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Die Romane und Erzählungen von Siegfried Lenz (1926-2014) sind ohne das Meer, die Küste und die Menschen in Schleswig-Holstein kaum denkbar. Im nördlichsten Bundesland fand Lenz Schauplätze voller existenzieller Erfahrungen, heiterer Begegnungen und eindringlicher Beobachtungen. Sein erfolgreichster Roman »Deutschstunde« hat für Millionen Leserinnen und Leser das Bild von der schleswig-holsteinischen Westküste geprägt. Das Lesebuch »Siegfried Lenz. Schleswig-Holstein.«, herausgegeben von Günter Berg und Maren Ermisch, versammelt eine Auswahl aus allen Schaffensphasen dieses Ausnahmeliteraten: von den großen Romanen »Deutschstunde« und »Heimatmuseum« über Geschichten rund um den »Geist der Mirabelle« bis zu einem nahezu unbekannten Hörspiel. Mal begegnen wir knurrigen Fischern, humorvoll gezeichneten Dorfbewohnern oder eigenwilligen Künstlern, mal blicken wir mit Lenz auf Landschaften zwischen Husum und Flensburg, zwischen Rendsburg und der dänischen Insel Als. So entsteht ein facettenreiches Bild des Nordens – und ein literarischer Reiseführer durch die Welt von Siegfried Lenz, in der Himmel, Meer und Menschen untrennbar zusammengehören.
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Seitenzahl: 280
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ein Lesebuch
Mit einem dänischen Nachspiel
Ausgewählt von Günter Berg und Maren Ermisch
Mit einem Nachwort von Günter Berg
Ein Lesebuch
wachholtz
Was ich Schleswig-Holstein verdanke
Unter dramatischem Himmel
Im Lager
Die Möwen
Die Flut ist pünktlich
Drüben auf den Inseln
Fast ein Triumph
Die Mine
Strandwetter
Die Flensburger Förde. Schöne, ergiebige Langeweile
Küste im Fernglas
Das Wettangeln
Zwischen Bollerup und Jageby
Eine neue Heimat
Der Geist der Mirabelle
Vor meinen Türen
Die Aussprache
Ein dänisches Nachspiel
Im Netz der Nachbarschaft
Der Abstecher
Kummer mit jütländischen Kaffeetafeln
Nachwort
Textnachweis
Alle Personen, die ich in einem langen Schriftsteller-Leben beschrieben habe, sind fiktive Personen. So, wie sie in meinen Romanen vorkommen, in meinen Erzählungen und Theaterstücken, hat es sie in der Wirklichkeit nie gegeben. Sie sind Kunstgeschöpfe, Erscheinungen der Imagination: sie sind in keinem Einwohnermeldeamt registriert, haben niemals Rente bezogen, lassen sich in ihrer konkreten Existenz nicht nachweisen. Und doch sind diese Personen – mittlerweile könnten sie fast eine Kleinstadt bevölkern – keine Kinder der Lüfte, keine mutwilligen Phantasiegeburten, austauschbar und nur sich selbst bezeugend. All diese Figuren geben vielmehr etwas preis, das sie identifizierbar macht: Herkunft und Haltung, Lebensgewohnheit und Eigenart des Charakters. Indem sie sich zu erkennen geben, beglaubigen sie ihre Hingehörigkeit und erhellen gleichzeitig das nähere Panorama ihrer Existenz.
Aber auch solche Einsichten vermitteln uns erfundene Personen: wir erfahren zum Beispiel, warum einer in Heinrich Bölls Stadt Köln unversöhnt leben muß; warum sich einer in Günter Grass’ Stadt Danzig weigert, erwachsen zu werden; oder wie man Hunger erträgt in Arno Schmidts »Brand’s Haide«. Der Schriftsteller betraut eine fiktive Figur damit, uns seine Welt zu erschließen, zumindest, sie zu erläutern.
Das Land meiner Kindheit ist Masuren, und im Roman und in der Erzählung habe ich versucht, das Land kenntlich zu machen, es erfahrbar zu machen durch die Darstellung von Geschichte und Landschaft, vor allem aber mit Hilfe erfundener Leute. Die stehen für etwas, die repräsentieren etwas, die bringen etwas ans Licht, das die Eigenart der Menschen ahnen läßt. Sie, die es nie gab und doch hätte geben können, führen vor, was zu einheimischem Leben gehört: also Genügsamkeit und treuherzige List, Schicksalsergebenheit und Starrsinn, und, in ihrer Sprache, der bedachtsame Gebrauch des Diminutivs, also der Zärtlichkeitsform, die den Wunsch nach Nähe und Wärme deutlich werden läßt. Und auch das gehört zu Masuren: trockene, pulsende Sommer, Stille über ausgefahrenen Sandwegen, dunkle Waldseen und das Schlittengeläut in harten Wintern.
Der Krieg, der so viele verschlug, verschlug auch mich. Ich lernte Schleswig-Holstein kennen. Ich schlief auf einer Wiese bei Witzwort. In den letzten Kriegstagen hatten wir – ein Marine-Kamerad und ich – unsere Einheit in Dänemark verlassen. Wir waren achtzehn. Durch Jütland kamen wir rasch, doch an der Grenze, bei Kruså, warteten englische Panzerspähwagen. Sie dirigierten uns und viele andere Richtung Husum, auf die Wiesen von Witzwort, wo ein großes Gefangenenlager abgesteckt worden war. Dort las ich die erste freie Zeitung meines Lebens – englische Soldaten gaben sie mir. Dort wurde ich Dolmetscher bei der 66 Disbandment Control Unit, einer Entlassungseinheit, die von Ort zu Ort fuhr und deutschen Soldaten, die sich aus dem Krieg verabschiedet hatten, Entlassungsscheine ausstellte – die brauchte man zum Bezug der Lebensmittel-Karten. Als die Einheit aufgelöst wurde, blieb ich zunächst in Bargteheide hängen.
