Signomi - Lennard P. Klein - E-Book

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Lennard P. Klein

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Beschreibung

Tief bewegt und hoch motiviert arbeitet Despina daran, in einer kleinen Stadt auf der Insel Kreta ihren Traum zu verwirklichen, ein kleines aber besonderes Buchgeschäft zu eröffnen. Ein Abschiedsbrief einer unbekannten Frau holt sie aus ihrer Euphorie und bringt ihr Leben und ihre Gedanken durcheinander. Selbstzweifel und Unsicherheit versucht sie mit einer tiefen Freundschaft zu einem älteren Griechen und mit ihrem Glauben an ihr Schicksal zu bezwingen. Doch dieses Schicksal lenkt ihr Leben in eine nicht geahnte Richtung. Despina sucht und findet immer wieder eine Energiequelle für ihre Seele.

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Lennard P. Klein

Signomi

Die Seelen sprechen eine andere Sprache als wir.Sie finden nicht durch Wortesondern durch Gefühle zueinander.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

I

Mit dem letzten Sonnenstrahl des Tages wehte ein kalter Februarwind die letzten Menschen von den Straßen der Stadt und es bildete sich unter dem farbenfrohen, rotblauen Himmel eine Atmosphäre der Ruhe und des Friedens.

Ihr lang ersehnter und schönster Traum hatte sich erfüllt. Despina war nur noch von Glück erfüllt, andere Gefühle nahm sie nicht mehr wahr. Alle ihre Empfindungen waren von so positiver Art, dass ihr alles um sie herum wie ein Traum vorkam, in dem sie auf weißen Wolken im Himmel schwebte, leicht wie eine Feder, und sie sich unbesiegbar, frei und glücklich fühlte.

Despina setzte sich auf den mitten im Raum stehenden Stuhl und genoss die Atmosphäre. Ihr Blick nahm jede Einzelheit des Zimmers wahr, in dem sich, außer dem einfachen, weiß lackierten Holzstuhl, nichts befand. Der kahle Raum, gerade mal gute drei Meter breit, wirkte auf sie wie ein Paradies. Er war nur ungefähr zweieinhalb Meter hoch, dafür fast sieben Meter lang. Die ehemals weißen Wände waren verschmutzt und verschlissen und wiesen diverse Löcher im Putz aus. Der Boden war mit dunklem kaltem Stein gefliest, der sehr abgenutzt und verschmutzt war. Die uralte massive Naturholztüre mit ihren Glaseinsätzen stand ein wenig offen. Ihr Holz war im Laufe der Jahrzehnte durch die Witterung und der salzigen Luft dunkelgrau geworden. Ein leiser leichter Luftzug strömte in den Innenraum und vermischte langsam den fahlen Geruch des alten Gemäuers mit frischer kühler Meeresluft. Despina empfand dies wie eine Verjüngung, eine Befreiung, ja eine Reinigung der Atmosphäre des Raumes.

Von der kahlen Decke hing ein Kabelbündel und daran pendelte leicht eine nackte Glühbirne im Windzug. Sie brannte und erleuchtete den Raum mit einem diffusen Licht. Der modrige Geruch des alten Gemäuers und des Staubs verflüchtigte sich immer mehr. Despina holte lange tief Luft und in ihrem Gesicht war ein strahlendes Lächeln zu sehen. Sie breitete ihre Arme nach oben gerichtet aus und sagte leise:

»Danke! Ich danke dir, Gott!«

Es hallte ein wenig durch den Innenraum und Despina nahm diesen zurückkommenden Schall als eine Art Antwort auf. Eine Bestätigung ihres Vorhabens. Eine Absolution Gottes!

Sie glaubte fest an das Schicksal und sie war sich in ihrem Innersten sicher, dass sie das Richtige tat. Allein schon die Tatsache, dass sie als Frau es erreichte, hier nun in diesem Raum zu stehen, der den Mittelpunkt ihres künftigen Lebens darstellte. Allein schon dieses Glück nahm sie gerne als Vorsehung an und sie wusste nun genau, dass alles gut werden würde. Sie fühlte sich frei und glücklich und konnte sich nicht vorstellen, dass es auf dieser Welt noch irgendetwas gab, dass dieses Glück trüben könnte.

Mit geschlossenen Augen saß sie nun da und horchte auf die Geräusche, die durch die geöffnete Tür zu ihr hereinkamen. Sie hörte leise Stimmen aus einiger Entfernung. Irgendwo fuhr ein Motorrad durch die Gassen. Einige Häuser weiter hämmerte ein Handwerker in einem Rhythmus, der sie fast zum Tanzen animierte. Ansonsten lag eine fast gespenstische Ruhe über der Stadt. Diese Ruhe war ihr jetzt wichtig. Sie gab ihr Kraft, Zuversicht und ließ sie ihr Selbstwertgefühl spüren. Sie liebte diese Ruhe.

Despina empfand diese himmlische Ruhe als einen Willkommensgruß, als eine Einladung, sich hier wohlzufühlen, als ein Dankeschön für eine harte, zähe und arbeitsreiche Geduldsprobe, bis sich heute und hier ihr Traum in Wirklichkeit verwandelte. Für sie war es die Vollkommenheit des Lebens.

Despina öffnete ihre Augen wieder, blickte nun ein wenig ernsthafter, aber immer noch mit einem erfreuten Ausdruck im Gesicht im Raum umher. Sie stand auf und lief zu ihrer Handtasche, die nahe der Tür an der Wand stand. Einen Stift und ein weißes Blatt Papier holte sie aus der Tasche und setzte sich anschließend wieder auf den Stuhl. Gedankenversunken starrte sie durch das Fenster der Türe hinaus in die Malinou, einer sehr schmalen Gasse in der Altstadt von Rethimno, in der sich ein kleines Geschäft an das andere reihte. Despina liebte die Atmosphäre dieser Gasse. Kein Ort dieser Welt könnte sie mehr beeindrucken, mehr begeistern, als diese enge, kurze und schmale Gasse. Das war ihre Welt, ihr Zuhause. Drei lange Jahre hatte sie gekämpft, verhandelt, gebettelt und gebetet, und nun stand sie mitten in ihrem Traum. Er war wahr geworden. Sie konnte es noch gar nicht richtig begreifen. Sie hatte ihr eigenes Geschäft.

Als Katharina den grünen Stein in die Hand nahm, wurde ihr plötzlich bewusst, dass Gefühle doch mehr Macht als Gedanken haben, und dass Gefühle nicht lügen können.

Das Blatt Papier und den Stift in der Hand saß Despina in ihre Gedanken versunken auf dem Stuhl.

»Weiß?«, fragte sie sich leise. Sie blickte an die grauweiße Wand und stellte sich vor dieser Wand ein volles Bücherregal vor. Skeptisch schüttelte sie den Kopf. Ihr Blick ging zu der Wand im hinteren Teil des Raumes, der mehr im Dunkeln lag, wo aber von der Wand später einmal mehr zu sehen sein würde, da sie dort vorerst keine Regale aufstellen wollte. Despina presste die Lippen zusammen und verharrte gedankenlos fast eine Minute. »Hm«, summte sie und drehte ihren Kopf in Richtung Tür. In diesem Moment lief jemand die Gasse entlang und sie sah für einen winzigen Augenblick ein dunkelgrünes Kleidungsstück vor dem Fenster ihrer Tür vorbei huschen.

