Sieben Tage - Andreas Latzko - E-Book + Hörbuch

Sieben Tage E-Book und Hörbuch

Andreas Latzko

2,1

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Beschreibung

Ein wiederentdeckter Krimi aus dem Deutschland der Zwischenkriegszeit. Wichtiger noch (fast) als die Handlung ist die Schilderung der politischen und gesellschaftlichen Zustände eines Landes in Auflösung. Weihnachten – Arm trifft auf Reich; der Arbeiter Karl Abt auf den reichen Unternehmer Baron Mangien. Abt weiß um den Ehebruch des Barons, er will diesen erpressen: Nur einmal für drei Tage will Abt den Luxus genießen, der sonst Mangien vorbehalten ist; einmal will er es sich gut gehen lassen, einmal den beschwerlichen Alltag abschütteln. Doch am Ende kommt alles anders. Denn Abt will nicht nur einen kurzen Rollentausch. Die "Goldenen Zwanziger" sind in Latzkos Geschichte nur ein Märchen, denn schon früh sah der Autor den Nationalsozialismus am Horizont aufziehen ("Es lastet ein Fluch auf Deutschland, dass immer wieder ein neuer Mann es ,glänzenden Zeiten entgegenführt'"). Das Buch steht damit in bester Tradition von Falladas "Kleiner Mann, was nun?" und Kästners "Fabian". Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 316

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Zeit:8 Std. 9 min

Sprecher:Org Dubonton

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Andreas Latzko

Sieben Tage

Roman

Andreas Latzko

Sieben Tage

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962815-43-1

null-papier.de/635

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Buch – Das Geld

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

Zwei­tes Buch – Die Hand

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

Drit­tes Buch – Der Kopf

I.

II.

III.

IV.

V.

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Erstes Buch

Das Geld

I.

Die ers­ten Schat­ten des Weih­nachts­abends fie­len in das ver­rauch­te Grau der Bahn­hofs­hal­le, als der längst fäl­li­ge Ham­bur­ger Schnell­zug end­lich in Ber­lin ein­fuhr. Er schüt­te­te eine un­ge­wöhn­lich dich­te Mas­se von Rei­sen­den auf den Bahn­steig, Kauf­leu­te, die in letz­ter Stun­de vor dem Fest ih­ren Fa­mi­li­en zu­streb­ten, und ei­ni­ge hun­dert Ur­lau­ber der Ma­ri­ne, die zum An­hal­ter Bahn­hof hin­über muss­ten und, in Sor­ge um den ge­fähr­de­ten An­schluss, rück­sichts­los durch das Ge­drän­ge ru­der­ten. Baron Man­gi­en ließ die Men­ge an sich vor­bei­has­ten, be­lus­tigt von dem über­mü­ti­gen Trei­ben der Ma­tro­sen, das so an­ge­nehm von der ir­ri­tie­ren­den Bie­der­keit der zahl­rei­chen Fa­mi­li­en­vä­ter ab­stach. Er ver­trug den selbst­ver­lie­he­nen Glo­ri­en­schein, das Sich­wich­tig­neh­men die­ser Brot­ver­die­ner nicht.

Im Grun­de aber wuss­te er sehr wohl, warum ihm die­se ar­men Teu­fel so arg auf die Ner­ven gin­gen. Sie er­in­ner­ten ihn an die Sze­ne bei sei­ner Abrei­se, an den ein­zi­gen vor­wurfs­vol­len Satz, den sich sei­ne Frau, ganz ge­gen ihre Ge­wohn­heit, dies­mal hat­te ent­rei­ßen las­sen. Na­tür­lich war sie im Recht. Ohne Zwei­fel ver­brach­te je­der Durch­schnitts­mann den Hei­li­gen Abend im Krei­se sei­ner Fa­mi­lie. Aber wie tö­richt war es, hieraus die Fol­ge­rung ab­zu­lei­ten, der Ge­ne­ral­di­rek­tor und Haupt­ak­tio­när der Man­gi­en-Wer­ke müss­te sich erst recht frei­ma­chen kön­nen. Lag es nicht im Ge­gen­teil auf der Hand, dass die er­höh­te Verant­wort­lich­keit Be­schrän­kun­gen not­wen­dig mach­te? Man konn­te nicht ei­ner Fa­brik vor­ste­hen, die vier­tau­send Ar­bei­ter be­schäf­tig­te, und das Fa­mi­li­en­glück ei­nes Wirk­wa­ren­rei­sen­den be­an­spru­chen!

Der pein­li­che Au­gen­blick des Ab­schied­neh­mens, da er wie ein ver­lo­ge­ner Schul­jun­ge vor sei­ner Frau ge­stan­den, hat­te einen bit­te­ren Nach­ge­schmack zu­rück­ge­las­sen. Um ihn los­zu­wer­den, re­de­te der Baron sich ein, er sei nur aus Trotz ab­ge­reist. Ein ein­zi­ges, zärt­li­ches Wort hät­te ge­nügt, ihn zum Blei­ben zu be­we­gen. Er er­tapp­te sich bei die­sem Selbst­be­trug, als er auf den glit­schi­gen, ne­bel­feuch­ten Platz vor dem Bahn­hof hin­austrat und die Ber­li­ner Licht­re­kla­men in die Däm­me­rung rie­seln sah. Beim ers­ten Schritt in das Häu­ser­meer fie­len alle Be­den­ken und Ver­stim­mun­gen von ihm ab. Er dach­te an das lei­den­schaft­li­che Drän­gen sei­ner Ge­lieb­ten am Te­le­fon – warum hät­te er die Fle­hen­de, die sich mit Wor­ten schon die Klei­der vom Lei­be riss, ab­wei­sen sol­len sei­ner Frau zu­lie­be, die es un­ter ih­rer Wür­de fand, den Kampf auf­zu­neh­men um ih­ren Mann. Nach bald zwölf­jäh­ri­ger Ehe tat es zwölf­fach wohl, noch im­mer um­wor­ben und be­gehrt zu wer­den.

Eben woll­te er un­ge­dul­dig die Num­mer sei­nes Ge­päck­trä­gers ru­fen, da sah er ihn auch schon her­an­hum­peln, schwer be­la­den, schäu­mend ge­gen die »Blau­en Jun­gens«, die kei­nen Men­schen an ein Auto her­an­lie­ßen. In der Tat jag­te eben das letz­te Taxi, joh­len­de Ma­tro­sen auf dem Tritt­brett und selbst auf dem Ge­päcks­git­ter hin­ten, mit Voll­gas da­von, und der Baron muss­te froh sein, dass er ge­ra­de noch eine elen­de Pfer­de­drosch­ke für sich re­qui­rie­ren konn­te.

Als der vor­sint­flut­li­che Kar­ren klap­pernd los­fuhr, ver­gaß Man­gi­en Zorn und Un­ge­duld und be­dau­er­te nur, dass kein Zei­tungs­fo­to­graf bei der Hand war, den Ber­li­ner Ein­zug des größ­ten Au­to­mo­bil­fa­bri­kan­ten Deutsch­lands in ei­ner Pfer­de­drosch­ke zu ver­ewi­gen. Aber die­se hu­mo­ris­ti­sche Sei­te hör­te bald auf, ihn zu un­ter­hal­ten, da kein vor­beif­lit­zen­der Chauf­feur auf sein Win­ken und Ru­fen ach­te­te und das Abströ­men der Men­ge aus dem Stadt­zen­trum die Schne­cken­fahrt an je­der Stra­ßen­kreu­zung stopp­te. Wie ein un­er­schöpf­li­ches Re­ser­voir ent­leer­te sich das Ge­schäfts­vier­tel, beu­te­be­packt stürm­ten die Hor­den der Plün­de­rer aus der lo­dern­den Stadt.

Im of­fe­nen Wa­gen, den ru­ßi­gen, feucht­we­hen­den Ne­bel auf den Lip­pen, um­tobt und über­holt von al­len Sei­ten, ver­lor der Baron den letz­ten Rest sei­ner Ge­duld, als in dem He­xen­kes­sel vor dem Bran­den­bur­ger Tor sein Wa­gen wie ein ängst­li­cher Fuß­gän­ger ste­cken­blieb und der alte Kut­scher zwei­mal die Ge­le­gen­heit zum über­que­ren ver­säum­te.

Mehr noch als der Zeit­ver­lust är­ger­te ihn je­doch sei­ne ei­ge­ne Ge­reizt­heit. Er muss­te an sich hal­ten, um nicht aus dem Wa­gen zu sprin­gen, so laut don­ner­te ihm aus dem be­täu­ben­den Lärm der zehn­tau­send­fach wi­der­hal­len­de Vor­wurf sei­ner Frau in die Ohren. Je­der ein­zel­ne Men­schen­trop­fen in dem vor­bei­ja­gen­den Strom hat­te das glei­che Ziel, je­der eil­te heim, nur er saß ab­seits in der alt­mo­di­schen Drosch­ke, her­aus­ge­ho­ben, an­ge­pran­gert so­zu­sa­gen als der eine, der von Frau und Kin­dern fort zu der Ge­lieb­ten fuhr.