Freundschaften entstanden, langsam aber haltbar, und nach etlichen Sommern, die meine Frau und ich im Süden Dänemarks verbrachten, auf der Insel Alsen, siedelten wir uns fest in Schleswig-Holstein an.
Seit langem wissen wir, was unsere Wahl bestimmte – eine Entscheidung, Fuß zu fassen, trifft man ja nicht absichtslos. Die Nähe der Küsten zog uns an, der weite Horizont und der oft ereignisreiche Himmel, an dem Korvetten hinabzogen und gedrungene Lastsegler,undderuns,nachlautlosen Veränderungen, dunkel drohte oder, leergefegt vom Ost-Nord-Ost, Strandwetter versprach.
Die für sich liegenden Gehöfte, von Windschutzhecken umgeben, sprachen von Ausdauer und Alleinsein, die Tiere auf den Wiesen boten ein Bild vollkommener Geruhsamkeit, vieles schien zu beweisen, daß Leben sich hier bedachtsam ereignet. Mitunter allerdings, in Abendstunden, bei Westwind, gab es Augenblicke geheimnisvoller Erregung. Wir glaubten, Stimmen in der Luft zu hören, ein Flattern, ein Stöhnen wie bei großer Anstrengung, man konnte annehmen, eine heimliche Bevölkerung äußerte sich da. Auf einmal brachte sich ein Gespensterschiff in Erinnerung, und Storms phantastische Wesen schienen sich zu nähern. Dunkle Ahnung und zweites Gesicht: auch sie geben diesem Land seinen Ausdruck.
Wir kamen als Fremde, um in Schleswig-Holstein heimisch zu werden. Wir waren leidlich vertraut mit der Geschichte des Landes, wir kannten ein paar Orte von kurzen Besuchen und hatten erfahren, wovon die Menschen hier leben. Wir erwarteten nicht, daß unser Wunsch, heimisch zu werden, sich ohne Mühe einlösen ließe, denn mehrere sogenannte Eingeweihte hatten uns darauf vorbereitet, daß Schleswig-Holsteiner eigen sind, in sich gekehrt, verschlossen wie Muscheln, die sich nur langsam öffnen. Einer glaubte, ihnen sogar nachsagen zu dürfen, daß die Leute hier lange aufs Meer hinausblicken können, ohne sich dabei etwas zu denken. Und ein anderer versuchte, die Wesensart der Schleswig-Holsteiner anekdotisch ins Bild zu bringen.
Wie gründlich dieses vagabundierende Vorurteil widerlegt wurde! Als hätten sie selbst, irgendwann in ihrem Leben, den peinigenden Zustand der Fremdheit erfahren, zeigten sich unsere Nachbarn früh bereit, uns diesen Zustand zu ersparen, ihn zumindest zu verkürzen. Sie luden uns ein. Sie machten uns bekannt mit warmherziger Gastfreundschaft. Sie weihten uns ein in die Bedingungen ihres Lebens und gaben uns zu verstehen, was der Tag von ihnen forderte. Und sie führten uns herum und schärften unseren Blick für Wald, Koppel und Heide, und nach einiger Zeit nahmen sie uns mit zu familiären und dörflichen Festen. In freimütigen Gesprächen tauschten wir uns aus über Politik und Geschichte und stellten ohne Erstaunen fest, wie sehr wir übereinstimmten in unserem Verdruß und in unseren Hoffnungen. Unvermeidlich, daß ein Gefühl der Zugehörigkeit entstand. Nicht zuletzt aber glaubten wir, einen Charakter entdeckt zu haben, den Charakter des Landes und, im großen und ganzen, seiner Leute.
In meinen Arbeiten brauche ich viel Wirklichkeit. Weil die Konflikte, die ich darzustellen, die Probleme, die ich auszufragen versuche, zunächst in abstrakter Fassung existieren, halte ich es für notwendig, sie erlebbar zu machen – mit Hilfe von Realität. So also suche ich mir ein Personal, das die Konflikte austrägt – ein nicht beliebiges Personal allerdings, das in luftleerem Raum handelt, vielmehr wähle ich Personen, die einen festen Ort haben, die geprägt sind durch Landschaft und Beruf, die ein Beispiel geben für die allgemeine Schwerkraft des Lebens. Jeder ist ja auf irgendeine Weise gebunden.
Um zu zeigen, welche Probleme dem Menschen aufgegeben sind und wie sie diese bewirtschaften, bin ich in vielen Jahren immer wieder auf Schleswig-Holstein zurückgekommen. Die Nähe ermutigte mich, die Vertrautheit schien meine Wahl zu rechtfertigen. In Romanen und Erzählungen ließ ich meine fiktiven Mitbürger erscheinen und handeln, die Jens Ole Jepsen, die Nansen oder Bultjohann, Leute, deren Namen bereits auf ihre Herkunft verweisen. Ich ließ sie handeln in dunkler Zeit, unter dramatischem Himmel, ich zeigte sie als Teichwirt, als Inselbewohner, als Baumschulen-Arbeiter, ich versetzte sie in eine extreme Situation auf einem Feuerschiff oder porträtierte einen von ihnen als Maler, der diesem Land auf seine Art einen Ausdruck verleiht. Sie verhielten sich, wie ich es ihnen auferlegte, doch in Übereinstimmung mit ihrem Wesen.