Im Bruchteil einer Sekunde nahm sie diesen Eindruck wahr, übertrug ihn gedanklich auf den Raum und stellte ihre Empfindungen dazu in Frage. »Dunkelgrün?«, fragte sie sich laut. Doch als sie sich den Raum in Dunkelgrün vorstellte, musste sie leise lachen. Sie hatte Angst, dass ihr Raum wie eine düstere Höhle wirken würde, daher nahm sie erst einmal wieder von einer dunklen grünen Farbe Abstand. Aber irgendetwas gefiel ihr doch an dem Gedanken, dem Raum einen dunkelgrünen Anstrich zu geben. Diese Farbe war ihr sehr sympathisch und sie hatte immer ein wohlig warmes Gefühl, wenn sie in einem Raum war, der dunkelgrün gestrichen war. Sie fühlte sich dann in eine andere Zeit versetzt. Eine Zeit mit Königen, mit Ritterburgen, wie sie sie aus Deutschland kannte. Eine Zeit mit Träumen, Sagen, Märchen und Fabelwesen. Eine Zeit aus ihrer Kindheit, eine gute Zeit, eine glückliche Zeit.

Sie kniff ihre Lippen noch mehr zusammen und fragte sich, wie sie trotz einer dunkelgrünen Farbe den Raum wieder heller machen könnte. Ihr Blick streifte die Glühbirne an der Decke und nun war ihr klar, dass sie den Raum dunkelgrün streichen würde. Für sie war es selbstverständlich, dass sie hier ihre Entscheidungen, was die Ausgestaltung des Raumes anging, nicht aus rationalen Gründen fällen würde, sondern sie ihre Entscheidungen sehr emotional, sehr gefühlsbetont traf, denn sie wollte hier etwas erschaffen, was andere Geschäftsleute mit ihrem Kommerzdenken niemals vollbringen können. Sie wollte den vollkommenen Moment für die geistige Neugier erschaffen. Die Auswahl allen Wissens der Welt in einem gefühlsbetonten Ambiente, in dem sich jede Seele wohlfühlen musste. Es gab für sie keine Frage einer rationalen Alternative zu ihrem Entschluss, Dunkelgrün als Raumfarbe zu wählen. Ebenso stand für sie kompromisslos im gleichen Moment fest, dass ein intensives Rot die grüne Farbe in ihrer Ausstrahlung begleiten musste.

Sofort malte sie sich in ihrer Fantasie ein rotes Bücherregal aus Holz aus, das komplett mit sehr vielen Büchern gefüllt war, vor dieser dunkelgrünen Wand stand und von oben hell durch Lampen erleuchtet wurde. Sie fand diesen Eindruck toll, denn so würden die eigentlich wichtigen Dinge, die Bücher, in den Vordergrund treten. Nur über die Intensität der Farbe Rot für das Regal machte sie sich noch Gedanken. Sie wollte nicht, dass das Regal zu sehr in den Blick der Kunden gerät, sie wollte ja Bücher verkaufen und keine Regale. Dennoch sollte das Rot der Regale im Einklang mit dem Grün der Wände dem Raum die Hintergrundatmosphäre geben, die Basis von allem, sozusagen, der emotionale, unbewusste und für das Wohlempfinden entscheidende Eindruck für den Kunden.

Vielleicht sollte sie ein dunkles Rot nehmen. Spontan entschied sie sich für Dunkelrot. Dabei fiel ihr ein, dass sie heute noch ihren Onkel darum bitten musste, ihr den Raum auszumessen. Er wollte seinem Bruder in Athen die Maße schnellstmöglich durchgeben, damit dieser rechtzeitig beginnen konnte, die Einrichtung zu schreinern und zu lackieren. Sie blies Luft durch ihre zusammengekniffenen Lippen aus und zog die Augenbrauen noch oben. Das würde noch sehr viel Arbeit werden, bis sie ihr Geschäft eröffnen konnte. In zwei Monaten musste alles fertig sein, denn dann begann die Saison mit dem Tourismus, und sie wusste, dass sie dringend auf den Umsatz mit den Touristen angewiesen war. Im Winter konnte sie kein großes Geschäft erwarten, obwohl sie natürlich vorhatte, auch im Winter ihren Buchladen geöffnet zu lassen. Aber sie wusste, dass sie im Sommer das Geld für den Winter mitverdienen musste. Darum wollte sie im April bereits alles fertig haben. Sie freute sich schon auf den Tag, an dem sie ihre ersten Bücher in der Hand halten und sie liebevoll in ihre Regale stellen würde. Doch bis dahin war noch viel zu tun.

Despina spürte in ihrem Bauch, dass dieser Stress ihr viel Energie abverlangte. Sie musste stark sein, um ihren Traum bis zur Vollendung in Wirklichkeit umsetzen zu können. Das spürte sie nun ganz tief in sich.

Ihr Blick streifte über den Boden. Sie nahm ihr Blatt Papier und notierte sich, dass sie den Boden reinigen müsste, dass sie ihren Onkel wegen den Maßen der Regale anrufen müsste, und natürlich wegen der elektrischen Leitungen auch, dass sie dunkelgrüne Farbe und Pinsel besorgen müsste und sich einen zeitlichen Ablaufplan erstellen sollte, damit sie rechtzeitig mit allem zur Eröffnung fertig werden würde.

Sie atmete tief ein und hielt kurz den Atem an, um die verbrauchte Luft anschließend mit einem leisen Seufzer wieder auszuatmen. Sie fühlte sich auf einmal schwer. Etwas hatte sich verändert. Es war ihr so, als ob ihr etwas das Atmen schwer machen würde. Leichte Zweifel kamen in ihr auf, ob sie sich nicht doch ein wenig übernommen hatte? War sie dieser Anstrengung gewachsen? Es kam ihr so vor, als ob der Raum plötzlich seine Atmosphäre änderte. Das diffuse Licht wirkte drückend und die verschmutzten grauen Wände schienen sie fast zu erschlagen. Sie bekam Angst und sah ihr Scheitern auf einmal bildlich vor sich. Als die Angst schon in Verzweiflung umschlagen wollte und ihr die ersten Tränen im Auge erschienen, schüttelte sie ihren Kopf, um wieder auf klare Gedanken zu kommen.