Sein Zorn mach­te sich in lau­tem Un­mut Luft und wäre viel­leicht in Tät­lich­kei­ten ge­gen den Kut­scher aus­ge­ar­tet, ohne den wei­ßen Hand­schuh des Ver­kehrs­schutz­man­nes, der eben zum drit­ten Mal die Durch­fahrt frei­gab. Ob nun der alte Mann auf dem Bock sei­ne be­lei­dig­te Be­rufs­eh­re her­stel­len oder nur sei­ne Wut an dem wehr­lo­sen Tier aus­las­sen woll­te: das arme Pferd, un­sanft aus sei­nem knie­wei­chen Dö­sen ge­ris­sen, glitsch­te aus und stürz­te auf die Deich­sel, die zer­brach.

Nach der Bum­me­lei auf der Bahn auch noch ein Un­fall! Das konn­te al­les ver­der­ben, wenn den Her­ren im Ho­tel das War­ten zu lan­ge wur­de! Die an­geb­lich wich­ti­ge Kon­fe­renz hat­te den Vor­wand für die Rei­se ge­bo­ten, das Ali­bi durf­te nicht ver­säumt wer­den. Statt erst lan­ge nach ei­nem Fahr­zeug zu fahn­den, er­such­te der Baron einen ärm­lich ge­klei­de­ten Mann, ihm das Ge­päck zum na­hen Ho­tel zu tra­gen.

Aber der Mann ge­bär­de­te sich wie ein Toll­häus­ler, sprang vor, um dem Baron aus nächs­ter Nähe un­ter den Hut zu schau­en, stieß mit dem Fuß nach den Hand­ta­schen und schrie: »Ih­nen – Ih­nen soll ich hel­fen? Tra­gen Sie sich Ihren Dreck da sel­ber!«

Man­gi­en konn­te sich nicht er­in­nern, dem Men­schen je­mals be­geg­net zu sein. An­de­re Hän­de grif­fen dienst­eif­rig zu und das Ge­sicht des Wü­te­richs tauch­te un­ter, ehe der Baron es ge­nau­er hät­te prü­fen kön­nen.

Ohne die Ver­spä­tung, die ihn zur Eile an­trieb, wäre es ihm wohl kaum ent­gan­gen, dass sein un­be­kann­ter Feind ge­gen­über dem Ho­te­lein­gang hin­ter ei­ner Lit­fass­säu­le her­vor­späh­te, ver­ächt­lich schmun­zelnd über die Ehr­furchts­be­zeu­gun­gen des her­aus­stür­zen­den Per­so­nals. Wie eine Kop­pel los­ge­las­se­ner Hun­de spran­gen die li­vrier­ten Bur­schen an dem rei­chen Gast hoch, wett­ei­fernd um die Gunst, sei­ne Ak­ten­ta­sche tra­gen zu dür­fen. Gold­be­treß­te Müt­zen flo­gen von den Köp­fen, tie­fe Bück­lin­ge be­glei­te­ten den großen Mann in die taghell strah­len­de Hal­le. Erst als der Tür­ste­her wie­der al­lein war, wag­te sich der Frem­de aus sei­nem Ver­steck her­vor, ging zö­gernd nä­her und ließ es sich be­stä­ti­gen, dass der eben an­ge­kom­me­ne Gast der rei­che Baron Man­gi­en aus Ham­burg ge­we­sen.

»Hast viel­leicht wat aus­je­fres­sen in sei­ner Fa­brik?« – er­kun­dig­te sich der Tür­ste­her, neu­gie­rig we­gen der fins­te­ren Bli­cke und des ge­häs­si­gen Tons, aber der son­der­ba­re Kauz gab über­haupt kei­ne Ant­wort, ras­te da­von und blieb erst ste­hen, als die ge­stau­te Men­ge an der nächs­ten Stra­ßen­e­cke ihn auf­hielt. Es fehl­te we­nig, und er wäre noch ein­mal um­ge­kehrt, sein Blick blieb haf­ten an dem ho­hen Dach des Ho­tels. In Ge­dan­ken ver­sun­ken, starr­te er es un­ver­wandt an, als könn­te er durch Mau­ern und Wän­de jede Be­we­gung des ver­hass­ten Geg­ners be­ob­ach­ten.

Karl Abt – so hieß der arm­se­lig ge­klei­de­te Mann mit den star­ken, ver­brauch­ten Pro­le­ta­ri­er­hän­den – war ein flei­ßi­ger Be­su­cher der Licht­spiel­thea­ter, ließ sich aber sein Geld nur aus der Ta­sche lo­cken, wenn die aus­ge­stell­ten Bil­der ele­gan­te Da­men und be­tö­rend gut ge­klei­de­te Le­be­män­ner in den ver­schie­de­nen Auf­ma­chun­gen ih­res be­weg­ten Nichts­tu­er­da­seins zeig­ten. Wie es ar­men Leu­ten ging, brauch­te er sich nicht auf der Lein­wand vor­füh­ren zu las­sen. Von Schmutz und Not, Vor­stadt­knei­pen und Zins­ka­ser­nen wuss­te er oh­ne­hin mehr, als ihm lieb war.

Als Fol­ge die­ses gründ­li­chen Stu­di­ums hat­ten sich in dem Ge­hirn des Fa­brik­me­cha­ni­kers Karl Abt un­ver­rück­bar fes­te Vor­stel­lun­gen von der Le­bens­füh­rung des rei­chen Man­nes ein­ge­nis­tet. Der An­blick ei­ner ele­gant ge­klei­de­ten Wachs­fi­gur, ein sei­de­ner Schlaf­an­zug im Schau­fens­ter ge­nüg­te, um den aus hun­dert Fil­men ge­schnit­te­nen und zu­sam­men­ge­kleb­ten Bild­strei­fen, der als Il­lus­tra­ti­on des Be­grif­fes »Wohl­le­ben« in ihm be­reit lag, au­gen­blick­lich vor sei­nem in­ne­ren Blick ab­rol­len zu las­sen.

So blitz­te jetzt, von den hell­gel­ben Rei­se­ta­schen Man­giens an­ge­kur­belt, der Film »Abrei­se des vor­neh­men Man­nes« an den ge­häs­sig fun­keln­den Au­gen vor­bei. Ein glat­tra­sier­ter Kam­mer­die­ner leg­te meh­re­re An­zü­ge mit sei­de­nem Fut­ter sorg­sam in den Kof­fer. Dann über­nahm der Chauf­feur die Ta­schen aus knir­schen­dem Schweins­le­der … Hier je­doch riss der Film jäh ab, ver­drängt von der über­ra­schen­den Fra­ge, was wohl den Frei­herrn von Man­gi­en, der in Ham­burg Frau und Kin­der und ein neu­er­bau­tes »fürst­li­ches Heim« be­saß, nach Ber­lin führ­te – am Hei­li­gen Abend?

War es über­haupt mög­lich, dass ein Mann, so reich und un­ab­hän­gig, den Weih­nachts­abend nicht im Fa­mi­li­en­krei­se ver­leb­te? Der Tür­ste­her hät­te lü­gen, sich einen Scha­ber­nack leis­ten kön­nen, aber das Bild? … Das Bild in der il­lus­trier­ten Zei­tung?

Strich für Strich er­weck­te Abt die ver­dun­kel­te Erin­ne­rung, bis das auf­ge­frisch­te Bild je­den Zwei­fel ver­jag­te. Der schmun­zeln­de Herr, mit Frau und Kin­dern auf dem Ra­sen­platz vor sei­nem neu­en Schloss fo­to­gra­fiert, war be­stimmt der­sel­be Mann, der so­eben in dem vor­nehms­ten Ho­tel Ber­lins ab­ge­stie­gen war. Was hat­te er aber hier zu su­chen, wäh­rend in Ham­burg der Christ­baum für sei­ne Kin­der an­ge­steckt wur­de? Leb­te er am Ende nicht in gu­tem Ein­ver­neh­men mit sei­ner Frau? Das Fa­mi­li­en­bild in der Zei­tung konn­te ge­stellt sein. Auch eine Art Re­kla­me.

So trost­reich es für Abt ge­we­sen wäre, den ver­hass­ten Mann un­glück­lich zu wis­sen – er schüt­tel­te doch gleich die­sen Ge­dan­ken ab, weil er sich nicht fei­ge mit Wahn­bil­dern be­sänf­ti­gen woll­te. Wen Er­bit­te­rung von da­heim ver­trieb, trug den Kopf nicht so hoch wie der Herr Baron, schritt nicht so ein­ge­näht in sei­ne Herr­lich­keit an ge­wöhn­li­chen Sterb­li­chen vor­über.