Nichts weniger versuchte ich, als die Eigentümlichkeit des Schleswig-Holsteiners zu bestätigen, in seinen Reaktionen, in seinem Weltverständnis, in seinen Bemühungen, Leben zu meistern. Echos aus vielen Ländern bestätigten mir, daß diese Eigentümlichkeit wohl erkannt wurde, selbst ein so besonderer ortseigener Begriff wie »schichtig kieken« – also eidetisch begabt zu sein – wurde verstanden; mein japanischer Übersetzer z.B. fand dafür die Entsprechung »Von Buddha erleuchtet«.
Die Probleme, die mich als Schriftsteller beschäftigten, entsprachen dem Haushalt meiner Erfahrungen. Verkürzt hießen sie: »Pflicht und Neigung« oder »Macht und Kunst« oder einfach »Lebensgründung«. Mich interessierte aber auch die »Gegenwärtigkeit des Vergangenen«, die »Auflehnung gegen ein Schicksal« und immer wieder die »Krisen unserer Entscheidungen«. Diese mit lebensfähigen Personen ins Bild zu bringen, habe ich oft versucht. Nachdenkend über diese Versuche in vielen Jahren ist mir klargeworden, daß sie nicht möglich gewesen wären ohne mein erlebtes Schleswig-Holstein.
Nur der letzte Lauf zählt. Aber ich weiß noch, ich sehe noch, wie er zum erstenmal lief; nie werde ich es vergessen, die friedlichen Abende in der Gefangenschaft damals, die Windstille, das flache Land, die Erschöpfung, vor allem das flache Land, zerschnitten von schwarzen Wassergräben, begrenzt vom grünen Wulst des Deiches, hinter dem das Meer gleichmäßig und unaufhörlich rauschte. Im Nordwesten von Schleswig-Holstein lagen wir, Husum war nicht weit, und wir, eine Kompanie von Magenkranken, von Diät-Kriegern, lagen vor unseren Zelten auf der Wiese, umgeben von dem tiefen, gleichgültigen Horizont und von vier jungen Wachsoldaten. Bert und ich waren Versprengte. Wir hatten unsere Einheiten verloren, oder die Einheiten hatten uns verloren – die Trauer darüber war zu ertragen –, doch ein Jeep fing uns nacheinander auf einer staubigen Brücke ab und fuhr die Versprengten zu den Diät-Helden, in eine ordentliche Gefangenschaft. Obwohl der Krieg schon vorbei war, hatten sie ein Zelt für die Schreibstube, ein ungeflicktes Zelt für den Zahlmeister: Wie Pilze, ja, wie schmutzige Pilze, bedeckten die Zelte die Wiese, über die in verstörtem Flug, drehend, winkelnd und klatschend, die ersten Kiebitze strichen. Wir meldeten uns auf der Schreibstube, begrüßten den magenkranken Zahlmeister, der mit fleckigem Gesicht auf einem Feldbett lag: »Solange ihr keine Portionen verlangt, habe ich nichts gegen euch«, sagte er, und dann winkte er mit der Hand, leicht, so wie man Fliegen verscheucht, und der magenkranke Spieß erwartete uns am Zelteingang und gab uns zwei Schlafplätze … Wir schliefen Kopf an Kopf, Bert schlief zwei Tage und zwei Nächte; ich hörte ihn im Schlaf seufzen, sah, während er schlief, die Schatten tiefer Müdigkeit auf seinem hautstraffen Gesicht, und Abwehr, ja, ein Ausdruck von erschrockener Abwehr, von Zurückweisung und Protest erschien manchmal in seinen Zügen. Wie leise er atmete! Seine schmächtige Brust hob und senkte sich kaum. Leicht lagen die Hände neben dem Körper, die Finger in die Innenflächen gekrümmt. Wie groß mußte seine Erschöpfung sein, daß sie ihn so schlafen ließ, mit dieser vollkommenen Unterwerfung, dieser willenlosen Hingabe: Sein Schlaf war eine stumme Kapitulation. Ich lag neben ihm, ich lauschte auf seinen Atem, fürchtete mitunter, daß er aussetzen könnte; ich starrte am Tag auf das poröse Dach des Zeltes, beobachtete die kleinen Punkte der Kuhfliegen, die ruckartig über das Dach krabbelten, und wenn ich hinübersah zu ihm, erschrak ich manchmal beim Anblick seines jungen, eingefallenen Gesichts. Draußen, unter der milden Sonne, in der salzigen Luft, saßen die Diät-Krieger und lauschten endlosen Vorträgen: jeder, der etwas zu erzählen hatte, oder glaubte, etwas zu erzählen zu haben, hielt Vorträge unter freiem Himmel, o, ich höre noch ihre Stimmen hinter der Zeltwand … Den Germanisten höre ich noch, der vorsichtig Heinrich Heine rügte, den Scheidungsanwalt, der so ausführlich aus seiner Praxis referierte, als wollte er die ganze Kompanie zu Scheidungsanwälten ausbilden, ah, und auch die zwitschernden Laute des Japanologen höre ich noch, von dem ich immer fürchtete, er werde der magenkranken Kompanie eines Tages zu Schlitzaugen verhelfen. Mitunter, wenn Bert für einen Augenblick wach wurde, horchte er auf die Vortragenden draußen, ich lächelte ihm zu, ermunternd, auffordernd; ich schlug ihm vor, gemeinsam hinauszugehen, doch er schüttelte sanft den Kopf, schloß die Augen und schlief, und in seinem Schlaf hörte ich ihn seufzen und sah manchmal den Ausdruck erschrockener Abwehr in seinem Gesicht … Seife und Keks, ja, als der Zahlmeister