»Ach Quatsch!«, sagte sie laut und ärgerte sich über ihre selbstzweifelnden Gedanken. Das konnte doch nicht sein, dass sie über Jahre hinweg für ein Ziel gekämpft hatte, das sie nun so kurz vor der Verwirklichung aufgrund von ein paar Gedanken infrage stellte! Wo kamen überhaupt diese Gedanken her? Solche Gedanken sind ihr doch bisher auch nicht durch den Kopf gegangen! Es kam ihr so vor, als ob diese Gedanken gar nicht aus ihrem Gehirn stammten, sondern ihr von irgendwoher eingesetzt wurden. Das waren doch nicht ihre Gedanken! Das war doch nicht ihre Einstellung! Das war doch nicht sie selbst! Fast schon geschockt saß sie da. Ihr Gesicht hatte das Lächeln verloren. Sie blickte auf ihr Blatt Papier und las nochmals ihre Notizen durch, ohne jedoch etwas dabei zu denken. Plötzlich bemerkte sie, dass jemand an der Tür stand und sie beobachtete. Despina erschrak und zuckte ein wenig zusammen. Sie versuchte das Gesicht der Person durch die Glasscheibe der Türe zu erkennen, erkannte jedoch nur, dass es eine Frau war. Eine griechische Frau, aber sie kannte diese Frau nicht. Sie wollte von ihrem Stuhl aufstehen und zur Tür laufen. Sie wollte wissen, wer diese Frau war. Doch Despina merkte, dass sie fast keine Luft mehr bekam und ihr das Aufstehen eine unheimliche Anstrengung abverlangen würde. Sie konnte nicht aufstehen. Sie saß einfach nur da und starrte gedankenlos zur Tür.

Eine kalte, regungslose Stimme drang in den Raum und fragte in lang gezogenen Worten auf Griechisch: »Was für ein Geschäft eröffnen Sie hier?«

Despina versuchte sich zu konzentrieren und sagte dann nur: »Bücher!«

Sie blickte starr auf die Scheibe in ihrer Türe, hinter der die Umrisse des Gesichtes der Frau gerade noch zu sehen waren. Doch als sie versuchte ihre Gedanken zu sammeln, um sie zu fragen, wer sie sei, war sie verschwunden. Despina hörte noch ihre schleppenden Schritte, wie sie durch die Malinou davonlief. Langsam stand sie auf und ging zur Tür, öffnete sie mit einem lauten Knarren und blickte nach draußen in die Gasse. Die Frau war nicht mehr zu sehen, aber Despina konnte sie noch riechen. Es lag ein schwerer Duft in der Luft vor ihrer Tür. Despina atmete tief ein und wollte jedes Molekül dieses Geruchs in sich aufsaugen. Sie wollte diesen Geruch jederzeit wiedererkennen können. Sie wusste, dass sie dieser Frau noch nicht das letzte Mal in ihrem Leben begegnet war. Sie wusste, dass sie diese Frau an ihrem Geruch erkennen könnte. Denn dieser Geruch war einmalig. Er war unverwechselbar und so markant, dass er etwas Besonderes war. Für Despina war er allerdings nicht im positiven Sinne besonders. Despina hatte Angst. Kurz bevor diese Frau erschien, wurden ihre Gedanken negativ. Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Als diese Frau sie ansah, hörte ihr Gehirn auf zu funktionieren. Sie brachte nicht einmal mehr ein paar vernünftige Worte heraus. »Bücher!« Mein Gott musste sie dumm ausgesehen haben, als sie dieses Wort in Richtung Tür stammelte und wie angebunden auf diesem Stuhl saß. Sie hatte Angst. Wer war diese Frau und warum hatte sie so eine außerordentlich Wirkung auf sie? Despina glaubte an das Schicksal und auch an die Vorsehung. Und diese Begegnung soeben war für sie eine Vorahnung auf ein unweigerlich eintretendes Ereignis. Ein Ereignis, vor dem sie Angst hatte. Sie wusste, dass sie diesem Ereignis nicht ausweichen konnte, und das machte ihr Angst. Sie fühlte sich erschlagen und fragte sich, wie es sein könnte, dass jemand, der vor einer Tür stand, eine Person in dem Raum hinter dieser Tür derart in ihren Gefühlen und Gedanken beeinflussen konnte? Sie wusste, es gab keine irdische Erklärung dafür. Sie holte nochmals tief Luft und trat auf die Malinou hinaus.

Langsam drehte sie sich auf der anderen Seite der Gasse um und blickte auf die Tür ihres Geschäftes. Die massive Holztür stand offen und lud sie ein, wieder in ihr Geschäft einzutreten. Dieser Anblick befreite sie wieder von ihren negativen Gefühlen und Gedanken. Ein Lächeln kam in ihr Gesicht zurück und sie blickte auf eine helle Katze, die soeben auf ihrem Weg die Malinou entlang vor ihrem Geschäft Halt machte und in den leeren Raum schaute. Despina mochte Katzen sehr. Sie beobachtete sie und wartete nun, was die Katze tun würde. Sie lief, wie es Despina insgeheim gehofft hatte, in den wenig einladenden und nur leicht beleuchteten Raum mit leichten, federnden Schritten hinein. Despinas glückliches Lächeln war wieder zurückgekehrt. Sie war sehr froh darüber, dass die Katze den Raum betrat, denn nun war sie sich sicher, dass die negative Atmosphäre von vorhin verschwunden war. Ihrer Meinung nach hatten Katzen ein sehr empfindsames Gespür dafür, wo negative Energie sich angesammelt hatte. Katzen würden ihrer Meinung nach solche Orte meiden. Despina folgte der Katze und betrat ihr Geschäft wieder. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und blickte der Katze hinterher, die den gesamten Raum inspizierte und dann zu Despina aufschaute, ein kurzes »Mau« von sich gab und den Raum wieder verließ. Es wurde wieder ruhig. Der Gedanke ging ihr durch den Kopf, dass dieses Ereignis, das sie auf sich zukommen sah, was auch immer es sein würde, am Ende für sie positiv ausgehen würde. Das wusste sie nun, denn sonst wäre diese Katze nicht bei ihr erschienen. Despina war beruhigt und fühlte sich wieder wohl in ihrer Haut. Sie blickte sich in ihrem Raum um und war sich nun umso mehr sicher, dass dieser Raum eine dunkelgrüne Farbe bekommen musste. Sie brauchte diesen, in ihren Augen positiven Anstrich der Wände, um sich hier wohlfühlen zu können. Jetzt nahm sie ganz deutlich wahr, welche starke positive Ausstrahlung dieser Ort auf sie ausübte, und sie nahm diese Empfindung dankbar an.

Despina sah sich bildlich als alte Frau immer noch in diesem Raum sitzen, und das gab ihr die Zuversicht, dass es auch so eintreten würde. Auch wenn sie dieses Jahr erst ihren dreißigsten Geburtstag feierte, sah sie sich als siebzig- oder achtzigjährige Frau vor sich. Sie glaubte fest an diese Eingebungen und zog daraus ihre Zuversicht fürs Leben.

Despina hörte Schritte in der Malinou näher kommen und hoffte, dass diese Frau nicht zurückkommen würde. Doch die Schritte sagten ihr schon, dass es eine andere Frau sein müsste, da diese Schritte schneller waren und einen ganz anderen, fast energischen Rhythmus hatten. Schon klopfte es kurz an ihrer Tür und ihre Freundin Sofia kam zielstrebig in den Raum herein.