Was sonst aber konn­te – – –

Ge­schäf­te? – Un­sinn! Dem ärms­ten Mann war die­ser Abend nicht feil.

Ohne recht zu wis­sen, warum, fühl­te Abt sich bis in sein In­ners­tes auf­ge­wühlt von der Fra­ge. Wie ein Hund, der zit­ternd Wild wit­tert, stand er mit­ten im Men­schen­ge­wühl, den Blick im­mer noch an den First des fer­nen Ho­tel­pa­las­tes ge­fes­selt. An­fangs nur bei­sei­te ge­sto­ßen, im Vor­bei­ei­len an­ge­schnauzt, er­reg­te er all­mäh­lich Auf­se­hen. Der Men­schen­strom be­gann sich zu kräu­seln und la­ger­te eine In­sel von Neu­gie­ri­gen um das Ver­kehrs­hin­der­nis. Man wis­per­te und hielt ihn wohl für be­trun­ken. Wer sonst pflanz­te sich an der Ecke der Lin­den wie ein Wahr­zei­chen auf, ver­rußt und schmut­zig, als hät­te er es dar­auf ab­ge­se­hen, Är­ger­nis zu er­re­gen in dem fest­li­chen Ge­drän­ge.

Mit kräf­ti­gen Stö­ßen schaff­te er sich Raum, ru­der­te mit Schul­tern und El­len­bo­gen rasch da­von, ohne recht zu wis­sen, wo­hin. Was woll­te er mit sei­ner Zeit be­gin­nen? Die Ein­la­dung Dok­tor Land­aus lau­te­te erst auf halb acht, zum Ra­sie­ren und Um­klei­den ge­nüg­ten zwan­zig Mi­nu­ten – frü­her als nö­tig in sei­ne un­ge­heiz­te Bude zu­rück­zu­keh­ren, dräng­te es ihn wahr­haf­tig nicht, aber die ver­wünsch­te Be­geg­nung mit dem Baron hat­te ihm das Bum­meln gründ­lich ver­lei­det. Er konn­te nun kei­nen Schritt mehr tun, nir­gends ste­hen­blei­ben oder hin­schau­en, ohne an den Herrn Baron er­in­nert zu wer­den, der al­les, was in den zahl­lo­sen Schau­fens­tern ge­schich­tet lag, kau­fen konn­te.

Nein, mit die­sem Ge­dan­ken im Kop­fe war es nicht mög­lich, ru­hig durch die Stra­ßen zu schlen­dern. Al­lein in ei­ner Knei­pe zu sit­zen, war aber noch we­ni­ger ver­lo­ckend, und selbst die Aus­sicht, den gan­zen Abend mit Dok­tor Lan­dau ver­brin­gen zu müs­sen, schreck­te Abt nun so sehr, dass er am liebs­ten gleich te­le­fo­nisch sich ent­schul­digt und un­ter ir­gend­wel­chem Vor­wand ab­ge­sagt hät­te, wäre es nicht eine un­ver­zeih­li­che, ganz nie­der­träch­ti­ge Un­dank­bar­keit ge­we­sen, sei­nen Wohl­tä­ter in letz­ter Stun­de im Sti­che zu las­sen.

Ein Mann von der Bil­dung des Dok­tors hät­te leicht bes­se­re Un­ter­hal­tung fin­den kön­nen als die Ge­sell­schaft ei­nes ver­brumm­ten, un­wis­sen­den Fa­brik­ar­bei­ters. Und nun soll­te Abt ihn al­lein las­sen?

Nein!

Ent­schlos­sen schnell­te er in das Ge­drän­ge zu­rück und stieß so rück­sichts­los um sich, als hät­te es un­ter all den Ei­li­gen kein an­de­rer so ei­lig ge­habt wie er. Nur fort, fort aus der Nähe der Ver­su­chung! – An je­der Ecke über­fiel ihn neu die Angst, er könn­te doch noch um­keh­ren und vor dem Ho­tel den Baron an­pö­beln. Auf der Flucht vor sich selbst er­reich­te er durch fins­te­re Ne­ben­gäss­chen den Schle­si­schen Bahn­hof und press­te sich in den ers­ten ost­wärts fah­ren­den Stadt­bahn­zug.

Wie eine Kom­pres­se kühl­te die Schwär­ze vor dem Fens­ter des Ab­teils sei­ne licht­mü­den Au­gen. Er ruh­te aus von Lärm und Eile und wäre auch ein­ge­nickt, hät­te er nur die läs­ti­ge, stör­risch wie­der­keh­ren­de Fra­ge ver­scheu­chen kön­nen:

»Wa­rum hat­te der Baron sein Haus ver­las­sen? Wa­rum ver­leb­te er die­sen Abend im Ho­tel?«

»Wa­rum?«

II.

Der Baron hat­te sich an den Her­ren vor­bei­steh­len müs­sen, die ihn längst in der Hal­le er­war­te­ten; viel drin­gen­der als die an­geb­lich wich­ti­ge Kon­fe­renz war ihm ein Te­le­fon­ge­spräch mit Mimi. Er woll­te hö­ren, ob al­les pro­gramm­ge­mäß ver­lau­fen, Gat­te und Sohn rich­tig ab­ge­reist und alle Vor­sichts­maß­nah­men ge­trof­fen wa­ren.

Da fiel der Auf­tritt am Bran­den­bur­ger Tor ihm ein. Wäre der Ge­dan­ke nicht so un­sym­pa­thisch, bei­na­he wi­der­wär­tig ge­we­sen, den Freund un­ter dem ei­ge­nen Dach, auf dem ei­ge­nen La­ger zu be­trü­gen – in der hei­li­gen Christ­nacht noch dazu – hät­te Man­gi­en sich kei­nen Au­gen­blick mit dem lä­cher­li­chen Pro­blem be­schäf­tigt, warum er auf die Sym­pa­thie ei­nes un­be­kann­ten Pro­le­ten ver­zich­ten muss­te. Auch so schüt­tel­te er die Be­den­ken rasch ab – warum soll­te er sich die Freu­de ver­der­ben, da ihn kei­ne Verant­wor­tung traf? Mimi selbst hat­te die Zu­sam­men­kunft an­ge­regt – auch die »wich­ti­ge Kon­fe­renz« war ihr Ein­fall, und die Schuld trug al­lein Bodo. Wa­rum hat­te er sei­ne Frau über Weih­nach­ten al­lein ge­las­sen? Sonst schlepp­te er sie auf alle Ge­schäfts­rei­sen mit, hing so fest an ih­ren Rö­cken, dass sie ihm un­ter tau­send Schwie­rig­kei­ten die Zeit für je­des has­ti­ge Schä­fer­stünd­chen ab­lis­ten muss­te, und ge­ra­de dar­um hat­te sie sich mit sol­cher Ve­he­menz auf die un­ver­hoff­te Ge­le­gen­heit ge­stürzt, ein­mal ohne Angst vor dem Uhr­zei­ger zwei gan­ze Näch­te »frei« zu sein.

Auf dem Schreib­tisch lag die Mit­tei­lung der Ho­tel­te­le­fo­nis­tin, es sei zwei­mal be­reits, um sieb­zehn Uhr zwölf und um sieb­zehn Uhr sechs­und­zwan­zig nach dem Herrn Baron ge­fragt wor­den. Das konn­te nur Mimi sein. Sie rech­ne­te nicht mit der Ver­spä­tung und zit­ter­te schon, er könn­te zu­letzt doch nicht los­ge­kom­men und da­heim ge­blie­ben sein.

Es be­rei­te­te dem Baron Ver­gnü­gen, sie noch ein we­nig zap­peln zu las­sen, wäh­rend er sich im Ba­de­zim­mer die Hän­de wusch und, vom Haus­die­ner as­sis­tiert, rasch die Klei­der wech­sel­te. Er wuss­te nur zu gut, wie tief er hin­ab­stieg, wenn er sei­ne Frau mit dem »Lu­der­chen« hin­ter­ging, das die gute Mimi ohne alle Zwei­fel war.

Aber für zwei heim­li­che Lie­bes­näch­te taug­te am bes­ten ein »Lu­der­chen«. Was konn­te die arme Mimi letz­ten En­des da­für, dass ein un­wan­del­ba­res Na­tur­ge­setz die frosch­blü­tigs­ten, lang­wei­ligs­ten Män­ner vom Schla­ge Bodo Bren­kens ge­ra­de zu den tem­pe­ra­ment­volls­ten, ab­wechs­lungs­be­dürf­tigs­ten »Lu­der­chen« hin­zog? Eine sol­che Frau hei­ra­ten und dann auch noch al­lein in Ber­lin zu­rück­las­sen, der acht­zig­jäh­ri­gen Mut­ter zu­lie­be, so­viel Ein­falt er­for­der­te Süh­ne.

