Sicherungsbereich Literatur - Joachim Walther - E-Book

Sicherungsbereich Literatur E-Book

Joachim Walther

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Beschreibung

Joachim Walther legt nach dreijähriger Forschungsarbeit seine mit Spannung erwartete Gesamtdarstellung über die Kontrolle und Beeinflussung der DDR-Literatur durch das Ministerium für Staatssicherheit vor. Er bietet zu den literarischen Primärtexten nunmehr die konspirativen Kontexte. 
Dabei behandelt er das Verhältnis von Auftraggeber SED zu Auftragnehmer MfS genauso wie die strukturelle und personelle Entwicklung des zuständigen Sicherheitsapparates. Den Hauptteil seiner Studie bildet die Analyse der Methoden des MfS zur Überwachung, Unterwanderung und gezielten Beeinflussung des literarischen Lebens in der DDR, die von "Abschöpfen" bis "Zersetzen" reichten. An ausführlichen Fallbeispielen wird plastisch beschrieben, wie als "feindlich-negativ" eingestufte Schriftsteller operativ bearbeitet wurden und welche Rolle dabei inoffizielle Mitarbeiter spielten. Ein gesonderter Abschnitt beschäftigt sich unter Nennung von Klar- und Decknamen mit diesen "literarischen" IM, ihren Motiven und höchst unterschiedlichen Entwicklungswegen. Ein ausführliches Personen- und Decknamenregister ermöglicht die Nutzung dieser 888 Seiten umfassenden Überblicksdarstellung zugleich als Nachschlagewerk. 

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Seitenzahl: 1649

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Analysen und Dokumente

Wissenschaftliche Reihe des BStU

Band 6

Analysen und Dokumente

Wissenschaftliche Reihe

des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes

der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik

Herausgegeben von der Abteilung Bildung und Forschung

Redaktion:

Klaus-Dietmar Henke, Siegfried Suckut, Clemens Vollnhals,

Walter Süß, Roger Engelmann

Joachim Walther

Sicherungsbereich Literatur

Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik

Ch. Links Verlag, Berlin

Wissenschaftliche Mitarbeit an diesem Band: Gesine von Prittwitz

Die Meinungen, die in dieser Publikationsreihe geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassungen der Autoren wieder.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Walther, Joachim:

Sicherungsbereich Literatur: Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik / Joachim Walther.

– 1. Aufl. – Berlin: Links, 1996

Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik: Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten; 6

Ch. Links Verlag ist eine Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2022

Prinzenstraße 85, 10969 Berlin

www.christoph-links-verlag.de

Entspricht der 2. Druckauflage von 1998, erschienen im Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH

ISBN 978-3-86153-121-6

eISBN 978-3-86284-531-6

Inhalt

Einleitung

1. Der Auftrag

1.1. Die kulturpolitische Funktion des MfS

1.2. Die kulturpolitische Machthierarchie

1.3. Die Korrelation SED – MfS

1.4. Historischer Exkurs: Der Auftrag und die Modifikation der Methoden im Sicherungsbereich Literatur

2. Der Apparat

2.1. Struktur- und Personalentwicklung im Sicherungsbereich Literatur

2.1.1. Die frühe Phase (1950 bis 1963)

2.1.2. Die mittlere Phase (1963 bis 1976)

2.1.3. Die letzte Phase (1976 bis 1989)

2.1.4. Die Operativgruppe der Hauptabteilung XX (HA XX/OG)

2.1.5. Kooperation der HA XX/7 mit anderen Diensteinheiten und Geheimdiensten

2.2. Die hauptamtlichen Mitarbeiter der “Linie Kultur/Schriftsteller”

2.2.1. Die Pioniere

2.2.2. Die Profis

2.2.3. Der Nachwuchs

2.2.4. Fallstudien

3. Die Methoden

3.1. Das operative Instrumentarium: Definitionen und Fallbeispiele

3.2. Die operative Bearbeitung

3.2.1. Stufen der Bearbeitung

3.2.2. Die Straftatbestände

3.2.3. Das Ausmaß der operativen Bearbeitung

3.2.4. Die Operativen Personenkontrollen (OPK)

3.2.5. Die Operativen Vorläufe

3.2.6. Die Operativen Vorgänge (OV)

3.2.7. Die Objektvorgänge

3.3. Die inoffiziellen Mitarbeiter im Sicherungsbereich Literatur

3.3.1. Bedeutung, Definition und Kriterien der IM

3.3.2. Besonderheiten “literarischer” IM

3.3.3. Quantitativer Überblick

3.3.4. IM-Typologie

3.3.5. IM-Werdegänge

3.4. Das unsichtbare Netz

3.4.1. Schriftstellerverband der DDR

3.4.2. Verlage

3.4.3. Hauptverwaltung für Verlage und Buchhandel

3.4.4. PEN-Zentrum der DDR

3.4.5. Akademie der Künste der DDR

3.4.6. Literaturzeitschriften

3.4.7. Ministerium für Kultur

Nachbemerkungen

4. Anhang

4.1. MfS-Lyrik

4.2. Ergänzendes Material und Übersichten

4.2.1. Kurzbiographien wichtiger hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS

4.2.2. Die Personalstruktur der HA XX/7 im Oktober 1989

4.2.3. Leiter der Referate XX/7 bei den Bezirksverwaltungen des MfS Ende 1988

4.2.4. Der HA XX/7 zugeordnete “Objekte” (Stand April 1982)

4.3. Editorische und quellenkundliche Hinweise

4.3.1. Formen der Erfassung, Registrierung und Archivierung durch das MfS

4.3.2. Zur Textgestaltung

4.4. Literatur

4.5. Abkürzungsverzeichnis

4.8. Angaben zum Autor

Einleitung

Die Vergangenheit ist Gegenwart, nicht wahr? Wir versuchen uns da herauszulügen, aber das Leben läßt uns nicht. (Eugene O’Neill: Eines langen Tages Reise in die Nacht)

Der konspirative Kontext oder Wo ist das Problem

Nackte Despotien bedürfen keiner vielen und großen Worte zur Rechtfertigung ihrer Gewalttätigkeit. Moderne Diktaturen aber wohl. Sie haben das Bedürfnis, ihren totalen Machtanspruch hinter einem ideologischen Gewand zu verhüllen, das aus den Fasern der Philosophie und der Ethik gewebt und mit den Emblemen utopischer Verheißung bedruckt wird. Sie bedürfen des Wortes, der Sprache, die eine Programmatik generiert, die, je monumentaler und edler sie daherkommt, desto besser für das zu Verbergende ist. Ideologischer Wortschwall auf der einen, Konspiration und Geheimnis auf der anderen Seite kennzeichnen derart verfaßte Gesellschaften. Das Gewaltige (Übermenschliche) und das Unbekannte verbinden sich zu einem konzentrierten Amalgam, das auf Menschen anziehend zu wirken vermag oder, wo es eher Abstoßung hervorruft, doch ertragen wird, da es sich in seiner Undurchsichtigkeit ins Unendliche zu dehnen scheint. „Ein guter Teil des Ansehens, das Diktaturen anhaftet, liegt darin, daß man ihnen die konzentrierte Kraft des Geheimnisses zubilligt, das sich in Demokratien auf viele verteilt und verdünnt. […] Als die Konzentration des Geheimnisses bezeichnet man das Verhältnis zwischen der Zahl derer, die es betrifft, und der Zahl derer, die es bewahren.“1 Hinzu gezählt werden müssen noch die im Zwischenbereich angesiedelten Geistesarbeiter, die das Geheimnis der Macht sprachlich verhüllen, und die bestallten Sicherheitsexperten, die es konspirativ hüten. Die Macht möchte durchschauen, jedoch nicht durchschaut werden. „Jeder, der etwas weiß, wird von einem anderen bewacht, der aber nie erfährt, was es eigentlich ist, das er im anderen bewacht. Er hat jedes Wort und jede Bewegung des ihm Zugewiesenen zu verzeichnen; indem er des öfteren über sie berichtet, vermittelt er dem Herrscher ein Bild von der Gesinnung des Überwachten. Doch der Wächter selbst wird auch überwacht, und der Bericht eines anderen korrigiert den seinen.“2 Deshalb die überdimensionierten Geheimdienste, deren erster Auftrag ein innerer ist. Doch sind moderne Diktaturen, die aus Gründen politischer Zweckmäßigkeit auf die leise Androhung der Gewalt setzen, dabei die demonstrativ dröhnende Variante keineswegs ausschließen, jedoch möglichst vermeiden, von Konspiration notwendigerweise gänzlich durchdrungen. Um sich nun aber nicht ins Schweigen zu hüllen und den Beherrschten Raum zu geben, die Leere zu füllen, braucht es sinngebende Worte, die diese besondere Form des Herrschens begründen. Und dafür werden die Wortgewaltigen benötigt, die traditionellen „Meister des Wortes“: Intellektuelle, Philosophen, Schriftsteller.

Solch eine moderne Diktatur war die DDR. Sie bedurfte vieler und großer Worte, um sich eine menschheitsgeschichtlich entstandene und aktuell mißbrauchte Utopie des Allen-sei-alles-gemeinsam als Deckmantel überzuwerfen. Die attributive Erweiterung zur „konkreten Utopie“ erweckte zudem den Anschein, als sei die Gesellschaft auf dem heilsgeschichtlichen Weg und Gleichheit und Freiheit das absehbar erreichbare Ziel. Insofern trifft die Selbstbezeichnung – oder besser: Selbstbezichtigung – der DDRGesellschaftswissenschaftler als „Ideologieproduzenten“ das Wesen der Sache. Da diese Intellektuellen mehrheitlich nicht etwa unter Androhung von Gewalt Ideologie produzierten, sondern zu großen Teilen freiwillig, überzeugt von der gesellschaftspolitischen Perspektive und in erklärtem Bündnis mit der Macht, läßt sich deren Verhältnis zur Führung nicht auf das Gegensatzpaar Geist – Macht reduzieren. Zwar scheint der pointierte und probate Topos von der geistlosen Macht und dem machtlosen Geist, die sich unvereinbar gegenüberstehen, recht griffig, doch ist die DDRWirklichkeit, die komplexer war und damit komplizierter, mit dieser Logoficatio-post-festum nicht in den Griff zu bekommen. Utopiegestützte Diktaturen sind intellektuell offenbar außerordentlich verführerisch und ermöglichen ein breites Spektrum von Denk- und Verhaltensmustern, die sich nicht auf das Schwarz-Weiß-Schema und die extreme Alternative Machtteilhabe oder Widerstand reduzieren lassen.

