Sie war meine Mutter - Marita Störmer - E-Book

Sie war meine Mutter E-Book

Marita Störmer

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Beschreibung

Bad Blankenburg, Thüringer Wald, 1946. Der Krieg ist vorbei, doch von Frieden keine Spur. Nach dem Abzug der Amerikaner besetzen sowjetische Truppen die kleine Stadt - und mit ihnen kehrt die Angst zurück. An einem eisigen Januartag geschieht das Unfassbare: Die elfjährige Margot erfährt, dass ihre Mutter, Elfriede Heyden, grausam erschlagen wurde. Der Mord erschüttert die ganze Stadt. Schweigen, Misstrauen und Furcht breiten sich aus. Margot will die Wahrheit wissen. Warum musste ihre Mutter sterben? Auf ihrer Suche gerät sie mitten in den Strudel der Ermittlungen - zwischen Verdächtigen, die alles zu verbergen haben, und einer Gesellschaft, die noch von den Schrecken des Krieges gezeichnet ist. Ein packender Kriminalroman nach einer wahren Begebenheit - voller Geheimnisse, Schuld und der verzweifelten Frage eines Kindes nach Gerechtigkeit. Aber auch einer starken Liebe, großes Gottvertrauen und ein Versprechen, das über Kontinente und Zeiten hinweg seine Gültigkeit behält.

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Seitenzahl: 136

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 Sie war meine Mutter

2 Weihnachten 1944

3 Das Ende naht

4 Der Angriff

5 Der Abschied

6 Ein neuer Schatten

7 Schnee und Schweigen

8 Schatten der Besatzung

9 Keine Tränen

10 Das Gesicht der Schuld

11 Paula spürte es zuerst

12 Die Stadt in Unruhe

13 Sie wurden getötet

14 Sie sah ihre Blicke

15 Die Stille

16 Mutters Sorgen

17 Die Wendung

18 Ende Februar 1946

19 Sie verbergen etwas

20 Sie werden beobachtet

21 Befreit durch Glauben

22 Wer war es?

23 Ein Fund im Licht des Nachmittags

24 Spuren im Staub

25 Ein Schatten im Dunkeln

26 Die Ermittlungen

27 Kein Erfolg

28 Der Morgen danach

29 Der letzte Tag mit der Mutter

30 Die Konfrontation

31 Wendepunkt

32 Margot ist nicht allein

33 Die Ermittler

34 Margot

35 Verlorene Schatten

36 Die Angst

37 Ernst, der Kommissar

38 Margot hat Mut

39 Der Brief

40 Die Wahl

41 Wieder aufgerichtet

42 Die Wirklichkeit 1947

43 Verhör – Wahrheit 1947

44 September 1947

45 Entscheidung

46 Verhaftung

47 Der Brief

48 Ein neues Jahr

49 Sommer 1948

50 Eine unbeschwerte Woche

51 Weihnachtspost

52 Briefwechsel

53 Verabschiedung

Epilog

Anmerkungen

Nimm dich in acht, du Zerstörer! Du verwüstest ganze Länder, doch dein eigenes Land ist bisher verschont geblieben. Du betrügst, doch dich selbst konnte noch niemand in die Irre führen. Nun ist die Reihe an dir: Wenn du alle Länder verwüstet hast, dann wird auch dein Land zerstört. Hast du endlich alle hinters Licht geführt, wirst du selbst überlistet.

(Jesaja 33,1)

PROLOG

Bad Blankenburg – ein hübsches, kleines Städtchen in Thüringen, das Tor zum Schwarzatal. Eingebettet in ein stilles Tal, umrahmt von dichten Tannen- und Mischwäldern, wirkt es wie ein vergessenes Idyll. Aus der Erde sprudelt eine heiße Quelle, die seit jeher Heilung verspricht und zur Kneippkur einlädt.

Hoch über den Dächern thront die Burgruine Greifenstein, ehrfürchtig und wachsam, als wolle sie das Tal beschützen. Zahlreiche Wanderwege schlängeln sich links und rechts aus dem Ort in die Wälder – und locken jene, die Stille suchen.

Sanatorien wie das »Schwarzeck«, das »Sanatorium am Goldberg« oder die Villa Emilia boten einst Kuranwendungen für Erholungssuchende an. Auch die Heime Magnus Poser und Albert Hähnel, zuvor Weidmanns Heil, sowie Hotels wie das »Weinhaus Eberitsch«, das »Schwarzatal« oder »Schellhorn« waren beliebte Adressen. Doch der Krieg hat dem Zauber Risse zugefügt. Die Kurgäste bleiben aus. Stattdessen kommen Fremde – Menschen mit schweren Koffern, stummen Gesichtern und Blicken, die irgendwo anders hängen. Geflüchtete aus dem Osten, sagen die Erwachsenen. Die Häuser füllen sich, die Straßen werden enger.