Das spöt­ti­sche Schmun­zeln Man­giens ver­schwand beim Ein­tritt des Boys, der im Auf­trag der Her­ren Jus­tiz­rat Ril­la und Di­rek­tor Krü­ger ins Zim­mer spreng­te mit der Mel­dung: es sei gleich sechs, und aus Rück­sicht auf den Hei­li­gen Abend un­mög­lich, den Be­ginn der Kon­fe­renz noch län­ger hin­aus­zu­schie­ben.

Dass sie ihm nicht da­von­lau­fen wür­den, auch nicht, wenn er sie bis sie­ben war­ten lie­ße, wuss­te der Baron ge­nau. Es war durch­aus nicht blo­ßer Zu­fall, dass er ge­ra­de die­se bei­den Na­men aus der Lis­te sei­ner Auf­sichts­rä­te her­aus­ge­sucht hat­te: die bei­den, das stand un­er­schüt­ter­lich fest, konn­te kein Christ­fest und kein To­des­fall ab­hal­ten, wenn es ums Geld­ver­die­nen ging. Von den un­ters­ten so­zia­len Spros­sen, mit Kral­len und Zäh­nen, Bück­lin­gen und Fuß­trit­ten em­por­ge­langt, hass­ten sie je­den, der ohne Pla­ge und Er­nied­ri­gung auf die Spit­ze der Lei­ter hin­auf­ge­bo­ren war. Ob höf­lich oder un­höf­lich, ob er sie war­ten ließ oder nicht, für die­se bei­den blieb er im­mer das ver­ächt­li­che Va­ter­söhn­chen. Wa­rum soll­te er ih­nen nicht Zeit las­sen, ihre Gal­le aus­zu­spei­en?

Auf der Fahrt von Ham­burg nach Ber­lin hat­te der Baron einen schlau­en Kriegs­plan aus­ge­heckt: er woll­te sei­ne An­kunft Mimi of­fi­zi­ell be­kannt­ge­ben, durch den Die­ner bei der Haus­frau an­fra­gen las­sen, ob er als Tisch­gast er­wünscht sei. So gab er Mimi un­auf­fäl­lig Nach­richt und bau­te al­len Ver­däch­ti­gun­gen vor – nur die ver­damm­te Pfer­de­drosch­ke hat­te ihm einen Strich durch die Rech­nung ge­macht. Für den »Sprung« in den Spiel­wa­ren­la­den war es zu spät ge­wor­den, als an­ge­sag­ter Gast muss­te er Mi­mis Kin­der un­be­dingt be­schen­ken, er ver­such­te es mit ei­nem te­le­fo­ni­schen Auf­trag, und sein Name übte die ge­wohn­te Zau­ber­kraft. Der In­ha­ber ver­pfän­de­te dem Herrn Baron sein Wort, für recht­zei­ti­ge Zu­stel­lung zu sor­gen, und wenn er selbst im Taxi mit den Wa­ren in die Vil­la Bren­ken fah­ren müss­te!

Der zwei­te An­ruf fiel we­ni­ger glück­lich aus, statt des Die­ners kam gleich Mimi an den Ap­pa­rat, und der Ton­fall ih­rer Be­grü­ßung ver­riet, dass sie nicht al­lein im Zim­mer war.

»Gib acht, was ich sage, Lieb­ling!« – in­stru­ier­te sie der Baron. – »Ich fra­ge dich jetzt, ob ich mor­gen bei euch zu Mit­tag es­sen darf – nach­her sagst du mir, dass Bodo mit dem Jun­gen nach Bren­ken­burg ge­fah­ren ist und dei­ne Klei­ne mit Fie­ber zu Bett liegt.«

Sie führ­te den Auf­trag aus und rief un­mit­tel­bar an­schlie­ßend, als wehr­te sie sein Be­dau­ern ab: »Es ist nicht so schlimm, wirk­lich nicht so schlimm, Baron! Ich gehe mit ei­nem gu­ten Buch zu Bett, den Leu­ten habe ich das Gram­mo­phon ge­borgt, die wer­den tan­zen und ge­nau so ver­gnügt sein, als wäre auch die Kat­ze aus dem Hau­se.«

Man­gi­en lä­chel­te be­frie­digt. Kü­che und Die­ner­schafts­räu­me la­gen im Sou­ter­rain, mit den Fens­tern nach dem Gar­ten; wur­de auch noch ge­tanzt und Mu­sik ge­macht, so konn­te man vor­ne aus und ein ge­hen, wie man woll­te – Mimi ver­stand sich dar­auf, alle Mög­lich­kei­ten zu nüt­zen – der arme Bodo war ihr, weiß Gott, nicht ge­wach­sen.

»Pass auf, Schatz!« – rief er zwin­kernd, als könn­te sie sei­nen Ge­sichts­aus­druck se­hen – »ich wer­de jetzt die Stun­den zäh­len, von Mit­ter­nacht zu­rück. Du rufe nur ›Ja‹, da­mit ich weiß, wann ich kom­men soll. Also: Zwölf, elf, zehn – nun? Halb zehn? – Nein, hör mal! Noch frü­her wäre Leicht­sinn! Ge­gen halb zehn also. Und den Schlüs­sel wie be­spro­chen, nicht wahr?«

Ein Weil­chen blieb er noch vor dem Ap­pa­rat sit­zen, dann griff er seuf­zend nach der Ak­ten­ta­sche und er­teil­te Auf­trag, die Her­ren her­auf­zu­füh­ren.

Viel schlim­mer, als der Baron ver­mu­ten konn­te, war sei­ne »Un­ver­fro­ren­heit«, am Weih­nachts­abend eine Be­spre­chung an­zu­set­zen, von den bei­den War­ten­den kri­ti­siert wor­den. Be­son­ders Di­rek­tor Krü­ger, Be­sit­zer von Farb­wer­ken, die mit großen Lie­fe­run­gen an dem Un­ter­neh­men Man­giens in­ter­es­siert wa­ren, zap­pel­te ru­he­los zwi­schen den großen Le­der­stüh­len der Hal­le um­her und spar­te nicht mit Kraft­aus­drücken. In re­gel­mä­ßi­gen Zwi­schen­räu­men riss er sei­ne gol­de­ne Uhr her­vor, mit der Dro­hung, kei­ne Se­kun­de län­ger zu war­ten. Jus­tiz­rat Ril­la zuck­te nur die Ach­seln und lä­chel­te sein sau­res, eis­kal­tes Lä­cheln.

»Gön­nen Sie dem Mann doch sein Ver­gnü­gen! Wel­ches Hoch­ge­fühl, an­de­re an­ti­cham­brie­ren zu las­sen, wenn man von Vä­tern ab­stammt, die sich näch­te­lang auf dem Bock die Bei­ne ab­frie­ren muss­ten, wäh­rend ihre Her­ren am Kar­ten­tisch sa­ßen. Das wel­sche Kut­scher­blut mel­det sich, voilà.«

»Kut­scher­blut? – Der Baron Man­gi­en?« – staun­te auf­strah­lend Di­rek­tor Krü­ger und hör­te au­gen­blick­lich zu tän­zeln auf. »Ist das rich­tig? – Von Kut­schern?«