Gleichwohl wirkte auch in der DDR die alte Antinomie von Geist und Macht, von Autor und Staat fort, bei der es um eine wechselseitige Furcht geht: Die Schriftsteller fürchten das Einengen ihrer künstlerischen Freiheit, der Staat fürchtet, daß diese poetische Freiheit seine politische Macht in Frage stellt. Das Muster der Unvereinbarkeit war historisch geprägt und wurde unter anderen von Heinrich Mann als unversöhnlich beschrieben: „Ein Intellektueller, der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am Geist.“3 Und einer, der über dreißig Jahre ein Staatsamt bekleidete, resümierte: „Sowie ein Dichter politisch wirken will, muß er sich einer Partei hingeben, und sowie er dieses tut, ist er als Poet verloren.“4 Goethe fügte dem noch an, daß der Dichter dann dem „freien Geist“ entsagen und sich die „Kappe der Borniertheit“ über die Ohren ziehen müsse. Im Kern geht es immer wieder um das gleiche: um Ästhetik und Moral, um Engagement und Distanz.

In einer Diktatur wird der Literatur, die sich nicht mit dem Bild, sondern dem Wort eine Legitimation zu verschaffen sucht, eine besondere Rolle zugewiesen, die allerdings mit dem Auftrag und dem Ethos kollidiert, die ihr evolutionär, also natürlich zugewachsen sind. Dabei war und ist die Literatur engagiert, doch nicht im historisch kurzatmigen und utilitären, auf die Bedürfnisse einer Ideologie zurechtgestutzten Sinne.

Ihre erste und wichtigste Bestimmung besteht in der Treue gegenüber sich selbst – erst dann kann nach ihren weiteren Funktionen gefragt werden: Die Antworten von Plato bis in die Gegenwart geben Utilitaristen wie Moralisten, Politiker wie Philosophen, und dementsprechend fallen die Antworten aus. Literatur existiert in der wechselseitigen Anerkennung der Freiheit des anderen im Imaginären, in einem „Pakt der Hingabe“, wie Sartre formulierte. Daß dieser Pakt zwischen Autor und Leser auf gesellschaftliche Verhältnisse trifft, die ihn ermöglichen, dafür steht engagierte Literatur. Ihre emanzipatorische, kommunikative und interaktive Funktion zielt auf die Überwindung der utilitären Bindung und jeglicher Unfreiheit, wie sie sich auch ideologisch bemänteln mag. Sartre: „Denn da der Schreibende eben durch die Mühe des Schreibens, die er sich macht, die Freiheit seiner Leser anerkennt, und da der Lesende allein dadurch, daß er das Buch aufschlägt, die Freiheit des Schriftstellers anerkennt, ist das Kunstwerk, von welcher Seite man es auch nimmt, ein Akt des Vertrauens in die Freiheit des Menschen. Und da Leser wie Autor diese Freiheit nur anerkennen, um zu verlangen, daß sie sich manifestiere, läßt sich das Werk als eine imaginäre Präsentation der Welt definieren, insofern sie die menschliche Freiheit verlangt.“ Oder wenig später: „Man schreibt nicht für Sklaven. Die Kunst der Prosa ist mit dem einzigen System solidarisch, wo die Prosa einen Sinn behält: mit der Demokratie. Wenn die eine bedroht ist, ist es auch die andre.“5 Daraus folgt, daß sich der ästhetischethische Imperativ der Literatur ins politisch konkrete Handeln dehnt: Voltaire, Hugo oder Zola waren solche Autoren. Oder nehmen wir die deutsche Klassik, deren Denken und Schreiben um Werte und Begrifflichkeiten wie Wahrheit und Sittlichkeit, Freiheit und Humanität, Geschichte und Moralität sowie um die ästhetische Erziehung und moralische Veredelung des Menschengeschlechts kreiste.

Da Literatur die Kunst der Bedeutung tragenden Worte ist, die unter anderem auch mit Moral aufgeladen sind und diese transportieren, sind sich Literatur und Moral sehr nahe. Doch gehen beide keineswegs ineinander auf. Wenn nicht einmal die um ein Vielfaches dürftigere Ideologie in der Moral aufgeht, da ein ideologisch Irrender durchaus moralisch handeln kann, so ist die ungleich reichere Literatur noch weniger auf die ihr inhärente Moral zu reduzieren. Und doch läßt sich von ihr nicht absehen. Der Dichter Kurt Drawert, auch einer, der aus dem Osten kommt: „Wo moralische Kriterien aus den ästhetischen Diskursen zu verschwinden beginnen, gilt es, sie zu behaupten. […] Und auch wenn es zunehmend auf Widerwillen stößt: diese Untersuchungen anzustellen wird am dringlichsten dort, wo die Bewegungen zwischen Macht und Intelligenz am einsichtigsten geworden sind – in der zur Parabel tauglichen Dichter-Stasi-Debatte der verendeten DDR.“6 Man sage nicht, die DDR wäre etwas ganz anderes, historisch Einmaliges und also Unvergleichliches gewesen. Auch unter den Bedingungen dieser besonderen Diktatur waren die Unterschiede zwischen Moral und Unmoral, Recht und Unrecht erkennbar, die Grenze, das Tabu markiert und die prinzipielle Willensfreiheit des Menschen gegeben – und also auch die individuelle Verantwortlichkeit für sein Tun oder Lassen. Da auch in der DDR die universal gültigen ethischen Werte nicht außer Kraft gesetzt waren, ist es gewiß nicht unbillig, sie heute daran zu messen.

Es ist die alte Streitfrage, ob und inwieweit literarischer Text und biographischer Kontext, Werk und Vita zusammengehören, ob und wann das öffentliche Wort des Dichters vom heimlichen des Denunzianten entwertet wird, ob und weshalb die Moral neben der Ästhetik ein literarisches Kriterium sein darf oder sollte. Das Argument, Literatur und Leben, Text und Autor seien zwei getrennte Dinge, wobei im Sündenfall allein das geschriebene Dichterwort zu gelten habe, führt zum Beleg gern die Namen Villon, Rimbaud, Genet oder D’Annunzio, Pound und Benn ins Feld. Andere, die unbestritten lassen, daß Amoralität oder ein zeitweises Abirren in totalitäre Ideologien durchaus literarische Qualität hervorbringen können, meinen allerdings, daß eine inoffizielle Geheimdienstmitarbeit nicht nur Verrat an Personen, sondern auch Verrat an der Kunst bedeutete, der in den Primärtexten Spuren hinterlassen haben müßte.7 Ist es tatsächlich Moralismus oder gar moralischer Rigorismus, davon überzeugt zu sein, daß neben etlichen sittlichen Grundsätzen der Menschheit, unserem zivilisatorischen Grundgesetz, zu allen Zeiten und universal das Ethos der Literatur gilt – bei aller gegebenen Freiheit des Willens wie der Kunst, mag der obere Bestimmer in den jeweiligen staatlichen Gehegen nun König David, Iwan der Schreckliche oder nur Erich Honecker heißen?

Bei der Bereitschaft von Schriftstellern und Künstlern, mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenzuarbeiten, spielte neben niederen Gründen wie Karrieredenken, Neid, Machtgelüsten und Geltungsbedürfnis die Utopiegläubigkeit eine besondere Rolle. Die Überzeugung, auf dem rechten und gerechten Weg zu sein, war eine ideologische Selbstverzauberung und wurde rational begründet als „Einsicht in die Notwendigkeit“, die offenbar einfachste sittliche Regeln außer Kraft setzte. Es war nicht einfach nur Unmoral, sondern Ausdruck einer überlegenen, neuen Moral, der sozialistischen, die sich als Klassenmoral im Klassenkampf verstand und mithin selbst den Verrat als geburtshelferisches Instrument akzeptierte, um vom „Reich der Notwendigkeit“ ins kommunistisch-chiliastische „Reich der Freiheit“ zu gelangen. Diese utopische Verheißung war Teil des Machtmißbrauchs der Kommunisten und diente der Begründung der angeblich historisch notwendigen Härten auf dem Weg zur globalen Gerechtigkeit. Diese Utopiegläubigkeit war jedoch nicht nur das Narkotikum vieler DDRIntellektueller, sondern eine weltweite Epochenillusion und eine Hoffnungssucht, die trotz der degenerierten Praxis an der heilsgeschichtlichen Perspektive festhielt und zu einer schizophrenen Abspaltung von Utopie und Praxis führte. Eine Geschichtsauffassung in der geistesgeschichtlichen Tradition von Hegel und Marx, die der Geschichte eine gesetzmäßige Zielrichtung mit einem heilsgeschichtlichen Horizont gaben, birgt für deren Anhänger stets die Gefahr, von der Politik, die sich solcher Ideen bemächtigt, instrumentalisiert oder, bei Abweichen von dieser ideologisch kanonisierten Heilserwartung, denunziert zu werden: als Ketzer, Revisionisten, Skeptizisten und Renegaten. Der machtdistanzierte Skeptiker und der Renegat bewahren die intellektuelle Lauterkeit oder, wie Pierre Bourdieu schreibt, die „intellektuelle Autonomie“8, die durch kritisches Engagement für Gerechtigkeit und Wahrheit wie durch das Stiften säkularer Weltbilder nicht nur eine ethische Gesinnung offenbart, sondern auch eine ethische Verantwortung wahrnimmt, indem sie diese Haltung lebten und in die Tat umsetzten.

Das Thema DDR-Literatur und Staatssicherheit hat zu Recht etwas fundamental Irritierendes. Sowohl das Ethos als auch die emanzipatorische Funktion der Literatur sollten ein konspiratives Mitwirken an repressiver staatlicher Macht ausschließen. Die Akten der mit der DDR-Literatur beschäftigten Diensteinheiten des MfS lassen die Illusion verwehen, die Literatur in der DDR sei ein Ort und Hort der heilen Seelen gewesen. Wiewohl die Literaturgeschichte zeigt, daß Geist sich mal mehr, mal weniger von Macht korrumpieren läßt9, muß am Schriftsteller als Spitzel etwas Kontradiktorisches sein. Der Dichter als Denunziant, petzende Poeten: ein Widerspruch. Mielke und die Musen: ein Paradoxon. Das Interesse, das öffentliche Entsetzen, die Entrüstung müssen ursächlich mit unserem Bild vom Dichter zu tun haben. Und das ist offenkundig eines, das sich den Dichter als Macht-Abstinenzler denkt. In unserem Dichterbild dürfen nur hehre Ideale Platz haben, die sich in etwa so summieren ließen: der Dichter, höchste moralische Integrität und Immunität vorausgesetzt, als Gewissen der Nation, allein der Freiheit des Wortes und dem Ethos seiner Kunst verpflichtet.

Eine Literatur, die frei ist in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft, braucht nicht moralischer zu sein als diese, und ein wirklich freier Schriftsteller braucht nicht mutiger, wahrhaftiger oder stärker zu sein als ein Postangestellter oder eine Kindergärtnerin. Im übrigen sind Schriftsteller und Dichter nur deshalb, weil sie Gedichte oder Romane schreiben, keine moralisch höheren Wesen, die menschlichen Stärken und Schwächen sind ebenso verteilt wie anderswo auch. Eine Literatur jedoch, die von einer Diktatur an die kurze Leine genommen werden soll, hat die Pflicht, sich zu wehren, um wieder frei zu werden. Insofern sind die moralischen Anforderungen an Literatur und Kunst in solchen Zeiten höher. Diese Dokumentation soll auch einen Einblick geben, wie wenig oder wie sehr sie diesem Anspruch gerecht geworden sind.

