als plötzlich die beiden Trunkenbolde aus dem Gebüsch auftauchten, verwandelte sich ihr Schreck in Angst und dann in Enttäuschung. Mungo blockierte dem braunen Lada die Weiterfahrt und lächelte so verbindlich wie möglich. Er bot einen beunruhigenden Anblick, als er strahlend vor Erleichterung im schwachen Scheinwerferlicht stand.

Die Frau ließ keinen von ihnen vorne sitzen. Doch als er zwischen den beiden Fremden eingezwängt hinten auf der Rückbank saß, war Mungo froh über die Wärme, die ihre Körper abgaben. Sie glühten vom Alkohol, und der Torfgeruch ihres Atems erinnerte ihn an Winterfeuer. Die Kälte hatte ihm jeden Wunsch nach Unabhängigkeit genommen, und er ließ sich gerne von ihren Körpern verschlucken. Gallowgate brachte so viel höflichen Smalltalk hervor, wie ihm einfiel; Mungo fiel auf, dass er sich sogar bemühte, seine Vokale zu schärfen. Er bat die Frau, sie bis zu der Senke der Landstraße zu bringen, wo die Mauer kaputt war und ein unbefestigter Pfad bis runter an den Loch führte, an den sie wollten. Mungo war sich sicher, dass die Stelle selbst bei Tageslicht schwer zu finden war, und erst recht in der violetten Dämmerung.

Die Frau fuhr langsam, sie hatte Angst vor den Kerlen auf dem Rücksitz und wollte auf keinen Fall die Lücke in der Mauer verpassen, damit sie sie nicht länger als nötig am Hals hatte. Mungo sah, wie ihr Blick in den Rückspiegel huschte, und wenn sich ihre Blicke trafen, machte er sein bestes Schulfotogesicht.

»Ich hab noch nie Schafe gesehen«, sagte er.

Die Frau lächelte höflich. Egal was er tat, sie schien sich noch unwohler zu fühlen. Ihre Haut war ledrig, als arbeitete sie bei Wind und Wetter draußen. Sie trug eine Hornbrille und einen selbstgestrickten Zopfpullover, doch über dem bescheidenen Kleidungsstück hatte sie sorgfältig eine Perlenkette drapiert. Jetzt sah Mungo, wie sie die Kette unter den Pullover schob.

»Wir sind nicht verwandt«, sagte Mungo leise. »Das sind Freunde meiner Mutter, und sie gehen mit mir übers Wochenende angeln.«

»Wie schön«, antwortete sie ohne eine Spur von Begeisterung.

»Aye.« Er hatte das Bedürfnis, ihr mehr zu erzählen, weil er irgendwen — und sei es diese hochnäsige Frau — wissen lassen wollte, wer er war, mit wem er unterwegs war und wo sie ihn hinbrachten. »Sie sind bei den Anonymen Alkoholikern. Ich glaube, meine Mutter dachte, ein bisschen frische Luft tut uns allen gut.«

Die Frau in dem Zopfpullover nahm den Blick einen Moment zu lang von der Straße, und der Wagen kam von der Spur ab und geriet auf den Randstreifen. Warnend bohrte sich ein Daumen, oder vielleicht ein Feuerzeug, in Mungos nacktes Bein. Gallowgate wollte ihn zum Schweigen bringen. Mungo hörte Sankt Christopher schnauben; er schnalzte empört mit der Zunge wie eine Hausfrau über die gestiegenen Milchpreise.

Sie fuhren mehrere Kilometer im Kriechtempo und suchten verzweifelt nach der Stelle, die Gallowgate irgendwo im Gedächtnis gespeichert hatte. Doch dann erreichten sie die kaputte Mauer, und alles war genau so, wie er es beschrieben hatte. Die Frau nahm ihre Handtasche zwischen die Knie, bevor sie die Männer rausließ. Als die Reisenden ihre Taschen mit Bier und Angelzeug schulterten, raste die Frau im ersten Gang davon.

»Eingebildete Fotze. Ich dachte schon, die reißt sich vor Angst den Perlenohrring ab«, sagte Gallowgate und lachte.

Sankt Christopher stand zitternd am Zaun. Er schnalzte immer noch entrüstet. »Mungo. Du kannst fremden Leuten nich einfach vonnen AA erzählen.«

Mungo riss den Blick von den davonfahrenden Rücklichtern. »Tut mir leid. War mir nicht klar.« Er hatte Mo-Maw oft genug zu den Meetings in der Hope Street begleitet, um zu wissen, was den Alkoholikern die Anonymität bedeutete.