uns herausholen ließ, um Seife und Keks auszugeben, da stand Bert zum erstenmal auf, legte sorgfältig seine verfilzte Decke zusammen und verließ das Zelt. Es war ein kühler Morgen, die Sonne noch bläßlich, die Wiese naß und federnd unter den Schritten; ich sah, wie er zu einem der schwarzen Wassergräben ging, die das grüne Land durchschnitten, hastig den Jumper über den Kopf streifte, das Hemd, und wie er eine Sekunde zögernd dastand unter dem Blick des englischen Postens, bevor er sich der Länge nach hinwarf und heftig und genußvoll wusch. Dann kam er zurück, trocknete sich vor dem Zelt ab und zog sich an. »Und jetzt zu den Keksen«, sagte er. Wir stellten uns vor dem Zelt des Zahlmeisters auf, gemächlich schoben wir uns in der Reihe näher, und dann, als wir dranwaren, gab der Zahlmeister dem Bullen, der die Kekse verteilte, ein Zeichen. »Halbe Ration«, sagte er, und wir bekamen die halbe Ration. Mit Keks und Seife zogen wir ab, traten wieder hinaus in den kühlen Morgen; überall knirschte, knabberte, krachte es, als ob Kaninchen sich zu einem Wettessen eingefunden hätten. Sitzend, liegend und selbst im Gehen wurden die Kekse gegessen, und als wir an unserem Zelt ankamen, hatte Bert nur noch die graue Seife in der Hand, an der er argwöhnisch roch und die er plötzlich in einen der schwarzen Gräben feuerte … Ich sah, daß er Hunger hatte. Ich begleitete ihn zu den kleinen Feuerstellen, auf denen sich die Diät-Helden Brennesseln kochten: Brennessel-Suppen, schleimige Brennessel-Puddinge, einige versuchten sogar, Brennesseln mit Keksen zusammenzukochen – Bert beobachtete die eifrigen Köche, nickte ihnen anerkennend zu, doch ihre Einladungen lehnte er ab. Grün, nur Grün umgab uns, das Land lag da in schwerem Grün, aus den Kochgeschirren klecksten sie Grün in die Eßdeckel, selbst der tiefe Horizont hatte einen grünen Schimmer … Um unsere Wiese lief ein einfacher Stacheldraht, verrostet, an morschen Pfählen befestigt, ja, und an jenem Abend streiften wir am Zaun entlang. Behutsam löste Bert Roßhaare aus dem Stacheldraht, legte die Haare in seine Brieftasche, und später, als wir im Zelt waren, begann er, die Roßhaare zu flechten und aus den geflochtenen Haaren eine Schlinge zu machen, die er hängend an einem Stock befestigte. Ich begleitete ihn zu den schwarzen, schilfgesäumten Gräben, er trug den Stock mit der Roßhaarschlinge, eine helle Erwartung lag auf seinem Gesicht, Glück war es, das ihn alles vergessen ließ: die Zelte, den Hunger und alles, gegen das er im Schlaf protestierte – und ich war dabei, wenn er geduckt, mit sehr langsamen Bewegungen an den schwarzen Gräben entlangschlich und den schlammigen Grund absuchte … Wie er sich bewegte: gleitend und fließend durch das Gras, erschütterungslos und ohne Geräusch. Bert stammte aus den Wäldern an der polnischen Grenze, polnische Holzflößer hatten ihm gezeigt, wie Schlingen gedreht und Fische geschlingt werden: »Du mußt den Fisch immer von vorn in die Schlinge nehmen«, sagte er, und ich sah auch, warum. Sobald sich hinter dem Fisch etwas bewegt, erliegt er seinem Fluchtinstinkt, schießt davon, ehe die Schlinge über seinem Körper liegt, denn die Gefahr kommt für den Fisch von hinten. Wenn die Schlinge von vorn über seinen Kopf gezogen wird, steht er still da – allerdings darf die Schlinge den Fisch nicht berühren … Ah, ich weiß noch, wie Bert mich zum ersten Male heranwinkte, ich schlich zu ihm, er deutete auf den Graben, auf die grüne Krautdecke, unter der der entenschnabelige Kopf eines Hechts hervorstand, und Bert zog die Schlinge aus Roßhaar zunächst durch seinen Mund, um sie feucht zu machen, senkte sie dann gleichmäßig ins Wasser, ließ sie vor dem Kopf des Hechts einige Sekunden ruhen und führte sie schließlich nach hinten. Er blinzelte mir zu, der Stock ruckte heftig an, und über meinen Kopf hinweg schleuderte er den Hecht auf die Wiese. Bert griff ihn mit beiden Händen. Er betrachtete den zukkenden, in der Sonne glänzenden Fisch. Es war ein kleiner Hecht. Wortlos trug Bert ihn zum Graben zurück und setzte ihn ins Wasser: Der Hecht hätte unsern Hunger nicht beseitigt, aber er hätte zumindest Berts Hunger beschwichtigt; trotzdem tötete er ihn nicht, sondern ließ ihn davonschießen, nachdem er den Fisch – der sich heftig in seiner Hand hin- und herbog – eine kleine Weile im Wasser festgehalten hatte … Nein, er tötete den Hecht nicht, er schlich weiter an den Gräben entlang, Tag für Tag begleitete ich ihn, doch die Aale, die er zu schlingen hoffte, riß er nicht an Land. Die Aale standen nicht, sie wanderten sacht über den schlammigen Grund, und jedesmal, wenn er die mit Speichel befeuchtete Schlinge vor ihnen ins Wasser tauchte, stießen sie erschreckt