Sieh mich jetzt - Sandra Schwartz - E-Book

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Sandra Schwartz

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Beschreibung

Evas kleiner Bruder ist krank. Richtig krank. Seine Krankheitfordert oft die ganze Familie, undalsEva dannnach einer Woche Abwesenheit wieder in die Schule kommt, ist ihre beste Freundin, Maja, plötzlich mit dembeliebtestenMädchen der Klasse befreundet. Und die beidenhaben angefangen zu tanzen. Einfach Scheiße?!Von nun an geht allesschief, und Evaschafft esnicht einmal,Majazu erzählen,dass sie mitten im Matsch undimwirbelndenSchnee einen süßen, spannenden und unglaublich verwirrenden Typen getroffen hat … "Sieh mich jetzt" handelt von dem wildesten Winter im Leben der 14-jährigen Eva. In der Familie istalles aufStand-bygestellt, weil der kleine Bruder krank ist, aberdraußen dröhnt die Wirklichkeit weiter. Eva istmittendringefangen, fürchtet um ihren kleinen Bruder, ihre beste Freundin und hat Angst sich selbst in der ersten Liebe zuverlieren. ÜBER DIE AUTORIN Sandra Schwartz ist 1979 in der Nähe von Kopenhagen geboren. Sie ist die Autorin einer Reihe von Jugend- und Kinderromanen. Schwartz sagt, dass Geschichten immer in ihrer Seele gelebt haben. Sie findet ihre Inspiration in ihrer Großmutter, die eine fantastische Erzählerin war. Wenn Sandra Schwartz am Computer sitzt, denkt sie an das Wohnzimmer der Großmutter, die Sicherheit, den Duft des frischen Brots und des Apfelkuchens. Und in diesem gedanklichen Raum leben ihre Geschichten... SANDRA SCHWARTZ IST DIE AUTORIN EINER REIHE VON JUGEND- UND KINDERROMANEN. REZENSION "Ein gutes Jugendbuch, das Themen wie Krankheit, Freundinnen und die erste Liebe aufgreift. Die Sprache ist leicht verständlich und die Verfasserin erreicht auf ansprechende Weise die Zielgruppe. Die Leser werden sich leicht mit den Gefühlen und den Problemen, die die Verfasserin vermitteln möchte, identifizieren können. Sandra Schwartz hat bereits Leichtlese-Bücher geschrieben; hier wendet sie sich ebenso erfolgreich an eine neue Zielgruppe." -Lektor: Henriette Olesen

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Seitenzahl: 244

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Sandra Schwartz

Sieh mich jetzt

 

 

 

Lindhardt & Ringhof

Die Schmetterlingsreihe ist für Mädchen zwischen 9 und 14 Jahren konzipiert. Thema, Sprache und Gefühle sind genau den Leserinnen der Zielgruppe angepasst. Außerdem wird Wert auf die Qualität bei der Auswahl der Geschichten für die Serie gelegt. Da die Zielgruppe der Serie verhältnismäßig groß ist, sind die Titel auf zwei Gruppen verteilt. Ein Schmetterling markiert, dass es sich um einen Titel handelt, der sich an die jüngere Zielgruppe wendet (9-11 Jahre), und zwei Schmetterlinge markieren, dass sich der Titel an den älteren Teil der Zielgruppe wendet (12-14 Jahre).

Kapitel 1

„Du siehst furchtbar aus, weißt du das?“ sagt Maja, direkt als ich die Kopfhörer meines iPod Shuffle rausnehme. Ich habe Duffy den ganzen Weg zur Schule gehört und bin gerade an meinem Platz im Klassenzimmer angekommen. Es ist Montag, aber ich wünschte, es wäre Freitag. Freitag, wenn Maja und ich es uns einfach gemütlich machen und reden. Reden … hm … das könnte ich jetzt gut gebrauchen.

„Mmh,“ seufze ich und verziehe das Gesicht, lasse meine Tasche auf den Boden fallen und setze mich auf den Stuhl. Hole mein pinkes Mäppchen aus der Tasche und lege mich dann mit dem Kopf auf meinem Arm auf den Tisch. Sehe Maja an. Sie zwinkert mir zu, ihre moosgrünen Augen funkeln und die Sommersprossen tanzen mit ihren Grübchen um die Wette. Wir sind gleich alt. Es liegen nur wenige Monate zwischen uns, trotzdem schätzen sie die Leute immer auf 15 und mich auf genau 14. Das ist SO nervig, denn es ist ein himmelweiter Unterschied, 14 oder 15 Jahre zu sein.

„Was ist passiert, Bella? Hattest du heute Nacht ein Date mit Edward?“ Sie kichert und mein Magen zieht sich zusammen. Sie ist hübsch, voller Leben und Energie und endloser Tage.