»Na und?«, schaltete sich Gallowgate ein. »Der kleine Mann hat bloß rumgequatscht.«

Sankt Christopher schlotterte inzwischen wie ein Geisterbahngerippe. Er meckerte vor sich hin. »Ich mein ja nur, man soll aufpassen, was man sagt, und nich den Leuten ihren guten Ruf ruinieren.«

Gallowgate musterte seinen zitternden Kumpel. Seit sie im Ginster gelegen hatten, klebte an seinem Anzug Matsch, und seine weißen Im-Dutzend-billiger-Sportsocken hatten schwarze Ringe vom Straßenstaub. Blutflecken blühten an den Hacken, wo die Schuhe die Haut aufgescheuert hatten. Gallowgate schüttelte den Kopf. »Hatte kurz vergessen, was fürn stolzer Mann du bist.« Er griff in die Jackentasche und hielt dem Jungen einen Schokoriegel hin. Er zwinkerte Mungo zu. Es sollte eine Entschuldigung für den alten Säufer sein. Es hieß, Gallowgate fand Mungo in Ordnung und sie mussten Sankt Christopher gemeinsam ertragen.

Inzwischen wurde es spät. Als sie zum See hinunterwanderten, ging Mungo durch den Kopf, was für ein seltsames Paar die beiden Männer waren, aber er wusste auch, dass Alkohol ein großer Gleichmacher war, dass er die unwahrscheinlichsten Typen zusammenbrachte. Mungo hatte zu Hause erlebt, wie sich die unterschiedlichsten Menschen solidarisch um eine Tüte mit Flaschen scharten. Er dachte an die ganzen fremden Onkel und Tanten, die bei ihnen aufgekreuzt waren und sich mit seiner Mutter abgeschossen hatten. Leute, über die Mo-Maw auf der Straße die Nase rümpfen würde, wurden Familie, sobald sie ihren Arbeitslosenscheck eingelöst und in eine Flasche bernsteinfarbenen Whisky investiert hatten.

Weiter unten war kein Pfad mehr zu sehen und der Boden war dicht mit Schachtelhalm überwuchert. Im letzten blauen Tageslicht wanderte Gallowgate im Slalom um die Birken und hangabwärts auf den See zu, den sie noch nicht sahen. Sankt Christopher blieb zurück. Mungo hörte ihn murren und blieb ab und zu stehen, um dem beleidigten Mann zuzulächeln, aber Sankt Christopher drehte sich weg und zupfte an der flaumigen Baumrinde, als wäre er fasziniert davon.

Mungo hatte bisher so gut wie nie die Stadt verlassen. Er war noch nie an einem Ort gewesen, wo die Natur keine Grenzen hatte. Einmal war er über die brachliegenden Felder um Garthamlock gestreift, aber dort standen überall ausgebrannte Autos und aufgeplatzte Sofas herum, und man konnte nicht einfach durchs hohe Gras laufen, weil so viel herumlag, woran man sich verletzen konnte. Als sie jetzt durch den Wald gingen, wurde ihm schwindelig von dem Gedanken, dass er einer der wenigen Menschen war, die je einen Fuß hierher gesetzt hatten. Er hörte keinen Lärm, keinen Vogel, kein Tier, das im Unterholz raschelte. Es war beruhigend, Teil von etwas so Unverdorbenem zu sein.

Sie kamen an dem bleichen Schädel und Gerippe eines alten Schafs vorbei. Gallowgate fuhr mit dem Finger über die spiralförmigen Hörner und erklärte, es sei ein Widder, »der Mann vom Schaf«. Mungo kramte in der Anoraktasche nach der Wegwerfkamera, die Jodie ihm mitgegeben hatte. Der Film war halb voll, verschwendet auf alberne Schnappschüsse von Jodies Experimenten, sich einen Pony zu schneiden. Das einzige Geräusch im Wald war das Ritschratsch, als Mungo den Apparat spannte. Das Blitzlicht fror die Blätter im Flattern ein. Selbst Sankt Christopher verschlug es kurz das Gemecker.

Im Gänsemarsch überquerten sie eine schmale Lichtung. Gallowgate ging in die Hocke; er nahm sich Zeit, Mungo zu erklären, wie Brennnesseln aussahen, und als sie ein ganzes Meer davon durchqueren mussten, nahm er den barbeinigen Jungen huckepack. Gallowgate stürmte durchs Unterholz wie ein gesatteltes Maultier. Er wieherte, als sein Galopp gurgelndes Lachen aus Mungo herausschüttelte. Je mehr Mungo lachte, desto wilder sprang Gallowgate herum, bis Mungos Geschrei vom dichten Laub zurückgeworfen wurde und Gallowgate die Puste ausging.

Am Anfang fühlte es sich komisch an, Gallowgate die nackten Beine um die Taille zu schlingen, aber Mungo fühlte sich auf seinem Rücken sicher. Als Gallowgate ihn wieder absetzte, rubbelte er die Kühle von Mungos Schienbeinen, und Mungo fragte sich, ob er den Mann falsch eingeschätzt hatte. Er sah sich nach Sankt Christopher um, aber von ihm war nichts mehr zu hören oder zu sehen. Gallowgate machte sich offenbar keine Sorgen, er teilte den Farn und marschierte weiter.