Margot spürt, dass sich etwas verändert hat.

Die Luft fühlt sich anders an – schwerer, manchmal kalt, selbst wenn die Sonne scheint.

Abends, wenn der Wind durch die Baumwipfel streicht, klingt er wie ein Flüstern, das sie nicht versteht.

Manchmal bleibt ihr Blick an der Burg oben am Berg hängen – als würde sie etwas beobachten, das noch nicht da ist.

Etwas Dunkles.

Etwas, das näher kommt.

1

Sie war meine Mutter

»Maria, treffen wir uns morgen nach der Schule unten am alten Friedhof? Du weißt doch – ein paar alte Männer und ein paar Jungs aus unserer Klasse heben dort Gräben aus«, rief Margot ihrer besten Freundin zu, bevor sie zum Wohnhaus hinaufstieg.

Maria, die noch unten auf dem Gehsteig stand, schaute aufgeregt zu ihr hoch.

»Oh ja! Ich hab gehört, dass Kinder Totenköpfe auf Stöcke gesteckt und sie durch die Gassen getragen haben. Das wird lustig!«

»Ja, ich habe gehört, Günther und Wilhelm aus unserer Nachbarschaft wollen auch hingehen.«

Margot lächelte. Ihr dunkles, kurz geschnittenes Haar wehte im Wind, ihre tiefblauen Augen funkelten. In solchen Momenten vergaß sie die düstere Zeit – für einen Augenblick war sie einfach nur ein lebhaftes, neugieriges Kind.

Maria winkte noch, dann lief sie weiter.

Margot lief durch den Vorgarten zum Wohnhaus und öffnete die Haustür. Ihre Tante Paula wartete bereits auf sie – wie jeden Tag. Doch heute war etwas anders.

Paula, eine gedrungene Frau in den Vierzigern, nahm sie schweigend bei der Hand. Ihre Augen verrieten eine Schwere, die Margot sofort spürte, auch wenn sie sie noch nicht verstand.

»Komm, setz dich«, sagte sie leise.

Die Küche roch nach Suppe, der schwere Eisenherd strahlte wohlige Wärme aus. Im dunklen Topf brodelte es leise, der Duft von Linsen und Lorbeer erfüllte den Raum.

Margot spürte plötzlich, wie leer ihr Magen war – doch gleichzeitig zog sich etwas in ihrer Brust zusammen.

Tante ist so still … Was ist nur passiert?

»Wo ist Mama?«, fragte sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Da – ein leises Schluchzen aus dem Schlafzimmer.

Margot sprang auf, doch Paula hielt sie sanft zurück.

»Setz dich, Kind. Ich muss dir etwas sagen.«

Ihre Stimme war weich, doch schwer wie Blei.

»Deine Mutter hat einen Brief bekommen. Dein lieber Papa Rudi«, sie stockte, »er ist in Russland gefallen. Er wird nicht mehr heimkommen.«

Die Welt hielt den Atem an.

Margot starrte sprachlos auf ihre Tante. In Paulas Augen spiegelte sich Trauer, tiefer, als Worte je ausdrücken konnten. Ihre Hände schlossen sich schützend um Margots.

Papa? Tot? Aber … ich habe ihn doch kaum gekannt. Und jetzt … werde ich ihn nie mehr sehen?

Tante Paulas Mann war der Bruder von Margots Vater. Da ihr eigener Mann noch an der Front war und sie selbst keine Kinder hatte, hatte sie Margot und ihre Mutter bei sich aufgenommen. In diesen schweren Zeiten war jede Gemeinschaft ein Anker.

Elfriede und Rudolf Heyden hatten im Jahr 1937 geheiratet.

Paula konnte sich noch sehr gut an die Hochzeit der beiden erinnern. Es war ein schönes Paar. Aber Rudi musste unbedingt der SS beitreten. Sie, Paula und ihr geliebter Ehemann, Rudis Bruder, konnten diesen Schnitt nicht verstehen.

Margot dachte an das Foto auf dem Büfett – ein Mann in Uniform, ernst, fremd. Ihr Vater, ein Rottenführer bei dem SS-Infanterie-Regiment.

Sie spürte die Tränen nicht – nur eine Leere.

