Sie haben Ihr Baby am Airport vergessen - Maryam Komeyli - E-Book

Sie haben Ihr Baby am Airport vergessen E-Book

Maryam Komeyli

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Beschreibung

Wie zwei Singles eine Pärchenreise antraten und sich ineinander verliebten, wie der Scheich von Ras al-Chaima zum Stammkunden wurde, warum Sardinien plötzlich in Spanien lag und welcher Bus von Hamburg nach Kairo fährt … Die Geschichten von 25 Jahren hinterm Last-Minute-Schalter von Maryam Komeyli sind lustig, spannend, rührend und verrückt. Obwohl sie 17 Stunden täglich arbeitet, hat sie zwei Babys: ihren Schalter am Hamburg Airport und ein Reisebüro auf der Reeperbahn. Ob Schnäppchenjäger, Kurzentschlossene, Nachtschwärmer, Prostituierte, Aussteiger – Maryam Komeyli schickt sie alle in den Urlaub.

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Inhalt

 

Vorwort

Kapitel 1

Mutter für ein paar Stunden

Kapitel 2

Alles inklusive

Kapitel 3

Am Postschalter

Kapitel 4

Sardinien oder Galicien – Hauptsache Italien

Kapitel 5

Gestrandet

Kapitel 6

Eins und eins, das macht drei

Kapitel 7

Von April bis September

Kapitel 8

Hugo

Kapitel 9

Code Pink

Kapitel 10

Ja, ich will

Kapitel 11

Brot macht erfinderisch

Kapitel 12

Familienbande

Kapitel 13

Tabledance und Stützstrümpfe

Kapitel 14

Elvis

Kapitel 15

Der Scheich und ich

Kapitel 16

Die Mutter des Bräutigams

Kapitel 17

46 B

Kapitel 18

Ladys first

Kapitel 19

Was ich Ihnen noch sagen muss

 

Nachwort

DIE AUTOREN

Vorwort

 

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

in diesem Buch finden Sie ein paar der unglaublichsten Geschichten, die mir in den letzten 25 Jahren passiert sind. Geschichten vom Schalter am Hamburg Airport und aus meinem Reisebüro auf der Reeperbahn, der sündigsten Meile Deutschlands.

Sollten Sie gerade in Reisevorbereitungen stecken, in einem Flieger in den Süden sitzen oder an einem feinsandigen Strand unter einer Palme liegend Ihren Urlaub genießen, dieses Buch lesen und denken: »Gibt es doch nicht, kann doch alles nicht sein!«, dann denken Sie bitte daran: Die Frau in der Schlange des Showkochens am Hotelbuffet, die sich vier Spiegeleier, zwei Käseomeletts und eine Portion Rührei (»Bitte ohne Bacon, ich achte im Urlaub auf meine Linie«) zubereiten lässt, sodass Sie fürchten müssen, dass das Frühstücksrestaurant in der Zwischenzeit schließen wird, der Mann, der aus unerfindlichen Gründen nach der Landung in Havanna als Erster von seinem Flugzeugsitz aufspringt, Ihnen seine Duty-free-Tüte, in der zwei am Frankfurter Flughafen erworbene Flaschen Rum stecken, an den Kopf haut, obwohl der Flieger noch rollt, und der wahrscheinlich genau wie alle anderen doch erst dann aus der Maschine steigen wird, wenn die Türen geöffnet werden, die Familie, die Sie den ganzen Tag nicht am Hotelpool treffen werden, obwohl fünf Liegen mit Handtüchern und Kinderspielzeug belegt sind – die gibt es. Alle. Auch die verreisen.

Kapitel 1

Mutter für ein paar Stunden

Es regnete. Nein, es goss. Und ein Blick aus dem Fenster in den Hamburger Himmel verriet mir: Das wird sich so schnell auch nicht ändern.

Ich wusste sofort: Es wird ein guter Tag. Regen ist gut für das Geschäft. Lang anhaltender, strömender Regen ist hervorragend für das Geschäft. Mein Geschäft.