Die Sonne versank gerade hinter den Hügeln, als sie das Ufer des Sees erreichten. Nach dem dichten Wald lag der Loch plötzlich vor ihnen, und die Weite war fast zu viel für Mungo. Er taumelte zum Wasser.

Der Tag ließ seine letzten Farben spielen, und als die zarten Veilchen- und Aprikosentöne am Horizont verschwammen, wünschte Mungo, sie wären früher angekommen. Er legte den Kopf in den Nacken und ging im Kreis. Über ihm wurde der Himmel immer tiefer blau, verschmiert mit blassen zitronengelben Streifen. Mungo hatte nicht gewusst, dass der Himmel so viele Farben hatte, oder er hatte nie darauf geachtet. Sah sich in Glasgow je einer den Himmel an?

Er stieß einen ehrfürchtigen Seufzer aus. All die Schönheit des Himmels wurde vom Wasser des Lochs gespiegelt, als würde Mutter Natur damit prahlen. Gallowgate grinste stolz. »Warts ab, bis du den Nachthimmel siehst. Sowas Schwarzes hast du noch nie gesehen.«

Er bot Mungo an, sich auf seine Schultern zu setzen, damit er das andere Ufer sehen konnte, bevor es ganz in der Dunkelheit versank. Von oben schätzte Mungo, dass der See drei Kilometer breit und hundert Kilometer lang war.

Auf der anderen Seite war das Ufer von niedrigen Hügeln gesäumt, deren Hänge aufgeplatzt waren, als hätten die Felsen von innen die Oberfläche gesprengt. Alle Farben waren scheckig und gesprenkelt. Mungo fand, die Hänge sahen aus, als wären sie von einem riesigen fadenscheinigen Teppich bedeckt. Stellenweise war das Moosgrün und Graubraun abgerieben, und der Granit darunter schimmerte durch wie Estrich. Es gab Felder von lila Moorblümchen und goldenem Ginster, und hier und da sah man noch Schnee, der hartnäckig in den tiefsten Spalten klebte.

Nach links löste sich der See in der Dämmerung auf. Rechts wand er sich träge um eine Kurve und verschwand hinter einer Wand aus Kiefern. Mungo hatte das Gefühl, der Loch war zehn Mal größer als die Siedlung, vielleicht sogar größer als ganz Glasgow.

Zweimal hatte er das Meer gesehen. Dort rollte und brandete das Wasser ununterbrochen. Aber hier war es träge, und die Oberfläche war so gläsern wie die einer Pfütze. Nichts regte sich bis auf das Summen der schwarzen Highland-Gnitzen, deren Schwärme tief über dem Wasser hingen und bei den Fischen ein hungriges Kräuseln auslösten. Der See wirkte kälter und tiefer, als Mungo fassen konnte. Er wirkte traurig, als wäre er vergessen worden. Still, als würde er Geheimnisse hüten.

Gallowgate setzte den Jungen ab. Er rieb Mungos kalten Rücken, und dann lief er eilig über den Kies am Ufer. Am Fuß eines moosbewachsenen Hangs lag ein Haufen grob behauener Steine, der vage an eine Hütte erinnerte. Es gab parallele Mauern, und Mungo konnte den eingefallenen Türsturz erkennen und den Giebel am anderen Ende. Vor der Hütte war eine Feuerstelle mit einem Halbkreis großer Steinen zum Sitzen. Dicke Gnitzen sirrten im Schatten.

»Daran gewöhnste dich«, sagte Gallowgate und reichte dem Jungen ein großes Ampferblatt. »Reib dir damit die Beine ein, dann gehts schon.«

Mungo rieb sich die nackten Beine, bis sie vom Chlorophyll grün und schleimig waren. Die Stechgnitzen ließen sich davon nicht abschrecken.

Am Waldrand tauchte humpelnd Sankt Christopher auf. Er setzte sich ans Ufer und tauchte die Füße ins eisige Wasser. Er war so ausgemergelt, dass er in seinem grauen Tweed wie ein Felsbrocken aussah.

Gallowgate entschied, dass sie das Lager um den steinernen Halbkreis aufschlugen. Er zog die modische Nylon-Bomberjacke aus, und die Knie seiner italienischen Jeans wurden feucht, als er die Plastiktüten auspackte. Aus dem Rucksack nahm er zwei dünn aussehende Zelte. Im Innern der verfallenen Hütte baute er das Zweimannzelt auf. Das kleinere errichtete er am anderen Ende des Lagers, auf einem Bett aus trockenem Kies, fast so weit entfernt, wie es irgend ging. Mungo half ihm, mit einem Feuerstein die gebogenen Heringe in den Boden zu hämmern. »Sollten die Zelte nicht näher zusammenstehen?«

Gallowgate sah den Jungen an und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich sollte es ein freundliches Lächeln sein, aber es war keine Wärme darin, und Mungo bildete sich ein, auf seinen schmalen Lippen etwas Bedrohliches aufblitzen zu sehen. Vielleicht war Gallowgate wie Hamish und mochte es nicht, wenn seine Autorität infrage gestellt wurde.