Aufgeregt, und wie immer in schnellen Worten, sprach sie los: »Oh, du bist schon hier! Hier muss aber noch viel gearbeitet werden! Hast du schon angefangen? Stell dir vor, mein Mann hat ein neues Auto gekauft. Wie geht es dir, Despina?«

Despina lächelte, schaute Sofia an und meinte nur: »Hallo Sofia, geht das nicht noch schneller?«

»Oh, Despina, du kennst mich doch. Bei mir muss immer alles sofort und gleichzeitig heraus. Aber jetzt zeig mir doch mal deine neue Arbeitsstelle. Ist das alles?«

Leicht geschockt über diese Frage riss Despina die Augen auf und meinte dann nur beleidigt: »Ja, ich habe vorerst davon abgesehen, das Olympiastadion in Athen anzumieten. Jetzt bleib mal auf dem Boden, ich will nur Bücher verkaufen, keine Flugzeuge.«

Sofia blickte sie besänftigend an und breitete ihre Arme in Richtung Despina aus. Dann nahm sie sie in den Arm und meinte: »Oh, Entschuldigung, der Raum ist natürlich wunderbar. Doch, ich finde es ganz toll hier. In welcher Farbe willst du streichen?«

Despina zog die Mundwinkel zu einem deutlich künstlichen Lächeln nach oben und meinte mit einem leicht provokanten Ton: »Er wird dunkelgrün gestrichen! Ich hoffe auf deine Hilfe dabei.«

»Dunkelgrün? Hast du sie noch alle? Ich meine, es gibt so viele schöne Farben auf dieser Welt. Warum Dunkelgrün? Ich würde mal ein fröhliches Gelb oder Orange vorschlagen. Oder besser noch Weiß, dann bleibt die Helligkeit des Raums erhalten. Mit einem zarten Rosa könnte ich auch noch leben. Aber bei dunkelgrün bekomme ich Migräne.«

»Dagegen gibt es wunderbare weiße Pillen«, meine Despina schnippisch.

Insgeheim hoffte sie, dass Sofia sie jetzt in Ruhe lassen würde. Irgendwie war sie gerade nicht in der Stimmung, sich Sofias oberflächlichen Frechheiten auszusetzen.

»Dunkelgrün?«, schüttelte Sofia den Kopf und lief wieder zur Tür hinaus. Dann meinte sie noch kurz: »Kleines, ich muss weiter. Über die Farbe müssen wir uns noch unterhalten. Bis später!«

»Klar, und danke für deine Hilfe!«, rief Despina ihr hinterher.

Despina musste lachen.

Eigentlich mochte sie Sofia nicht besonders. Sie war immer so überheblich und dazu noch oberflächlich. Despina entgegnete ihr immer mit einem Schuss Unverfrorenheit. Aber eigentlich hatte sie das Gefühl, dass sie sich gegenseitig gar nicht zuhörten und sich nicht ernst nahmen. Sie kannten sich schon seit dem Tag, an dem Despina vor sieben Jahren aus Deutschland hierher zu ihren Eltern zog. Sie war die erste Griechin, zu der sie damals Kontakt bekam. Sofia besaß ein kleines Schmuckgeschäft ein paar Straßen weiter und war die Nachbarin ihrer Eltern. Sie hatte einen sehr großen Bekanntenkreis und sie sah wohl ihre Hauptaufgabe darin, ständig von einem Bekannten zum nächsten zu rennen. Allerdings fühlte sich Despina dadurch nicht gerade geschmeichelt. Sie hatte das Gefühl, dass die Bekanntschaft zwischen ihnen allein dem Zweck diente, Sofias Wichtigkeit zu unterstreichen. Despina wusste auch, dass sie von Sofia keine Hilfe bei der Renovierung ihrer Räume erwarten konnte. Das wollte sie auch gar nicht. Sie befürchtete aber, dass sie Sofia in Zukunft öfters zu sehen bekommen würde, da sie nun mit Sicherheit in der Rangfolge von Sofias Bekanntenkreis ein starkes Stück nach oben gerutscht war, weil sie nun ein eigenes Geschäft hatte. Despina fand das lächerlich, hoffte aber auch ein wenig darauf, dass Sofias Bekanntenkreis ihr ein paar neue Kunden bringen würde. Daher, und aus Höflichkeit, spielte sie dieses Spiel mit.

Draußen wurde es immer dunkler und frischer. Sie beschloss nun, bei ihrem Onkel direkt vorbeizugehen, um ihn über ihre Wünsche zu informieren. Neben Katharina, ihrer besten Freundin, war er derjenige, der Despina am meisten half. Sie wusste, dass er wirklich hinter ihr und ihrem Geschäft stand. Es tat ihr gut zu wissen, dass sie nicht alleine war.

Despina hörte erneut Schritte von draußen. Sie hoffte sehr, dass sie nicht nochmals Besuch bekommen würde. Doch als die Schritte kurz vor ihrer Tür langsamer wurden, wusste sie, dass sie gleich nicht mehr allein war. Katharina stand in der Tür und lächelte.

»Katharina! Schön, das freut mich aber, dass du mich noch besuchst. Ich wollte gerade gehen.«

Sie begrüßten sich herzlich, indem sie sich in die Arme fielen und auf die Wange küssten.

»Despina, mein Schatz. Ich habe mir extra kurz freigenommen, um zu sehen, ob du da bist. Ich muss dir doch herzlichst gratulieren. Es freut mich so für dich, dass es endlich geklappt hat, dass dein Traum wahr geworden ist. Wenn du Hilfe brauchst, dann kannst du auf mich zählen. Und ich sehe, du kannst Hilfe sehr gut gebrauchen. Hast du schon eine Vorstellung, wie du dein Geschäft einrichten willst?«, fragte Katharina mit einem Lächeln im Gesicht.

Despina war dankbar und meinte vergnügt: »Danke Katharina, ich werde deine Hilfe gerne in Anspruch nehmen. Stell dir einmal vor, wir streichen den Raum in einem dunklen Grün und stellen dunkelrote Regale aus Holz darin auf, damit der Raum selbst in den Hintergrund verschwindet. Von oben an der Decke und an den Regalen, möchte ich dann die Bücher durch ein helles Licht in den Vordergrund leuchten, sozusagen. Was hältst du davon?«

Beide blickten in die Leere des Raumes.

Katharina überlegte kurz und meinte dann in sich gekehrt: »Ich könnte mir vorstellen, dass dies den Raum sogar größer werden lässt, als er eigentlich ist. Ich meine, er würde unendlich wirken. Eine gute Idee wäre es, wenn du diesen Effekt durch ein paar Spiegel an der Wand noch verstärken könntest. Das schafft Raum, der gar nicht da ist. Ich meine, der Eindruck den man bekommt, wenn man den Laden betritt, wäre schon fast, ja, fesselnd!»