Mein geliebter Last-Minute-Schalter befindet sich am Flughafen Hamburg. In Hamburg regnet es oft, wobei ich finde, es könnte ruhig noch ein wenig häufiger regnen. Wie gut ich die Norddeutschen verstehen kann, wenn sie mit durchnässter Kleidung an meinem Schalter stehen und den sehnlichen Wunsch nach Sonne äußern. Nach Wärme, einem Swimmingpool oder Strand, gern garniert mit Halbpension oder AI. Sie wissen schon, all inclusive. Schon ein Foto mit Palmen zaubert ein Lächeln auf die blassen Gesichtszüge der Deutschen. In Hamburg sind sie besonders blass.

Vorfreude ist die schönste, heißt es. Ich versuche Vorfreude in Glück umzuwandeln. Jeden Tag aufs Neue.

Und bei diesem Regen wird es viele Menschen mit Vorfreude geben, die vor meinem Schalter stehen werden, dachte ich, als ich mein 5 Quadratmeter großes Büro direkt hinter dem Schalter aufschloss. Das Geschäft an dem Tag lief gut. Alles wie immer. Jeder Tag ist ein guter Tag an meinem Schalter. Pauschalreisen in die Türkei, auf die Kanaren, fünf »Nur-Flug-Tickets« nach Cancún in Mexiko an eine Familie, deren Kinder erst im kommenden Jahr an Schulferien gebunden sein werden – die Zugfahrt nach Düsseldorf und einen Mietwagen vor Ort konnte ich noch dazuverkaufen. Sie mussten am kommenden Morgen bereits aufbrechen.

So ist das damals noch gewesen, das Geschäft mit kurzfristigen Reiseschnäppchen: Je schneller es losging, desto günstiger der Preis. Profis kamen oft mit gepackten Koffern zum Flughafen. Das ist für mich last minute in Reinkultur.

Reinkultur auch, was an diesem Tag so gegen 16 Uhr seinen Lauf nehmen sollte. Der Regen hatte noch immer nicht aufgehört. Der Weg vom Parkplatz ins Flughafengebäude reichte aus, um auch die bestsitzende Frisur in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Mein Schalter war damals im alten Charterterminal 1 des Hamburger Flughafens perfekt gelegen. Der Terminal war hässlich, mein Schalter schon immer schön. Gelegen direkt am Eingang.

Doch was war das?

Eine vierköpfige Familie ging triefend erst einmal an allen Schaltern vorbei. Ihre Taktik schien wie bei einem Flohmarktbummel: Das größte Schnäppchen lauert beim letzten Anbieter, kurz bevor zusammengepackt wird. Deshalb packe ich immer als Letzte …

Ich bediente gerade andere Kunden, sonst hätte ich sie gleich abgefangen. Doch so zogen sie von einem Last-Minute-Schalter zum nächsten. Die Reiseanbieter saßen wie die Hühner auf der Stange. Hinter ihnen die damals noch mit Edding angeschriebenen Angebote. Menorca, 3***, ÜF, ab 499,–; Phuket, nur Flug, ab 899,–. Der Preis immer ganz groß, von wo es losging und wie lange die Reise dauern würde zweitrangig. Das spielt ja auch eine geringe Rolle, solange der Name des Reiseziels nach Traumurlaub, der Preis nach Schnäppchen klingt und die Aussicht auf Sonne die Menschen sehnsüchtig macht.

Die Familie war nur noch zwei Schalter entfernt. Der ältere Sohn sichtbar genervt und mit dem Capri-Eis in der Hand nicht mehr ruhigzustellen. Der Vater sichtbar genervt, weil er inzwischen seit 20 Minuten einen Maxi-Cosi-Babysitz durch den Terminal schleppen musste. Die Mutter sichtbar genervt, bislang nicht das entdeckt zu haben, was ihnen vorschwebte. Jetzt scannten sie die Reiseangebote der Konkurrenz am Nachbarschalter ab. Ich kannte deren Angebote besser als die Mitarbeiter hinterm Schalter und wusste, dass ich die Familie nicht an die Nachbarn verlieren würde. Als sie in Rufweite noch am Nachbarschalter stehen blieben, hauchte ich ihnen mein bestes »Hallo« entgegen. Der Vater nickte kurz herüber, das Baby war gerade eingeschlafen. Der Junge, der zwischen Vater und Mutter nach wie vor etwas genervt auf seinem Eisstiel kaute, war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Trotz der Hatz schaute er sich neugierig um. Die Atmosphäre des Flughafens, die vielen Koffer, Menschen in Uniformen, Lautsprecherdurchsagen und natürlich die Nähe zu den startenden und landenden Flugzeugen, nimmt viele Menschen gefangen, Kinder lieben diesen Ort. Ich auch.