„Ne, ich habe einfach nicht so gut geschlafen“, antworte ich und versuche zu lächeln. Die Wahrheit ist, dass ich heute Nacht fast kein Auge zugemacht habe. Genauso wie letzte Nacht, die Nacht davor und die Nacht davor.

Krankenhäuser sind nicht schlaffreundlich. Dort ist es nie richtig ruhig. Licht, Geräusche und Gerüche drängen sich konstant auf. Aber das Putzige ist, dass, wenn man lange genug dort ist, man sich daran gewöhnt. Und das Piepen, das Blinken, und das Kratzen in der Nase werden zu einem Teil der Nacht. Zu Hause lärmt die Stille. Zwingt mein Gehirn zu Denküberstunden. Mads. Maja. Mads. Maja. Mads. Maja. Als ob es einen Sprung bekommen hat und dasselbe wieder und wieder spielt. Nonstop.

Maja bemerkt zum Glück nichts. Sie stupst mich nur an und grinst. Wir sind fast jeden Tag zusammen. Am Wochenende und werktags. Also sind sechs Tage, ohne einander zu sehen, viel. Ich verziehe meinen Mund zu etwas, das hoffentlich wie ein Lächeln aussieht, aber es fühlt sich nicht so an.

Ich hole Luft, will gerade was sagen, aber da landet ein Papierkügelchen auf unserem Tisch genau vor Maja. Sie nimmt es sofort, schielt zum Nachbartisch, von wo Katrine sie ansieht. Schöne Katrine, die stinkreiche Eltern hat und ständig mit Mädchen aus der 9. rumhängt. Oder Eisprinzessin, wie Maja sie gerne nennt. Wir sind normalerweise Luft für sie.

Maja dreht mir den Rücken zu. Ich starre genau in ihr mahagonibraunes Haar und weiß nur, dass sie lächelt. Sie dreht sich um und dort ist es. Das Lächeln. Eifrig und erwartungsvoll. Sie kichert und faltet die Kugel auseinander, glättet das Papier mit den Händen und legt es zwischen uns wie einen Schatz. Es kribbelt mir in den Fingern, das Papier wieder zusammen zu knüllen und es weit, weit weg zu werfen. Stattdessen lehne ich mich vor.

Wieder tanzen im Klub am Freitag? K steht da schnell hin gekritzelt.

Ein Wort ätzt sich in meine Netzhaut, wächst, bis es das Einzige ist, was ich sehe. Wieder. Ein Gefühl der Panik drängt sich auf. Wieder? Was bedeutet das?

Aus dem Augenwinkel sehe ich Maja Katrine zunicken. Mein Magen krampft sich zusammen und bildet einen harten Knoten genau hinter dem Nabel. Ich blinzele fieberhaft und täusche einen Hustenanfall vor, so dass ich das Gesicht im Arm vergraben kann.

Ist Maja im Klub gewesen? Ohne mich, aber zusammen mit Katrine. Katrine, bei der wir uns immer einig waren, sie zu hassen. Mit der wir, wie wir uns geschworen hatten, nie befreundet sein wollten. Ich presse die Augen so fest zu, dass Lichtpunkte hinter meinen Augenlidern tanzen.

Maja legt eine Hand auf meinen Arm, fragt, ob ich krank werde und umschließt mich mit ihrem besonderen besorgtebeste-Freundin-Blick.

Ich schüttele den Kopf, aber es fällt mir schwer, ihr in die Augen zu sehen.

„Ey, untersteh dich, krank zu werden! Schließlich wollen wir in den Klub. Ich muss dir SO viel erzählen …“. Sie lehnt sich an mich und flüstert: „… Ein Typ aus der 10. von der Aavangen-Schule hat im Klub angefangen. Er tanzt verdammt gut und deshalb hat ihn der Klub gebeten, anderen ein paar seiner Moves beizubringen. Er ist einfach so heiß! Katrine ist vollkommen in ihn verknallt …“. Mehr kann sie nicht sagen, bevor die Tür zum Klassenzimmer auffliegt.

Mathematik-Mette1 wirbelt in den gewohnt wallenden Gewändern ins Klassenzimmer. Sie legt bereits los, bevor sie das Lehrerpult erreicht hat. „Öffnet eure Hefte. Wir beginnen damit, die Aufgaben, die ihr fürs letzte Mal auf hattet, durchzugehen.“

Allgemeines Seufzen. Es ist jeden Montagmorgen das Gleiche. Hier gibt es keinen Smalltalk oder sanfte Einleitungen. Es ist unverblümt. Ich liebe das, liebe es, mich von der Magie der Zahlen verschlingen zu lassen und zu wissen, dass es nur eine richtige Antwort gibt. Jetzt sind da nur Zahlen, die vor meinem Blick hüpfen und tanzen und die sich weigern, sich fangen zu lassen, jedes Mal, wenn ich mich dransetze, eine Aufgabe zu lösen.