Despina sah Katharina begeistert an und sagte: »„Katharina, dieser Vorschlag hinterlässt bei mir auch einen fesselnden Eindruck und ist somit angenommen. Doch ehrlich, das ist mal eine gute Idee. Hast du noch mehr davon?«

Katharina sah Despina kurz an und schaute auf ihre Uhr. »Hui, ich muss wieder zurück ins Geschäft! Ich wollte nur kurz bei dir hereinschauen. Despina, wenn du mit den Renovierungsarbeiten beginnst, melde dich rechtzeitig bei mir. Ich denke, uns fallen auch noch viele Ideen ein, aus diesem Raum eine stilvolle Bibliothek zu machen. Jetzt muss ich aber wieder gehen, sonst bekommt meine Chefin den bösen Blick. Ach ja, ich habe noch ein kleines Geschenk für dich. Bitte!«

Katharina überreichte ihr ein kleines Säckchen mit einem grünen Stein darin und meinte dann zu ihr: »Er soll dir Glück bringen!«

Despina freute sich wirklich sehr und fühlte, dass sie sehr dankbar war Katharina kennengelernt zu haben. Sie war so eine wunderbare Frau und Despina würde alles tun, diese Freundschaft zu erhalten.

»Oh danke, das ist so lieb von dir! Ich werde ihn immer bei mir tragen. Danke!«

Sie küsste Katharina auf die Wange und sie verabschiedeten sich. Als Katharina aus dem Raum trat, dachte Despina, dass Katharina doch ein Engel und eine wahre Freundin sei. Sie fragte sich, wie diese freundschaftlichen Gefühle ihr gegenüber zeigen könnte?

Ein grüner Stein! Das war ja, als ob sie Gedanken lesen konnte, dachte Despina. Sie drückte den Stein ganz fest in ihrer Faust und hielt sie an ihr Herz. Sie schloss ihre Augen und wünschte sich, dass Katharina immer gesund bleiben, ihre Freundschaft zu Katharina nie zu Ende gehen und das Glück sie niemals verlassen sollte. Nun wusste sie, dass sie genau auf dem richtigen Weg war. Alles war okay. Selbst ihren Entschluss mit der dunkelgrünen Farbe fand sie bestätigt. Sie war glücklich und freute sich. Die Lust kam in ihr hoch, sofort mit der Renovierung zu beginnen. Sie wollte jetzt den Pinsel in die Hand nehmen und hätte es auch sofort getan, wenn die Farbe dazu bereits hier gewesen wäre. Doch jetzt wollte sie ja zuerst zu ihrem Onkel gehen und mit ihm sprechen.

Sie löschte das Licht. Despina fror ein wenig. Es wurde kalt am Abend. Der Sommer war noch weit weg, aber sie freute sich schon auf ihn. Sie freute sich auf die Wärme des Frühlings und auf ihre neue Aufgabe.

Der Raum machte im Dunkeln einen geheimnisvollen Eindruck auf sie. Er wirkte wirklich größer, oder unendlicher, wie Katharina sich ausgedrückt hatte. Sie konnte sich nun gut vorstellen, dass er mit der grünen Farbe, einer strahlenden Beleuchtung und ein paar Spiegeln beeindruckend wirken könnte. Das wollte sie auch. Sie wollte eine Atmosphäre schaffen, die zum Stöbern und Kaufen einladen sollte. Sie wollte, dass sich die Kunden bei ihr wohlfühlten. Sie wollte, dass sich ihre Kunden auch noch an das Geschäft erinnerten, wenn sie es schon wieder verlassen hatten. Sie wollte, dass ihre Kunden gerne wieder zu ihr zurückkamen. Sie wollte mit dieser Atmosphäre ihre Kunden auf der Gefühlsebene ansprechen. So hatte sie sich das in den letzten Jahren ausgedacht und nun lag es an ihr, diese konkrete Vorstellung umzusetzen. Sie betete dafür, dass ihr das gelingen möge. Das war ihre Herausforderung, an der ihr sehr viel lag. Sie wollte hier sehr viel Energie investieren, weil ihr klar war, dass davon natürlich auch ihr Erfolg abhängen würde.

Despina trat durch die Tür und schloss sie hinter sich. Die Luft war noch frischer geworden. Ein leichter Wind kam auf und sie konnte das Meer riechen. Es war inzwischen fast ganz dunkel geworden und sie konnte bereits einige Sterne am Himmel erkennen. Niemand war in den Gassen zu sehen und die Stadt lag ruhig da. Sie vergewisserte sich nochmals, dass die Tür auch wirklich verschlossen war, und machte sich dann auf den Weg zu ihrem Onkel. Nach fünf Schritten drehte sie sich erneut um und schaute freudig strahlend nochmals ihr Geschäft von außen an. Dann machte sie sich auf den Weg.

Die Frau, die in ihr diese negativen Gefühle verursachte, war aus ihren Gedanken verschwunden.

II

Jannis kochte vor Wut, als er heimkam. Niemand war da und die Küche kalt. Er drehte sich um, schlug die Tür hinter sich zu und ging wieder.

Am Abend des vierten darauffolgenden Tages waren Katharina und Despina dabei, mit dunkelgrüner Farbe ihr Geschäft zu streichen. Ihr Onkel hatte bereits nach ihrem Wunsch die Elektrik verlegt und nun konnten sie endlich selbst Hand anlegen. Mit voller Begeisterung hatten sie an der Decke begonnen und waren zügig damit fertig geworden. Die Wände würden ihnen leichter fallen, dachte sie. Das ständige Arbeiten über dem Kopf strengte sie enorm an. Weil ihnen das Blut aus den Armen lief, mussten sie immer mehr Pausen machen. Darum waren sie sehr froh, als die Decke endlich fertig war. Despina fing an der hinteren Wand zu streichen an, während Katharina vorne an der Tür begann. Je weiter sie kamen, desto mehr steigerte sich ihre Begeisterung über die Farbe. Sie entsprach genau Despinas Vorstellung. Dieses samtige Grün füllte den Raum mit einer warmen wohligen Atmosphäre. Es roch nun nach frischer Farbe, dieser alte muffige Geruch verschwand. Der Raum veränderte seine Identität, er wurde langsam ein anderer. Despina nahm diesen Prozess sehr genau wahr. Für sie war es eine optische und atmosphärische Entwicklung, die in ihr das Gefühl entstehen ließ, angekommen zu sein. Es war noch nicht das Endgültige, aber es war der erste Schritt dahin.