Der Aufwand, den die DDR-Tschekisten auf der „Linie Schriftsteller“ betrieben, scheint aus heutiger Sicht maßlos überzogen: eine wahnhafte Überschätzung des „staatsgefährdenden“ Potentials unangepaßter, kritischer Literatur. Doch hat der Wahn Methode, da Verfolgungsdrang und Verfolgungswahn ursächlich zusammenhängen. Es ist die Furcht des nackten Kaisers vor der Entblößung durch das Wort, die Furcht davor, das Volk, der große Lümmel, könnte angstfrei mündig werden. Duales Denken und ein auf das binäre Freund-Feind-Bild verengtes Wahrnehmungsraster tun sich schwer mit der irisierenden Strahlung des künstlerischen Wortes und mehrdeutiger Metaphorik, die der individuellen Interpretation, der Imagination des einzelnen offen und in ihrer Privatheit schwer zu kontrollieren sind. Wenn, nach Lichtenberg, die Metapher klüger als der Autor ist, dann mußte dies die auf Eindeutigkeit getrimmten Wortwächter erheblich irritieren. Das Unvermögen schuf Unsicherheit und Mißtrauen bei den ohnmächtig Mächtigen und löste den paranoiden Impuls aus, die Literatur, wenn sie schon nicht total beherrschbar war, zumindest umfassend zu überwachen.

Die DDR wurde jedoch nicht allein durch das geheimpolizeiliche Netz der Staatssicherheit geschützt, sondern zudem durch ein semiotisches Netz, das jeden einband (auch den partiell kritischen), der die Kohärenz des semiotischen Sprach- und Denkgeheges nicht radikal aufbrach und in Richtung einer schroffen Intransigenz verließ. Auch der kritische „Gegendiskurs“10 ist lediglich die negative, doch noch immer transitive Variante des gesellschaftlichen Leitdiskurses und diesem komplementär. Indem sich die kritische Literatur in der DDR auf die politische Macht bezog, erhielt sie eine zusätzliche politische Dimension und mit ihr einen Bedeutungszuwachs, der nicht intendiert sein mußte oder dem literarischen Text immanent war. Dieses politisch bedingte Mehr an Bedeutung schuf die Illusion einer unbedingten Bedeutsamkeit eingreifender und verändernd wirkender Literatur – eine Selbstüberschätzung, die ihre Entsprechung, wiederum negativ komplementär, in der Überschätzung der DDR-Machthaber fand, eine kritische Literatur könnte ihre Machtpyramide untergraben, aushöhlen und zum Einsturz bringen.

Die Macht der Partei gründete sich nicht unwesentlich auf eine offizielle Sprachregelung, ein normiertes und kompatibles Baukastensystem von Ideologemen und Idiomen, welches das Denken, Schreiben und Sprechen weitgehend standardisieren sollte, um das ansteckende Widerwort, das Tabu hinter einer Potemkinschen Wortfassade zu verbergen. Wie generell in diktatorisch verfaßten Gesellschaften wurde auch in der DDR unreglementiertes Denken und Sprechen, wurde das frei geführte Wort tatsächlich zur Bedrohung des streng bewachten Scheins. Die innere Gesetzlichkeit der Kunst gefährdete die Gesetze des Staates, da sie sich den ideologischen Normen entzog und ideell wie historisch tiefer fundiert war als die aktuell verordneten und durch die Partei überwachten Sprachregelungen der Ideologie.

Doch erging es MfS und SED letztlich wie dem Zauberlehrling. Zwar riefen sie die kritischen Geister nicht ausdrücklich herbei, doch beschworen sie diese unablässig als Gefahr, und indem sie den Emanzipationsprozeß der Dichtung von Dogma und Doktrin mit repressiven Mitteln zu verhindern suchten, beförderten sie ihn zugleich, freilich ungewollt.

Diese Sinnsuche, die in der Sinnkrise endete, und das Streben nach Autonomie finden wir über die Jahrzehnte in den kritischen Texten der ostdeutschen Literatur wie auch, allerdings negativ gespiegelt und der schlechten Spiegelqualität wegen ein wenig grau und bisweilen grotesk verzerrt, in den schriftlichen Hinterlassenschaften der Staatssicherheit.

Bei der Lektüre der Akten stellten sich unvermeidlich auch Gefühle ein, die bei einer wissenschaftlich fundierten Dokumentation hinderlich, wenn nicht unzulässig sind. Also hieß es ständig zu objektivieren: den vorgefundenen massenhaften Verrat durch die Zweidimensionalität des Begriffs, der zum einen den Vertrauensbruch zwischen Menschen bezeichnet und zum anderen ein notwendiges Element der historischen Entwicklung. Verrat als Vertrauensbruch meint die Preisgabe des für das menschliche Zusammenleben fundamentalen Vertrauens, das mit der Geburt überlebenswichtig wird und zeitlebens bleibt. Verrat als historisches Element meint den Abfall von herrschenden Ideologien, der jeden radikalen gesellschaftspolitischen Wechsel begleitet. Woraus auch folgt, daß der Verrat mit dem Untergang der kommunistischen Diktaturen nicht aus der Welt ist: Die Inhalte wechseln, die Geschichte geht weiter.

Da aber die DDR-Geschichte auch eine von mir erlebte Geschichte ist, meldeten sich die Gefühle immer wieder: Selbstvorwürfe wegen mangelnden eigenen Mutes, Mitleid mit den Schwächen und Anfälligkeiten anderer, Ekel angesichts des kollegialen Verrats, Erschrecken über dessen Ausmaß, die Gewissenlosigkeit und den Fortschritt moralischer Verwahrlosung, Zorn über die „Aktenzeugnisse staatlich verordneter Perfidie“11, Entrüstung über die Schamlosigkeit der Verfolger, Überdruß ob der aufgehäuften Aktenmengen, Leiden an der verengten Stasi-Sprache, Heiterkeit (selten genug!) über unfreiwillig produzierte Komik, Genugtuung über Zeugnisse der Selbstbehauptung und des Widerstehens und immer wieder das erlösende Gefühl, daß die DDR-Diktatur samt ihrem Repressionssystem Geschichte ist.

Merkwürdig indes ist, wie wenig konkret nach 40 Jahren unmittelbar erlebter DDR-Geschichte mein Wissen um die inneren Funktionsmechanismen dieser modernen Diktatur war. Wie die meisten der Zeitzeugen hatte ich zwar die unsichtbare Allgegenwart des Überwachungsapparates gespürt, konnte dessen Umfang jedoch lediglich vage als „riesig“ ahnen und wußte so gut wie nichts von dessen Methoden. Was nach dem Untergang der DDR blieb, waren vor allem Fragen: Wer hatte die Befehle gegeben? Wer die Maßnahmepläne ausgedacht? Wie war dieser Geheimapparat strukturiert? Wie funktionierte er und wie die Menschen in ihm? Was veranlaßte die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Menschen, die lediglich anders dachten, derart aufwendig zu verfolgen? Was waren die Motivationen der Schriftsteller und Intellektuellen, im 20. Jahrhundert, in Mitteleuropa, nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Stalinismus einem totalitären Staat als Zuträger zu dienen? Was setzte die ethische Resistenz außer Kraft, was bewog Schriftsteller, die es eigentlich hätten besser wissen können, die klar markierte Tabugrenze zu überschreiten? Welches tatsächliche Ausmaß hatten Überwachung und Unterwanderung der Literatur durch die Staatssicherheit? Welchen Charakter hatte deren Einflußnahme? Geschah dies durch den zensorischen Eingriff in Texte? Den Zugriff auf unbotmäßige Personen? Durch das massenhafte Werben dienstbarer Geister? Oder genügte das Schaffen eines geistigen Klimas, das die internalisierte Selbstzensur wie von allein funktionieren ließ, das Affirmation empfahl und belohnte, kritisches Reflektieren und Formulieren hingegen in verschiedenen Graden überwachte, behinderte, bestrafte oder unterband? Betrieb die Staatssicherheit eine eigene Kulturpolitik neben der SED? Welches Ausmaß hatte die Rekrutierung von Schriftstellern, und was bedeutet dies für die in der DDR geschriebene Literatur? Hat der Kontext der Lingua securitatis die literarischen Primärtexte eingefärbt und womöglich beschädigt? Wie rechtfertigte ein dichtender Denunziant es vor seinem Gewissen, sofern er auf ein solches, und sei es auch nur rudimentär, zurückgreifen konnte, wenn er auftragsgemäß das Vertrauen eines anderen Dichters errang und mißbrauchte? Haben sich die Täter nicht selbst beschädigt, sind sie nicht zugleich auch Opfer ihres geheimen Paktes, dem die faustische Größe durchgängig fehlte? War die konspirative Verdoppelung ihrer Existenz nicht in Wahrheit ein Verlust? War und ist das Leben im Widerspruch trotz der behindernden Eingriffe nicht das bessere, vollere Leben? Schließlich: Wie konnte diese Diktatur der Lüge und Angst über 40 Jahre bestehen? Und letztlich mit der einschränkenden, bangen Frage, ob wir überhaupt aus der Geschichte zu lernen vermögen: Was ist daraus zu lernen, um künftige Generationen gegen derartige Verführungen zu immunisieren?

Absicht und Grenzen oder Was erwartet den Leser

Dieses Unternehmen beabsichtigt das Aufhellen eines dunklen Kapitels der DDR-Literatur12, um deren Primärtexten einen bislang weitgehend unbekannt gebliebenen, da bis 1989 streng konspirativen Kontext zu geben. Es versteht sich als Beitrag zum historischen wie politischen Aufarbeiten eines Teiles der DDR-Kultur, der von den SED-Propagandisten idyllisierend „Literaturgesellschaft“ genannt wurde. Die Untersuchung konzentriert sich auf die faktische Darstellung des in den Akten Vorgefundenen, verhält sich also ihrem Gegenstand gegenüber nicht primär interpretatorisch, sondern diskursiv, auch wenn es nicht gänzlich zu vermeiden sein wird, dieses oder jenes Dokument direkt oder indirekt zu bewerten. Ihr Ziel ist eine inhaltliche, strukturelle und personelle Überblicksdarstellung des vernetzten Repressionsapparates auf literarischem Gebiet: auf der „Linie Schriftsteller“ oder im „Sicherungsbereich Literatur“, wie es im MfS-Begriffssystem hieß.