»Das wis­sen Sie nicht? Stamm­va­ter Man­gin, ohne e, mit dem fran­zö­si­schen Na­sal­laut ge­spro­chen, ist auf dem Bock ei­ner gräf­li­chen Kut­sche nach Ham­burg ge­kom­men, als die Ari­sto­kra­ten von drü­ben vor der Guil­lo­ti­ne da­von­lie­fen. Genau wie un­se­re rus­si­schen Emi­gran­ten, hat­te auch der Mar­quis oder Vi­com­te nur mit ei­nem klei­nen Aus­flug ge­rech­net, muss­te aber bald Pfer­de und Wa­gen an sei­nen ei­ge­nen Kut­scher ver­kau­fen. Für die Han­sea­ten war eine Fahrt in der gold­strot­zen­den, weich fe­dern­den fran­zö­si­schen Ka­ros­se eine Sen­sa­ti­on, das Ge­schäft flo­rier­te, und der schlaue Fran­zo­se ver­leg­te sich auf das Fa­bri­zie­ren ähn­li­cher Ka­ros­sen, auf Halb­part mit ei­nem Ham­bur­ger Wa­gen­bau­er, den er na­tür­lich hin­aus­warf, als er ihn nicht mehr nö­tig hat­te. Na und, was Kon­junk­tur heißt, braucht Ih­nen ja nicht er­klärt zu wer­den. Fünf­zehn Jah­re lang hetz­te Na­po­le­on sei­ne Of­fi­zie­re und Mi­nis­ter durch Eu­ro­pa – man wohn­te und schlief auf der Land­stra­ße. Als der Wie­ner Kon­gress end­lich Ord­nung ge­schaf­fen, reis­te der alte Mar­quis auf Kos­ten sei­nes Kut­schers nach Frank­reich, der Kut­scher blieb in dem präch­ti­gen Pa­tri­zi­er­haus, das er aus dem Zu­sam­men­bruch für sich her­aus­ge­fischt hat­te, und schrieb fort­an sei­nen Na­men mit dem deut­schen ›ie‹. Mehr noch als sein Reich­tum war die Nase wert, die alle Nach­kom­men von ihm erb­ten. Der En­kel warf sich auf Wag­g­ons und Lo­ko­mo­ti­ven, wie dann der Va­ter un­se­res jet­zi­gen Herrn und Ge­bie­ters als ers­ter in Deutsch­land die Zu­kunft des Mo­tors ge­ro­chen hat. Zwi­schen­durch be­scher­te der Wag­gon­be­darf des Krie­ges Anno 70 den fran­zö­si­schen Kut­scherssöh­nen das Frei­herrn­wap­pen, und wenn heu­te der Herr Vi­com­te oder Mar­quis von da­zu­mal den Uren­kel sei­nes Leib­kut­schers spre­chen woll­te, müss­te er auch hier un­ten an­ti­cham­brie­ren – ganz wie wir.«

Mit ge­spitz­ten Lip­pen hat­te Di­rek­tor Krü­ger die Ge­schich­te der kom­pro­mit­tie­ren­den Ab­stam­mung, wie ein er­göt­zen­des Ge­tränk, in sich ein­ge­schlürft. tief be­glückt von der Ver­hei­ßung, den glü­hend be­nei­de­ten Baron mit An­spie­lun­gen auf Peit­schen­schäf­te und Po­stil­lons­tie­fel meu­cheln zu kön­nen. Er hät­te vor Freu­de bei­na­he ver­ges­sen, sich wei­ter über das lan­ge War­ten auf­zu­re­gen, wäre nicht der große Zei­ger der elek­tri­schen Uhr im­mer hö­her ge­rückt.

»Sechs Uhr!« – herrsch­te er wü­tend den Jus­tiz­rat an – »wie lan­ge wol­len Sie denn ei­gent­lich war­ten? Wir sind doch nicht sei­ne La­kai­en! Fah­ren wir ein­fach heim und fer­tig!«

Dr. Ril­la wand­te sich ver­ächt­lich ab, ohne die Auf­for­de­rung ei­ner Ant­wort zu wür­di­gen. Ger­ne hät­te er sich den Spaß ge­leis­tet, auf den Vor­schlag Krü­gers ein­zu­ge­hen, aber der gute Mann dach­te ja nicht dar­an, einen so mäch­ti­gen Kom­mit­ten­ten wie Man­gi­en wirk­lich vor den Kopf zu sto­ßen. Ge­we­se­ner Korps­stu­dent mit de­ko­ra­tiv zer­sä­bel­tem Ge­sicht, hat­te der Jus­tiz­rat früh ge­lernt, dass al­les be­zahlt wer­den muss­te; die Fra­ge war nur, ob die Ware den Preis wert sei. Es tat ja auch nicht ge­ra­de wohl, von den eins­ti­gen Korps­brü­dern ge­schnit­ten zu wer­den, weil man die ge­tauf­te Toch­ter des all­mäch­ti­gen Bankju­den Ge­heim­rat Lan­dau ge­hei­ra­tet hat­te und mit dem be­rüch­tig­ten Stän­ke­rer und Ehren­pro­le­ten Dr. Hein­rich Lan­dau ver­schwä­gert war. Wer aber mit noch nicht vier­zig Jah­ren Syn­di­kus1 des größ­ten Ban­ken- und In­dus­trie­kon­zerns sein woll­te, muss­te die­se Unan­nehm­lich­kei­ten mit in Kauf neh­men.

Den Herrn Di­rek­tor brach­te die­se Gleich­gül­tig­keit im­mer noch mehr aus dem Häu­schen.

»Als Kut­schers­sohn könn­te der Herr Baron we­nigs­tens auf un­se­re Chauf­feu­re Rück­sicht neh­men! Mei­ner ist ver­hei­ra­tet, es ist nicht kol­le­gi­al …«

»Schi­cken Sie Ihren Wa­gen ru­hig fort«, fiel der Jus­tiz­rat ein, »mein Chauf­feur bringt Sie nach Hau­se.«

»Wie denn das? Sie woh­nen doch im Gru­ne­wald! Ich kann Ih­nen nicht zu­mu­ten, jetzt noch …«

Dr. Ril­la wink­te un­ge­dul­dig ab: »Ich muss oh­ne­hin noch in die Stadt, zu mei­nem Schwa­ger. Sie set­zen mich nur am Gen­darmen­markt ab, das kos­tet Sie kei­ne fünf Mi­nu­ten, und mir ist es gleich, ob der Wa­gen mich un­ten er­war­tet oder eine Fahrt macht un­ter­des­sen.«

Di­rek­tor Krü­ger trat un­ent­schlos­sen von ei­nem Fuß auf den an­de­ren, sei­ne klei­nen Äug­lein tanz­ten neu­gie­rig über das stei­ner­ne Ge­sicht Ril­las.

»Ihr Schwa­ger? Ist das etwa der Bru­der Ih­rer Frau Ge­mah­lin? Der Dok­tor Lan­dau? Soll ein son­der­ba­rer Hei­li­ger sein. So ’ne Art Pro­le­ta­ri­er­hei­land. – Wie?« Das von Schmis­sen ge­schmück­te Ge­sicht Ril­las blieb un­durch­dring­lich. »Mehr son­der­bar als hei­lig«, gab er tro­cken zur Ant­wort, nicht ge­neigt, der bos­haf­ten Klatsch­sucht Krü­gers mit nä­he­ren Ein­zel­hei­ten zu die­nen. Was aus den Zei­tun­gen über die Re­den und Ta­ten Dr. Hein­rich Land­aus be­kannt war, ge­nüg­te vollauf.

Wie ein Fox­ter­ri­er um einen Igel, tän­zel­te der di­cke, klei­ne Di­rek­tor um die un­an­tast­ba­re Stach­lig­keit des Jus­tiz­ra­tes, red­lich be­müht, mit takt­lo­sen An­spie­lun­gen und ge­heu­chel­tem Be­dau­ern auf eine durch­läs­si­ge Stel­le in der Pan­ze­rung zu sto­ßen. Aber Ril­la ver­leug­ne­te den Schwa­ger nicht, die­ser Schand­fleck war in dem Kauf­preis sei­ner Kar­rie­re mit in­be­grif­fen. Der Bru­der sei­ner Frau, Dr. Hein­rich Lan­dau, war ein Narr – er be­frei­te Pro­le­ta­ri­er­frau­en von un­er­wünsch­tem Kin­der­se­gen und hat­te den ge­ehr­ten Na­men sei­nes Va­ters durch die Ge­richts­saal­ru­brik al­ler Zei­tun­gen ge­schleift – was wei­ter? Das al­les war stadt­be­kannt, Herr Krü­ger durf­te sich den Schna­bel dar­an wet­zen. Wal­de­mar Ril­la hielt still, wie auf dem Men­sur­bo­den, bis der Geg­ner, von der un­durch­sich­ti­gen Höf­lich­keit ver­lockt, sich zu weit vor­wag­te:

»Ich fin­de es merk­wür­dig, dass Ihr Herr Schwie­ger­va­ter den un­be­que­men Sohn nicht längst un­schäd­lich ge­macht hat. Nach der Brandre­de im Ge­richts­saal wäre es ei­nem Man­ne mit sei­nen Ver­bin­dun­gen doch ein leich­tes ge­we­sen …«

Wie ein gu­ter Fech­ter im rich­ti­gen Mo­ment die Pa­ra­de durch­schlägt, hol­te der Jus­tiz­rat nun mit ei­si­ger Ruhe zu ei­nem wohl­be­rech­ne­ten »Durch­zie­her« aus: »Aber, ich bit­te Sie«, rief er bei­na­he herz­lich, »was kön­nen mei­nem Schwie­ger­va­ter sol­che Tor­hei­ten an­ha­ben? Je­der an­stän­di­ge Mensch zieht vor dem Na­men Ge­heim­rat Land­aus den Hut. Nur schä­bi­ger, ge­mei­ner Neid wird das un­ge­heu­re Le­bens­werk des Va­ters über dem ver­rück­ten Trei­ben des Soh­nes ver­ges­sen – statt um­ge­kehrt.«

Eine Ohr­fei­ge von sol­cher nicht all­täg­li­cher Do­sie­rung still­schwei­gend ein­zu­ste­cken, wäre selbst ei­nem ab­ge­här­te­ten Käm­pen wie Di­rek­tor Krü­ger nicht leicht ge­wor­den, hät­te nicht, wie auf Stich­wort, ein Boy die Mel­dung ge­bracht, der Herr Baron las­se bit­ten.