Despina hoffte, dass die Holzregale und die Bücher dem Raum später ihre Geruchsnote aufzwingen würden. Sie liebte diesen Geruch von Papier und Holz. Für sie war er ein zwingender Bestandteil der Atmosphäre ihres Geschäftes. Daher wollte sie auch keine modernen Stahl- oder Aluminiummöbel, und auf keine Fall Kunststoff in ihrem Geschäft. Sie wollte Holz, sie bestand auf dieses Stück Natur in ihrer Nase. Das bedeutete für sie Leben und sich wohlfühlen. Außerdem war sie sich sicher, dass sich ein Buch in einem Metallregal nicht wohlfühlen würde. Jedes Buch roch anders, und das hing wesentlich von seiner Umgebung ab. Ein Buch würde nur seine volle Aura bekommen, wenn es sich mit Holz umgab. Der Geruch eines Buches konnte sich nur entfalten, wenn es in einem Holzregal stand, da war sich Despina sicher. Und der Geruch eines Buches machte in ihren Augen mindestens dreißig Prozent seines Wesens aus. Sie las nicht nur ein Buch, sie roch es auch, sie fühlte es, ja, sie erlebte es. Das Wesen eines Buches ging mit dem Leser eine Art Symbiose ein, das war nach Despinas Verständnis unvermeidbar. Die wenigsten Menschen nahmen dies wahr, das wusste sie, aber für Despina machte diese Symbiose die Faszination von Büchern aus. Sie wusste, dazu gehörte nicht nur der Text, nein, der Duft des Papiers, die Farbe des Papiers, die Art der Schrift und das Gefühl der Struktur, wenn man das Buch mit den Fingern berührte. All dies floss in das Unterbewusstsein mit ein und erzeugte beim Leser einen individuellen Gefühls- und Spannungszustand, der mehr oder weniger auf die Psyche des Menschen Einfluss nahm. Ihre Bücher sollten perfekt sein. Ihre Kunden sollten etwas ganz Besonderes bei ihr kaufen können. Nicht nur ein Buch, nein, Despina wollte ein Erlebnis verkaufen. Sie wollte Faszination anbieten und ihre Kunden verzaubern. Sie wollte die Menschen in den Bann der Bücher ziehen. Sie wollte, dass ihre Kunden erkennen, was ein Buch vermag. Sie wollte das Höchste an Qualität bieten, was eine Buchhändlerin im Stande war, zu erschaffen. Sie wollte ein Geschäft für Gourmets der Literatur eröffnen. Sie wollte das perfekte Buchgeschäft haben und sie war sich sicher, dass sie dazu in der Lage war, das alles zu erschaffen.

»Dieses Grün wird jedes Buch zum Lächeln bringen«, meinte Despina fasziniert und sah zu Katharina hinüber.

Katharina, die von Kopf bis Fuß mit grüner Farbe verschmiert war, lächelte und meinte: »Durchaus, und alle Leute, die mich heute noch auf der Straße sehen werden, auch.«

Despina musste lachen und versuchte sie dann zu beruhigen: »Aber es steht dir wirklich gut.«

»Danke!«, entgegnete Katharina freundlich und strich weiter.

Morgen sollte der Raum den ganzen Tag noch die Möglichkeit haben auszulüften und die Feuchtigkeit der Farbe, und damit diesen schweren frischen Farbgeruch, loszuwerden. Übermorgen sollten schon die Regale kommen. Ihr Onkel schien ein Meister des organisieren zu sein. Dass die Regale so schnell fertig werden würden, hätte sie im Traum nicht vermutet. Das brachte sie natürlich auch ein wenig unter Zeitdruck. Doch irgendwie war Despina auch froh darüber. Sie konnte es kaum noch erwarten, die Regale aufgestellt in ihrem Verkaufsraum zu sehen. Verkaufsraum? Nein, für sie war es kein Verkaufsraum, für sie war es ein Ort des Erlebnisses. Ein Ort der Sinne. Ein Ort für die Augen und die Nase. Ein Ort für alle Sinne sollte es werden. Die Ohren wollte sie auch ansprechen. Aber nicht mit Lärm, nicht mit Musik oder überflüssigem Gerede. Nein, sie wollte die Ohren mit Stille ansprechen. Ruhe war ihr das Liebste, was ihr beim Lesen passieren konnte. Stille war das Bett, auf dem der Kopf sich beim Lesen ausruhte. Nur die Stille konnte das Erlebnis des Lesens zur absoluten Perfektion vervollkommnen. Dies würde sie nun leider in ihrem Geschäft nicht ganz bieten können, aber sie würde dies ihren Kunden mit auf den Weg geben. Sie wusste schon, dass es immer schwieriger werden würde, einen Ort der Ruhe zu finden. Für Despina war Lärm der schlimmste Müll der Gesellschaft. Sehr oft stellte sie sich vor, wie ruhig es noch vor hundert Jahren gewesen sein musste. Damals gab es noch kaum Autos, Lautsprecher, Flugzeuge, Motorräder und all diese lärmenden Maschinen. Damals bestand der Lärm aus dem Ticken einer Wanduhr, aus dem Traben eines Pferdes, aus dem Heulen des Windes, dem Bellen eines Hundes und dem Geschrei und Lachen der Kinder. Despina sehnte sich nach dieser Ruhe. Doch in der Stadt war sie nicht mehr zu finden. Dieser Ort, an dem die Seelen der Menschen zur Ruhe kamen, wurde aus der Stadt vertrieben. Er hatte hier keinen Platz mehr. Er wurde vertrieben auf das Land, aufs Meer und hoch in die Luft. Aber da, wo er sein sollte, bei den Menschen in der Stadt, da wurde er vertrieben. Despina wollte diesem Ort einen kleinen Raum der Ruhe zurückgeben. Sie wollte versuchen, soweit es möglich war, diesem kleinen und feinen Trieb der Pflanze der Ruhe wieder Boden zu geben. Sie wusste zwar, dass sie damit etwas Gutes für die Menschen tun wollte, aber dass sie damit gerade gegen diese Menschen ankämpfen musste, war ihr auch bewusst. Trotzdem sah sie es auch als ihre Aufgabe an, den Menschen diesen Widerspruch, dieses Dilemma bewusst werden zu lassen. Sie wollte ja auch nicht jeglichen Ton verurteilen. Auch sie mochte Musik. Aber wenn sie einen Ort der Ruhe aufsuchte, dann wurde ihr erst bewusst, wie sehr ihr doch diese Stille im Alltag fehlte, wie sehr sie doch dieser ständige Lärm belastete und wie sehr ihre Seele diese Stille zur Erholung brauchte. Sie wusste, das ging nicht nur ihr so, das ging allen Menschen so. Darum war ihr die Ruhe hier so wichtig.

Despina hatte ihre Seiten der Wände gestrichen und Katharina war auch fast fertig. Draußen war es inzwischen dunkel geworden und die einsame Birne an der Decke kam nun gegen das Dunkelgrün kaum mehr an. Das bisschen Licht wurde einfach von der Farbe verschluckt. Despina hoffte, dass sie morgen nicht nochmals von vorne beginnen musste, da sie bei diesem Licht einfach nicht mehr erkennen konnten, ob die Farbe auch richtig deckte. Sie half Katharina noch den Rest zu streichen und dann fielen sie sich in die Arme. Sie waren überglücklich, diese Aufgabe nun vollbracht zu haben. Nachdem sie die Plane am Boden entfernt und ihre Pinsel und Farbrollen gereinigt hatten, standen sie stolz vor der geöffneten Tür und betrachteten ihr Werk. Sie bemerkten nicht, dass hinter ihnen auf einmal eine Frau mit einem Karton stand.