Der Vater nahm seine Frau an die kindersitzfreie Hand und zog sie in meine Richtung. Ich hatte das Gefühl: Endlich lächelte er einmal.

»Ich hätte vorher sagen können, dass Sie da nichts finden werden!«, begrüßte ich die Reisegruppe in spe. Seine spontane Antwort überraschte mich.

»Wir haben heute Morgen zueinander gesagt: Entweder kaufen wir uns heute bei Ikea ein neues Bett oder wir fahren in den Urlaub«, sagte er und dabei schaute er auf meine Angebote, die ich hinter mir an der Schalterrückwand angebracht hatte.

»Die erste Idee ist ja nun wirklich schlecht!«, sagte ich. »Investieren Sie lieber in Erlebnisse, nicht in Gegenstände.« Vater und Mutter lächelten, der Junge schwieg. Ich wusste, jetzt musste es schnell gehen. Nicht lange um den heißen Brei herumreden, nicht theoretisch über eine Reise sprechen, ohne etwas darüber zu wissen. Für viele meiner Kolleginnen und Kollegen ist es wichtig zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Mir ist es wichtig, den Menschen Träume aufzuzeigen. Sie müssen sich im Geiste bereits am Pool, am Strand, mit dem Drink in der Hand an der Hotelbar sehen. Es musste ein Ziel auf den Tisch, und das möglichst schnell.

»Vielleicht Ibiza«, sagte die Frau.

»Vielleicht Italien«, sagte der Vater.

»Ne, Griechenland«, sagte ich und tippte dabei bereits auf der Tastatur, um die Angebote zu durchforsten. Ich wusste, ich musste nur noch eine Griechenlandreise verkaufen, dann wäre der Flieger voll. Nach Ibiza ging erst wieder fünf Tage später eine Maschine, zu viel Zeit, es sich anders zu überlegen. Und Italien? Vergiss Italien.

»Kreta, viereinhalb Sterne, Vollpension – wichtig, wegen der Kids«, las ich vor.

Die üblichen erwartungsfrohen Gesichter. Ich wusste, es ging nur um den Preis.

»Zehn Tage 499 Euro. Kaum zu glauben,« hängte ich etwas leiser an den Preis dran, sodass die Familie es aber noch gut hören konnte. »Wie alt ist der Große? Fünf, sechs? Das Baby ist ja eh umsonst … für den Großen gibts einen Superrabatt!«

Ich bin Perserin, Tochter eines Teppichhändlers. Ich bin nicht sicher, vielleicht haben Teppichhändler in Deutschland kein gutes Image, aber sie können verkaufen. Die Regeln sind weltweit die gleichen. Ein bisschen Ungläubigkeit über das eigene Angebot, ein erstauntes Kopfschütteln, ein Lächeln, dem Kunden das Gefühl geben, ein richtig gutes Geschäft ist zum Greifen nahe.

Von meinem Vater habe ich viel gelernt. Es brachte immer wieder Spaß, es anzuwenden. Ich tat nichts Schlechtes. Die Teppiche meines Vaters waren immer von guter Qualität, er verhalf Menschen zu Luxus, am Ende war der Preis immer fair. Für beide Seiten. Und diese Reise war den Preis ebenfalls wert. Sie war gerade vor wenigen Stunden drastisch im Preis heruntergesetzt worden, lag deutlich unter der Hälfte des Originalpreises, da sie für Menschen, die Planungssicherheit benötigen, einen entscheidenden Haken hatte: Die Maschine hob bereits in drei Stunden ab. Bis jetzt hatte ich nur Ziel und Preis genannt …

Hinten im Büro lagerte ich damals alle, wirklich alle Kataloge von allen Veranstaltern, die in Deutschland Reisen verkauften. Ich konnte immer den Originalkatalog der Originalreise des Originalveranstalters hervorholen. Dort gab es dann wunderschöne Bilder von den Hotels, von den Poolanlagen, immer aus günstiger Perspektive fotografiert, von den Stränden. Und: den Originalpreis schwarz auf weiß. Und dieses Viersternehotel auf Kreta war wirklich ein Schmuckstück. Klares Wasser, ein – für Kreta ungewöhnlich – von Kies- und Felsplateaus verschonter Sandstrand. Es sah auf diesen Fotos aus wie in der Karibik.

