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Das Walddorf Siehdichum ist die letzte Station der Reichsarbeitsdiensteinheit 3/401 XL Warthegau Ost. Es sind rasch einberufene Sechzehnjährige, die am 26. Januar 1945 von der russischen Sturmspitze überrollt und nach authentischen Berichten "vollkommen aufgerieben" werden. Den Ortsnamen Siehdichum versteht die 75jährige Martha Lenders, Schwester eines dieser spurlos verschwundenen Jungen, auch als Aufforderung, sich am Ende ihres Lebens wie auf dem Gipfel eines Berges umzusehen und die Rollen, die ihr das Leben als Frau und Mutter zugedacht hat, zu hinterfragen. Sie befindet sich im Jahr 2000 auf Spurensuche in Polen, wo Häuser, Straßen und Lebensart ihrem sächsischen Zuhause, wie sie es mit dem Bruder erlebt hat, verblüffend ähneln. Ein Professor für Geschichte aus Warschau und ein Filmemacher aus Posen werden zu Helfern. Sie lässt ihren Rückflug nach Deutschland verfallen, durchstreift mit einer polnischen Studentin die großen Wälder, findet dank sehr besonderer Zeitzeugenberichte einzelne Punkte, an denen sich Dramatisches abgespielt hat, aber der letztmögliche Ort, an dem ihr Bruder sein Leben verloren haben könnte, hält sich vor ihnen verborgen. Zurückgekehrt ins Rheinland, in dem sie seit Kriegsende lebt, bleibt für die suchende Schwester die Spur des Bruders verwischt. Die polnische Studentin bringt unerwartet neue Nachricht. Martha muss sich nun das Ende ihres Bruders noch genauer und grausamer ausdenken als bisher und streikt vor dieser Aufforderung ...
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Veröffentlichungsjahr: 2013
Anne DornSiehdichum
Anne Dorn
Roman
Dieses Buch entstand mit finanzieller Unterstützung der
KUNSTSTIFTUNG NRW
Das Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen unterstützte die Arbeit an diesem Roman im Jahr 2002 mit einem Arbeitsstipendium. Autorin und Verlag danken.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über >http://dnb.ddb.de< abrufbar.
ISBN 978-3-937727-24-1eISBN 978-3-943941-27-2
© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2007Lektorat: Christian DöringUmschlaggestaltung: Guido Klütsch
www.dittrich-verlag.de
Für meine sieben Enkelkinder
Sollte alles denn gewusst sein?Ach, ich glaube nein!Paul Klee, 1940
Kein Mensch kan[n] der Ersa[t]z des anderen sein!Jean Paul, aus seinem Ideen-Gewimmel
Die tote Seitenstraße lag im Dunkel, an der Hotelrezeption im Großpolen wartete eine junge Frau in Mantel und Mütze. Sie drückte Martha den Zimmerschlüssel in die Hand und wies noch den Weg durch einen schwach beleuchteten Flur, kein Mensch sonst zu sehen, alles still. Martha Lenders wollte gestern abend ohnehin nichts anderes mehr als ihre Ruhe. Im Zimmer nahm sie sofort ihr Nachthemd aus dem Koffer, aß ohne richtigen Hunger eine trockene Semmel und einen Apfel. Dann wollte sie sich ein bisschen waschen, die Zähne putzen.
Die Badewanne im unverhältnismäßig großen Badezimmer kam ihr auf breiten, gußeisernen Tatzenfüßen entgegen, altmodisch bequem, stabil. Es verlockte Martha trotzdem nicht, im warmen Wasser wieder lebendig zu werden. Gewöhnlich sortierte sie am Abend ihre Notizen, Rechnungen, beiläufig erstandenen Gegenstände und ihr Bargeld. Gestern ließ sie alles beim alten.
Mit dem polnischen Fernsehprogramm kannte sie sich inzwischen aus. In Posen/Poznań, der dritten Station ihrer Reise, wäre es ein Leichtes gewesen, einen deutschen Sender zu finden, aber sie blieb bei diesem polnischen Erzähler, einem Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren, der in seiner Wohnung umherging und mit sich selber sprach. Noch immer versteht sie kein Polnisch, verstand aber diesen Mann, der nicht besonders schön war, ihr jedoch gefiel. Irgendwen oder irgendwas suchte er, sprach auf seiner Bettkante sitzend und am Tisch, schaute aus dem Fenster oder in seine Schränke. Und dann zog er einen kleinen, abgenutzten Koffer unter dem Bett vor und lud ihn sich auf die Knie. Die Kofferschlösser sprangen auf, nichts verrostet oder von erstarrtem Öl verklebt. Martha betrachtete mit ihm vergilbte Papiere, Fotos, Zeitungsausschnitte und Briefe, was alles er nur zurechtschob, nicht aus dem Koffer nahm. Ganz behutsam griff er nach einem Schmetterling, einem Tagpfauenauge! Sie sah mit an, wie der Falter sich in der Handwärme des Menschen auf sein Leben besann, seine Flügel spreizte und wieder zusammenschlug. Tagpfauenaugen, das wusste sie, gehören zu den Eckenfaltern, sie haben schon in der Zwischeneiszeit gelebt. Deshalb suchen sie einem geheimen, inneren Signal zufolge schon im August einen Winterschlupf. Es ist Ende Oktober. Der Falter gehörte sicher nicht zu den im Koffer aufbewahrten Dingen, er hatte sich hineingeflüchtet. Schlaftrunken ruhte er jetzt auf der Hand, die ihn hervorgeholt hatte, und der Mann staunte. Bis der Falter aufflog, nicht weit, nur bis zu der in breite Falten gelegten Übergardine. Der Mann im Film erzählte unentwegt weiter, aber Martha schaltete das Fernsehgerät aus. Seit ihrem Aufbruch in Koblenz trug sie an diesem vermeintlich leichten Gepäck wortloser Geschichten.
Heute morgen, als sie sich die Unterschenkelstützstrümpfe anzog –, was immer mühselig war, denn sie musste die zehenlosen Füßlinge mit beiden Händen gerade richten, damit die eingewebten Fersen auch richtig zu sitzen kamen –, war ihr gestriges Einverständnis einer Melancholie gewichen. Wieder fiel es ihr schwer, sich zu bücken. Ein großer Spiegel, der dem Bett gegenüberstand, führte ihr vor, dass ihr Körper dabei war, seinen Zusammenhalt zu verlieren! Unvermittelt, denn sie sah es zum ersten Mal: An ihren rund und straff gewesenen Armen bewahrten die Knochen die alte Form, aber das Fleisch fiel von diesem Gerüst. Deutlich getrennt zu sehen Ellenbogen, Speiche und die von der gefältelten Haut gehaltene Muskulatur, beinahe wie bei einem neu geborenen Kind. Drei solcher anfälligen Wesen hatte sie vor Jahren, als junge Mutter, in ihre Arme geschlossen, aber sich niemals vorgestellt, dass diese Weichheit und Empfindlichkeit zurückkehren und am eigenen Körper zu spüren sein könnte.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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