„Jemand, den es drängt etwas zu beichten, bevor wir anfangen?“ Mette schickt ihren Falkenblick über die Klasse.

Ich senke meine Augen, fummele an meinem Mäppchen rum, sehe hoch, sehe runter und wieder hoch.

„Niemand? Gut, dann fangen wir an. Wer will mit der ersten Aufgabe an die Tafel?“

Ich starre steif in meine Kladde. Leere Kästchen starren zurück. Ich hoffe, ich komme davon.

„Eva, wie wär’s mit dir? Es ist bestimmt lange her, dass du dran warst.“ Ich kann das Lächeln in ihrer Stimme hören. Ich bin ja auch ihre Lieblingsschülerin, die, mit der sie immer rechnen kann, ihre Sachen gemacht zu haben.

Ich sehe auf und treffe ihren Blick. Öffne den Mund, um zu sagen, dass ich die Aufgabe nicht gemacht habe. Sie nickt und hält mir ein Stück Kreide entgegen. Die Worte stecken fest.

„Hier“, flüstert Maja und schiebt mir ihre Kladde unter den linken Arm. Ohne ein Wort greife ich sie, ignoriere Mathematik-Mettes hervorgestreckte Hand und gehe zum Pult. Meine Handflächen sind feucht, so dass das Papier an meiner Haut festklebt. Ich lasse meine Augen über das Stück laufen, präge mir die Zahlen ein, während ich am Tafelende nach einem Stück Kreide taste. Das kleine Stück fühlt sich zwischen meinen Fingern fettig und gleichzeitig trocken an und als es die Tafel trifft, bereue ich es. Denn obwohl ich die Aufgabe nicht selber gelöst habe, kann ich sehen, dass da Fehler drin sind. Ich schreibe die Zahlen, eine nach der anderen. Die Kreide kratzt sich ihren Weg über die Tafel und ich merke, wie Mette mich prüfend ansieht.

Ich lege die Kladde auf das Lehrerpult, als ich fertig bin. Mette sieht mich mit gerunzelter Stirn an. Hat sie mich durchschaut? Ist sie von mir enttäuscht? Ich atme erleichtert auf, als sie sich zur Klasse dreht. Sie sagt etwas, aber ich weiß nicht, was. Draußen fällt der Schnee und hüllt alles ein. Erinnere mich an Mads, eingepackt in grelles Weiß.

Kurz darauf setze ich mich wieder und die Stunde geht weiter. Jetzt ist Iben an der Reihe, gegrillt zu werden. Mette redet und redet. Mit einem schwarzen Kugelschreiber fange ich an, Kästchen auszumalen, noch eins und noch eins und noch eins.

Als die Stunde vorbei ist, kommt Mette zu mir und legt etwas auf den Tisch. Es ist die Kladde, mit der Rechenaufgabe und die rote Schrift auf der Vorderseite schreit mir entgegen.

Maja Borgvang 8.A steht dort.

Sie sagt nichts, steht nur eine Sekunde oder zwei mit der Hand auf dem Heft und sieht mich an. Dann geht sie.

Ich starre runter in mein eigenes Heft, lasse mein langes Haar wie eine Gardine vor mein Gesicht und meine brennenden Wangen fallen. Die Seite ähnelt einem Schachbrett und ich bin schachmatt.

Kim zieht mich auf dem Gang direkt nach der Frühstückspause an die Seite. Ich weiß genau, dass er das machen muss. Er ist schließlich mein Klassenlehrer und Mette hat ganz bestimmt was gesagt. Aber ich wünschte, er ließe es bleiben. Wir haben ihn erst in der 8. Klasse bekommen und er kennt mich nicht.

Anton und Muhammed kommen schlendernd als letzte und gucken mich auf dem Weg in die Klasse lange an. Sie haben im Hof Fußball gespielt und haben rote Frostblumen auf den Wangen.

„Wie geht es zu Hause?“, unterbricht Kim meine Gedanken und versucht meinen Blick zu fangen. Ich kratze an meinem Nagellack. Glitzer und Gold blättern in Lagen erst von meinem Daumen, dann von meinem Zeigefinger ab. Ich habe ihn letztes Jahr von Mama bekommen. Wir waren in der Stadt, nur wir zwei, in Geschäften und im Café. Es ist fast nichts mehr davon übrig.

„Es geht gut“, antworte ich und starre auf einen Fleck an der Wand über seiner linken Schulter. Ich schlucke.

„Okay“, Kim zögert.