»Das sieht ja aus wie in der Karibik«, sagte die Frau zu ihrem Mann, dabei schlug sie die Augen auf.

Bis hierher hatte das Gespräch nur wenige Minuten gedauert – und dann tat ich überrascht über etwas, was ich natürlich seit dem frühen Morgen wusste und was für eine Familie mit zwei Kindern eigentlich einen Traumurlaub zum No-Go macht.

»Oh.«

Spannung lag in der Luft. »Ah, ein Haken oder warum ›Oh‹?«, fragte die Frau.

»Der Flug, er geht schon heute Abend um 19 Uhr.«

Der Mann sah auf seine Uhr, dafür hängte er den Maxi-Cosi von einem Arm auf den anderen.

»Das ist ja schon in … nicht einmal drei Stunden! Wie lange vorher müssen wir am Schalter sein?«

»Es heißt immer, 120 Minuten, aber die Schlange am Check-in muss ja erst einmal abgearbeitet werden. Da reichen also auch 90 Minuten. Umsonst ist das eben nicht, so ein Schnäppchen! Sie sehen doch, was die Reise eigentlich kosten sollte …«, erwiderte ich und blockte schon einmal die Reise, damit sie mir nicht von einem anderen L’tur-Büro weggeschnappt werden konnte.

»Aber mal ehrlich, wie sollen wir das machen?«, die Frau war jetzt aufgeregt, der Mann wollte noch immer souverän wirken. Den Karibikstrand zum Greifen nahe, außerdem hatte er die Poolbar auf dem Foto gesehen. Ich hatte es am Hochziehen der Augenbrauen bemerkt, als er den Katalog mit dem Foto in die Hand genommen hatte.

»So weit von hier wohnen wir ja nun auch nicht«, sagte er eher zu sich selbst.

Ich weiß bis heute nicht wieso, manchmal ist es diese Eigenart, unbedingt etwas verkaufen zu wollen, woran sich unzählige Kolleginnen und Kollegen die Zähne ausbeißen, aber meine Zunge war schneller als mein Verstand und so bot ich eher im Scherz etwas an, was eigentlich vollkommen absurd war. Es fehlte halt nicht viel, die Familie war mir unglaublich sympathisch, die Reise auf der einen Seite ein Schnäppchen, auf der anderen Seite so kurz vor Abflug fast unverkäuflich. Ich gönnte ihnen diese Reise, ich wusste, sie würde ihnen gefallen. Ich gönnte mir den Erfolg.

»Das Baby schläft doch. Wenn Sie möchten, dann lassen Sie den Maxi-Cosi mit Ihrem Baby hier bei mir. Im Backoffice.« Ich deutete auf die schmale Tür hinter meiner Verkaufswand. »Da ist es ruhig, es wird bei mir gut weiterschlafen und Sie sind in einer Dreiviertelstunde wieder hier.«

Das Gefühl ist schwer zu beschreiben, wenn man als Antwort erwartet: »Sie glauben doch nicht, dass wir unser Baby bei einer Fremden parken würden, so nett Sie auch scheinen!«, und als wirkliche Antwort bekommt: »Das würden Sie für uns tun?«

Und »Das würden Sie für uns tun?« war exakt das, was beide unisono zu mir sagten, und dabei stellte der Mann das Baby bereits auf dem Verkaufstresen ab.

Mein Vater hatte einmal zu mir gesagt: »So sehr dich ein Kunde auch schockiert, nimm ihn immer ernst!« Mir war mulmig zumute, aber ich lächelte und zeigte auf die Uhr.

»Jetzt aber schnell. Um 19 Uhr geht der Flieger, ich bereite alles vor, stelle die Tickets aus, nur bezahlen müsstet ihr gleich. Bar oder EC.« Ich hatte ja eigentlich ein gutes Pfand bei mir auf dem Tresen stehen, aber Kunden brauchen Gleichbehandlung. Sie zahlten hektisch und ich motivierte sie, sich zu beeilen, indem ich mein herzlichstes Lächeln aufsetzte. Die um ein Mitglied dezimierte Familie ging mit schnellem Schritt zurück in den Regen.