»Ich … ich kann nicht weinen wie Mama«, sagte sie leise. »Ich erinnere mich kaum an ihn. Ist das schlimm? Macht es Mama noch trauriger?«

»Ach, mein Kind«, flüsterte Paula und strich ihr sanft durchs Haar. »Jeder trauert anders. Du bist nicht falsch, weil du nicht weinst.«

»Darf ich zu ihr?«

»Geh nur.«

Margot erhob sich. Doch in dem Moment durchzuckte ein tiefes Grollen die Luft – wie der Zorn eines fernen Gottes. Fenster bebten, das Geschirr klirrte leise.

Erschrocken fuhr sie herum. Gemeinsam rannten sie zum Fenster.

Am Himmel zogen dunkle Schatten – Flugzeuge, viele. Amerikanische Bomberverbände überflogen das kleine Städtchen Bad Blankenburg, ihre Motoren ein dröhnender Vorbote des Unheils.

Die Angst war plötzlich mit Händen zu greifen.

»Tante … was, wenn sie uns bombardieren? Die Lehrer in der Schule haben gesagt, dass Schutzräume eingerichtet werden müssen. Dass wir jederzeit angegriffen werden könnten.«

»Ich weiß es nicht, mein Kind.«

Paulas Stimme zitterte kaum merklich. »Aber unser Keller ist stabil. Da sind wir sicher. Hab keine Angst.«

Sie zog das Kind fest an sich, küsste sein Haar.

»Geh jetzt zu deiner Mutter. Sie braucht dich.«

Im Schlafzimmer lag eine Stille, die drückte.

Margots Mutter saß auf dem Bett, die Augen verweint, das Gesicht fahl. Als sie ihre Tochter sah, öffnete sie die Arme, und Margot fiel hinein.

Sie spürte das Zittern ihres Körpers, hörte ihr leises, brennendes Schluchzen.

»Meine kleine Margot … jetzt sind wir nur noch zu zweit. Dein lieber Papa kommt nicht mehr. Wir haben ihn verloren – für immer.«

»Aber Mama«, flüsterte Margot, »wir haben doch noch Tante Paula. Und … unseren himmlischen Vater. Der ist doch immer bei uns, oder nicht?«

Die Mutter hob den Blick. Ihre Augen waren rot, leer, müde.

»Ein Vater im Himmel? Wenn es ihn gäbe, würde dein Papa nach Hause kommen. Dann gäbe es keinen Krieg. Kein Sterben. Kein Elend.«

Ihre Stimme war bitter, wie verbranntes Brot.

»Aber ich weiß, dass es ihn gibt«, sagte Margot trotzig. »Er hat uns bis jetzt immer beschützt.«

Die Mutter schwieg. Und in diesem Schweigen lag ein ganzer Krieg.

Das Jahr 1943 neigte sich dem Ende zu. Noch war Bad Blankenburg verschont geblieben – doch die Ruhe war trügerisch.

Mit dem neuen Jahr kam eine Angst, die sich nicht mehr abschütteln ließ.

Sie kroch durch die Ritzen der Häuser, schlich sich in die Gespräche an den Wasserpumpen, lastete auf den Schulhöfen, auf den Gesichtern der Mütter.

Ein ganzes Land hielt den Atem an – im Wissen, dass das Schlimmste noch bevorstand.

2

Weihnachten 1944

Wieder war ein Jahr vergangen. Weihnachten stand vor der Tür.

Margot war aufgeregt. Es war Heiligabend, und sie hatte ihr bestes Strickkleid angezogen. Ein rosafarbenes Band hielt ihr gewachsenes, langes glänzendes Haar zusammen.

»Mutter, gehen wir in die Kirche?«

»Nein.«

»Aber bitte, Mutter! Meine Mitschüler führen das Krippenspiel auf – und Maria, meine beste Freundin, spielt die Mutter von Jesus!«

Da erschien plötzlich Tante Paula in der Tür.

»Sie kann mit mir gehen. Du musst dir keine Sorgen machen.«

Margots Mutter nickte nur. »Dann geht.«

»Aber Elfriede, willst du wirklich nicht mitkommen?«, fragte Paula sanft.

»Nein. Dieser Gott hat mir meinen Mann genommen.«

Paula seufzte. »Elfriede, du versündigst dich. Nicht Gott hat ihn dir genommen, sondern Hitler mit seiner Machtgier.« Sie wandte sich an Margot. »Komm, Kind, zieh deinen neuen Mantel an, den ich dir genäht habe. Wir gehen gemeinsam.«

Margot strahlte ihre Tante mit ihren großen, dunkelblauen Augen an. »Danke, liebe Tante Paula!«

Die Kirche war voller Menschen – mehr als je zuvor. Während der Pfarrer predigte, beugte sich Paula zu Margot und flüsterte: »Hörst du? Er sagt, wir sollen Gott vertrauen, dann werden wir siegen.« Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich verstehe ihn nicht.«

Margot blickte zu ihr auf und lächelte leise. »Vielleicht meint er, dass Jesus der Sieger sein wird.«

Paula presste die Lippen zusammen. »Oder er hat einfach Angst, das Falsche zu sagen. Komm, wir gehen nach Hause.«

Draußen peitschte der Wind eisig durch die dunklen Straßen. Niemand sprach. Lautlos liefen sie durch die Kälte zurück.