Ich reiße meinen Blick von der Wand los und schaue ihn an. Er bewegt sich ein wenig unruhig hin und her, und sieht gleichzeitig erleichtert und skeptisch aus. Er öffnet und schließt den Mund, so als ob er sich nicht recht entscheiden kann, ob er mehr sagen soll. Ich habe fast Mitleid mit ihm.

„Okay“, sagt er dann. „Aber komm ruhig, wenn du mit jemandem reden möchtest. Es nützt nichts, etwas nicht loszuwerden.“

Er legt kurz eine Hand auf meine Schulter. Sie ist warm und schwer und brennt sich durch den Stoff durch. Ich muss mich konzentrieren, um sie nicht abzuschütteln.

Ich nicke nur.

„Was wollte Kim?“, fragt Maja, als ich mich neben sie setze und Kim das Lehrerpult außer Hörweite erreicht hat. Sie versucht, beiläufig zu klingen. Es wundert mich nicht, dass sie uns auf dem Gang gesehen hat. Sie hat einen siebten Sinn, wenn es um Kim geht. Er sieht gut aus, findet sie. Ich kann das an der Art und Weise sehen, wie sie ihre Lippen befeuchtet und ihr Haar in Ordnung bringt, jedes Mal, wenn er in der Nähe ist, oder sie etwas fragt. Manchmal wäre ich auch gerne verliebt, spürte dieses kribbelnde Gefühl im Zwerchfell.

„Nur wissen, wie es mir geht und so …“, ich zucke mit den Schultern, „… zu Hause.“

Sie blinzelt ein paar Mal mit den Augen.

„Aber alles ist in Ordnung, oder?“ Majas Gesicht legt sich in mitfühlende Falten. „Ihr habt doch jetzt herausgefunden, was ihm fehlt? Und er wird ja jetzt behandelt, oder …?“

„Ja … ja, das wird er …“, murmele ich und weiß eigentlich nicht, warum ich es nicht sage. Ich möchte ihr ja gerne erzählen, dass nicht alles okay ist. Alles andere als okay. Mein Frühstück rumort in meinem Magen herum und droht, wieder hoch zu kommen.

Sie sieht mich an. Abwartend, als ob sie ahnt, dass da vielleicht mehr ist. Ich suche nach Worten, aber sie klumpen sich in meiner Kehle zusammen und es ist unmöglich, sie herauszubringen. Zumindest, wenn sie einen Sinn ergeben sollen. Denn, wie sagt man, dass selbst, wenn Papa lächelt und Witze macht, Mama weint? Dass selbst, wenn wir alle zusammen sind, ich mich alleine fühle?

Majas Gesicht wechselt wieder den Ausdruck.

„Nein, wie süß. Dann wollte er dich nur abchecken“, flüstert sie und wirft einen langen Blick zur Tafel, wo Kim jetzt steht und kritzelt.

„Mmh“, antworte ich und zucke wieder mit den Schultern.

Sie lehnt sich ganz an mich. Ihr Haar ist immer noch feucht vom Sport. Der Pfirsichduft ihres Lieblingsshampoos füllt meine Nase. Sie starrt mich an, aber ohne mich zu sehen, ganz weit weg in ihren Gedanken. Ihre Lippen sind geöffnet und ihre Nasenflügel vibrieren leicht.

„Es sah aus, als hätte er dich berührt. Hat er? Er ist ja SO süß.“

Die Worte bringen mich in die Wirklichkeit zurück. Bei ihr klingt das so intim, so wichtig. Aus dem Nichts heraus überkommt mich Zorn. Er durchzuckt mich.

„Ganz ehrlich“, knurre ich. „Es ist total daneben, in einen Lehrer verknallt zu sein. Ich meine, er ist Lehrer, come on!“

Ich wünschte, ich könnte sie zurück nehmen. Die Worte. Aber es ist zu spät. Sie haben bereits ihren eigenen Willen bekommen. Maja starrt mich mit großen Augen an. Sie sieht aus, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was sie gemacht hat. Dann werden die Augen zu Schlitzen und der Mund zieht sich zu einem schmalen Strich zusammen.

„Was bist du gemein!“, faucht sie und zieht sich wie eine Schnecke in ihr Haus zurück, während sie sich in der Klasse umsieht, um sich zu vergewissern, dass mich niemand gehört hat. Ich bin unentschlossen. Möchte gerne etwas sagen, das es wieder gut machen kann. Aber dann sehe ich Katrine, die neugierig zu unserem Tisch rüber sieht. Der Zorn flammt wieder auf und ich ertrage das einfach nicht.