Den Maxi-Cosi mit dem Kind stellte ich in mein Backoffice. Zwischen Kataloge von TUI, Neckermann und Co., aufblasbare L’tur-Palmen, ratternde Ticketdrucker und den sanft surrenden Kühlschrank, in dem ich immer ein wenig Champagner für besondere Buchungen kalt stellte. Ich schaute das Baby an – und stellte es unter meinen kleinen Schreibtisch. Andere Möglichkeiten hatte ich nicht, hier wurden Reisen verkauft, es war keine Krippe.

»Du wirst heute noch nach Kreta reisen«, flüsterte ich, das Kind lächelte nicht und ich ging zurück hinter meinen Tresen. Für 20 Uhr 30 gab es noch ein paar Plätze in der Maschine nach Monastir, Tunesien, die galt es noch zu verkaufen.

Es war gegen 18 Uhr 15, ich war gerade dabei, einen jungen Mann davon zu überzeugen, dass das Hotel am Ballermann besser ist als sein Ruf, als der Vater, die Mutter und der Sohn durch die Halle auf mich zustürmten. Sie strich sich kurz durch die Haare, der Mann strich das Wasser von seinem Mantel, Den werden Sie nicht brauchen!, dachte ich, sagte es aber nicht, und stellte einen großen Erwachsenenkoffer neben sich. Der Junge durfte seinen Kindertrolli selbst ziehen. Sie wirkten abgehetzt, aufgeregt und angespannt glücklich. Die Tickets hatte ich bereits zusammen mit Kofferanhängern, Aufklebern und einer kleinen Tüte Weingummi in Palmenform unter meinem Verkaufstresen in einem Umschlag parat gelegt. Doppelt kontrolliert, sauber eingetütet in das pinkfarbene Papier. Ich bat den jungen Mann, der eigentlich gerade an der Reihe war, um Entschuldigung, schob ihm noch einmal den Katalog mit dem Zweisternehotel auf Mallorca unter die Nase, direkt an der Schinkenstraße. »289 Mark«, fügte ich noch schnell hinzu. »Kein Luxus, aber guck mal nach draußen, da ist das Wetter gut. Was willst du mehr?«

»Kommen Sie doch mal kurz vor, Sie müssen sich beeilen, da drüben ist der Check-in-Schalter und keine Schlange mehr. Die machen gleich dicht!« Die Familie wirkte gehetzt. Natürlich wohnten sie nicht gleich um die Ecke, das Packen hatte länger gedauert. Sie mussten sich wirklich beeilen. Der Vater hatte zu viel zu schleppen und seine Frau den Großen auf dem Arm. Die Tickets musste ich ihm in die Tasche seines Trenchcoats stecken. »Den werden Sie nicht brauchen!«, sagte ich jetzt doch, wie zum Beleg des guten Geschäfts, das er gemacht hatte. Aber er hörte kaum noch zu, lief geradewegs auf den Kreta-Schalter zu. Die Familie stand am Check-in-Schalter, sie hatte es geschafft. Vor ihnen noch ein paar Typen, die bestimmt zum Tauchen nach Kreta wollten. Und dann waren sie an der Reihe. Gerade so geschafft!

Das war einer dieser Momente, die ich so liebe. Da war eine Familie, die sich auf mich verlassen hatte. Sie würden einen schönen Urlaub erleben, da war ich mir sicher.

Noch immer stand der junge Mann an meinem Schalter und haderte mit der Mallorca-Reise.

»Magst du auch das Doppelte ausgeben? 600 Mark?«

Der Mann überlegte.

»Ibiza, San Antonio. Da ist die Hölle los und das Hotel liegt ein bisschen ruhiger, nach hinten versetzt.« Schnell zeigte ich ihm die Bilder. Ein einfacher Pool, ein paar Palmen und ein etwa fünfstöckiges Gebäude im Hintergrund. »14 Tage«, ergänzte ich. Und als ich noch immer kein Lächeln auf dem Gesicht des Mannes entdecken konnte, ergänzte ich: »Halbpension, direkt am Strand und abends, mein Bester, geht es richtig ab.«

Mein Beruf besteht aus sehr viel Psychologie. Die richtigen Worte am richtigen Platz, die Zahlen, nett eingestreut zu all den Urlaubsbildern, sind nur ein Teil des Handwerks. Viel wichtiger ist die Einordnung der Kunden. Was ist das für ein Typ? Ist er modisch gekleidet? Könnte er Single sein, auf der Suche nach der Frau fürs Leben oder lieber einem Urlaubsflirt? Oder will er einfach nur Sex?