Rechts­bei­stand  <<<

III.

Jus­tiz­rat Ril­la fand die Woh­nungs­tür sei­nes Schwa­gers un­ver­sperrt, ein Zei­chen, dass die »Or­di­na­ti­on« noch nicht be­en­det war. Er hät­te es un­ter Um­stän­den zwar vor­ge­zo­gen, auf dem kal­ten Flur zu war­ten, über­zeug­te sich aber, dass kein so­ge­nann­ter Pa­ti­ent im War­te­zim­mer saß, und pen­del­te zwi­schen Türe und Fens­ter auf und ab, ängst­lich be­sorgt, ja nicht die Stüh­le zu strei­fen, die als ein­zi­ge Mö­bel rings­um an den Wän­den stan­den. Es emp­fahl sich, mit den Kli­en­ten, die hier­orts ver­kehr­ten, nicht ein­mal mit­tel­bar in Berüh­rung zu kom­men.

Das Knar­ren des Fuß­bo­dens muss­te auch im Or­di­na­ti­ons­zim­mer hör­bar sein, denn die Türe wur­de plötz­lich ge­öff­net und in dem schma­len Spalt er­schi­en das blas­se, ma­ge­re Ge­sicht Dr. Land­aus. Er späh­te mit sei­nen kurz­sich­ti­gen Au­gen in den man­gel­haft be­leuch­te­ten Raum und rief ohne Gruß: »Sind Sie’s, Abt? Nur fünf Mi­nu­ten! Ich bin so­fort fer­tig.« Dann ver­schwand sein läng­li­cher Kahl­kopf hin­ter der zu­schnap­pen­den Tür.

Der Jus­tiz­rat wieg­te spöt­tisch den Kopf. Das war wie­der ein­mal der un­ver­fälsch­te Hein­rich Lan­dau! Sprach zu ei­nem Men­schen, der gar nicht im Zim­mer war – wie er im­mer und über­all sei­ne Hirn­ge­spins­te für die Wirk­lich­keit hielt und die Rea­li­tät vor­nehm igno­rier­te. Die­se wi­der­spruchs­vol­le Exis­tenz, dem er­folg­rei­chen, ziel­si­che­ren Le­ben des Va­ters als un­wür­di­ge Fort­set­zung an­ge­hängt, er­in­ner­te den Jus­tiz­rat an die Theo­rie, die er ein­mal ir­gend­wo ge­le­sen hat­te: das Ju­den­tum sei kei­ne erns­te Ge­fahr für den Ge­sell­schafts­kör­per, weil es ge­gen sei­nen bru­ta­len Raub­tier­hun­ger nach Geld zu­gleich das An­ti­to­xin im Blu­te tra­ge. Längs­tens die drit­te, vier­te Ge­ne­ra­ti­on – so hieß es – schied er­schöpft aus dem Kampf um Macht und Be­sitz, rasch ge­sät­tigt und weh­lei­dig, zu­frie­den, in ir­gend­ei­ner brot­lo­sen Kunst fried­lich das Le­ben zu ver­spie­len.

Für den ku­rio­sen Fall Dr. Hein­rich Land­aus lie­fer­te aber auch die­se ge­wag­te Hy­po­the­se kei­ne Er­klä­rung, hielt er sich doch für stark ge­nug, an der be­ste­hen­den Wel­t­ord­nung zu rüt­teln. Al­les, was er tat, ent­behr­te der Fol­ge­rich­tig­keit – er selbst stand sich über­all im Wege. Nicht aus phi­lo­so­phi­scher Ge­nüg­sam­keit haus­te er wie ein mo­der­ner Dio­ge­nes zwi­schen kah­len Wän­den. Der ein­zi­ge Sohn des rei­chen Bank­prä­si­den­ten Lan­dau hat­te nie ge­nug Geld, sei­ne be­schei­dens­ten Wün­sche zu er­fül­len, weil er drau­ßen in den Elends­quar­tie­ren der Mil­lio­nen­stadt Tag für Tag auf Men­schen mit drin­gen­de­ren Be­dürf­nis­sen stieß.

Mit ei­nem Fünk­chen ge­sun­den Men­schen­ver­stan­des hät­te er sich die fet­tes­ten Stel­len ver­schaf­fen kön­nen, um von ei­nem großen Ein­kom­men ein Heer von Ar­men­ärz­ten so­wie Ge­bär­kli­ni­ken, Kin­derkrip­pen, Tu­ber­ku­lo­sen­hei­me zu un­ter­hal­ten. Statt so im großen Sti­le zu hel­fen, zog er es vor, sei­ne schä­bi­ge Wohl­tä­tig­keits­greiß­le­rei not­dürf­tig in Gang zu hal­ten, im­mer in Geld­ver­le­gen­heit, im­mer un­ter­wegs und ab­ge­hetzt, nicht ein­mal be­frie­digt von den Re­sul­ta­ten sei­nes lä­cher­li­chen Kamp­fes ge­gen die un­er­schöpf­li­che Not der Groß­stadt. Der Reich­tum des Va­ters galt ihm nicht für »red­lich« ver­dient, nur sein müt­ter­li­ches Erbe, vor sei­ner Ge­burt auf ihm un­be­kann­te Wei­se er­wor­ben, soll­te ihn mit al­len sei­nen Schma­rot­zern er­hal­ten.

Für Jus­tiz­rat Ril­la be­deu­te­te die­se Prin­zi­pi­en­treue großen Ge­winn, die Mil­lio­nen, die sein Schwa­ger aus­schlug, flos­sen sei­ner Frau und sei­nen Kin­dern zu – ein an­sehn­li­cher Pro­fit, den des Schick­sals Lau­ne als Ge­schenk be­scher­te.

Nur eine Furcht trüb­te die­se rei­ne Freu­de: der Schwa­ger konn­te von heu­te auf mor­gen sei­ne An­sich­ten än­dern, plötz­lich die ent­ge­gen­ge­setz­te Mei­nung ver­tre­ten, das »sün­di­ge« Ver­mö­gen des Va­ters müs­se durch große Stif­tun­gen in die Hän­de je­ner zu­rück­ge­lei­tet wer­den, die es auch wirk­lich »er­ar­bei­tet« hat­ten. Wer wür­de dann sol­chem Un­glück zu steu­ern ver­mö­gen?

Auf den al­ten Herrn, so stramm er an­sons­ten die Zü­gel noch in Hän­den hielt, war in die­ser Fra­ge kein Ver­lass. Als Va­ter war er der rich­ti­ge, sen­ti­men­ta­le Jude, be­reit zu je­dem Op­fer, wenn nur sein viel­ge­lieb­ter Herr Sohn sich her­beiließ, zu ihm zu­rück­zu­keh­ren. Ein auf­rech­ter deut­scher Va­ter hät­te sein Haus mit der Hetz­peit­sche ver­tei­digt ge­gen den un­ge­ra­te­nen Er­ben, statt Ver­mitt­ler zu su­chen, die »heim­lich« trach­ten soll­ten, den ver­lo­re­nen Sohn heim­zu­brin­gen. Und ge­ra­de das hei­li­ge Christ­fest war als Rah­men ge­wählt wor­den für die sen­ti­men­ta­le jü­di­sche Fa­mi­li­en­sze­ne! So zu­wi­der Wal­de­mar Ril­la eine sol­che Ge­fühl­san­ge­le­gen­heit auch war, sei­ne Frau hat­te ihn doch leicht zu der Mis­si­on über­re­den kön­nen. Eine wirk­li­che Ge­fahr, der stren­ge Herr Sohn könn­te sich er­wei­chen las­sen, droh­te nicht. Ein Se­ne­gal­ne­ger und ein Es­ki­mo leb­ten in we­ni­ger ver­schie­de­nen At­mo­sphä­ren als der Herr Ge­heim­rat und der Dok­tor Lan­dau. Der Alte glitt in sei­nem Auto wie in ei­nem Tauch­boot durch die Stadt, von der Vil­la zur Bank und von der Bank zur Vil­la; die Men­schen­mas­sen, die er durch­quer­te, wa­ren ihm nicht mehr als dem Per­len­fi­scher das Meer, in das er mit an­ge­hal­te­nem Atem hin­ab­stößt nach Beu­te. Wie soll­te der Sohn, der das Geld ver­ach­te­te und die Men­schen lieb­te, in die Glet­scher­re­gi­on des Va­ters zu­rück­fin­den? Ein der­art ri­si­ko­frei­es Un­ter­neh­men, das nur dem Schwie­ger­pa­pa eine Dan­kes­schuld auf­hals­te, war durch­aus nach dem Ge­schma­cke Ril­las. For­de­run­gen an den Prä­si­den­ten der Deut­schen Bo­den­bank ver­zins­ten sich glän­zend. Ge­müt­sein­la­gen be­son­ders. In der Ver­rech­nung mit Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen dul­de­te der alte Herr kein De­bet­sal­do.