in den Schlamm, die peitschenden Schwanzflossen wirbelten schwarze Wolken im Graben hervor. Blasen stiegen wackelnd an die Oberfläche, und wenn der lockere Schlamm sich gesetzt hatte, träge niedergeschwebt war, zog Bert mich weiter; denn er wußte, daß der Aal frühestens in der Dunkelheit die Sicherheit des Schlamms verlassen würde. Die Hechte, die in den Gräben standen, waren zu klein. Die Aale entkamen uns. Wir verbrachten die Tage mit Keksen und Erwartung, und ich sah, daß der Hunger Berts Züge scharf werden ließ. Er versuchte zweimal, zu den Torfteichen unter dem grünen Wulst des Deiches zu kommen; zweimal baten wir den Posten, uns durchzulassen, uns zu begleiten, wenn er es für nötig hielt: Bert glaubte, daß er in den Torfteichen einen größeren Hecht schlingen könnte – der junge Posten schüttelte den Kopf, traurig immerhin, ja, es war ein teilnahmsvolles Verbot, das wir von ihm erhielten. Kein Fisch, und am Ende suchten wir junge Kalmusspitzen, wir pflückten staubige Brennesseln am Feldweg, der zur Wiese führte, wuschen sie, kochten einen grünen Kleister, in den Bert zusätzlich Kekse hineinkrümelte, und wenn wir gegessen hatten, blickten wir uns gefaßt und still an, so als rechneten wir darauf, daß irgend etwas in uns explodieren würde. Welch ein Frühjahr! Der Himmel wolkenlos, von bläßlichem Blau wie die Haut eines angedünsteten Fisches, hinter dem grünen Wulst des Deiches das Meer, unsichtbar für uns, aber als Gewißheit vorhanden – wir rochen es, hörten das gleichmäßig ziehende Geräusch der Wellen, das Klicken gegeneinander geworfener Steine. Und dann die Stimmung zwischen den Zelten, eine Stimmung von absolutem Feierabend, in der friedlich die Rauchsäulen von kleinen Feuerstellen aufstiegen … Bert wollte nicht Scheidungsanwalt, ich nicht Japanologe werden: Während der Vorträge lagen wir unter dem porösen Zeltdach, beobachteten Kuhfliegen, lauschten auf das Geräusch schwerer Brummer, die torkelnd gegen das Zeltdach bumsten, und manchmal, nachts besonders, spürte ich, daß Bert mich prüfend anstarrte. Seine Augen glühten neben mir in der Dunkelheit des Zeltes, unbeweglich, ich fühlte seinen Atem auf meinem Gesicht, und ich stellte mich schlafend, während er mich unter dem Arm hervor lange ansah … Als dann der Morgen kam – jener Morgen, an dem wir in der Dämmerung geweckt und aus den Zelten geholt wurden –, sah ich ihn erschrecken beim Anblick der beiden Panzerspähwagen, die außerhalb des Stacheldrahts auf der Wiese standen. Die MGs der Panzerspähwagen waren auf die Zelte gerichtet. Wir mußten antreten. Wir mußten uns ausziehen. Frierend standen wir Diät-Helden in der nebligen Frühe da, dann kam von einem der Panzerspähwagen ein schnurrbärtiger Offizier herüber, wir mußten die Hände hochheben, und der Schnurrbart ging sehr aufmerksam an den Männern vorbei und blickte in ihre Achselhöhlen. Bert stand neben mir, sein Körper zitterte unter Schauern, mit schmalen Lippen sah er abwechselnd zu den Panzerspähwagen, als suche er die Lücke für die Flucht. Der Schnurrbart kam langsam näher, ohne einem einzigen ins Gesicht zu blicken. Manchmal blieb er stehen, trat dicht an einen Mann heran. Ich sehe es noch, wie er bei jedem die Innenseite des Oberarms inspizierte, befriedigt nickte und weiterging. Bert erwartete ihn mit schmalen, zusammengepreßten Lippen, seine Halsmuskeln wurden straff, da war der Major – es war ein Major – bei uns, und er blieb vor Bert stehen, lange, viel zu lange, schien es mir, so daß ich dachte, nein, ich dachte nichts, sah nur in das Gesicht des Majors, das von gemütlicher Korrektheit geprägt war, langkinnig, graue, forschende Augen, und diese Augen ruhten auf Bert, auf seiner schmächtigen Brust. Ich hörte den Major leise fragen – »Name?« – und gleich darauf Bert antworten, und der englische Major sah ihn eine ganze Weile an und ging plötzlich weiter. Er suchte die kleinen Narben der Blutgruppenbezeichnung – später habe ich es erfahren –, doch keiner von uns trug diese Narbe: So verschwand der Major mit seinen Panzerspähwagen … An jenem Tag sprach Bert kein Wort, er aß nichts, er legte sich ins Zelt und starrte an die Decke, und er lag am Abend immer noch so da – die Arme unter dem Kopf verschränkt –, ohne das Brennessel-Kompott, das ich ihm reingeschoben hatte, berührt zu haben. In der Nacht glühten seine Augen neben mir, ich spürte, daß er mich wieder beobachtete, spürte auch, daß er auf etwas wartete oder hoffte, aber ich rührte mich nicht und sagte nichts. Ich lag mit halbgeschlossenen Augen neben ihm. Und plötzlich der Schreck, als er sich aufrichtete, als er sich lautlos näherte und sein Gesicht über mich schob, ja, ich erschrak, als die glühenden Augen über mir waren.