Dieser junge Mann machte es mir schwer. Er wirkte wie ein Sportler, der gerade ein wichtiges Spiel verloren hatte. Ein bisschen bedröppelt, mit brauner Trainingsjacke und Baseballcap. Ich würde ihn fragen müssen, wie er sich seinen Traumurlaub vorstellte. Er sollte ehrlich sein, wir waren ja schließlich unter uns. Ich durchstöberte noch einmal meine ausgedruckten Angebote und die Kataloge, die ich auf meiner Ablage unter dem Schalter sortiert hatte, und versuchte uns zu einem Team zu machen. Das ist immer eine Strategie, die gut funktioniert.

»So, mein Schatz«, sagte ich, »ich glaube, ich habe hier das Richtige für dich.« Hinter ihm stand bereits ein weiteres junges Paar, das interessiert zuhörte. »Ibiza, San Antonio?«, sagte die junge Frau halb zu ihrem Freund, halb zu mir.

»Zeigen Sie mal.« Jetzt standen sie bereits zu dritt an meinem Schalter. Gleich würden sie sich überbieten. Das Bild vom Hotel und dem Strand wurde herumgereicht. Und am Ende – fuhren sie alle drei. Nicht zusammen, aber immerhin in dasselbe Hotel. Vielleicht würden sie sich dort wiedertreffen, zusammen eine Sangria trinken. Der junge Mann, dieser hellhäutige Sportlertyp, bestimmt mit Sonnenbrand.

Ich kassierte, stellte die Tickets aus, wechselte die Angebote an der Rückwand meines Schalters. Eine Handvoll Kunden galt es zu beraten, Tunesien wollte und wollte keinen Reisenden finden, ein Stammkunde, der regelmäßig kam, aber nach meinem Geschmack viel zu unregelmäßig buchte, schwatzte mit mir über seinen viel zu langweiligen Job und wie spannend er doch alles finde, was ich am Flughafen machte, im Computer sah ich, dass eine andere Filiale tatsächlich eines der Monastir-Tickets verkauft hatte, was mich ein wenig ärgerte, was sich jedoch legte, nachdem ich eine Malediven-Reise, die zwei Tage später von Basel aus startete, verkauft hatte. Ich drehte mich auf meinem Stuhl nach hinten, strich Kreta und Monastir von der Liste und unterstrich noch den Preis bei dem unschlagbaren Angebot für das Fünfsternehotel in der Dominikanischen Republik –als ich es hörte.

Erst ganz leise, dann ein bisschen lauter. Es klang wie Babygewimmer. Es war Babygewimmer. Des Babys der Familie, die inzwischen in der Luft war!

Ich hatte es vollkommen vergessen. Ich meine, ich habe keine Kinder, dass ich es vergessen hatte, war vielleicht dämlich, aber legitim. Aber die Familie? Wie war das möglich?

Das Wimmern des Babys wuchs bereits zu einer Art Demonstration an, als ich, den Maxi-Cosi schaukelnd, überlegte, was zu tun sei. Die Maschine nach Kreta war seit ungefähr 35 Minuten in der Luft. Vielleicht über Magdeburg. Ich versuchte, pragmatisch zu bleiben. Fühlte aber auch ein leichtes Gefühl aufkommender Panik. Ich rief die Bundespolizei am Flughafen an. Man kennt sich ja irgendwie am Flughafen. Man kennt mich irgendwie am Flughafen. Der Beamte muss an meiner Stimme sehr schnell bemerkt haben, dass die Geschichte wirklich stimmte. Er versuchte einen kurzen Witz vom Schlag »Mensch Maryam, dein Baby ist doch dein Schalter!«, stellte aber aufgrund meiner leicht hysterischen Reaktion keine Fragen, die ich ohnehin nicht hätte beantworten können. Dass eine Familie wirklich ihr drei Monate altes Baby an meinem Schalter vergessen hatte … drei Monate, das wusste ich, ich hatte ja schließlich ein Ticket für das Kleine ausgestellt. Aber warum hatte niemand das zusätzliche Ticket am Check-in oder beim Boarding bemerkt? Ich meine: weder die Eltern noch das Personal?