Es ge­sch­ah also durch­aus nicht aus Un­ge­duld, dass Ril­la nä­her an das Or­di­na­ti­ons­zim­mer her­an­rück­te. Er hat­te Zeit, war es nur müde, über den knar­ren­den Par­kett­bo­den zu spa­zie­ren, und horch­te neu­gie­rig an der Tür. Gera­de klirr­te ein In­stru­ment in die Stil­le – dann sag­te der Dok­tor ei­ni­ge Wor­te, wur­de un­ter­bro­chen von dem wei­ner­li­chen, mo­no­ton gur­geln­den Ge­mur­mel ei­ner Frau­en­stim­me.

Über­zeugt, es sei nur Karl Abt im War­te­zim­mer, wid­me­te sich Dok­tor Lan­dau mit der ge­wohn­ten Gründ­lich­keit dem aus­ge­mer­gel­ten, er­schre­ckend ver­brauch­ten Weib, das halb­nackt, wie es vom Un­ter­su­chungs­tisch her­ab­ge­stie­gen war, sei­ne Lei­den klag­te.

»Zie­hen Sie sich erst an! Nach­her spre­chen wir wei­ter.«

Dem ver­zo­ge­nen Mund der Frau ent­fuhr ein Stöh­nen, sie warf sich vor und starr­te dem Dok­tor ins Ge­sicht, von der Angst ge­packt, dass er sie nur ver­trös­ten woll­te. Nach lan­gem, nutz­lo­sen Wü­ten ge­gen den ei­ge­nen Leib, von Ärz­ten und Heb­am­men wie ein räu­di­ges Tier ver­jagt, war ihr von ei­ner mit­lei­di­gen See­le die Adres­se des Dok­tor Lan­dau zu­ge­raunt wor­den. Sein Ge­sichts­aus­druck schi­en ihr ver­hei­ßungs­voll, und sie hät­te sich auf sei­ne her­ab­hän­gen­den Hän­de ge­stürzt, die En­den sei­nes wei­ßen Lei­nen­kit­tels ge­küsst, wäre er nicht auf sei­ner Hut ge­we­sen.

»Zie­hen Sie sich an, zum Don­ner­wet­ter! Man war­tet ja drau­ßen!« schimpf­te er mit ge­küns­tel­ter Wut, aber sei­ne Au­gen, ver­le­gen ab­seits ir­rend, straf­ten sei­nen Zorn Lüge. Wie von der­sel­ben Ma­schi­ne ge­stanzt, die schon Hun­der­te ih­rer Pro­duk­te auf das Wachs­tuch sei­nes Un­ter­su­chungs­ti­sches ge­wor­fen hat­te – sah er die schlot­tern­de, er­schöpf­te Krea­tur vor sich ste­hen, die schlaf­fen Brüs­te mit ver­narb­ten Wun­den be­sät, zer­bis­sen von dem be­tro­ge­nen Hun­ger der Kin­der, die aus Spar­sam­keit mög­lichst lan­ge an der Brust be­hal­ten wur­den, weil nur die ver­geu­de­te Le­bens­kraft die Wo­chen­rech­nung beim Krä­mer nicht er­höh­te. Nur was dem ei­ge­nen Kör­per ab­ge­lis­tet und aus­ge­presst wur­de, muss­te am Löh­nungs­ta­ge nicht be­zahlt wer­den. Er­schüt­tert wand­te sich der Dok­tor ab und flüch­te­te zu dem Kind, das für die Dau­er der Un­ter­su­chung vor das Fens­ter ver­bannt wor­den war. Dort stand es reg­los, kei­nen Zug von Neu­gier­de im alt­klu­gen Ge­sicht­chen, so un­be­tei­ligt, als hät­te es die Mut­ter nicht wim­mern und fle­hen ge­hört hin­ter sich.

Was muss­te ein sie­ben­jäh­ri­ges Mäd­chen schon ge­hört und er­lebt ha­ben, um gar nicht mehr dar­auf zu ach­ten, was im glei­chen Zim­mer zwi­schen den Er­wach­se­nen vor­ging? Auch die­ses ver­hun­ger­te klei­ne Ding wuchs un­auf­halt­sam dem Schick­sal der Mut­ter ent­ge­gen, schon blitz­te Feind­schaft aus den ver­wil­der­ten Au­gen und das zer­zaus­te Köpf­chen ent­zog sich miss­trau­isch der frem­den Hand, die teil­nahms­voll über den sträh­ni­gen Schei­tel strich. Wo­her soll­te das Kind auch wis­sen, was Lieb­ko­sun­gen wa­ren? Es kam von dort, wo der Kampf ums Da­sein Bru­der ge­gen Bru­der stellt, der Äl­te­re nur auf Kos­ten des Jün­ge­ren sich sät­ti­gen kann. Und da­mit nun noch ein sie­ben­tes hung­ri­ges Kind die Ge­schwis­ter ver­kür­ze, soll­te der Un­glück­li­chen da hin­ten noch eine Ge­burt auf­er­legt, ih­rem aus­ge­wei­de­ten, zer­fez­ten Leib noch ein Le­ben ent­ris­sen wer­den?

Den Blick ver­lo­ren im Ne­bel, der am Fens­ter vor­bei­zog, ver­glich Dok­tor Lan­dau die Här­te ei­nes To­des­ur­teils, das Siech­tum, To­des­furcht und Qual auf Stun­den und Se­kun­den re­du­ziert, mit der Grau­sam­keit, die ein schuld­lo­ses We­sen zu le­bens­läng­li­chem Le­ben ver­damm­te, ver­schärft mit Hun­ger, har­ter Ar­beit, har­tem La­ger, und als ein­zi­ger Weg in die Frei­heit den Tod. Wie konn­te man das ge­hetz­te Men­schen­tier von der Schwel­le ja­gen, den Le­bens­keim in ih­rem Lei­be nicht be­gna­di­gen, mit Be­ru­fung auf Pf­licht und Ge­wis­sen?

»Ge­wis­sen?« – knurr­te der Dok­tor halb­laut vor sich hin, aber der Zischlaut in der Mit­te des Wor­tes schlug an das Ohr der ängst­lich lau­ern­den Frau und traf sie wie ein Peit­schen­hieb. Die Un­glück­li­che miss­deu­te­te das Ach­sel­zu­cken, warf sich auf die Knie, und es war kei­ne klei­ne Mühe, sie wie­der zu be­ru­hi­gen. Vor ih­ren Au­gen trug Lan­dau Na­men und Adres­se in den Vor­merk­ka­len­der ein, gab sein Ehren­wort, nächs­ten Don­ners­tag, zu Sil­ves­ter also, mit ei­ner Pfle­ge­rin bei ihr zu sein.

Die Frau stieß wie ein Raub­vo­gel auf die Hand des Dok­tors nie­der und be­deck­te sie mit Küs­sen, bis es ihm end­lich ge­lang, sich zu be­frei­en.

Wü­tend über­schimpf­te er ihr Dank­ge­stam­mel, schob sie mit dem Kind zur Tür hin­aus, und der An­blick ih­rer ecki­gen Schul­ter­blät­ter, der schma­le, wie aus Holz ge­haue­ne Mär­ty­rer­rücken hiel­ten sei­nen Blick ge­fan­gen, so­dass er, wie aus dem Schlaf ge­schreckt, zu­sam­men­zuck­te, als Ril­la ihn beim Vor­na­men an­rief.

»Ach, du bist’s? Ich kom­me so­fort.«

Der Jus­tiz­rat lä­chel­te spöt­tisch über den ent­täusch­ten Ton, der Herr Schwa­ger hielt es nicht für nö­tig, sich Zwang an­zu­tun – da­für ver­ab­schie­de­te er umso herz­li­cher das lum­pi­ge Weib. Wohl auch eine Kli­en­tin von der be­wuss­ten Sor­te? Der alte Herr muss­te sich be­ei­len, woll­te er nicht er­le­ben, dass der ge­lieb­te Sohn für eine Wei­le Papp­schach­teln zu kle­ben be­kam.