Kapitel 2

Es klingelt. Endlich ist die letzte Stunde vorbei. Der Tag schleppte sich dahin. Ich wende mich zu Maja. Sie sieht mich nicht an, sondern ist dabei ihre Tasche zu packen. Wir haben nicht mehr geredet, seit meinem Ausbruch von vorhin. Ich konnte mich irgendwie nicht zusammenreißen, um mich zu entschuldigen. Aber jetzt möchte ich es.

„Maja, du …“, beginne ich.

Sie hört kurz auf, ihre Tasche zu packen und sieht mich an.

Ich nehme einen Anlauf, um fortzusetzen, aber eine Stimme unterbricht mich.

Katrine. „Maja? Kommst du mal rüber?“

Maja sieht von mir zu Katrine und wieder zurück. „Wolltest du etwas sagen?“

„Vergiss es“, sage ich und schleudere die letzten Sachen in die Taschen. Ich stehe auf und gehe schnell aus der Klasse.

Es schneit immer noch, jetzt ziemlich stark und es ist windig. Ich schnüre die Kapuze meiner Skijacke fest um mein Gesicht, ziehe die Arme aus den Ärmeln und lege sie um meinen Körper. Trotzdem beißt mir die Kälte ins Gesicht und bohrt sich wie Eisnadeln in meine Haut.

Ich kneife die Augen zusammen und beuge den Kopf. Erhöhe das Tempo. Es ist unmöglich, was zu sehen. Alles ist ein weißes Wirrwarr. Als ich ans Ende des Weges komme, muss ich eigentlich nach links, um nach Hause zu kommen. Einen Augenblick zögere ich, aber dann gehe ich stattdessen nach rechts. Habe keine Lust, jetzt nach Hause zu gehen. Es fühlt sich sicher an, hier zu gehen, vollständig in weiß eingepackt. Wie Mads im Krankenhaus in dem viel zu großen Bett mit dem viel zu weißen Bezug und dem viel zu scharfen Geruch von irgendwas Starkem. Ich habe im Krankenhaus nur zwei der vielen Male gewohnt, als Mads eingeliefert war. Das erste Mal, weil die Ärzte gesagt haben, es sei gut für die Familie, zusammen zu sein. Das zweite Mal, weil Papa auf Geschäftsreise war und Oma mit dem Strickklub auf Gran Canaria, und niemand da war, um am Wochenende bei mir zu sein. Ich verstehe nicht, warum ich nicht einfach alleine zu Hause bleiben konnte. Ich bin kein Baby mehr und Mama wäre nur zehn Minuten mit dem Auto entfernt.

Aber nein, davon wollte sie nichts hören. So musste sie sich um uns beide kümmern, Mads und mich. Wenn ich nur zu Hause geblieben wäre, wäre Maja nie mit Katrine tanzen gegangen. Wenn nur …

Meine Gedanken stoppen plötzlich. Eine dunkle Gestalt taucht an meiner rechten Seite auf und ist dabei zu überholen. Im selben Moment rutsche ich im Matsch aus und ramme die Person, die auf die Fahrbahn stolpert. Der Stoß bringt mich dazu, auf ein Stück Fleisch in meiner linken Wange zu beißen und ein scharfer Schmerz pocht im ganzen Mund. Ich keuche und geschmolzener Schnee mischt sich mit dem Geschmack von Metall auf meiner Zunge, während ich darum kämpfe, das Gleichgewicht wiederzufinden. Das ist unmöglich mit meinen Armen in der Jacke. Ich fummle unter der Jacke, um die Ärmel zu finden. Aber das bringt mich nur dazu, noch mehr den Halt zu verlieren und ich rempele die Gestalt, die jetzt hinter mir auf den Gehweg gegangen ist, wieder an.

Ein paar Hände schubsen mich weg und eine Stimme sagt schroff:

„Hey, was verdammt noch mal machst du?“

Ich stolpere vornüber und bin nun vollkommen aus dem Gleichgewicht. Der Boden ist uneben und glatt, und mein eines Bein rutscht unter mir weg. Der Schnee knirscht, als ich lande. Ich blinzele zu einem Himmel aus wirbelnden Schneeflocken hoch. Mein Puls rast und mein Herz hämmert in meinem Innenohr, so dass alle anderen Geräusche untergehen. Über mir türmt sich der Umriss einer Person auf.

„Und was verdammt noch mal machst DU?“ kreische ich und zucke zusammen, total schockiert darüber, wie panisch ich klinge.

Die Person beugt sich über mich und schirmt mich vor dem Schnee ab. Es ist ein Typ mit einem schmalen, fast femininen Gesicht. Er sieht wütend aus. Und hübsch. Seine schwarzen Augen blitzen auf mich runter. Wie ein zorniger Engel mit Flammenaugen.