In der warmen Küche stand Margots Mutter am Herd. Ein wohliger Duft stieg aus einem kleinen Topf empor – Zimt, Nelke und eine Ahnung von Geborgenheit erfüllten die kleine Wohnung. Doch der Festtagsschmaus war bescheiden. Kein Braten mit Klößen und Rotkraut, kein Stollen mit Rosinen, keine Pfefferkuchen mit Nüssen. Nur ein einfacher Kartoffelsalat mit etwas Speck und drei kleine Würstchen. Der Stollen war trocken, die Plätzchen spärlich. Aber es reichte. Mehr, als viele andere hatten.

Die Stadt litt. Lebensmittel wurden immer knapper. Der Bäcker an der Ecke bot kaum noch frische Semmeln an. Morgens standen die Menschen in langen Schlangen vor den Läden, hoffend, noch etwas zu ergattern.

Nach dem Essen durfte Margot in die weihnachtlich geschmückte Stube. Sie wollte loslaufen, doch Tante Paula hielt sie sanft zurück. »Nicht so eilig, mein Kind. Erst singen wir gemeinsam Stille Nacht, heilige Nacht. Dann gehen wir hinein.«

Als sich die Tür öffnete, erstrahlte der kleine Christbaum im flackernden Kerzenschein. Rote und goldene Kugeln glitzerten zwischen den Zweigen. Auf dem Tisch lagen Geschenke.

Margots Mutter trat zu Paula, umarmte sie und reichte ihr ein Paar nagelneuer Hausschuhe.

»Wo hast du die her?«, fragte Paula überrascht.

»Das verrate ich nicht«, antwortete Elfriede und lachte – zum ersten Mal seit Langem.

Paula lächelte. »Endlich lachst du wieder. Das macht mich froh.«

Für Margot gab es eine Puppe mit einem neuen Kleid und ein Märchenbuch. Für ihre Mutter eine Perlenkette, die einst Paulas Mutter gehört hatte, und eine neue Schürze.

Der Abend war still, warm, friedlich. Und doch – über allem lag der Schatten des Krieges.

3

Das Ende naht

Ein neues Jahr begann.

Die Amerikaner rückten unaufhaltsam näher. Ihre Flugzeuge beherrschten den Himmel. Die Menschen wussten: Der Krieg neigte sich dem Ende zu.

Am Bahnhof kamen täglich Züge voller Flüchtlinge aus dem Osten an. Familien wurden auseinandergerissen. Im Rathaus wurden die Ankommenden registriert, in der Stadthalle auf Strohsäcken untergebracht oder sie mussten in den Gängen des Rathauses auf Stühlen schlafen.

»Das sind so viele Leute«, sagte Margot nachdenklich zu Maria. »Werden sie hierbleiben?«

Maria zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Oder sie ziehen weiter.«

»Ob die Kinder mit uns in die Schule gehen werden?«

Sie schauten sich an, fragend, wortlos.

Doch der Krieg war noch nicht vorbei. Die NSDAP-Funktionäre riefen weiterhin zum Widerstand auf. Sie sprachen von einer Wunderwaffe, von einem letzten Sieg. Auf dem Marktplatz versammelten sich die Menschen. Viele schüttelten nur den Kopf.

Dann kam der Befehl: Die Stadt sollte verteidigt werden.

»Der Volkssturm wurde einberufen«, berichtete Margots Mutter. »Aber kaum jemand folgt dem Ruf. Alle wissen, dass es sinnlos ist. Und es gibt nicht einmal Waffen.«

Tante Paula schwieg.

Am nächsten Tag stürzte eine Nachbarin mit verweintem Gesicht auf Paula zu.

»Sie haben meinen Max mitgenommen! Er ist doch erst sechzehn! Sie schicken Kinder in den Kampf!«

Paula legte ihr die Hand auf die Schulter – eine stumme Geste, denn es gab nichts, was man hätte sagen können.