Aus dem Vor­zim­mer zu­rück­ge­kehrt, bot der Dok­tor dem Schwa­ger kei­nen Stuhl, er­kun­dig­te sich barsch nach sei­nem Be­geh­ren und ver­hehl­te sei­nen Un­wil­len nicht, als Ril­la un­auf­ge­for­dert in das Or­di­na­ti­ons­zim­mer hin­über­ging.

»Wir könn­ten hier ge­stört wer­den, wie ich ge­hört habe, er­war­test du ja noch einen Pa­ti­en­ten.«

Die wür­de­voll her­ab­las­sen­de Hal­tung wirk­te so ir­ri­tie­rend, dass Lan­dau nicht gleich den Sinn der sal­bungs­vol­len Rede er­fass­te. Er hör­te die Wor­te Dan­kes­pflicht, Grei­sen­al­ter, Va­ter­herz, trau­te an­fangs sei­nen Ohren kaum. Von die­sem kalt­her­zi­gen Stre­ber, den nur Er­folgs­an­be­tung und Neid lei­te­ten, ran­zi­ge Va­ria­tio­nen über das Mo­tiv El­tern­lie­be – Weih­nachts­zau­ber an­zu­hö­ren, das war doch mehr, als man er­tra­gen konn­te.

»Ja, zum Don­ner­wet­ter! Hast du dich nur her­auf­be­müht, um mir mit­zu­tei­len, dass Va­ter nicht jün­ger ge­wor­den ist? Die Tat­sa­che ist mir nicht un­be­kannt. Ich weiß auch, dass er längst die Hoff­nung auf­ge­ge­ben hat, mich zu be­keh­ren. Er hat mich ab­ge­schrie­ben wie eine du­bio­se For­de­rung, und das ist hart für ihn, denn es ge­hört sonst nicht zu sei­nen Ge­wohn­hei­ten, zwan­zig Jah­re lang Geld und Mühe in ein ver­fehl­tes Un­ter­neh­men hin­ein­zu­ste­cken. Und jetzt soll ich ihm als Weih­nachts­ge­schenk den De­frau­dan­ten1 ge­gen­über­set­zen, der ihm sein Geld un­ter­schla­gen hat? Eine Zeit lang wür­de er an sich hal­ten, um zu­letzt aus ir­gend­ei­nem lä­cher­lich ge­rin­gen An­lass doch zu ex­plo­die­ren. Nein, er soll un­ge­stört mit sei­nen En­kel­kin­dern spie­len, ich den­ke nicht dar­an, ihm und mir und euch al­len den Weih­nachts­abend zu ver­der­ben! Bit­te, sage das auch dei­ner Frau! Ich kom­me nächs­tens mal bei ihr vor­bei.«

Es ließ sich nicht viel ge­gen die­se ver­nünf­ti­ge Ant­wort ein­wen­den, aber dem Jus­tiz­rat war es dar­um zu tun, nicht so glatt da­von­zu­kom­men. Er brauch­te einen Streit mit Grob­hei­ten, die er op­fer­freu­dig ein­ste­cken und, mit über­le­ge­ner Nach­sicht zi­tiert, als Ak­tiv­pos­ten bu­chen las­sen konn­te. Mit be­rech­ne­ter Schär­fe ent­geg­ne­te er:

»Wenn du so rück­sichts­voll sein willst, brauchst du nur Va­ter nicht zu wi­der­spre­chen! Ich mei­ne, du könn­test ihm auch mal eine Ant­wort schul­dig blei­ben, da du ihm ja, wie du selbst zu­gibst, man­ches an­de­re schul­dig ge­blie­ben bist. Er ist nicht nur um vier­zig Jah­re äl­ter als du, er hat sich red­lich Mühe mit dir ge­nom­men, hat dir …«

»Va­ter? Mühe? Mit mir? Du meinst wohl …«

»Genau, was ich ge­sagt habe!« schnarr­te Ril­la streng, in­ner­lich tri­um­phie­rend über den Er­folg sei­ner Pro­vo­ka­ti­on. »Bis zu dei­ner Groß­jäh­rig­keit hat dich dein Va­ter er­zo­gen …«

»Er­zo­gen sagst du? Wo hast du je ge­se­hen, dass rei­che Leu­te ihre Kin­der er­zie­hen? Wie könn­ten sie die Zeit dazu auf­brin­gen, da sie doch für die Zu­kunft, für die Lauf­bahn und das Erb­teil ih­rer Kin­der vor­sor­gen müs­sen? Für die Zeit des Wer­dens gibt es ja be­zahl­te Kräf­te ge­nug, un­wis­sen­de Bäue­rin­nen, Haus­meis­ter­stöch­ter, arme Schlu­cker, an Hun­gern und Frie­ren ge­wöhn­te. Ja, wenn, mein Va­ter mich er­zo­gen hät­te, dann wäre ich auch sein Sohn ge­wor­den! Wie hät­te der wei­che, noch un­ge­form­te Ton der Va­ter­hand wi­der­ste­hen kön­nen? Aber der böse, ver­bit­ter­te Me­di­zi­ner, der sich als Kor­re­pe­ti­tor durch das Gym­na­si­um ge­hun­gert hat­te, wie soll­te der mich auf mein Le­ben, auf die Zu­kunft, die mein Va­ter für mich zu­recht­zim­mer­te, vor­be­rei­ten? Was wuss­te er denn vom Reich­tum, au­ßer dass er ihn hass­te? Täg­lich hat­te er mir den Geiz mei­nes Va­ters, der ihm um kar­gen Ent­gelt sei­ne Zeit ab­press­te, un­ter die Nase ge­rie­ben. Sei­ne ei­ge­ne Tüch­tig­keit hat er mei­nem Schlem­mer­da­sein ent­ge­gen­ge­stellt, ge­prü­gelt hat er mich – um sei­ne Wut aus­zu­las­sen an der Men­schen­sor­te, die es so un­ver­dient gut hat­te, wie es ihm un­ver­dient schlecht ging.«

Für eine Se­kun­de ver­stumm­te Lan­dau, hol­te tief Atem und rief dann mit tri­um­phie­ren­dem Hohn: »Das ist ja das Fan­tas­ti­sche! Gera­de die Män­ner, die nichts von dem fried­li­chen Ein­eb­nen der so­zia­len Un­ter­schie­de hö­ren wol­len, die schroffs­ten, un­ver­söhn­lichs­ten ge­ra­de, lie­fern ihre Kin­der dem Ein­fluss aus dem feind­li­chen La­ger aus! Glaubst du, es könn­te auch um­ge­kehrt ei­ner von par­fü­mier­ten Ge­cken er­zo­gen wer­den und doch als tüch­ti­ger Metz­ger­meis­ter sein Brot ver­die­nen? Da! … Weil wir da­von spre­chen: du siehst an den zwei Ge­de­cken, dass ich einen Gast er­war­te. Ich könn­te dir gleich ein Bei­spiel da­für ge­ben, wie …«

Noch mehr über die päd­ago­gi­schen An­sich­ten sei­nes Schwa­gers zu er­fah­ren, heg­te der Jus­tiz­rat kei­ner­lei Wunsch. Ohne jede Rück­sicht auf die Er­re­gung des Dok­tors fiel er mit­ten in den be­gon­ne­nen Satz ein:

»Ich habe dei­ne Vor­be­rei­tun­gen na­tür­lich längst be­merkt und freue mich, mei­ne Frau da­mit trös­ten zu kön­nen, dass ihr Bru­der den Hei­li­gen Abend we­der in trau­ri­ger Ein­sam­keit, noch zwi­schen tu­ber­ku­lö­sen Pro­le­ta­ri­er­kin­dern oder in ei­ner sonst­wie un­er­quick­li­chen Um­ge­bung ver­brin­gen wird. Ich weiß aus mei­ner Stu­den­ten­zeit, dass der­lei un­le­gi­ti­me Fa­mi­li­en­fes­te sehr ver­gnügt aus­fal­len kön­nen. Ob du al­ler­dings nicht bes­ser dar­an ge­tan hät­test, dei­ne Klei­ne schon nach­mit­tags zu be­schen­ken, um den Abend mit dei­nem grei­sen Va­ter zu ver­brin­gen, das wol­len wir da­hin­ge­stellt sein las­sen.«

Der Dok­tor be­müh­te sich, den glei­chen, süß­lich spöt­teln­den Ton zu tref­fen:

»Be­dau­re sehr, dich ent­täu­schen zu müs­sen! Mein Gast ist männ­li­chen Ge­schlechts und Pro­le­ta­ri­er, al­ler­dings we­der tu­ber­ku­lös noch im Kin­desal­ter, ein aus­ge­wach­se­ner Fa­brik­mon­teur, nicht viel jün­ger als du und ich.«