»Nee. Besser weit weg vom Feuer«, sagte Gallowgate. Er zurrte die Zeltschnur fest. Dann zupfte er daran, um die Spannung zu prüfen. »Oder willst du nicht die Sterne sehen?«

Der Januar davor

Zwei

Ihre Mutter war bestimmt tot. Es war drei Wochen her, dass die Kinder sie gesehen hatten, und Mungo konnte sich nur die schlimmsten Szenarien vorstellen. Mo-Maw Hamilton war vergewaltigt und dann mit einem Steakmesser ausgeweidet worden, das irgendein Fernfahrer mit Tankstellencoupons gekauft hatte. Er hatte die nackte Leiche verschnürt und ihr die Finger abgehackt, bevor er sie im kalten brackigen Wasser des Clyde versenkte. Mungo folgte seiner Schwester von Zimmer zu Zimmer und beschwor die blutigsten Bilder herauf.

»Ich weiß, dass sie tot ist.«

»Kann sein«, tröstete ihn Jodie, »oder sie ist bloß wieder auf Sauftour.«

»Aber was, wenn sie tot ist?«

Jodie seufzte. »Sieh dich um. Das Glück ham wir nicht.«

Wieder waren die Kinder von der Schule gekommen, und die Wohnung war leer und der Kühlschrank noch leerer. Jodie sah ihren Bruder an, der vor dem Wohnzimmerfenster auf und ab lief, sich schreckliche Dinge ausmalte, die ihrer Mutter zugestoßen sein könnten, und Gründe auflistete, zur Polizei zu gehen. Sie trugen ihre Schuluniformen, die gleichen dunkelblauen Pullover mit weinrot-gold gestreiften Krawatten, nur dass Mungo sich die Krawatte um die Stirn geknotet hatte wie einen Verband, um das Jucken in seinem Gesicht zu lindern.

»Sie hat sich schon oft verpisst«, sagte Jodie. »Vergiss nicht, mit wem dus zu tun hast.«

Jodie ging zu ihm, bevor er Spurrillen in den Teppich lief. Sie nahm ihn in den Arm, wollte das Flattern in seiner Brust beruhigen. Mungo war ein Jahr jünger, doch er hatte gerade einen Sprung gemacht; er war zwar ein Spätzünder, aber inzwischen überragte er sie fast um einen Kopf. Jodie legte die Wange in seinen Nacken, der glühte. »Sie kann jeden Moment wieder durch die Tür spazieren.«

Mungo richtete die braunen Augen zur Tür, und unter dem linken Auge feuerte sein Tic Telegramme ab. Jodie nahm sein Kinn und drehte seinen Kopf in die andere Richtung. Er war wie ein Hund, wenn man ihn nicht ablenkte, konnte er stundenlang einen Gegenstand anstarren.

Sie drückte mit den Fingerspitzen auf sein Gesicht. Die Ärzte hatten ihnen geraten, möglichst wenig auf das Zucken einzugehen und dafür zu sorgen, dass der Junge genug Magnesium bekam, der Tic würde sich mit der Zeit auswachsen — aber das war nicht geschehen, und Jodie glaubte auch nicht, dass es noch passierte. Der Tic war eher noch schlimmer geworden. Es begann mit dem Naserümpfen, und dann zwinkerte Mungo, als würde jemand in seinem Gehirn an einem Schalter herumspielen. Wenn er besonders nervös oder müde war, begann seine linke Wange zu ziehen und zu jucken. Mungo hatte Jodie gezeigt, wo sie drücken musste, um die Stromstöße zu unterbrechen. Aber es war bloß ein Placebo. Jodie wusste inzwischen, dass Mungo einfach gern berührt wurde.

Er hatte sich wieder an der Wange gekratzt, die Haut war rot und wund. Jodie seufzte. »Du musst aufhören, daran rumzurubbeln. Sonst kriegst du ne Narbe. Hiii-hi.«

»Ich kann nichts dafür.«

Auch an der Oberlippe hatte er eine frische Wunde. Er hatte angefangen, an seiner Lippe zu zupfen, wenn der Wangenknochen zu schorfig wurde. »Verflixt noch mal. Pass auf, dass du nicht son pockennarbiges Pizzagesicht wirst wie der Typ, der beim Metzger arbeitet.«