Da die tatsächlich archivierte die vermutete Aktenmenge weit überstieg, mußte der Zeitrahmen enger gefaßt werden als ursprünglich beabsichtigt. Der Schwerpunkt liegt auf den letzten beiden Jahrzehnten der DDR, also auf denen, die man die „Ära Honecker“ nennen könnte, klänge es nicht zu gewaltig für deren klägliches Ende. Für diese Periode allerdings will sie eine Überschau geben, was freilich auch heißt, daß dieser Versuch einer Gesamtsicht aus Gründen der Komplexität und Ambivalenz des Gegenstandes sowie der archivalischen Quantitäten und der derzeit noch unerschlossenen Bestände weder die wünschbare Vollständigkeit im ganzen noch die erstrebenswerte Detailschärfe im einzelnen erreichen konnte.

Die Historiographie hat längst die Unschuld verloren, von sich zu glauben, sie allein könne sagen, wie es eigentlich gewesen ist: Insofern geben die Akten und deren Darstellung kein objektives Bild des wirklich gelebten Lebens, sondern lediglich den Reflex selektiv wahrgenommenen und zweckbestimmt verschrifteten Lebens durch das MfS. Was sich mit den Mitteln der Kunst anschaulich und nachvollziehbar sagen läßt und sich der „ganzen“ Lebenswahrheit in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit nähert, wird in einer solchen Dokumentation notwendigerweise unzureichend bleiben müssen. Die hinterlassenen Akten der Staatssicherheit geben weder ein vollständiges Bild der DDR-Geschichte noch der Biographien in der DDR, aber die einmalige Chance, beides aus der Sicht eines offengelegten Geheimdienstes zu sehen und daraus, so man es möchte und vermag, für die Zukunft zu lernen. Wenn, nach Hegel, die Poesie am Ende aller Bemühungen um Erkenntnis steht, so ist dieses Buch ein Anfang dieses Bemühens. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Aus alldem ergab sich die von mir favorisierte Methode der Darstellung, neben der strukturellen Analyse und inhaltlichen Beschreibung dessen, was war, vor allem die individuellen Werdegänge innerhalb der einst gegebenen Strukturen nachzuerzählen, wie sie die Akten, keinesfalls vollständig, offenbaren. Nicht, um den Gegenstand zu „bewältigen“, sondern ihn zu verstehen, ganz im Sinne der hoffenden Skepsis Hannah Arendts: „Sofern es überhaupt ein Bewältigen der Vergangenheit gibt, besteht es im Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat. Aber auch dieses Nacherzählen, das Geschichte formt, löst keine Probleme und beschwichtigt keine Leiden, es bewältigt nichts endgültig.“13

Die Schwierigkeiten, den Gegenstand darzustellen, bestanden zum einen in der nicht endenden Materialfülle, die trotz dreijähriger Lektüre nicht zu bewältigen war, und zum anderen in der überwiegend personenbezogenen Arbeitsweise des MfS, den zum Teil noch unerschlossenen Beständen mit sachbezogenenen Überblicksdarstellungen und statistischem Material, wodurch quantitative Aussagen zu hauptamtlichen und inoffiziellen Personalbeständen großenteils aus dem personenbezogenen Material erarbeitet werden mußten. Allein die Menge und der Umfang der zugänglichen Akten ließen das anfangs selbstgesteckte Ziel, die Überwachung des literarischen Lebens durch das MfS strukturell und personell bis in alle Einzelheiten zu rekonstruieren und offenzulegen, als unrealistisch erscheinen.

Bei der Methodik der Darstellung gab es verschiedene Möglichkeiten mit ihren Vor- und Nachteilen zu bedenken. Wünschenswert wäre sicher eine chronologische Darstellung gewesen, die synchron die MfS-Unterlagen mit denen der SED-Kulturpolitik sowie den Daten der DDR-Literaturgeschichte koppelt. Diese Arbeit war nicht zu leisten und bleibt der späteren Literaturgeschichtsschreibung vorbehalten. Möglich wäre auch die Behandlung des Gegenstandes nach den Beständen und Registrierformen des MfS gewesen, die (unter Berücksichtigung von MfS-internen Schulungsmaterialien, Personalunterlagen und Dokumenten der Juristischen Hochschule) sich den hierarchischen Mechanismus der Informationsgewinnung und -verdichtung vom einzelnen IM-Bericht, dem Treffbericht des Führungsoffiziers über die Auswertungsgruppen der operativen Diensteinheiten bis hinauf in die zentrale Führungsebene zum Leitfaden nimmt.

Favorisiert und gewählt wurde schließlich die inhaltlich-thematische Zuordnung des gefundenen und gesichteten Materials unter dem Gesichtpunkt der Methodik des MfS, die Kulturpolitik der SED mit geheimpolizeilichen Mitteln durchzusetzen und den Literaturbetrieb der DDR umfassend zu überwachen und zu beeinflussen.

Notwendig scheinen mir auch einige Bemerkungen zum Wert der Quellen. So unterschiedlich die Schriftstücke hinsichtlich ihrer Urheber und Empfänger sind, eines läßt sich, bei aller gebotenen Vorsicht vor generalisierenden Wertungen derart umfangreicher und heterogener Bestände, sagen: Von allen hinterlassenen DDR-Dokumenten kommen die MfS-Akten der DDRWirklichkeit am nächsten, da die konspirative Informationsgewinnung und deren Zweck dem Zwang zum Schönfärben nicht in dem Maße unterworfen waren wie die anderen DDR-Informationssysteme. Im übrigen hätte ein Geheimdienst, dessen Basis falsche oder ideologisch verfälschte Informationen wären, etwa den Gebrauchswert eines Autos ohne Räder. Freilich waren die in Treffberichten notierten Informationen der IM durch den sprachlichen und gedanklichen Filter des operativen Mitarbeiters gegangen und erhielten somit durch Verkürzung und Verdichtung eine MfS-spezifische Einfärbung.

Ziel des erheblichen Aufwandes des MfS war die Erarbeitung „operativ bedeutsamer Informationen“. Hier war nichts dem Zufall überlassen, sondern in präzisen Dienstanweisungen14 sowie in den hierarchisch gegliederten Strukturen der Informationsverdichtung und intern installierter Kontrollmechanismen militärbürokratisch geregelt. Trotz gelegentlicher Fehler und Fehleinschätzungen, die wir heute, insbesondere in den personenbezogenen Akten, finden, ist es falsch anzunehmen, das MfS habe bei der Informationsgewinnung und -verarbeitung generell schlampig gearbeitet. Im Gegenteil, es versuchte permanent, die Bewertung, Kontrolle und Überprüfung der Informationserhebung zu optimieren und Fehlerquellen möglichst auszuschließen. Insofern betrieb das MfS selbst eine interne Quellenkritik. Auch der Vorgang des Erfassens, Vergleichens, Überprüfens und Bewertens von Informationen war formalisiert. Die Prüfung des Wahrheitsgehaltes der Information wurde MfS-intern als „4. Grundschritt“ bezeichnet und entsprechend gelehrt, ebenso die Prüfung der Vollständigkeit einer Information, für die es die Regel der „Acht Goldenen W“ gab: wann, wo, was, wie, womit, warum, wer, wen? Kriterien für die Qualität einer Information waren: Aktualität, Neuigkeitswert, hohe Aussagekraft, Objektivität, Wahrheit, Vollständigkeit und Überprüfbarkeit.15

Um vorab ein Beispiel zu geben: Als ein Schriftsteller in seiner zweiten Identität als IMB zum ersten Mal im Auftrag des MfS nach Westberlin fuhr, zweckentfremdete er das operative Handgeld für Ostereinkäufe im Kaufhaus des Westens und gab dies in seinem Bericht nicht an. Freilich ahnte er nicht, daß er selbst zum Beobachtungsobjekt „Adrian“ geworden war, da ihm ein zweiter Mitarbeiter auf den Fersen folgte. Der schrieb in seinem detaillierten Beobachtungsbericht: „Um 12.33 Uhr verließ das Objekt die U-Bahn, begab sich zum Ausgang und suchte schnellen Schrittes das Kaufhaus des Westens (KaDeWe) auf. In diesem Kaufhaus tätigte ,Adrian‘ zahlreiche Einkäufe. ,Adrian‘ hat beim Einkauf von Süßigkeiten etwa 5 bis 10 in Silberpapier eingewickelte Ostereier in einer Größe eines halben Hühnereis, zwei straußeneigroße Ostersüßigkeiten und eine Tafel Schokolade eingekauft, die ihm von einer Verkäuferin in eine Tüte verpackt wurden.“16 Der Führungsoffizier listete daraufhin die Inkongruenzen der beiden Berichte auf, nahm den Ka-DeWe-Verführten ins Gebet und erteilte ihm die Bewährungsstrafe, seine Unaufrichtigkeit durch verstärkte Anstrengungen im Inland wiedergutzumachen. Was er auch gelobte – und tat.

Auf der Ebene der Informationsgewinnung durch einzelne IM gefährdete die subjektive Färbung durch den Informanten die gewünschte Objektivität der Erkenntnisse. In internen Studienmaterialien der Juristischen Hochschule des MfS (JHS) werden als Ursachen falscher oder partiell verfälschter Informationen „Geltungsbedürfnis“, „übersteigertes materielles Interesse“ und „mangelndes Vertrauen“ genannt. Die Führungsoffiziere waren laut IM-Richtlinie17 gehalten, ihre Informanten zu „objektiver, unverfälschter, konkreter und vollständiger“ Berichterstattung zu erziehen. „Widersprüche, Unklarheiten und Lücken“ sollten erkannt werden, und zu klären war, wie der Informant die Information gewonnen, welche Beziehung er zum ausgeforschten Gegenstand oder Menschen hatte und ob es sich bei dem Extrakt um „Tatsachen, Vermutungen oder Einschätzungen“ handelte. Zudem wurden Bereitschaft und Fähigkeit der inoffiziellen Mitarbeiter zu wahrheitsgemäßer Berichterstattung in regelmäßigen Einschätzungen in deren Personalakten bewertet.

Natürlich gab es vereinzelt gebremsten Eifer, subjektive Eigenheiten und Verstöße gegen die Dienstanweisungen. Doch auch hier galt die Leninsche Maxime des Mißtrauens: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, weshalb eigens Kontrollgruppen geschaffen wurden, die die Regelverletzungen aufzuspüren und disziplinarisch zu ahnden hatten.

Dennoch spiegeln die Archivalien des MfS allein die Sicht dieses Apparates auf die Realität wider. Wenn die Staatssicherheit auch in weit geringerem Maße der Selbstblendung und Wahrnehmungsverweigerung als die Parteiführung verfiel, so hatte sie trotz ihrer ständigen Bemühungen um Objektivität ebenfalls teilweise Wahrnehmungsdefizite durch die ideologisch verengten Vorgaben der Partei, das beschränkte Weltbild, das reduktionistische Freund-Feind-Schema und die Versuchung, innere Konfliktursachen nach außen zu verlagern.