»Schläfst du?« fragte er, obwohl er sah, daß ich wach war. Dann die flüsternde Stimme halb über mir, o, daß er flüstern konnte, vielleicht flüstern mußte in diesem Augenblick; es fiel ihm nicht leicht, nein, und wahrscheinlich tat er es nur, weil die Dunkelheit ihm mein Gesicht verbarg, das schweigende Entsetzen, das er selbst hervorgerufen hatte. »Ich dachte, sie wollten mich abholen mit den Panzerspähwagen«, sagte er, und nach einer Weile – ich rührte mich nicht, und seine Augen waren über mir – nannte er einen Namen, er flüsterte ihn, lauschte ihm nach, als erwarte er von ferne eine Antwort, doch Viktor – es war der Name, den er nannte – konnte ihm keine Antwort mehr geben. Viktor stammte aus den Wäldern an der polnischen Grenze wie Bert; sie waren beide in Grabowen aufgewachsen, in all der Einsamkeit ihres Landes dort, sie waren in der Schule zusammen, sie waren in ihrer Kompanie zusammen; ich höre noch, wie er flüsternd von der Zeit erzählte, als sie zusammen waren, von ihrem reinen Komplizentum, das ohne Worte auskam, das sich durch Mauern hindurch verständigte und zusammendachte und einig war … Merkwürdig, gleich, als ich Bert zum ersten Male sah, auf der staubigen Brücke schon, wo uns der Jeep auffing, dachte ich, daß Bert ein Deserteur sein müßte, und jetzt flüsterte er es in mein Gesicht hinein. Er erzählte, wie sie – Viktor und er – in einer Nacht mit ihren Waffen flohen, um den Quälereien ihres Ausbilders zu entkommen, in Dänemark oben, wenige Wochen vor dem Ende des Krieges. Sie stammten aus den Wäldern und suchten nun Schutz in den Wäldern. Sie schliefen am Tage abwechselnd in altem Laub. Nachts streiften sie nach Süden. Sie kannten jederzeit ihren Standort und die Entfernung zu den Verfolgern. Sie lebten von Brot, ungebleichtem Zucker und rohen Fischen. Und dann – ein Sonntag muß es gewesen sein – ja, Bert sagte, es war ein Sonntag, denn sie hatten sich zum ersten Male seit ihrer Flucht rasiert – dann der glatte See, das jenseitige freie Ufer, suchende Soldaten drüben und eine Hand, die plötzlich auf sie zeigte, warnende Rufe darauf, Schritte und schließlich Schüsse. Die Ungläubigkeit, der Ausdruck schmerzvollen Erstaunens auf Viktors Gesicht, als er mitten im Lauf stehen blieb, sich aufbäumte und nach einer kurzen Drehung des Körpers auf den Boden sackte und nichts mehr sagte als »Ach, du Scheiße«, worauf er fordernd und verblüfft auf Bert blickte, als erwarte er von ihm eine Erklärung dafür, warum er dalag und von allein nicht hoch konnte. Doch er begriff schneller und sicherer als Bert, was geschehen war, er hatte das Feuer in der Lunge, und er forderte Bert zuerst mit den Augen und später mit Worten auf, das zu tun, was zwischen ihnen ausgemacht war, bevor sie in die Wälder gegangen waren. Ja, ihr Komplizentum ging so weit, daß sie ausgemacht hatten, den andern nicht lebend, und sei es auch halb lebend, in die Hände der Verfolger fallen zu lassen: Viktor nickte, mühsam, auffordernd und ungeduldig, aber Bert zögerte, er konnte das Sturmgewehr nicht entsichern, während Viktor vor ihm lag. Wie Viktor dann zitternd den Lauf packte, ihn fest gegen seine Brust drückte, den Lauf unerwartet abhob und in den Mund steckte, wobei er befehlend nickte … Ah, sie hatten nie geglaubt, daß sie dies Versprechen je würden einlösen müssen. Ungeduldig schlug Viktor mit den Absätzen gegen das Laub. »Drück ab«, sagte er, »worauf wartest du«, und Bert entsicherte das Sturmgewehr, ja, er tat es, doch da waren die Schritte, die Verständigungsrufe der Verfolger auf dieser Seite des Sees zu hören, und jetzt wußte er, daß ein Schuß sie sofort herangeführt hätte. Er sah Viktors Gewehr zwischen den Stämmen im Laub liegen. Er hob es nicht auf. Er legte auch sein Gewehr in das Laub. Viktors verächtlicher Blick, ja, er hatte noch die Kraft zur Verachtung. Bert hielt diesem Blick nicht stand, und er zog sein Seitengewehr, während die Verfolger näherkamen und Viktor schwach und zustimmend nickte; er öffnete den dreckigen Rock des Verwundeten, er schob das Hemd hoch, weiß sah er Viktors Haut vor sich schimmern, auf die er jetzt die kalte, bläuliche Spitze des Seitengewehrs senkte. Und Viktor lächelte, seine Augen öffneten sich weit, als Bert sein Versprechen erfüllte und zustieß ... Schweigend hörte ich ihm zu in der Dunkelheit des Zelts, sein Atem war über mir, die glühenden Augen, und in der grausamen Stille, die nun herrschte, merkte ich, daß er etwas von mir erwartete. Ich konnte ihm nichts sagen. Ich mußte daran denken, wie er mich nachts beobachtet hatte, ehe er sich entschloß, mir alles zu erzählen, und erst als er mich fragte: »Was soll nun werden?«, sagte ich zu ihm: »Komm, Junge, wir wollen jetzt schlafen.