»Entschuldigung! Darf ich Sie kurz stören?«, sagte die Frau und sah die beiden grün verschmierten Malerinnen aus einigen Metern Entfernung an. Despina und Katharina kannten die Frau nicht, die ihnen mit einer auffällig schüchternen Art begegnete. Despina schätzte das Alter der Frau auf ungefähr dreißig. Sie war attraktiv, hatte lange mittelblonde Haare und sendete eine merkwürdig ablehnende Ausstrahlung aus. Despina fragte sie höflich: »Selbstverständlich, wie können wir Ihnen weiterhelfen?«

Die Frau schaute Despina kurz verlegen und leicht verstört an und meinte dann: »Ach, ich habe gehört, dass Sie einen Buchladen eröffnen wollen. Wissen Sie, ich verreise und habe noch ein paar wertvolle Bücher, die würde ich Ihnen gerne schenken. Ich kann sie nicht mitnehmen und auch sonst nicht mehr gebrauchen. Bitte, nehmen Sie sie an. Ich wäre Ihnen sehr dankbar.«

Despina war etwas perplex, sagte dann aber zu der Frau, die ihren Blick auf den Boden gerichtet hatte: »Wenn ich Ihnen damit einen Gefallen tun kann, gerne. Ich bin nun leider etwas mit Farbe verschmiert, wenn Sie mir die Bücher vielleicht ganz hinten rechts neben das Waschbecken stellen könnten, dann würden sie nämlich keine Farbe abbekommen.«

Die Frau nickte und lief auch schon quer durch den neu gestrichenen Raum. Sie schaute sich nicht um, ihr Blick richtete sich nur auf den Boden. Nachdem sie den Karton abgestellt hatte, lief sie schnell zurück, bedankte und verabschiedete sich durch ein kurzes Nicken von den beiden, und war weg.

Katharina hob die Augenbrauen und fragte Despina: »Wer war das denn? Das war mal eine seltsame Person. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich könnte Angst vor ihr bekommen.«

Während Despina mit heruntergezogenen Mundwinkeln antwortete: »Keine Ahnung! Die kannte ich nicht«, lief Katharina zu dem Karton hin und warf einen Blick hinein. Dann sagte sie nur: »Lauter alte muffige Bücher!«

»Na, das ist doch mal was! Mach den Karton wieder zu, ich schaue sie mir genauer an, wenn meine Regale stehen. Dann finde ich sicher auch einen Platz dafür. Jetzt lass uns gehen, ich brauche heute noch ein wenig Ruhe. Morgen muss ich noch arbeiten.«

Despina hatte nun doch irgendwie das Gefühl, dieser Frau bereits irgendwann schon einmal begegnet zu sein. Sie dachte nicht darüber nach, da sie es auch nicht für wichtig hielt.

Despinas Gedanken drehten sich um ihren alten Arbeitgeber. Sie hatte auf Monatsende gekündigt. Nachdem ihr Chef erfahren hatte, dass sie in der Stadt auch einen Buchladen eröffnen wollte, wurde sein Verhalten ihr gegenüber äußerst unkorrekt. Ihr Chef war davor schon ein Patriarch, aber nun trieb er es auf die Spitze. Sie hatte sich aber nun geschworen, sich nichts mehr gefallen zu lassen, auch wenn er sie nun in den letzten Tagen, in denen sie bei ihm noch arbeiten musste, hinauswerfen würde. Das wäre ihr nun auch egal. Irgendwie wäre es ihr sogar recht, wenn es so kommen würde. Sie hatte auch keine Lust mehr, sich mit dem Machogehabe ihres Chefs zu beschäftigen. Es genügte ihr eigentlich, dass ihr Ehemann die gleichen Verhaltensweisen an den Tag legte.

Bei diesen Gedanken hatte Despina die seltsame Frau und ihrem kleinen Karton bereits vergessen.

III

Martina starrte durch den kalten Wind, der mit starker Wucht über die Fähre wehte, aufs Meer hinaus. Ihre Haare flatterten und die salzige Luft trieb ihr Tränen aus den Augen. Sie fühlte, wie ihre Wut und ihr Schmerz vom Wind mitgenommen wurde. Es blieb eine kalte Leere in ihr zurück.

Mit ihren Regalen kam auch wärmeres Wetter nach Kreta. Die Lieferung der Regale hatte nun doch vier Tage länger gedauert als geplant, aber das machte Despina nichts aus. Mit ihrem Chef war sie sich einig geworden, dass sie sofort ihre Anstellung beenden könnte, da er im Moment sowieso keine Arbeit für sie hatte. Dafür hatte sie deswegen mit ihrem Ehemann Ärger bekommen, weil nun diesen Monat weniger Geld in die Haushaltskasse floss. Er war ohnehin dagegen, dass sie ihr eigenes Geschäft eröffnete, denn er konnte es nicht akzeptieren, dass seine Frau beruflich mehr erreicht hatte als er. Jannis interessierte sich auch nicht im Geringsten dafür, was seine Frau für ein Geschäft eröffnete. Ihm war es wichtig, dass sein Haushalt in Ordnung war und er sein Essen auf den Tisch bekam. Und genau hier hatte er nun seine Bedenken. Er hatte keinen Sinn für Bücher, Papier interessierte ihn nicht. Für ihn waren andere Dinge wichtig. Unter Widerworten ließ er allerdings seine Frau gewähren, doch seine Erwartungen wollte er bedingungslos erfüllt bekommen.

Despina vergaß all diese Probleme, als sie in ihren Raum trat und zum ersten Mal die Regale sah. Dieses wunderschöne dunkle Rot bildete einen wunderbaren, ja harmonischen Kontrast zu dem samtigen Dunkelgrün der Wände. Die Farbe wirkte wie ein dicker Rotwein. Sofort war sie verliebt in diese Farbkombination. Sie spürte wie sich ihre Haare im Nacken anstellten und es sie schüttelte. Sie bekam eine Gänsehaut. Nun fühlte sie sich daheim. Das war es also nun. Noch war alles leer, aber sie konnte sich die Regale gefüllt mit Büchern sehr gut vorstellen. Morgen würde ihr Onkel kommen und die Beleuchtung installieren. Vielleicht würden übermorgen auch schon die Bücher eintreffen. Dann erst würde Leben in den Raum kommen. »Was stellt ein Zoo ohne Tiere dar?«, dachte sie schmunzelnd. Despina freute sich wie ein kleines Mädchen, das zu ihrem Geburtstag ihre erste richtige Puppe bekam. Sie war überglücklich und musste sich setzen. Heute nahm sie sich vor, die drei Spiegel, die sie mitgebracht hatte, noch aufzuhängen. Die Spiegel waren groß und schwer. Sie hatte sie neu gekauft und musste sie gute fünfhundert Meter vom Parkplatz am Hafen bis zu ihrem Geschäft tragen. Mit dem Auto konnte man in die Malinou nicht hineinfahren, die Gasse war viel zu schmal. Ihre gute Laune ließ sie aber die Anstrengung von vorhin schnell vergessen und nun stand sie schnell wieder auf und holte einen Hammer und Nägel. Nachdem sie den Platz für die Spiegel richtig positioniert hatte, schlug sie einen Nagel in die Wand und hängte den ersten Spiegel auf. Als sie vor dem Spiegel stand und sich darin betrachtete, dachte sie, dass man ihr die Anstrengung der vergangenen Tage schon ein wenig ansehen würde. Ihre dunkelbraunen, gelockten langen Haare hingen ein wenig ungepflegt an ihr herunter. Auch meinte sie, unter ihren braunen Augen leichte Ringe entdeckt zu haben. Dennoch fand sie sich für ihre dreißig Jahre noch recht attraktiv. Es wurmte sie heute aber noch ein wenig, dass sie mit einem Meter neunundsechzig aufgehört hatte zu wachsen. Nicht einmal die ein Meter siebzig hatte sie geschafft, obwohl ja nicht mehr viel fehlte, aber dieser eine Zentimeter ärgerte sie. Dennoch musste sie es akzeptieren, es blieb ihr nichts anderes übrig. Schnell hängte sie noch genau gegenüber den identischen Spiegel auf, sodass eine unendliche Spiegelung entstand, wenn man sich genau zwischen die beiden Spiegel stellte und hineinblickte. Despina gefiel diese Spielerei. So etwas liebte sie. Den dritten Spiegel hängte sie an der hinteren Wand genau gegenüber der Eingangstür auf, damit jeder der den Raum betrat und in diesen Spiegel sah, den Eindruck hatte, dass der Raum doppelt so lang wäre, wie er tatsächlich war. Auch diesen Effekt empfand sie als genial. So verdoppelte sich praktisch ihr Angebot an Büchern. Dabei dachte sie, dass dadurch allerdings leider die Hälfte der Bücher in Spiegelschrift geschrieben wären, was beim Lesen etwas Probleme bereiten würde. Despina schmunzelte ein wenig über ihren eigenen Humor.