Die Bundespolizei nahm Kontakt auf mit dem Handling-Agent des Hamburger Flughafens, kurz erklärt: die im Grunde am schnellsten greifbare Person, die in der Lage ist, über die Fluggesellschaft Kontakt direkt mit einer Maschine aufzunehmen. Und das muss schon triftige Gründe haben.

Aber mal ehrlich: Im Büro des Agenten, neben zwei Bundespolizisten, saß auf meinem Schoß ein wirklich triftiger Grund und schrie vor sich hin. Ich kannte dieses spezielle Gefühl von mütterlicher Überforderung bis dahin eigentlich nur aus der Schilderung anderer.

Was nach dem Anruf in dem Flugzeug passierte, ist mir später übermittelt worden. Es war so:

Der Agent hatte zusammen mit der Bundespolizei Kontakt zu dem Flugkapitän aufgenommen, der ebenso verblüfft nachfragte, ob die Geschichte wirklich stimme. Dann ließ er die Familie zu sich ins Cockpit kommen. Das ging damals noch problemlos. Ich kann nur wiedergeben, was dann für ein Gespräch stattgefunden haben soll:

»Und, gefällt Ihnen der Flug bis jetzt?«, fragte der Pilot.

Die beiden hatten sich nach dem Erreichen der Reiseflughöhe erst einmal jeder einen Piccolo gegönnt und die Gläschen mit ins Cockpit genommen. »Oh ja, sehr gut.« Den Sektgeschmack hatten sie noch auf der Zunge.

»Und fehlt Ihnen irgendetwas?«

»Nein, alles bestens.«

»Ja, alle dabei?«

Die Reaktion der Mutter war etwas, was nicht in ein Flugzeugcockpit gehört. Sie flippte vollkommen aus. Es folgten diese Sätze, die man aus Zeitungsartikeln und Filmen kennt: »Bewahren Sie bitte Ruhe«, »Es gibt hier nichts zu sehen«, »Wir haben alles im Griff«. Meistens kommen diese Sätze, wenn keines der drei Dinge stimmt.

Aber damals, als Cockpittüren noch offen standen, ließ man die Frau ihre Gefühle ausleben und machte ihr klar, dass man nicht einfach so umkehren könne. Fast die Hälfte des 3-Stunden-20-Fluges von Hamburg nach Kreta war vergangen. Der Ausbruch der Mutter ging in ein Schluchzen über, entleerte sich in purer Verzweiflung und Beschimpfungen gegenüber ihrem Mann. Der aber immerhin noch in der Lage war, dem Piloten eine Telefonnummer der Oma des Babys zu geben, mit der Bitte, diese zu kontaktieren, um das kleine Menschenkind abzuholen.

Glücklicherweise wurde die Oma sofort erreicht und holte das Baby bei mir ab, die Milchflasche in ihrer Hand zeigte, dass sie nicht zum ersten Mal die Babysitterin des Kleinen war. Sie konnte es sehr schnell und sehr liebevoll beruhigen. So einfach war das also. Oma müsste man sein.

Und sie hatte bereits mit ihrer Tochter auf Kreta sprechen können, direkt nach der Landung. Und da war wieder so ein Moment, bei dem ich ins Spiel kam. Während sich Bundespolizisten und die Oma weinend in den Armen lagen, tat ich das, was ich am besten konnte: Ich buchte einen Flug für eine Mutter von zwei Kindern von Kreta nach Hamburg. Gleich am kommenden Morgen. Und dann noch einmal zurück nach Kreta. Mutter und Säugling. Darf ich sagen, dass ich mich, als alles geklärt war, so ein wenig als Gewinnerin des Tages fühlte? Eine teilweise etwas hysterische. Aber Gewinner ist Gewinner.

Am nächsten Mittag sah ich, wie die Frau erneut eincheckte. Wie sie das fünfte Ticket für eine Reise für vier Personen über den Schalter reichte. Fest an sich gedrückt den Maxi-Cosi, mit einem Baby darin, das ich in den wenigen Stunden auch von seiner wütenden Seite kennengelernt hatte. Ich finde, das Baby hatte ein Anrecht auf Wut. Und die Familie ein Anrecht auf eine schöne Kreta-Reise.