« … In jener Nacht schlief Bert. Er schlief bis zum Morgen, und ich weckte ihn, und er sah mich an wie einen Fremden. So blieb es: Er streifte allein an den schwarzen Gräben entlang, allein bereitete er seine Brennesseln zu, er ging seine eigenen Wege, so gut es auf dieser Wiese möglich war. Er wich den andern aus, wich besonders mir aus, und manchmal spürte ich eine sanfte Feindseligkeit mir gegenüber. Er nahm jetzt auch an den Vorträgen teil, verschlossen hockte oder lag er in der letzten Reihe: Bei den Vorträgen war er sicher vor den andern, das hatte er herausgefunden. Ich gab es auf, mit ihm zu sprechen, er antwortete gleichgültig, er lehnte alles ab, und wenn mein Vorschlag einmal mit seinen Absichten übereinstimmte, änderte er seine Absichten, noch während er sprach. Oft sah ich Bert allein an einem Graben vor dem schmalen Feldweg sitzen. Er hatte einen Stock in der Hand und rührte damit in dem schlammigen Wasser, in der grünleuchtenden Entengrütze – ah, ich ließ ihn sitzen, wo er saß, ich wurde es müde, mich um ihn zu kümmern … Kekse und Vorträge, und nichts deutete darauf hin, was sich ereignen würde, und als es begonnen hatte, weigerten sich viele, den Ernst anzuerkennen oder doch dem Ereignis eine Chance zuzugestehen. In der Abenddämmerung begann es, Schatten lagen unter dem Wulst des Deiches, von der See her kamen Seevögel herüber und fielen im Schilf bei den Torfteichen ein, und über den Zelten erklang das böse Gesirr auf- und absteigender Mückenschwärme. Wir, die Diät-Helden, waren angetreten, der magenkranke Zahlmeister mit dem fleckigen Gesicht ermahnte uns zur Sparsamkeit im Verbrauch von Seife, Verbrauch von Keksen und im Verbrauch von Luft; außerhalb des Lagers standen die Posten, reglos wie Fischreiher an den Gräben standen sie da, und auf einmal, der Zahlmeister redete noch, verließ Bert das Glied: Er hörte auf keinen Zuruf, wandte nicht den Kopf, mit ruhigem Schritt ging er über die Wiese, während wir ihm schweigend nachblickten, ging ohne sichtbares Zeichen von Eile oder Furcht oder Vorsicht bis zum Stacheldraht, an dem unser Auslauf endete. Der nächste Posten war hundert, vielleicht auch hundertfünfzig Meter von ihm entfernt, doch Bert vergewisserte sich offenbar weder der Entfernung noch seiner Chance; er kroch unter dem Stacheldraht hindurch, sprang über den Graben, und dann, ja, dann sah ich ihn zum ersten Male laufen … Zwei Posten verfolgten ihn, nachdem ihre Verdutztheit vorüber war, ich sah, daß sie sich erst aus der Erschrockenheit, der Überraschung lösen mußten, bevor sie ihm nachsetzten, und ich sah Bert laufen: Den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, die Arme hoch angewinkelt, mit hämmerndem Schritt, stolpernd manchmal in Vertiefungen, über harte Grasbüschel – so lief er zu den Torfteichen, gehemmt plötzlich durch ein überschwemmtes Wiesenstück. Das Wasser spritzte an ihm empor, das tote Schilfrohr brach und knackte unter seinen Schritten, und neben und vor ihm stoben klatschend Seevögel auf, deren gellende Warnrufe die Luft erfüllten. Sie kreisten über ihm, warnend und klagend, einige flogen ihn an, so daß es aussah, als stürzten sich weiße Geschosse aus der Dämmerung, aber knapp vor ihm winkelten sie ab und zogen steil nach oben, kreisten wieder über ihm, eine Wolke der Klage … Sie schossen nicht, nein, die Posten schossen nicht auf ihn; wir standen und warteten darauf, wir sahen, daß Berts Vorsprung immer größer wurde, bald mußten sie schießen: Worauf hofften sie noch? Hofften sie, daß ihre Zange ihn fassen würde, auf der andern Seite des Deiches, am Meer unten, wo alle Wege aufhörten? Hofften sie, daß er im Sumpf einsacken, steckenbleiben würde? Sie trugen die Gewehre in der Hand … Das faulige Wasser der Torfteiche, das Aufschwappen des Wassers, als er sich hineinwarf, verschwunden blieb und erst zwischen dem schießenden Schilf auf der andern Seite auftauchte, und wie er sich herausschleppte dann, keuchend, mit unerträglicher Langsamkeit – jetzt ist es vorbei, dachten wir – und wieder hoch kam und unter dem Wulst des Deiches entlanglief, harter, trommelnder Schritt: Nun mußten sie schießen. Bert zog sich die Böschung empor auf den Deichrücken: die Silhouette des fliehenden Läufers gegen den Abendhimmel, ja, er lief immer noch, einen Arm schräg nach unten weggestreckt … Zwei Schüsse hintereinander, mißlungener Start, Schuß und Rückschuß: zurück an die Plätze – beide Posten standen vor den Torfteichen und schossen auf ihn. Nach dem dritten Schuß ließ er sich fallen. Er kippte die Böschung des Deiches zur Seeseite hinab; zum ersten Male hatte ich ihn laufen sehen, und im Zelt später, unter meiner Decke, fand ich seine Keksration, die er für mich zurückgelassen hatte. …
Wie beharrlich sich alles anbietet und aufdrängt, jetzt, wo die Leinen losgeworfen sind, und wie zuverlässig es sich wieder herstellen läßt: ich rolle einfach das flache Land aus, schneide ein paar Gräben und dunkle Kanäle hinein, die ich mit holländischen Schleusen bestücke, setze auf künstlichen Hügeln die fünf Mühlen hin, die ich von unserem Schuppen aus sehen konnte – darunter auch meine flügellose Lieblingsmühle –, und lege um die Mühlen und die weiß und rostrot getünchten Anwesen den Deich wie die schützende Beuge eines Arms, stelle im Westen noch den rotbemützten Leuchtturm auf und lasse die Nordsee an den Buhnen auflaufen – dort, wo der Maler sie aus seiner Bretterbude beobachtete in ihren Anläufen und Stürzen und schäumenden Waschungen –, und jetzt brauche ich nur dem schmächtigen Ziegelweg zu folgen, um mein Rugbüll vor mir zu haben, das heißt zunächst das Schild »Polizeiposten Rugbüll«, unter dem ich so oft stand und auf meinen Vater wartete, manchmal auf meinen Großvater, selten auf Hilke, meine Schwester.