4

Der Angriff

Es war Ostern geworden, ein stilles, dunkles Osterfest. Am zweiten Feiertag, dem 2. April, kam Margots Mutter spät nach Hause. Ihre Schultern hingen tief, und als sie sprach, zitterte ihre Stimme. Man erzählte sich, der Volkssturm sei nach Saalfeld abgezogen.

Margot hob den Kopf. »Ist der Krieg jetzt vorbei?«

Doch die Mutter schüttelte nur den Kopf, fast wie im Schlaf. »Noch nicht, mein Kind.«

Und der Krieg kam näher.

Eine Woche später, am 9. April, heulten die Sirenen wie verwundete Tiere durch die Stadt.

»Schnell, Kind!«, rief Tante Paula mit rauer Stimme.

Margot griff nach der Tasche, ihre Beine gehorchten wie im Reflex. Zusammen rannten sie in den Keller, wo bereits Nachbarn hockten – blass, reglos, als warteten sie auf ein Urteil.

»Ob Mama es rechtzeitig geschafft hat?«, flüsterte Margot.

»Ja«, antwortete Tante Paula. Ihre Stimme war leise, aber fest. »Sie ist in einem Schutzraum.«

Dann kamen die Flugzeuge, das wütende Dröhnen über ihren Köpfen. Sekunden später bebte die Erde. Der Lärm der Explosionen rollte durch das Mauerwerk, als würde der Himmel selbst bersten.

Stunden vergingen. Als die Tür sich endlich wieder öffnete, stand Margots Mutter in der Dämmerung, staubbedeckt, erschöpft. Margot warf sich an sie, klammerte sich an ihren Rock, als wolle sie sich darin verbergen.

»Die Bomben fielen im Westen«, sagte die Mutter tonlos. »Es gibt Tote.«

Am Morgen danach flüsterten die Menschen auf den Straßen. Ihre Stimmen klangen hohl, wie in einer entweihten Kirche. Zwei Häuser in der Friedrich-Ebert-Straße seien zerstört. Drei Tote. Zwei Kinder aus einem Keller gezogen, lebend. Die Gärtnerei Peckmann – nur noch Schutt. Ein Großvater, sein Enkelkind – beide nicht mehr.

Ein junger Mann berichtete, wie er eine Frau mit ihrem Kind gesehen hatte – im ersten Stock, unverletzt. Um sie herum war nichts geblieben. Ein nacktes Gerüst, ein Wunder inmitten der Verwüstung.

Margots Mutter hielt die kleine Hand ihrer Tochter fester. Und als Margot fragte, ob noch mehr Menschen sterben würden, antwortete sie nicht gleich. Erst nach einem langen Moment fuhr ihre Hand Margot über das Haar.

»Hab keine Angst«, sagte sie.

Am Morgen des 10. April klebten in den Schaufenstern Zettel. Nur ein Satz stand darauf:

Nun gerade bis zuletzt ...

Am 11. April erreichten die Amerikaner Saalfeld.

Am nächsten Tag bebte die Stadt um neun Uhr morgens unter einer gewaltigen Explosion.

Tante Paula warf das Fenster auf. »Das kam vom Bahnhof!«

Der Krieg war nun nicht mehr bloß zu hören – er war da, greifbar, mit kaltem Atem.

»Sie haben die Eisenbahnbrücke gesprengt!«, rief der Nachbar vom Haus gegenüber. Die Nachricht lief durch die Straße wie Feuer durch trockenes Gras.

Menschen drängten zu den Fenstern, auf die Straße. Ein aufgeregtes Murmeln erhob sich, durchsetzt von Angst.

»Hoffentlich nicht auch noch die Stadtbrücke …«

Doch bald kam die Bestätigung: Alle Brücken im Schwarzatal bis hin zum Schweizerhaus – zerstört.

Am Nachmittag eine zweite Detonation, noch lauter, noch näher.

Wieder rannten sie ans Fenster. Eine Staubwolke stieg in den Himmel, grau und schwer.

Elfriede starrte hinaus, ihr Gesicht aschfahl. »Jetzt auch die Schwarzabrücke …«

Margot zögerte. »War’n das die Amerikaner?«

Doch Elfriede schüttelte nur den Kopf. »Unsere eigenen. Sie glauben, sie könnten die Amerikaner noch aufhalten.«

»Die Soldaten aus der Luftwaffenschule?«

Elfriede nickte langsam. »Sie sind verzweifelt.«

Dann fiel der Strom aus, und mit ihm wich auch das letzte Gefühl von Normalität.

Am nächsten Tag hörten sie, dass viele Häuser beschädigt worden waren. Die Stadthalle, in der Flüchtlinge Schutz gesucht hatten, war besonders schwer getroffen worden.