Ihr kleiner Bruder besaß eine ganz besondere Art von Schönheit. Es war weder die gewöhnliche markante, etwas grobe Art von Männlichkeit noch der geschniegelte, übertrieben parfümierte Amateurfußballer-Stil der Jungs aus ihrem Jahrgang. Mungo hatte hohe Wangenknochen und geschwungene Augenbrauen, für die Jodie mit ihrem runden Gesicht und der Stupsnase gemordet hätte. Sein Blick war fast scheu. Aber seine haselnussbraunen Augen konnten einen in betörender Wärme baden, und wenn er den Blick abwandte, wünschte man nichts mehr, als dass er noch einmal hersah. Wenn man es schaffte, ihm sein vorsichtiges Lächeln zu entlocken, wurde man reich belohnt; wer in den Genuss kam, schloss ihn sofort ins Herz. Sein weiches Wuschelhaar löste bei Frauen den Drang aus, ihn zu bemuttern.

Als sie klein waren, war er immer der gutmütige Bräutigam gewesen, um den herum Jodie Hochzeiten veranstaltete. Jodie triezte ihn, und Mungo war stets gehorsam und tat, was sie sagte. Er stand reglos da, während sie und Angie Harms mit den schmuddeligen Gardinen ihrer Mutter verschleiert um ihn herumhüpften. Er hatte unzählige Nachmittage auf Knien verbracht und an den Chiffonhaargummis herumgebissen, die sich die Mädchen als Strumpfband um die babyspeckigen Schenkel geschnürt hatten.

In seinem Wesen lag eine Sanftheit, die die Mädchen entspannte; sie wollten ihn zum Haustier machen. Doch genau dieses Zarte war es, das anderen Jungs unangenehm war.

Mungo war immer das hübscheste der Hamilton-Kinder gewesen, auch wenn seine Geschwister das gleiche kastanienbraune Haar und den hellen olivfarbenen Teint hatten, so anders als ihre unscheinbare, fahle Mutter. Wenn Hamish Mo-Maw ärgern wollte, sagte er, wenigstens ihr Hauttyp bewies, dass sie alle vom gleichen Vater stammten, dass sie mehr von ihm hatten als bloß den Nachnamen. Jodie musste zugeben, dass Mungo die Farben am besten standen. Während die Sommersprossen und die gelbstichige Blässe an Hamish und ihr immer leicht schmuddelig wirkten, war Mungos Haut so sahnig, dass man am liebsten den Löffel hineingesteckt hätte.

Jodie hatte die Kathedrale von Glasgow nur einmal besucht; ausnahmsweise hatte sie an einem Klassenausflug teilnehmen dürfen, weil er umsonst war und sie zu Fuß gehen konnte. Während die anderen Mädchen ihre Religionshefte herausholten, um die Steinreliefs abzupausen, entdeckte Jodie ein Buntglasfenster des Schutzpatrons Kentigern, des heiligen Mungo, wie die Glasweger ihn nannten. Er war als melancholischer Knabe dargestellt, der einen dicken Lachs im Arm hielt und aussah, als täte es ihm leid um den Fisch. Als das Nachmittagslicht durch den Heiligen auf den staubigen Kirchenboden fiel, hatte Jodie an ihren Bruder denken müssen. Es war ein friedliches Fenster, ein bisschen einsam. Jodie hatte seufzend davorgestanden. Es sah ihrer Mutter gar nicht ähnlich, so richtigzuliegen.

Früher, wenn Mo-Maw mit ihnen auf der Duke Street einkaufen ging, blieben wildfremde Frauen stehen, um Mungo zu bewundern. »Das ist aber ein hübscher lütter Junge, den Se da haben.«

Dann trat Hamish vor Mungo und sagte: »Danke, Missus, Sie sind aber auch nicht schlecht.«

Worauf die Einfältigeren mit der Zunge schnalzten und zurückgaben: »Nee, Junge, dich mein ich nich. Der da! Der ist hübsch!«

Mungo hasste es. Er hasste es, angestarrt zu werden. Außerdem wusste er, dass Hamish ihm, wenn sie nach Hause kamen, eine Abreibung verpassen würde, ihn zwischen das Bett und die Scheuerleiste stecken und sich auf ihn stellen würde, bis ihm langweilig wurde.

Jodie ließ das Kinn ihres Bruders los. »Wenn du das nächste Mal das Gefühl hast, du musst dir im Gesicht rumkratzen, setz dich einfach auf deine Hände.«

»Tolle Idee. Die verarschen mich sowieso die ganze Zeit. Stell dir vor, mein Gesicht spielt verrückt, und dann setze ich mich auf meine Hände? Nee, echt nicht.« Mungo beugte sich vor und hob seine Schwester hoch. Er warf sie sich auf den Rücken und trug sie feixend in die enge Küche. Vor dem Elektroherd setzte er sie ab. »Koch was, Frau.«

Jodie streckte zwei Finger aus und bohrte sie ihm unter die Rippen. »Der Mist steht dir nicht, also versuchs nicht mal. Hiii-hi.«