Wie regungslos jetzt alles zur Verfügung ist, das Land, das scharfe Licht, der Ziegelweg, die Torfteiche, das Schild, das an einen ausgebleichten Pfahl genagelt war, wie ruhig jetzt alles aufschwimmt aus unterseeischer Dämmerung, die Gesichter, die krummen Bäume, die Nachmittagsstunden, in denen der Wind sich legte, alles bringt sich in Erinnerung, und ich stehe wieder barfuß unter dem Schild, beobachte den Maler – oder nur den Mantel des Malers –, der schief über den Deich flattert und der Halbinsel zustrebt, und es ist Frühjahr bei uns im Norden mit salziger Luft und kaltem Wind, und ich warte wieder in meinem Versteck, in dem alten, radlosen Kastenwagen mit der aufwärtsgerichteten Deichsel, warte auf meine Schwester Hilke und auf ihren Verlobten, die gleich zur Halbinsel gehen werden, um Möweneier zu sammeln.
Ich hatte gequengelt und hatte sie gebeten, mich mitzunehmen zur Halbinsel, aber Hilke wollte nicht, Hilke entschied einfach: Das ist nichts für dich, und darum lag ich zusammengekauert auf der splittrigen Ladefläche des Kastenwagens, um sie zu erwarten und ihnen unbemerkt zu folgen, nach Möglichkeit unbemerkt. Mein Vater saß drinnen in seinem schmalen Büro, das ich nicht betreten durfte, und schrieb mit seiner schleifigen Handschrift Berichte, während meine Mutter sich im Schlafzimmer eingeschlossen hatte, wie so oft in jenem mißlungenen Frühjahr, in dem Hilke uns zum ersten Mal ihren Verlobten ins Haus gebracht hatte, ihren »Addi«, wie sie Adalbert Skowronnek nur nannte. Ich hörte, wie sie aus dem Haus kamen, sah sie durch einen Spalt am Schuppen vorbeigehen zum Weg, Hilke voran in ihrer befehlsgewohnten, rechthaberischen Art, er wie immer mit steifen Beinen einen Schritt zurückhängend. Da wurden keine Finger verschränkt, meine ich, kein Arm suchte sich eine Ruhestellung an der Hüfte – in dieser kreuzweis gelegten Art –, auch schien ihnen nichts an einer Unterhaltung durch Drucksignale zu liegen, während sie dem Ziegelweg zustrebten unter den zischenden Geräuschen ihrer Regenmäntel und sich dann dem Deich zuwandten, ohne zurückzublicken. Sie gingen so, als ob sie wußten, daß sie beobachtet wurden, gehemmt, mit viel zu gleichartigen Bewegungen, vor allem aber bemüht, nichts anderes hervorzurufen als den Eindruck, daß das einzige, was sie zu finden hofften, Möweneier seien. Die unwillkürliche Versteifung des Rückens, der schwere Schritt, der an einen Schritt in Bleischuhen erinnerte, die Vermeidung jeder Berührung – all das schien nur eine Folge davon, daß die Gardine vor dem Schlafzimmerfenster sich sanft bewegte, sich bauschend hob und zurückfiel oder auch eilig gerafft wurde.
Ich wußte genau, daß sie dort stand. Ich wußte, daß sie von dort herabblickte, mißbilligend und auf ihre Weise außer sich, mit hochmütig gekrümmten Lippen, das strenge, rötliche Gesicht unbeweglich. Zigeuner, hatte sie nur leise und fassungslos zu meinem Vater gesagt, als sie erfuhr, daß Addi Skowronnek Musiker war, Akkordeonspieler, und daß er in demselben Hamburger Hotel »Pazifik« arbeitete, in dem auch Hilke als Kellnerin tätig war: Zigeuner, und danach hatte sie sich im Schlafzimmer eingeschlossen, Gudrun Jepsen, die mütterliche Säulenfigur meines Lebens.