So viel zum Quellenwert. Nun ein paar Bemerkungen zur Quellenlage, denn neben der quellenkritischen Bewertung der zugänglichen Akten bereiteten dem Projekt die zum Teil noch unerschlossenen Archivbestände und die massive Aktenvernichtung durch die Staatssicherheit weitere Schwierigkeiten.

Als gravierend erwies sich die zuerst MfS-eigenverantwortete und später von der Modrow-Regierung und dem Zentralen Runden Tisch genehmigte Vernichtungsaktion des MfS /AfNS im Herbst / Winter 1989/ 90, wodurch eine mutmaßliche und erweisliche Unvollständigkeit der Materialbasis gegeben ist. Die Aktenvernichtung betraf, wie im Falle der Hauptverwaltung A (HV A), den Großteil des Bestandes oder aber ausgewählte relevante Teile. Hierbei insbesondere die Querverbindungen zur HV A, die im Gegensatz zu den heutigen Behauptungen ehemaliger Leiter dieser Abteilung auch im Inland operierte, dazu erhebliche Teile der IM-Akten der HA II, die auf die westlichen Botschaften und die akkreditierten Westjournalisten in der DDR zielte, nahezu vollständig die Akten der OibE18, sodann wichtige IM in kulturellen Schlüsselpositionen, die bis zum Ende der DDR (und manchenorts darüber hinaus) die Stellung hielten. Teilweise wurden auch die Operativen Vorgänge vernichtet oder um ganze Jahrgänge bereinigt, nicht selten fehlen die Bände ab Mitte der achtziger Jahre, sehr wahrscheinlich um die beteiligten hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter zu schützen. Nach der Umbenennung des MfS in Amt für nationale Sicherheit (AfNS) Mitte November 1989 sah das Arbeitspapier „Aufgabenstellung zur Weiterführung der Arbeit mit IM im Amt für nationale Sicherheit“19 ausdrücklich vor, daß kein wert- und perspektivvoller IM verlorengehen sollte, daß jedoch den aus Gründen der Konzentration des IM-Bestandes deaktivierten oder verabschiedeten IM eine Würdigung ausgesprochen sowie das Versprechen gegeben werden sollte, daß die bisherigen Arbeitsergebnisse der IM in keiner Weise gegen sie Verwendung finden können. In nicht wenigen Fällen fanden letzte Treffs statt, in denen die Führungsoffiziere ihren ausgemusterten oder „abgeschalteten“ IM versicherten, daß deren Akten beseitigt worden wären.

Wiewohl der Zweck der selektiven Aktenvernichtung im systematischen Spurenverwischen bestand, gab es keine einheitliche Praxis. Einige Führungsoffiziere vernichteten die gesamte Personalakte ihrer inoffiziellen Mitarbeiter, hinterließen jedoch die Berichtsakte andere erhielten die von Quittungen, Verpflichtungserklärung, handschriftlichen IM-Berichten und anderen gerichtsfesten Dokumenten gereinigte Berichtsakte, oder lediglich vier Seiten, aus denen Klar- und Deckname hervorgehen, viele vernichteten alles, und oft findet sich nur noch der leere Aktendeckel mit dem lapidaren Vernichtungsvermerk, die Erfassung ohne Materialablage und Ersatzverfilmung zu löschen.

Dennoch sind Teile des Vernichteten zu rekonstruieren, da die Staatssicherheit in der Rasanz ihres Unterganges nicht in der Lage war, auch die zahlreichen in anderen Akten befindlichen Kopien zu erreichen. Einige Führungsoffiziere beschränkten sich zudem darauf, die noch aktiven Vorgänge zu erfassen, wodurch die bereits archivierten Akten unberührt blieben (was beispielsweise das Mißgeschick des letzten Präsidenten des Schriftstellerverbandes der DDR ist, dessen IM-Akte auf Grund seiner höheren Parteikarriere, die eine weitere Führung als inoffizieller Mitarbeiter verbot, bereits 1976 archiviert wurde und so vollständig erhalten blieb).

Ob die Führungsoffiziere ihrer einstigen Klientel mit der Aktenvernichtung wirklich einen Dienst erwiesen haben, steht dahin. Vollständig erhaltene IM-Akten können auch entlastend sein: wie im Falle Christa Wolfs, deren Zeit als IM „Margarete“ dank der komplett überlieferten AIM-Akte nachweislich 30 Jahre zurückliegt, relativ kurz war und für das MfS wenig Ertrag brachte. Vergleicht man ihre dünne IM-Akte mit dem umfänglichen Operativen Vorgang (OV) „Doppelzüngler“, der gegen sie und Gerhard Wolf über drei Jahrzehnte geführt wurde, wird allein aus den Proportionen20 eine differenzierte Bewertung möglich. Bei jenen Ex-IM, von denen lediglich Deckname und Klarname aktenkundig sind, ist es schwer bis unmöglich, Dauer und Intensität der Zusammenarbeit zu benennen. Gänzlich vernichtete oder teilvernichtete Akten nähren zudem die Vermutung, daß es sich eher um eine langjährige, ertragreiche Tätigkeit gehandelt haben könnte, eben weil der Führungsoffizier das gesammelte konspirative Œuvre offenbar für so bedeutsam hielt, es vorrangig zu vernichten. Dies betrifft Schriftsteller wie Literaturfunktionäre, wobei sich trotz der vernichteten oder vorvernichteten und künftig rekonstruierbaren Kernakte deren Berichtsduplikate in mancher OPK- oder OV-Akte und mitunter gar Teile der IM-Personalakte in anderen Ablagen finden.

Um den Leser nicht völlig unvorbereitet in die sprachlichen Niederungen der Staatssicherheit eintreten zu lassen, im folgenden einige Bemerkungen zur Lingua securitatis.

Wie die Staatssicherheit niemals Staat im Staate war, sondern, unmißverständlich klar als „Schild und Schwert der Partei“ definiert, als solches funktionierte, so war deren Sprache keine abgehobene Spezialsprache innerhalb der DDR, sondern lediglich eine geheimdienstlich spezialisierte Ausprägung der DDR-offiziellen Parteisprache.

Die Sprache der Staatssicherheit, die in den archivierten Befehlen, Dienstanweisungen, Informationen, den Treffberichten der IM-führenden Offiziere, den Operativplänen, Jahresanalysen und nicht zuletzt im MfSinternen „Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit“21 erhalten ist, zeigt sich so banal wie monströs, so erschreckend wie komisch. Mitunter gar lächerlich. Doch nie harmlos. Das wenig Menschenfreundliche und im Kern Kunstfeindliche äußert sich nicht etwa in einer besonderen Dämonie, sondern in einer bürokratisierten, emotionslosen Funktionalität der Sprache, die sowohl deskriptive als auch normative Funktionen hatte.

Augenfällig war das Bestreben, die Menschheit buchhalterisch in eine positive und negative Spezies einzuteilen und die als negativ Klassifizierten sodann zu entpersönlichen. Bei den als „feindlich-negativ“ Bezeichneten ist von „der K.“ oder „dem M.“ die Rede, mitunter auch in der verdinglichten Form als dem „Element“, dem „Angefallenen“, dem „personellen Schwerpunkt“ oder, extremer noch, als dem „feindlich-ideologischen Stützpunkt“ (Stasi-Kürzel: Fis) oder „personellen Stützpunkt“, welcher so definiert wurde: „Person in der DDR, die auf Grund ihrer feindlich-negativen ideologischen Position […] vom Gegner zur Erhöhung der Wirksamkeit der politisch-ideologischen Diversion aufgebaut und genutzt wird.“22 Aktionen gegen Menschen wurden als „Maßnahmepläne“ objektiviert, in denen sodann von „zersetzen“, „destabilisieren“, „neutralisieren“, „ausschalten“ und ähnlichem die Rede war, was eher auf chemische und physikalische Vorgänge zutreffend scheint und die Schwierigkeiten zeigt, mit einer technokratischen Sprache Lebendiges zu erfassen. Der inhumane, instrumentelle Sprachgebrauch wird deutlich, wenn beispielsweise ein inoffizieller Mitarbeiter den Auftrag erhält, eine „echte Liebesbeziehung zu entwickeln“, um bestehende Liebesverhältnisse zu zerstören.

Die semantische Unschärfe und Mehrdeutigkeit solcher oft wiederkehrender und auf die stalinistische Herkunft verweisender Begriffe wie „liquidieren“ und „vernichten“ ließ in manchen Fällen offen, ob damit das politische „Ausschalten“ oder die physische Vernichtung gemeint war, gab also den Tschekisten im Ernstfall einen undefinierten Ermessensspielraum, der augenscheinlich sprachlich bewußt offen gehalten wurde und der Verschleierung der letzten Option im „letzten Gefecht“ diente.

Auch Euphemismen finden sich oft, wobei negativ konnotierte Wortbedeutungen positiv umfunktioniert wurden. Erpressung hieß im Stasi- Deutsch „Wiedergutmachungs- und Rückversicherungsmotive“ und wurde von den MfS-Wissenschaftlern der Juristischen Hochschule (JHS) so definiert: „Werbungsgrundlagen, die als Handlungsantriebe und Bestrebun-gen bei IM-Kandidaten aus seinem Verlangen entstehen, negative Folgen von begangenen Normverletzungen von sich abzuwenden bzw. eingetre-tene Schäden durch eigene Leistungen zu ersetzen. Voraussetzungen dafür sind objektive Tatsachen und das Erkennen und Erleben von Schuld. Sie sind erzeugbar bei Vorliegen solcher Tatsachen, die als kompromittie-rendes Material geeignet sind, dem Kandidaten die Normverletzung be-wußt zu machen, sein Gewissen anzusprechen, Schuldgefühle zu wecken, Unsicherheit zu erzeugen und sein Moral- und Rechtsbewußtsein für positive Gegenleistungen zu nutzen.“23 Der Auftrag für einen Spitzel, das „Vertrauensverhältnis auszubauen“, bedeutete realiter, das auftragsgemäß erschlichene Vertrauen des Bespitzelten systematisch zu mißbrauchen.