Jodie Hamilton hatte ebenfalls einen Tic, auch wenn sie es nie zugegeben hätte. Es konnte als Affektiertheit durchgehen, oder vielleicht als mädchenhafte Unsicherheit, aber nach bestimmten Sätzen prustete sie ein lautes, schnaubendes Lachen heraus. Hiii-hi. Es war unpassend. Es war schräg. Es platzte keuchend aus ihr heraus und endete mit einem Fiepen. Sie versuchte, das Ende abzuknipsen, als hätte das Lachen einen Schwanz, den sie mit den Zähnen schnappen konnte. Mungo löste mit seinem Blinzeln Mitleid aus. Doch wenn Jodie ihr Lachen herausrutschte, schüttelten die Leute verständnislos den Kopf.

Mungo wusste, dass sie nichts dagegen tun konnte; es kam immer in den schlimmsten Momenten, und er sah ihr an, wie peinlich es ihr war. Nur Mo-Maw behauptete, sie machte es, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Hiii-hi-hi. Jodie erschreckte fremde Frauen auf der Post, wenn nicht viel los war. Sie hielt ganze Hooligan-Gangs in Schach. Mungo fand ihr Lachen großartig, viel besser als seine Zuckungen, das Zwinkern, das andere Leute immer dazu aufforderte, näher zu kommen, genauer hinzusehen. Jodies Tic wirkte Wunder. Er schlug die Leute in die Flucht.

Am meisten Spaß machte es, wenn Jodie schlechte Nachrichten zu überbringen hatte.

Einmal hatte Jodie Mrs Campbells räudigen Tigerkater Shingles tot im Mülltonnenhäuschen gefunden, ganz steif und voller Maden. Sie hatte den toten Kater in ihren Schulpullover gewickelt und an Mrs Campbells Tür geklopft. Beiden liefen die Tränen übers Gesicht, als sie auf das arme, leblose Tier hinuntersahen. Mrs Campbell streichelte die kahle Stelle zwischen seinen pilzbraunen Ohren, während Jodie der Rotz aufs Hemd lief. »Es tut mir so leid, Missus Campbell«, schluchzte sie. »Ich hab gleich gemerkt, dass was nicht in Ordnung ist, obwohls so dunkel war. Wahrscheinlich hat er Rattengift gefressen. Neben seinem Köpfchen war eine Kotzepfütze. Hiii-hi-hi.« Sie konnte das Lachen nicht unterdrücken, selbst in den traurigsten Augenblicken.

Nur ihr Bruder hatte keinen Tic. Wenn Mo-Maw Mungo den Rücken kraulte, um seine Nerven zu beruhigen, sah Mungo Hamishs finsteren Blick und fragte sich, ob er sich ausgeschlossen fühlte. Hamish bekam selten Zuwendung von Mo-Maw. Vielleicht sollte er es mit etwas Auffälligem versuchen, zum Beispiel dem Zwang, tausend Mal am Herdschalter zu drehen. Mungo konnte sich gut vorstellen, wie Hamish ununterbrochen den Lichtschalter drückte, wenn der Rest von ihnen zu essen versuchte. Hamishs Tic wäre mit Sicherheit der unangenehmste. Vielleicht so einer wie der, den Mungo mal im Fernsehen gesehen hatte. Wo ein Junge aus den Scottish Borders immer die schmutzigsten Sachen gebrüllt hatte, wenn die Leute am wenigsten damit rechneten. FICKENFOTZESCHWANZARSCH wenn er in der Kirche war, LECKMICHSCHEISSMUSCHI beim Arzt. So ein Tic wirkte dreist und brutal, perfekt für Hamish.

Jodie löste die Krawatte von Mungos Stirn. Sie sah die unbestimmte Wetterlage auf seinem Gesicht. »Was spielt sich in deinem Hamsterhirn ab?«

»Glaubst du wirklich, dass Mo-Maw jederzeit heimkommen kann?«

»Ich weiß es nicht, Mungo. Ich hab den Tierarzt angefleht, aber er hat verboten, ihr ein Halsband anzulegen.«

»Du könntest ruhig netter zu ihr …«

»Und sterilisieren darf ich sie auch nicht.« Jodie nahm zwei dicke Scheiben Weißbrot aus dem Brotkasten, schmierte sie mit Margarine und streute Zucker darauf. Dann klappte sie das Sandwich zu und hielt es Mungo hin. »Du kannst ja zu Hamish gehen und ihn fragen, ob er was weiß. Außerdem muss sie ihren pickeligen Arsch sowieso bald wieder hier zeigen. Wenn sie nicht aufkreuzt, setzt uns die Stadt auf die Straße.«

»Im Ernst?«

»Na ja, genau genommen setzen sie mich auf die Straße, und du kommst ins Tierheim. Aber du weißt, was ich meine.« Jodie füllte zwei Tassen mit Leitungswasser. »Findest du immer noch, dass sie die beste Mama der Welt ist?«

Am Nachmittag machten sie Hausaufgaben. Jodie erledigte ihre rasch, dann half sie Mungo mit seinen. Er sollte eine schematische Darstellung der Biene abzeichnen und hatte bei der Beschriftung den Thorax mit dem Abdomen verwechselt. Frustriert riss sie ihm das Heft aus der Hand und machte es während der Abendnachrichten selbst. Sie hatte den Stoff vor zwölf Monaten durchgenommen. Sie zeichnete die Biene perfekt und sah dabei kaum auf das Blatt.