Er murmelt etwas, aber ich kann nicht richtig hören, was er sagt. Etwas mit nur ein Mädchen. Ich sehe, wie sich die Zornesfalten in seinem Gesicht glätten. Nur die Furche zwischen seinen Augenbrauen bleibt. Eine Hand streckt sich nach unten und greift nach meinem Arm. Sie legt sich um den Stoff ohne Inhalt. Seine Augen werden größer und die Lippen öffnen sich vor Überraschung zu einem stummen O.

Er lässt los, folgt dem Umriss meiner Schultern bis er meine Arme unter der Jacke zu fassen bekommt und zieht mich hoch, bis ich stehe. Zieht mich ganz eng an sich, damit ich das Gleichgewicht wiederfinden kann. Ich reiche ihm nur bis zum Kinn, ich schaue auf und einen kurzen Moment sehen wir einander in die Augen. Ich kann seinen warmen Atem auf meiner Stirn fühlen.

„Du solltest dich besser vorsehen, wenn du gehst“, schimpft er, aber seine Augen lächeln.

Verwirrt reiße ich mich aus seinem Griff los und trete ein paar Schritte zurück. „Sprich für dich selbst, Kollege“, fauche ich und bekomme nun endlich meine Arme wieder in die Ärmel.

„Meinst du?“, fragt er. „Ich hab mich schön an meine Seite des Gehwegs gehalten. Hab gedacht, du hältst dich an deine.“

Er schüttelt leicht den Kopf, bevor er fortfährt: „Und ganz ehrlich, mit der Kapuze und der Jacke, da habe ich gedacht, dass du irgendein Typ wärst, der auf mich losgehen wollte.“ Er grinst und sieht mich an. Zögert und rückt dann näher, so dass er wieder den Schnee abschirmt.

„Bist du okay?“

Ich antworte nicht. Kann nicht. Er hat keine schwarzen Augen, sehe ich jetzt, sondern braune. Hellbraune, wie trockene Humuserde an einem Sommertag. Schöne Augen. Erschrecken und Verwirrung flattern in mir los, wie eine Grotte voller Fledermäuse.

„Hey, bist du okay?“ Die Sorge in seiner Stimme bahnt sich ihren Weg zu mir.

„Ja, natürlich bin ich okay. Wovon redest du?“, knurre ich und beginne den Schnee mit wütenden Bewegungen von meinen Sachen zu bürsten.

„Bist du sicher, dass du dir nicht wehgetan hast?“, fragt er wieder.

Ich sehe zu ihm hoch. „Ja, verdammt nochmal, ich bin sicher. Was ist los mit dir?“

Er schüttelt den Kopf und mustert mich mit einem verwunderten Ausdruck.

„Warum weinst du dann?“, fragt er und sein Atem fühlt sich warm an meinen Wangen an.

Mir wird klar, dass er Recht hat. Ich weine. Tränen bilden warme Spuren die Wangen herunter. Mit einem Ruck ziehe ich meinen Kopf zurück. „Entspann dich, ich weine doch nicht. Hast du überhaupt mitbekommen, dass es schneit?“

Ich versuche Stahl in meine Stimme zu legen, aber sie zittert und bekommt Risse in ihrer Härte.

Er sieht mich verwirrt an. Eine oder zwei Sekunden sieht er aus, als ob er mir widersprechen wollte, aber dann zuckt er nur mit den Schultern. „Okay.“

Ich öffne den Mund und will etwas sagen. Irgendwas.

Aber dann geht er einen Schritt zurück und schaut den Gehweg entlang. „Na, aber ähm … dann gehe ich weiter. Pass gut auf, dass du nicht noch andere auf deinem Weg niedermähst.“

Und bevor ich überhaupt denken oder reagieren kann, macht er sich mit schnellen Schritten auf den Weg.

Ich sollte umkehren und nach Hause gehen, aber stattdessen gehe ich weiter. Lärm und Leben von der Straße drängen sich mir auf. Autos, die mit Scheibenwischern in festgelegten Bahnen über die Scheibe, vorbeifahren. Ein paar Fahrradfahrer, die im Schneckentempo in schmalen Reifenspuren auf dem Fahrradweg dahin schleichen. Ich bemerke, dass ich am Einkaufscenter bin und ich friere so sehr, dass ich meine Zehen nicht mehr spüre.

Ich gehe schnell zur Drehtür, die sich mit einem lauten Brummen in Bewegung setzt, als ich mich nähere. Drinnen im Center schlägt mir warme Luft wie ein riesiger Haartrockner entgegen. Meine Finger sind noch starr von der Kälte, als ich meine Kapuze aufbinde und die Jacke ausziehe. Ich weiß nicht, was ich hier mache und bleibe stehen, bis mich eine verärgerte Frau anrempelt, weil ich im Weg stehe. Ich setze mich auf eine Bank genau vor FONA. Sehe mir alle an, die vorbei gehen. Es wimmelt vor Menschen, vor allem ältere und jüngere, aber auch Väter und Mütter mit Kindern, obwohl es früh am Nachmittag ist.