Fand sich kein Euphemismus, wurde das Wort beibehalten, doch mit neuem Inhalt gefüllt. Ein „Vertrauensverhältnis“ ist demzufolge in MfS-Definition eine „Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen, die auf Grund komplexer, individuell verschiedenartiger psychischer Erscheinungen zu einer einseitigen oder beiderseitigen Bevorzugung und besonderen Anerkennung in bestimmten Lebensbereichen führt. Ein V. entwickelt sich vor allem aus Kenntnissen über den Partner, gefühlsmäßiger Zuwendung zu ihm und einstellungsmäßigem Verlassen auf ihn. In der politisch-operativen Tätigkeit wird in der Regel von V. zwischen operativem Mitarbeiter und IM gesprochen, wobei anzustreben ist, daß der IM dem operativen Mitarbeiter volles Vertrauen entgegenbringt, während der operative Mitarbeiter in seinem Verhältnis zum IM den Sicherheits- und Kontrollaspekt nicht außer acht lassen darf. Zwischen IM und operativ interessierender Person wird in der Regel von vertraulichen Beziehungen gesprochen, die ausdrücken sollen, daß die operativ interessierende Person zum IM volles Vertrauen hat, während der IM ihr gegenüber ein Vertrauen vortäuscht.“24 Positiv besetzte Begriffe wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Treue wurden definitorisch spezialbehandelt und auf die operativen Zwecke des MfS abgerichtet, umgekehrt mutierte der negativ besetzte „Haß“ zu einer durchaus „wertvollen und erhabenen“ menschlichen Regung, vorausgesetzt, es handelte sich dabei um ein „tschekistisches Gefühl“. So wurden die Sprachregler der Stasi zu Schöpfern eines neuen Menschentypus, der in einem konspirativen System der Verstellung und der Lüge die Wahrheit sagte, ehrlich andere Menschen täuschte und der jemandes Vertrauen nur deshalb errang, um es verraten zu können.

Ein Beispiel für die verdrehte Verwendung der Worte „Verleumdung“ und „Lüge“: Als ein führender DDR-Schriftsteller 1964 öffentlich und, wie nun zu belegen ist, zutreffend als MfS-Mitarbeiter bezeichnet wurde, schrieb Oberleutnant Treike von der HA XX folgende Information zu dem „Hetzkommentar“ in der Zeitung „Die Welt“: „K. ist IM unserer Diensteinheit. Die in dem Artikel hervorgebrachten Behauptungen tragen offensichtlich verleumderischen Charakter. […] Der IM hat im Auftrag der Hauptabteilung II mehrfach Aufträge in Westdeutschland durchgeführt. Diese Aufträge waren jedoch so gehalten, daß eine Dekonspiration ausgeschlossen war.“25

In wenigen Fällen wurde die Stasi selbst sprachschöpferisch. Eine Neubildung ist das Wort „Kompromat“, eine synthetische Kreation aus „Komprimat“ und „kompromittieren“, mit der Bedeutung: „Sachverhalt aus dem Leben einer Person, der im Widerspruch zu gesellschaftlichen (juristischen, moralischen) Normen und Anschauungen steht, bei seinem Bekanntwerden zu rechtlichen oder disziplinarischen Sanktionen, zu Prestigeverlusten, zur öffentlichen Bloßstellung, zur Gefährdung des Rufes im Bekannten- und Umgangskreis führen würde. […] Bei der Gewinnung neuer IM, beim Herausbrechen von Personen aus feindlichen Gruppen, bei der Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen mit Hilfe von K. werden diese bestehenden oder hervorgerufenen Rückversicherungs- und Wiedergutmachungsbestrebungen genutzt. Die Lösung dieser Aufgaben, vor allem bei Personen mit verfestigter antisozialistischer Einstellung, kann auch die Schaffung von wirksamen K. erforderlich machen.“26

Sonstige Bereicherungen der Lexik beschränken sich auf abscheuliche Komposita wie „Sachverhaltskerblochkartei“ u. ä. m. Wurden die Wörter zu lang oder führte der häufige Gebrauch zu Ermüdungserscheinungen, mußten Abkürzungen her, deren es wie im normalen DDR-Alltag sehr viele gab. GWW für: Grundlagen der wissenschaftlichen Weltanschauung, Kz 4.1.3. für: Kennziffer Isolierungslager (wobei den Tschekisten die Nähe des Kürzels für Kennziffer „Kz“ und dem Begriff „Isolierungslager“ offenbar gleichgültig war) oder POZW für: politisch-operatives Zusammenwirken.

Wie in den trostlosen Bleiwüsten des Zentralorgans der SED gab es auch bei den Tschekisten die Nominalkonstruktionen und Genitivgirlanden der Art: In Durchsetzung der Weisungen der Leitung zur Erhöhung und Entwicklung … etc.

Unübersehbar ist zudem die Militanz der Sprache, so als habe man sich permanent im latenten Kriegszustand befunden. Häufig benutzt wurden Worte wie „gezielt“, „zielsicher“, „Zielobjekt“, „Zielperson“, oder „zerschlagen“, „vernichten“, „liquidieren“, „ins Visier nehmen“, alles ist „Kampf“ und „Kampfauftrag“, auch die „Stoßrichtung“ ist klar, und an deren Ende steht der „Feind“ oder auch nur das „tschekistische Feindbild“, dessen Bosheit die „Kämpfer an der unsichtbaren Front“ offenbar bedurften, um auf den Gegner das eigene Böse zu projizieren und mögliche moralische Skrupel von vornherein fernzuhalten.

Entsprechend humorlos ging es zu. Wurden die Tschekisten jedoch witzig, glitt es geschwind ab ins Makabre. So vermerkte ein Offizier handschriftlich unter der kopierten Meldung „Uwe Johnson gestorben“ im „Tagesspiegel“ vom 14. März 1984: „Ja, wenn er sich verbessern kann!“27

Die Mixtur aus solch grausigem Zynismus und feindseliger Verachtung findet sich auch bei der Vergabe von Decknamen für die Operativen Vorgänge gegen „feindlich-negative“ Schriftsteller. Da gab es die Namen: „Schreiberling“, „Wildsau“, „Diversant“, „Besserwisser“, „Doppelzüngler“, „Hydra“, „Bleistift“, „Gully“, „Federkiel“, „Toxin“, „Schädling“, „Filou“ und „Mephisto“. Auch bei der Vergabe von Decknamen28 für die Spitzel waren die hauptamtlichen Mitarbeiter behilflich, fiel einem Kandidaten bei der Verpflichtung keiner ein. Hierbei griff man eher zum Erhabenen und verlieh den IM Namen wie „Villon“, „Hölderlin“, „Büchner“, „Hegel“, „Mozart“ und „Caroline Schlegel“ oder „Pergamon“, „Hyronimus“ und „Petrus“. Ein Germanist hieß „Faust“. Ein anderer gar „Goethe“.

Pejorationen finden sich bei Bezeichnungen literarischer Werke, insbesondere freilich bei kritischer Literatur, diese hießen bevorzugt „Machwerke“, „Pamphlete“, „Hetzschriften“, „als ,Gedichte‘ deklarierte Texte“ oder „Produkte dekadenter Lyrik“, die Verfasser nannte man „Literaten“, „sogenannte Schriftsteller“ oder „sogenannte Nachwuchsautoren“. Dieses Abwerten ist eine Folge der Selbstüberhebung derer, die sich als Sieger der Geschichte verstanden und die sich im Besitz der einzigen wissenschaftlichen, wahren und allmächtigen Weltanschauung wähnten, weshalb Andersdenkende für sie folgerichtig nur bösartig, verführt, dumm oder geisteskrank sein konnten.

Daß die aktenführenden Offiziere nicht selten mit der Orthographie auf Kriegsfuß standen (Beispiele: „Bestzeller“ für: Bestseller, „Potpüree“ für: Potpourri), sei nur am Rande vermerkt.

Doch hatten auch die Angehörigen des MfS ein Bedürfnis nach Festlichkeit, Reim und geblümter Rede, welches sie entweder selbst befriedigten oder von ausgesuchten Kulturschaffenden befriedigen ließen. Ihr offensichtlich starkes Verlangen nach verklärender Überhöhung fand seinen Ausdruck im selbstverliehenen Ehrennamen „Tschekist“, der eine nachgerade kultische Traditionslinie zu der 1917 von den Bolschewiki gegründeten Tscheka29 und deren erstem Führer, Feliks E. Dzier⌠y⏐ski, herstellte. Wo ihre eigene poetische Potenz endete, bedienten sie sich der Wortgewalt professioneller DDRDichter. Ein Brecht-Schüler faßte sie in die hochfahrende Metapher: „Unserm Wir mit allen Fasern verbunden / Bis zum innersten Ich – / Das bist du, Kosmonaut der stillen Erkundung!“30 Ein Nationalpreisträger reimte: „Wo Menschen in Verwirrung geraten, / da riecht Ihr den Braten, / und reißt sie zurück / mit äußerstem Geschick – / und schlagt den Verwirrern auf die Pfoten! / Schmutz ist verboten / in dieser Republik.“31

Auch betrieb das MfS eine eigene Dichterwerkstatt, die Kreisarbeitsgemeinschaft „Schreibende Tschekisten“, einer der Zirkelleiter war Lyriker und Präsidiumsmitglied des Kulturbundes der DDR mit Decknamen „Uwe“. In der Anthologie „Wir über uns“32 stehen martialische Verse wie diese: „Schwert der Partei, / dem tückischen Feind / entreißt du umbarmherzig die Maske, / legst seine Würgerhände bloß, / kommst dem heuchelnden Verräter / auf die Spur. / Die Scharten des Kampfes / machen dich nicht stumpf: / ständig erneuerst du dich. / Nur immer noch schärfer und stärker / kommen deine Schläge / aus der Unsichtbarkeit.“33 Neben demonstrativer Härte, selbstverliehenem Heroismus und romantischer Verklärung der Kundschaftertätigkeit findet sich auch Rührseliges, so im Gedicht „Mein Vati“: „Mein Vati ist Tschekist. / Noch werd ich nicht ganz schlau, / was er da alles ist, / doch eins weiß ich genau: / Er macht es sich im Dienst / zu keiner Stunde leicht / und freut sich jeden Tag, / wenn er recht viel erreicht.“34

Daß der Minderwert solcher Reimereien höheren Chargen im MfS durchaus bewußt war, belegt ein Schreiben, das der Leiter der Abteilung Agitation, Oberst Halle, am 19. November 1967 an Oberstleutnant Carlsohn, Sekretariat des Ministers, schickte, in dem er vorschlug, das Vorwort „in Anbetracht der Qualität“ nicht vom Genossen Minister, sondern lediglich vom 1. Sekretär der FDJ-Kreisleitung unterzeichnen zu lassen, „vorausgesetzt, es wird für wert erachtet, die Gedichtsammlung als Druck überhaupt herauszubringen“. Begründung: „Mit sehr geringen Ausnahmen handelt es sich bei den Gedichten um rein agitatorische Worthäufungen, die nicht als Lyrik bezeichnet werden können.“35

Von diesem seltenen Zeugnis ästhetischer Klarsicht jedoch abgesehen, verfügte das Ministerium für Staatssicherheit im allgemeinen und insbesondere in den operativen Diensteinheiten über wenig Einsicht in die Besonderheiten von Literatur und Kunst. Ästhetik war ihm zweitrangig, wenn nicht gänzlich unverständlich. In Zweifelsfällen befragte es seine inoffiziellen Experten: Schriftsteller, Germanisten, Literaturkritiker. Das MfSInstrumentarium war auf anderes geeicht. Die zuständige Untersuchungsabteilung HA IX formulierte es kurz und bündig so: „Das MfS ist kein Kulturinstitut, und die Mitarbeiter seines Untersuchungsorgans sind keine Kunstkritiker. Es geht – das ist besonders zu betonen – nicht darum, ob ein künstlerisches Produkt vom Inhalt und der Form, von der Themenwahl und der Gestaltung her gefällt oder nicht – es geht in der Untersuchungstätigkeit ausschließlich um die objektive Einschätzung der rechtlichen Relevanz eines Textes, eines Gedichtes, eines Bildes usw.“36

Mit diesen dürren Worten ist ein Grundton angeschlagen, und der Leser, so hoffe ich, vorbereitet, ihn für die Dauer der Lektüre zu ertragen.