»Mungo Hamilton«, erklärte der Sozialkundelehrer häufig. »Kannste dir nicht ne Scheibe von deiner Schwester abschneiden?« Er war ein kleiner Napoleon mit einer Masse grauer Locken, die er aufbauschte, um größer zu wirken. In der Schule sprach er ein raues Glaswegisch. Aber Mungo wusste, dass der Dialekt aufgesetzt war, um bei den Kindern aus dem East End authentischer zu wirken, weil er sie besser unterdrücken konnte, wenn er so klang wie ihre Väter. So machten es viele Lehrer, weil ihr korrektes Queen’s English nach Privilegien stank und Spott hervorrief, wenn sie die Stimme hoben und versuchten, die Klasse zu kontrollieren. Er klopfte an Mungos Stirn, als prüfte er den Bug eines lecken Schiffs. »Warum biste nich mehr wie Jodie?« Mr Gillespie machte eine Pause — er liebte es, unangenehme Momente auszudehnen —, bevor er Mungo mit der feisten Hand an seinen Platz zurückwinkte. »Na, wenigstens kommste nich nach euerm Hamish, das is ja schonma was.«

Mungo überließ Jodie seine Hausaufgaben und setzte sich an den Kassettenrekorder, um die Top Forty aus dem Radio aufzunehmen. Als ihm langweilig wurde, fand er in der Küchenschublade einen Luftballon und blies ihn auf, und Jodie und er kickten den Ballon hin und her, ohne dass er den Boden berühren durfte. Ein- oder zweimal holte Jodie in ihrem engen Bleistiftrock mit dem Bein zu weit aus, verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Teppich. Als sie lachend liegen blieb, setzte er sich auf sie und tat so, als würde er ihr Spucke ins Gesicht tropfen lassen. Doch sie kämpften nicht, und irgendwann sahen sie beide wieder zum Fernseher. Mungo saß noch eine Weile auf ihr, und Jodie ließ ihn, bis er ihr zu schwer wurde oder sie aufs Klo musste. Am Ende war sie spät dran für ihre Schicht im Café Garibaldi; Mungo wusste, dass sie die ganze Armadale Street hinunterlaufen musste, damit Enzo sie nicht zwanzig Minuten lang auf Italienisch beschimpfte. Trotzdem war sie noch hier, kickte den bescheuerten Luftballon mit ihm herum und riss sich die Nähte ihres besten Rocks auf, nur damit Mungo nicht einsam war. Jodie war einfach ein feiner Mensch.

»Was machst du heute Abend?«, fragte sie.

»Vielleicht geh ich noch mal raus.«

»Wird Zeit, dass du Freunde fin…« Als sie sah, dass seine Augen zuckten, sprach sie nicht weiter.

Sie stellte den Fuß auf den Luftballon und versuchte ihn zum Platzen zu bringen.

»Hör zu, ich komm heute Abend nach der Schicht nicht heim. Aber mach dir keine Sorgen. Wir sehen uns morgen Mittag und essen zusammen. Versprochen.«

»Was machst du nach dem Garibaldi?«

»Geht dich nichts an.« Mungo folgte ihr, als sie anfing, seltsame Dinge in ihre Schultasche zu packen: Haarspangen, Hühneraugenpflaster, ein Samtkleid, das sie gebügelt und an der Badezimmertür aufgehängt hatte. »Ich übernachte bei ner Schulkameradin.«

»Bei wem?«

Sie schüttelte den Kopf. Panik stieg in ihm auf, und sie sah es so deutlich wie kochendes Wasser. »Aber ich bin nicht Mo-Maw. Ich komme morgen wieder. Versprochen.«

»Na gut.« Er versuchte sich nicht im Gesicht zu kratzen, aber er konnte nicht anders.