Eine Gruppe Jungs nähert sich. Sie halten bei FONA an, stehen mit dem Rücken zu mir und gucken sich den Filmtrailer irgendeines Actionfilms an, der im Schaufenster läuft. Es liegt eine Rastlosigkeit über ihnen, die sie dazu bringt, die ganze Zeit in Bewegung zu sein, obwohl sie stehengeblieben sind. Besonders der eine fängt meinen Blick. Er ist groß und schlank und hat einen schönen, dunklen Teint. Da ist irgendwas an ihm, das mich anzieht. Dann macht es klick. Es ist der Typ von vorhin. Der Typ im Schnee mit den Flammenaugen. Ich bin ganz sicher. Er stellt sich ein wenig von den anderen weg und holt einen Hackysack in blau, gelb und grün aus seiner Tasche. Er steht seitlich zu mir und ich hoffe, dass er sich bald umdreht, damit ich sein Gesicht sehen kann. Aber das macht er nicht. Stattdessen folge ich dem kleinen Ball, der rhythmisch von Knie zu Knie hüpft, vom Knie zur Außenseite des Fußes, von der Außenseite zur Innenseite und wieder zurück. Er hat etwas Katzenhaftes an sich. Er ist entspannt, aber trotzdem ist da völlige Präzision in all seinen Bewegungen. Er ist so vertieft, dass er einen kleinen Knirps mit Schnuller nicht bemerkt, der in einem Schneeanzug genau hinter ihm vorbeistolpert.

„Pass auf.“, rufe ich, als er nach hinten springt, um nicht den Hackysack zu verlieren und der Knirps kracht genau in ihn rein.

Im Nu bin ich auf den Beinen und bei dem Jungen. Er hat den Schnuller verloren und liegt mit einem Gesichtsausdruck, kurz davor loszuheulen, auf dem Boden.

„Na na, nicht weinen, ist ja nichts passiert“, murmele ich und stelle ihn auf. Der Junge sieht mich mit großen, blanken Augen an. Ich beeile mich, ihm den Schnuller zu geben, der an einer gehäkelten, blauen Kette an dem Schneeanzug hängt. Eine Sekunde später ist seine Mutter da. Sie nimmt ihn hoch und erst da fängt er an zu weinen. Sie verschwinden schnell in Richtung BR.

Ich sehe den Hackysack auf dem Boden, greife nach ihm und erreiche ihn kurz vor den braunen, schlanken Fingern, die sich stattdessen um meine schließen. Ich sehe auf und direkt in seine humusbraunen, lächelnden Augen. Es trifft mich wie ein elektrischer Schlag und alle Gedanken in meinem Kopf gefrieren. Das ist er, der Typ von vorhin.

„Du kannst gerne loslassen“, sagt er, „das ist meiner.“

Mir wird klar, dass ich den Hackysack immer noch festhalte und beeile mich loszulassen.

Er lächelt mich an und ich denke gerade, dass er mich vielleicht ohne meine Skijacke und die Kapuze nicht wiedererkannt hat, als er mit einem Grinsen sagt: „Du siehst übrigens ohne Kapuze nur halb so gefährlich aus!“

„Gefährlich!“, schnaube ich. „Ich habe mich total erschrocken!“

„Ach was, du hast mir einen Megaschock verpasst, als du in mich gekracht bist. Ich hab gedacht, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.“

„Hör doch auf“, sage ich und sehe ihn wieder an. Ich kann nicht aufhören, ein wenig zu grinsen. „Ich bin bloß ausgerutscht.“

Er grinst mich an, entblößt zwei weiße Reihen regelmäßiger Zähne, nur unterbrochen von einem großen Zwischenraum zwischen den Schneidezähnen. Komischerweise denke ich nicht, dass es hässlich wäre, sondern dass es ihn noch hübscher macht.

„Danke für die Hilfe“, sagt er dann und sieht in die Richtung, in die die Frau und der Junge verschwunden sind.

„Ich hoffe, dass nichts passiert ist. Er klang recht unglücklich.“

„Nee, er hat sich bestimmt nur ein wenig erschreckt.“

„Du kannst gut mit Kindern umgehen,“ sagt er und klingt als ob er denkt, das wäre was besonderes.

Ich zucke die Schultern. „Ich habe zu Hause einen kleinen Bruder.“

„Ah, das habe ich mir gedacht. Ich habe mir immer Geschwister gewünscht.“

Er klingt so süß und aufrichtig, dass ich einen Kloß im Hals bekomme. „Das verstehe ich gut. Ich würde meinen kleinen Bruder gegen nichts auf der Welt tauschen.“

Ich schlucke, will jetzt absolut nicht weinen. Das wäre albern.