 

1 Elias Canetti: Masse und Macht, München 1976, S. 24 f.

2 Ebenda, S. 20.

3 Heinrich Mann: Geist und Tat, in: Macht und Mensch. Essays, Frankfurt am Main 1989, S. 18.

4 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Berlin 1984, S. 439.

5 Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Reinbek bei Hamburg 1981, S. 52 f.

6 Kurt Drawert: Haus ohne Menschen. Zeitmitschriften, Frankfurt am Main 1993, S. 49.

7 Vgl. Karl Deiritz und Hannes Krauss (Hrsg.): Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur, Berlin 1993.

8 Vgl. Pierre Bourdieu: Der Intellektuelle und die Macht, Hamburg 1991.

9 Vgl. Karl Corino (Hrsg.): Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg 1980; Die Säuberung. Moskau 1936: Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung, hrsg. von Reinhard Müller, Reinbek bei Hamburg 1991; Joachim Walther (Hrsg.):

10 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971.

11 Vgl. Klaus-Dietmar Henke: Die Begegnung mit der Vergangenheit. Die Bedeutung der Stasi-Akten für die Auseinandersetzung mit dem SED-Regime, in: Zeitschrift zur politischen Bildung 32 (1995) 3, S. 43– 49.

12 „DDR-Literatur“ als Fußnote, hier und in der deutschen Literaturgeschichte. In diesem Text als Terminus technicus, der die Gesamtheit der auf dem staatlichen Territorium der DDR geschriebenen Literatur meint. Der Begriff „DDR-Literatur“ war ein ideologischsynthetisches Konstrukt der literaturwissenschaftlich gestützten SED-Propaganda zur Abgrenzung gegenüber der „bürgerlichen BRD-Literatur“ und stand für den politischen Willen, eine eigenständige „sozialistische DDR-Nationalliteratur“ zu postulieren. Am ehesten trifft dieser Begriff die affirmative Literatur, die zwischen 1949 und 1989 in der und für die DDR geschrieben wurde. Die ostdeutsche Literatur in toto hingegen war nicht nur formal-ästhetisch, sondern auch und nicht zuletzt durch die Moral des Schreibens differenziert, ja polarisiert. Es gab neben der systemkonformen Literatur die kritisch-loyale wie die widerständige Literatur. Insofern wäre es genauer, diese Literatur begrifflich in die (affirmative) DDR-Literatur und eine (stofflich und biographisch auf das Land bezogene) „Literatur aus der DDR“ zu scheiden. Indes bleibt die neu zu beantwortende Frage, ob es nicht trotz der 40jährigen Zweistaatlichkeit dennoch nur eine deutsche Literatur gegeben hat, allerdings mit einigen landschaftlich und gesellschaftlich geprägten Besonderheiten östlich und westlich der Elbe, deren Unterschiedlichkeit mit

13 Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: dies.: Menschen in finsterer Zeit, hrsg. von Ursula Ludz, München 1989, S. 37.

14 Vgl. Dienstanweisung1/80 über Grundsätze der Aufbereitung, Erfassung und Speicherung operativ bedeutsamer Informationen durch die operativen Diensteinheiten des MfS vom 20.5.1980; BStU, ZA, DSt 102667.

15 Vgl. Roger Engelmann: Zu Struktur, Charakter und Bedeutung der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (BF informiert 3/1994), hrsg. vom BStU, Abt. Bildung und Forschung, Berlin 1994.

16 BStU, ZA, AIM 9468/84, Bd. I/1, Bl. 174.

17 Richtlinie 1/79 des Ministers für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit (GMS) vom 8.12.1979 (künftig: RL 1/79), in: Die Inoffiziellen Mitarbeiter. Richtlinien, Befehle, Direktiven, hrsg. vom BStU, Abt. Bildung und Forschung, Berlin 1992, Bd. 2, S. 699 –723. Zu den IM-Richtlinien siehe auch: Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Richtlinien und Durchführungsbestimmungen (Analysen und Dokumente), hrsg. von der Abt. Bildung und Forschung des BStU, Berlin 1996.

18 OibE: Offizier im besonderen Einsatz, d. h. legendierter Einsatz von hauptamtlichen Mitarbeitern in Schlüsselpositionen des Staat- soder Parteiapparates, der Wirtschaft und auch der Kultur.

19 BStU, ZA, ZAIG 16851, Bl. 1-10.

20 BStU, ASt Halle, AIM 3627/62; BStU, ZA, AOP 16578/89; BStU, ZA, AP 5771/81. Zur Aktenlage: Der AIM-Vorgang „Margarete“ umfaßt einen Band des Teiles I mit 109 Blatt sowie einen Band des Teiles II mit 21 Blatt. Der OV „Doppelzüngler“ dagegen umfaßt 41 Bände.

21 Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen des MfS zur „politisch-operativen Arbeit“ (künftig: Wörterbuch), hrsg. vom BStU, Abt. Bildung und Forschung, Berlin 1993; neu erschienen als: Siegfried Suckut (Hrsg.): Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit“ (Analysen und Dokumente), hrsg. von der Abt. Bildung und Forschung des BStU, Berlin 1996.

22 Wörterbuch, S. 385.

23 Wörterbuch, S. 194.

24 Wörterbuch, S. 438.

25 BStU, ZA, AIM 2173/70, Bd. I/3, Bl. 23.

26 Wörterbuch, S. 217 f.

27 BStU, ZA, AP 14173/92, Bl. 257.

28 Vgl. Ingrid Kühn: Mit „argus“-Augen. Decknamen für inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, in: Der Sprachdienst (1992) 6, S. 177 – 180.

29 Tscheka: Kurzwort für russisch „Tschreswytschainaja komissija po borbe s kontrrevoljuzijei i sabotashem“ (Außerordentliche Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage), bis 1922 unter diesem Namen, später: GPU, NKWD, MWD, KGB.

30 Helmut Baierl: Ansprache des Schauspielers Hans Peter Minetti an die Genossen der Staatssicherheit im Jubiläumsjahr 1975; BStU, ZA, SED-KL 274, Bl. 696 – 703. Die nicht enden wollenden Lobpreisungen im vollen Wortlaut: siehe Anhang „MfS-Lyrik“.

31 Benito Wogatzki: Anläßlich des 25. Jahrestages des MfS; ebenda, Bl. 705. Voller Wortlaut mit Bezug zum Autor selbst: siehe Anhang „MfS-Lyrik“

32 Wir über uns. Anthologie der Kreisarbeitsgemeinschaft „Schreibende Tschekisten“. Reprintdruck, hrsg. vom Haus am Checkpoint Charlie, Berlin 1990.

33 Ebenda, S. 9.

34 Ebenda, S. 86.

35 BStU, ZA, SdM 979, Bl. 1.

36 Vortrag (o.D., o.V.) zum Thema „Ausgewählte Grundsätze in der Tätigkeit der Linie Untersuchung bei der vorbeugenden Aufdeckung, Verhinderung und Bekämpfung der gegnerischen Versuche zum Mißbrauch kultureller und künstlerischer Ausdrucksmittel sowie einige Anregungen zur Nutzung der sich aus dem sozialistischen Recht in seiner gesamten Breite ergebenden differenzierten Möglichkeiten des wirksamen politisch-operativen und rechtlichen Vorgehens“; BStU, ZA, HA IX 327, Bl. 9.

1. Der Auftrag

1.1. Die kulturpolitische Funktion des MfS

Im MfS-Wörterbuch wird die „Hauptaufgabe des MfS“ beschrieben als „die sich aus den Sicherheitserfordernissen der sozialistischen Gesellschaft und der Sicherheitspolitik der Partei ergebenden generellen Anforderungen an die Arbeit des MfS. Diese generelle Anforderung besteht in der Gewährleistung der staatlichen Sicherheit der DDR vor allen Angriffen innerer und äußerer Feinde.“1 Hier blieben die MfS-Wissenschaftler noch recht allgemein, wenngleich bemerkenswert ist, daß die inneren vor den äußeren Feinden genannt werden. Ein wenig präziser werden Sinn und Zweck des Sicherheitsapparates im dritten Absatz dieser Definition beschrieben: „Insgesamt muß die Erfüllung der H. des MfS zu Arbeitsresultaten führen, die geeignet sind, der Partei rechtzeitig strategische und taktische Informationen über den Gegner zur Verfügung zu stellen, den Feind in seinen Ausgangsbasen im Operationsgebiet aufzuklären, zu stören und zu bekämpfen, feindliche Machenschaften gegen die DDR zu verhindern, innere Feinde zu entlarven und die Sicherheit der DDR unter allen Lagebedingungen zu gewährleisten sowie Schäden und Schadenshandlungen durch Vorbeugung, höhere Wachsamkeit, Disziplin und Ordnung zu verhindern.“2 Unter dem Stichwort „Sicherheitspolitik, sozialistische“ wird der Auftrag des MfS eher verschwommen und beschönigend dargestellt, wenn es heißt, daß die Sicherheitspolitik „friedensschaffenden, friedenserhaltenden und friedensgebietenden Charakter“ besäße, „revolutionär-schützend“, dazu „humanistisch“, „internationalistisch“, „parteilich, objektiv und wissenschaftlich“ und „Ausdruck sozialistischer Gesetzlichkeit“ sei. Etwas konkreter wird es am Schluß: „Das MfS hat ausgehend vom einheitlichen Klassenauftrag der Partei an die Schutz- und Sicherheitsorgane vorrangig alle subversiven Angriffe des Gegners, insbesondere auf die Verteidigungsfähigkeit des Sozialismus, die störungsfreie Durchsetzung der ökonomischen Strategie der Partei und die ideologischen Grundlagen der Weltanschauung der Arbeiterklasse, vorbeugend zu verhindern, rechtzeitig aufzudecken und wirksam zu bekämpfen.“3

Dennoch werden die drei Hauptfunktionen des bürokratisch-militärisch organisierten MfS-Repressionsapparates nicht hinreichend deutlich, nämlich zugleich Nachrichtendienst (MfS-Kürzel: „Aufklärung“), politische Geheimpolizei (MfS-Kürzel: „Abwehr“) und juristisches Untersuchungsorgan (Strafverfolgung) gewesen zu sein. Das MfS verstand sich als „ausführendes Organ der Diktatur des Proletariats […] unter Führung der SED auf Grundlage der Beschlüsse der SED“,4 wobei das Idiom „Diktatur des Proletariats“ der geblümten Rede zuzurechnen ist, handelte es sich doch um die Diktatur der SED oder genauer: der SED-Führung, repräsentiert durch das Politbüro und den Apparat des Zentralkomitees der SED. Deren über vierzig Jahre fehlende demokratische Legitimation sowie die mangelnde und deshalb propagandistisch permanent beschworene Akzeptanz durch die Bevölkerung führte zu einer machtpolitischen Kompensation des Mißtrauens der vormundschaftlichen Partei gegenüber ihrem Mündel Volk, letztlich zu der wahnhaften SED-Sicherheitsdoktrin und dem unangemessenen Wuchern des Sicherheitsapparates.