Als Jodie weg war, stand Mungo am Fenster und machte sich Sorgen um Mo-Maw. Um die Stille totzuschlagen, nahm er sein Skizzenbuch heraus. Wenn seine Hand über die Seite glitt, vergaß er alles andere. Jodie hatte es als Erste bemerkt. Irgendwann hatte sie seine Hibbeligkeit sattgehabt und ihm eins ihrer alten Schulhefte und einen angekauten Kuli in die Hand gedrückt. Wenn er sich nicht konzentrieren konnte oder unruhig war, schlug sie eine neue Seite auf, und er begann große verschnörkelte Muster zu zeichnen. Er zeichnete keine Figuren, sondern fing in der Ecke an und ließ das Kugelschreiberblau über das Papier wuchern, bis er die ganze Seite mit komplizierten abstrakten Schnörkeln bedeckt hatte: Arabesken, die an Pfauenfedern, Fischschuppen und Efeuranken erinnerten, alles miteinander verwoben, bis kein Weiß mehr übrig war. In seinem Kopf entstanden wunderschöne Muster, prächtig wie der Teppich von Bayeux oder schlicht wie schottische Ayrshire-Spitze.

Doch heute schaffte es selbst die leere Seite nicht, ihn abzulenken. Mungos Gedanken kreisten nur um seine Mutter.

Eigentlich war Mo-Maw mit Treppenwischen dran, was hieß, dass die Verantwortung bei Jodie lag. In den letzten beiden Wochen hatte Mungo gesehen, wie seine Schwester durch den Hauseingang schlich und durchs Treppenhaus huschte, bevor einer der Nachbarn die Tür aufmachte und sich über den Dreck beschwerte. Es war unfair, dachte Mungo: Jodie ging auf dem Zahnfleisch, und alles nur, weil sie eine Muschi hatte.

Weil er nichts Besseres zu tun hatte, füllte er den Blecheimer mit Wasser und gab ein paar Spritzer von Jodies Zwei-in-Eins-Shampoo dazu. Er fing vor Mr Donnellys Tür am obersten Treppenabsatz an und wischte jede Steinstufe bis nach unten. Bald roch das Treppenhaus tropisch nach Kokosnuss und Erdbeerkaugummi, doch der Wischmopp wurde glitschig, und Mungo musste jeden Treppenabsatz mehrmals wischen, um den Schaum wegzubekommen.

Die Hamiltons wohnten im zweiten Stock eines dreistöckigen Sandsteinhauses. Das Treppenhaus war nicht schick, aber gepflegt, und alle Mieter sorgten dafür, dass stets eine saubere Fußmatte vor der Wohnungstür lag. Auf jedem Treppenabsatz gab es zwei Wohnungstüren und auf halber Treppe ein Buntglasfenster mit einem schlichten Karo-Muster, durch das von den Hinterhöfen Licht hereinfiel und das Treppenhaus in sanftes Olivgrün und Indigo tauchte.

Als Mungo das parfümierte Wasser in den Gully kippte, beobachtete er die Gruppen der jungen Proddy-Boys, die durch die Straßen streiften. Trotz der feuchten Kälte standen ihre Jacken offen und hingen mit dreister Lässigkeit von ihren mageren Schultern. Ausnahmslos trugen sie einen Mittelscheitel, und das gegelte Haar fiel ihnen wie zwei schwere Vorhänge über die Augen.

»Mungo!«, riefen sie ihm zu. Sie ballten die Fäuste und drehten sie, als wrängen sie ein Handtuch aus.

Annie Campbell stand auf ihrem Treppenabsatz, als Mungo wieder die Treppe hochkam. Sie fuhr mit dem Fuß über den Steinfußboden, und der Mokassin ihres Mannes, den sie als Hausschuh trug, gab ein klebriges Schmatzen von sich. »O Mungo, mein Junge, womit hast du den Boden geschrubbt?«

»Bloß Shampoo, Mrs Campbell.« Er mochte Mrs Campbell. Als sie klein waren, hatte sie immer Kuchen gebacken. An Regentagen, wenn sie hörte, dass die Kinder im Hausflur spielten, hatte sie jedem ein Stück Selkirk Bannock gegeben und ihnen erzählt, dass sie ihre Söhne vermisste, die alle schon groß waren und irgendwo im Süden Arbeit suchten. Mungo wusste, dass Mr Campbell früher auf der Werft gearbeitet hatte, für Yarrow Shipbuilding, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, je gesehen zu haben, wie Mr Campbell zur Arbeit ging, nicht, seit Margaret Thatcher die Subventionen für den Clyde gestrichen hatte. Jetzt moderte Mr Campbell vor dem heißen Fernseher in seinem Sessel vor sich hin, und die Hamilton-Kinder drückten sich an die Wand, wenn sie ihm im Treppenhaus begegneten.

Mrs Campbell strich Mungo das Haar aus dem Gesicht. »Ach, Junge, son gutes Herz, und kein bisschen Verstand.« Sie kramte in ihrer Schürze und gab ihm eine Handvoll Zitronendrops. Die Bonbons klebten zusammen und bildeten einen großen Klumpen.

»Ich hab deine Mammy ne Weile nich gesehen. Gehts ihr gut?«

Mungo zupfte die Flusen von dem Bonbonklumpen. Er sah sie nicht an.