Stattdessen zwinge ich ein Lächeln hervor. „Es kann zwar sein, dass du nicht gut mit kleinen Kindern umgehen kannst, aber du bist echt gut mit dem Hackysack. Das ist cool.“

„Das ist nicht so schwer,“ sagt er, aber sieht stolz dabei aus.

„Was ist los, Balls?“, ruft einer der Jungs. Er hat alles gesehen.

Ohne sie anzusehen, hebt er einen Arm und zeigt ihnen den Mittelfinger.

„Balls?!“, sage ich und kichere.

Er zieht eine Grimasse. „Kranke Form von Humor, oder? Das ist wegen des Hackysacks. Ich laufe immer mit ihm in der Tasche rum.“

Ich grinse. Wir stehen da und keiner von uns weiß richtig, was er sagen soll.

Dann streckt er seine Hand nach meinem Gesicht aus, zögert Millimeter davor.

Ich ziehe den Kopf zurück.

„Du hast da Mascara. Der ist wohl nicht wasserfest, oder wie das nun heißt,“ sagt er und senkt die Hand wieder.

Meine Wangen brennen und ich drehe mich etwas weg, während ich erst unter dem einen und dann dem anderen Auge reibe. Kann fühlen, dass es überhaupt nicht hilft und dass ich den Mascara stattdessen nur noch mehr verwische.

Hier steht er und sieht total gut aus, während ich furchtbar aussehe mit verschmiertem Mascara unter den Augen.

Und er sieht mich einfach weiter an.

„Hör auf so zu starren. Das ist nicht fair, wenn ich so scheiße aussehe.“

Er lächelt mich an.

„Scheiße würde das bestimmt schlimmer machen, vielleicht siehst du eher wie eine ertrunkene Maus aus … eine müde, ertrunkene Maus?“

Ich weiß nicht, was mich dazu bringt, das zu tun. Aber ich tue es wirklich. Strecke ihm die Zunge raus, obwohl ich ihn gar nicht kenne und werfe ihm dann meinen tödlichsten Blick zu.

Er reißt die Augen in gespielter Angst auf. „Okay … eine ertrunkene, müde Killermaus!“ Er grinst, hört dann aber auf, zögert, bevor er mit einem Lächeln sagt: „Nein, im Ernst, für eine Killermaus siehst du echt süß aus.“

Ich sehe ihn überrascht an und wenn er nicht von Natur aus schon so dunkel wäre, würde ich schwören, dass er hinter seinem Lächeln rot wird.

Sofort tönen Pfiffe und Gejohle von den Jungs, mit denen er zusammen unterwegs ist.

„Landest du bei ihr?“, ruft einer.

„Komm schon, wir wollen weiter!“, ruft ein anderer.

Er sieht zu ihnen rüber, winkt und steht auf.

Ich bewege mich auch.

„Ähm, also, bis dann,“ sagt er und fährt sich mit seiner Hand durchs Haar.

„Ja,“ murmele ich. „Ja, also tschüss.“ Ich drehe mich um und gehe zu der Bank, auf der noch meine Jacke liegt.

Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass er zu seinen Freunden vor FONA geht. Sie grinsen und puffen ihn an, und sehen alle zu mir rüber.

Ich schnappe meine Jacke und ziehe sie schnell an, um dann zum Ausgang zu gehen. Ich würde ihm gerne nachsehen, traue mich aber nicht. Hallo, ich weiß ja nicht, wer er ist, nicht einmal, wie er heißt.

„Hey,“ ruft eine Stimme. Das ist er.

Ich drehe mich um. Kurz darauf fliegt etwas auf mich zu. Ich fange. Es ist der Hackysack.

„Behalt ihn,“ ruft er. „Bis bald.“

Kapitel 3

Stille lärmt mir entgegen, als ich die Haustür öffne und alles schnürt sich mir innerlich zusammen. Aber dann höre ich den Fernseher und die wohlbekannten Stimmen, Lightning McQueen und Hook.

Ich streife die Stiefel ab. Hänge meine Skijacke nachlässig an den Haken, der schon übervoll an Klamotten ist. Stopfe den Hackysack in die Tasche meines Kapuzenpullis. Als ich mich in Richtung Wohnzimmer in Bewegung setze, sehe ich aus dem Augenwinkel meine Jacke auf den Boden fallen. Ich drehe mich um, um sie aufzuheben, lasse es aber. Ich muss ganz sicher sein.

Er sitzt vor dem Fernseher, viel zu nah davor mit