Daß die Machtsicherung durch das MfS letztlich eine „zerstörerische Stabilisierung“5 war, da sie auch die dogmatische Starre und Reformunfähigkeit zementierte, ist eine der optimistisch stimmenden Erkenntnisse aus dem Untergang der DDR-Diktatur und ein schönes Beispiel für das Wirken einer Geschichtsdialektik, die sich auch gegen jene richtete, die sie ständig im Munde führten.

In der Verpflichtung, die jeder hauptamtliche Mitarbeiter des MfS zu unterzeichnen hatte, stand auf Seite 1: „Bei der Abgabe dieser Verpflichtung bin ich mir bewußt, daß das Ministerium für Staatssicherheit ein zuverlässiges und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands treu ergebenes Organ des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik ist, in deren Auftrag es wichtige politisch-operative und militärische Aufgaben zur Festigung unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht und zur Sicherung des Friedens durchführt.“6

Da die SED nicht nur den politischen, sondern auch den ideologischen Führungsanspruch für sich reklamierte und rigoros durchsetzte, wirkte sich das auf den gesamten „gesellschaftlichen Überbau“ aus, darunter nicht zuletzt auf Kunst und Literatur. Auch und gerade dieser Bereich war durch das MfS abzusichern, weshalb das MfS einen spezifizierten Sicherheitsauftrag zur Durchsetzung der SED-Kulturpolitik und die entsprechenden, dafür zuständigen Diensteinheiten besaß. Dies war ab 1964 die „Linie XX“, verantwortlich für: Staatsapparat, Kirche, Kunst, Kultur und „politischen Untergrund“, sie war das Zentrum der nach innen gerichteten Repression. In Mielkes Befehl 20 /69 vom Juni 1969, der die Bildung der Abteilung XX /7 anwies, wird die sicherheitspolitische Bedeutung der Kultur unterstrichen: „Die Kultur in ihrer Gesamtheit, im besonderen Maße die Massenkommunikationsmittel, sind auf Grund ihrer Stellung im gesellschaftlichen Gesamtsystem, vor allem bei der politisch-ideologischen Bildung und Erziehung der Menschen, bedeutende Faktoren im Prozeß des Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus.“7 In der zu diesem Befehl gehörenden „Dienstanweisung 3/69 zur Organisierung der politisch-operativen Arbeit in den Bereichen der Kultur und Massenkommunikationsmittel“ wurden Sinn und Zweck der SED-Kulturpolitik so beschrieben: „Das strategische Ziel der sozialistischen Kulturpolitik besteht in der Herausbildung der sozialistischen Menschengemeinschaft und in der Schaffung der gebildeten sozialistischen Nation, die zugleich als Vorbild auf Westdeutschland und andere kapitalistische Länder ausstrahlt.“8 Die „Wirksamkeit unserer sozialistischen Ideologie“, verkündete Mielke in seinem Referat auf der Dienstkonferenz vom 13. Juli 1972, sei die „Kernfrage“ und der „rote Faden“, der sich durch alle Dokumente und Beschlüsse der Partei zur Kulturpolitik hindurchziehe, diese von der Partei vorgegebene „Linie und Aufgabenstellung“ gelte es mit den Mitteln und Methoden des MfS durchzusetzen.9 Dieser generelle kulturpolitische Auftrag des MfS wird detaillierter in der Planung für die Jahre 1986 bis 1990 unter Punkt 4.5. „Sicherung und Unterstützung der Kulturpolitik der Partei“ beschrieben: „Mit dem Ziel, die Durchsetzung der sozialistischen Kulturpolitik zuverlässig zu sichern und wirksam zu unterstützen, ist die politisch-operative Arbeit des MfS darauf auszurichten, – die gegnerischen Bestrebungen zur ideologischen Einflußnahme auf kulturpolitischem Gebiet rechtzeitig zu erkennen, sorgfältig zu verfolgen, zu analysieren und ihnen wirksam zu begegnen; – Versuche feindlich-negativer Kräfte, die Beschlüsse und Orientierungen der Partei, des Staates und kulturpolitischer Gremien zu ignorieren, zu unterlaufen bzw. zu verfälschen, aufzudecken und in geeigneter Form zurückzuweisen; – ein Wirksamwerden gegnerischer und feindlich-negativer, oppositioneller Kräfte im kulturpolitischen Bereich konsequent zu unterbinden.“10 Pointierter formulierte Mielke stets, wenn er vor seinen Tschekisten sprach, so auf der Delegiertenkonferenz der SED-Grundorganisation der HA IX vom 27. November 1985. Hier brachte er die dienende Rolle des MfS gegenüber der SED-Führung auf den prägnanten Satz: „Keine unserer Maßnahmen darf die Linie der Partei beeinträchtigen oder gar stören.“11 In einem Vortrag, der sich ausdrücklich auf diese ministerielle Vorgabe bezog, forderte der vortragende Spezialist der HA IX die „wirksamste Unterstützung und aktive Durchsetzung“ der SED-Kulturpolitik, der sich „alle Entscheidungen, Maßnahmen und Vorgehensweisen unterzuordnen“ hätten. Dieser Bereich sei besonders wichtig, aber auch besonders sensibel, da die „Kunst- und Kulturschaffenden der DDR“ im „Zentrum der feindlichen Angriffe“ ständen. Dem Gegner ginge es vor allem um „die Störung des Vertrauensverhältnisses und die Dokumentierung eines angeblichen Widerspruches zwischen der Partei und den Kunst- und Kulturschaffenden in der Darstellung eines angeblich in der DDR und anderen sozialistischen Staaten herrschenden Gegensatzes zwischen ,totalitärem Staat und künstlerischer Freiheit‘, zwischen ,Macht und Geist‘; die auf der Grundlage angestrebter ideologischer Einbrüche beabsichtigte Schaffung ideologischer Stützpunkte unter den Kunst- und Kulturschaffenden zur Verbreitung antisozialistischer, bürgerlicher Theorien, Lebensauffassungen und Wertvorstellungen als Ausgangspunkt für weitergehende subversive Handlungen, insbesondere für die Installierung und Formierung einer inneren Opposition in der DDR; den gezielten, organisierten und sowohl ideell als auch materiell unterstützten Mißbrauch der vielfältigen Formen künstlerischer Betätigung zu vielschichtigen, differenzierten und sowohl offenen oder auch verdeckten Angriffen gegen den Sozialismus als Gesellschaftsordnung insgesamt und gegen wesentliche Teilbereiche der gesellschaftlichen Verhältnisse; die internationale Diskreditierung der DDR und der Kulturpolitik der SED sowie der erforderlichen Maßnahmen des sozialistischen Staates zur Verhinderung des Mißbrauchs künstlerischer und kultureller Ausdrucksmittel.“12

Im MfS-Wörterbuch findet sich denn auch eigens das Stichwort „Kunst und Kultur, Mißbrauch“, unter dem es heißt: „Bestrebungen innerer und äußerer Feinde, den Bereich der Kunst und Kultur der sozialistischen Gesellschaft für die Durchführung politischer Untergrundtätigkeit u.a. vielfältige Formen der Feindtätigkeit, insbesondere für die Verbreitung antisozialistischer Auffassungen, Theorien, Plattformen, Konzeptionen u.a., zu mißbrauchen. Durch den Aufbau ideologischer Stützpunkte und verfassungsfeindlicher Zusammenschlüsse unter Kunst- und Kulturschaffenden sowie Mitarbeitern der Massenmedien versucht der Gegner, die Einflußmöglichkeiten dieser Bereiche auf die sozialistische Bewußtseinsbildung zu subversiven Zwecken zu mißbrauchen bzw. umzufunktionieren.“13

Daß sich diese Furcht spätestens ab 1968 zu einer nahezu paranoiden Wahnvorstellung auswuchs, belegt der Vortrag zum Thema „Die feindlichen Angriffe im Bereich von Kunst und Kultur“, den der altgediente Genosse Benno Paroch, der es immerhin bis zum stellvertretenden Leiter der HA XX brachte, auf einer Sitzung der MfS-Kreisleitung der SED am 12. Dezember 1968 hielt: „Der Feind ging bei der Organisierung der Konterrevolution und der Formierung seiner Kräfte immer von dem scheinbar unpolitischen Bereich der Kunst und Kultur aus und trug seine Angriffe auf die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnung zunächst raffiniert getarnt vor. Beipiele hierfür bieten die Angriffe revisionistischer Elemente in den letzten Jahren in Ungarn, Polen und der CSSR. Fragen der Kultur sind Machtfragen [Hv. im Original]. Es besteht eine enge Wechselwirkung zwischen der Macht der Arbeiterklasse und der politisch-ideologisch-kulturellen Arbeit. Die Entwicklung und Festigung der Macht bedingt den Einsatz der politischen, ideologischen und kulturellen Potenzen. Andererseits ist eine richtige kulturpolitische Arbeit mit starker politisch-ideologischer Wirkung nur möglich bei voller Wahrnehmung der Macht. Hier beginnt bereits die Auseinandersetzung mit verschiedenen Intellektuellen, die einen Widerspruch zwischen ,Geist und Macht‘ konstruieren wollen, die Macht als etwas Feindliches ablehnen, für eine ,Freiheit der Kunst‘ und eine Spontaneität eintreten, in Wirklichkeit jedoch die Führung durch bürgerliche Kräfte meinen und somit bewußt oder unbewußt dem Klassenfeind in die Hände spielen.“14

Der Auftrag des MfS zur Sicherung der SED-Kulturpolitik wurde ideologisch verklärt als „Klassenauftrag“ und verstanden als Parteiauftrag. In der Praxis dehnten die hauptamtlichen Mitarbeiter der operativen Diensteinheiten diesen auch auf die „progressiven Kräfte“ aus. Bei der Werbung des IM-Kandidaten „Günter“, einer Schlüsselposition im Lektorat des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar, argumentierten die Werber, Hauptmann Rolf Pönig und Hauptmann Peter Gütling von der HA XX / 7, im Oktober 1978 wie folgt: „Entsprechend des Auftrages der Partei, der sowohl für den Kandidaten als auch für das MfS gilt, diese Autoren15