Der alte Stuhl störte sie. Der musste noch weg. Aber sie brauchte noch ein, zwei Sitzgelegenheiten. Sie stellte sich hinten vor ihrer Kassentheke zwei bequeme Rattansessel vor. Ein kleiner Tisch als Ablage für ein Buch. In diesen Sesseln durften sich dann ihre Kunden niederlassen und einen Blick in das gewünschte Buch werfen. Sie sollten herausfinden können, welchen Eindruck dieses Buch auf sie haben würde. Sie sollten verweilen können und Ruhe finden.

An den beiden langen Außenwänden des Raumes befanden sich nun Regale und in der Mitte des Raumes stand ebenfalls der Länge nach ein Doppelregal. An der Stirnseite dieses Doppelregales wollte sie den kleinen Tisch und die zwei Sessel stellen. So hatte sie sich das eigentlich vorgestellt. Doch nun sah sie, dass das alles zu eng werden würde. Man hätte weder die Möglichkeit, um das Regal herumlaufen zu können, was aber unbedingt notwendig war, noch hätte man ausreichend Platz, um an die Kasse heranzukommen. Ihre Kunden sollten ohne Einschränkungen an die Kassentheke kommen können, um die Ware zu bezahlen. Despina überlegte und stellte die Idee mit den Sesseln erst einmal zurück, ohne sie aber aufzugeben, denn das war ein Punkt ihrer Verkaufsstrategie, auf den sie nicht verzichten wollte.

Es klopfte kurz an ihrer Tür und Sofia kam auch schon herein und meinte mit ihren schnellen Worten: »Na das sieht doch jetzt schon viel besser aus, würde ich meinen. Wo sind deine Bücher? Alle schon verkauft? Na das nenne ich geschäftstüchtig! Wie geht es dir, meine Liebe?«

Despina war wie immer von Sofias Redeschwall überrumpelt und meinte: »Ich arbeite. Und wie geht es dir?«

»Blendend!«, laberte Sofia sofort weiter. »Stell dir vor, deine Mama habe ich vorher in der Stadt getroffen. Ihr scheint es nicht so gut zu gehen, sie war ganz blass. Ist sie krank?«

Despina war etwas geschockt, »nein, davon weiß ich nichts. Heute Morgen war sie noch vollkommen gesund. Wann hast du sie denn getroffen? Wenn sie wieder zuhause ist, rufe ich sie an.«

»Ach, vor zwei Stunden. Aber vielleicht habe ich mich auch getäuscht. Nimm es nicht so ernst. Vielleicht war das Licht ungünstig. Macht es dir etwas aus, wenn ich zu deiner Eröffnungsfeier ein paar Leute mitbringen würde. Ich mache nämlich schon kräftig Werbung für dich. Vielleicht fällt dann ja mal eine Tasse Kaffee für mich ab. Ein guter Bekannter von mir, ein Engländer, hat sich hier ein wenig außerhalb eine hübsche Villa gekauft, und bei der Besichtigung seines Domizils hat er mir von seiner Bibliothek vorgeschwärmt, die er sich noch einrichten möchte. Und stell dir vor, er hat noch kein einziges Buch. Der Raum ist aber viel größer als deiner hier. Ich habe gleich an dich gedacht und ihm deine Adresse hier gegeben. Was hältst du davon?«

Despina bekam große Augen. »Lieber Gott! Sofia, mach mir keine Hoffnungen auf so etwas. Stell dir vor wie enttäuscht ich sein könnte, wenn dieser Mann nichts oder nur ein kleines Buch bei mir kaufen würde. Wenn er mir allerdings eines Tages den Laden leer kauft, dann hast du mehr als eine Tasse Kaffee bei mir gut.« Despina lachte und klopfte Sofia auf die Schulter. »Aber natürlich freue ich mich riesig, wenn du für mich Werbung machst, und ich glaube sogar, dass das eine gute Werbung für mich ist.«

Sofia freute sich und meinte: »Siehst du, und der Engländer wird kommen. Ich rede gelegentlich nochmals mit ihm. Das wäre ja gelacht. So meine Liebe, ich muss mich jetzt mal wieder beeilen, ich habe noch ein Date. Ein schöner junger Mann, du verstehst?«

Despina sagte erstaunt: »Sofia! Du bist verheiratet!«

Sofia winkte ab: »Ach Quatsch, das ist mein Mann auch und der hat ständig eine andere im Bett. Meinst du nicht, was der kann, kann ich nicht auch?«

Despina überlegte kurz: »Wenn du meinst. Vielleicht sollte ich es dann auch mal meinem Mann gleichtun. Von zwei so Weibern weiß ich sicher.«

Sofia tat empört: »Was? Na klar musst du dir dann auch einen schönen Mann suchen. Wo sind wir denn? Was die Männer können und dürfen, nehmen wir uns auch heraus.«

Despina meinte nachdenklich: »Wenn ich das mache, dann schlägt er mich tot.«

»Warum schlägst du ihn nicht tot?«, fragte Sofia.

»Ich bin doch kein primitiver Mann.«

Sofias meinte darauf mit schlauer Miene: »Da kannst du mal sehen, was du dir da geangelt hast!«

Despina stutzte.

»So meine liebe Buchhändlerin, ich muss jetzt zu meinem Liebhaber. Gelegentlich schaue ich mich mal auch nach einem für dich um. Ich schau die nächsten Tage wieder bei dir rein. Vielleicht sind ja dann deine Hauptattraktionen, die Bücher auch hier eingetroffen. Ich würde mich freuen. Wann ist denn die feierliche Eröffnung?«

Despina schüttelte mit dem Kopf. »Ich kann es noch nicht sagen. Ich lege erst einen Tag fest, wenn ich meine Stars in den Regalen stehen habe. Du weißt ja, ohne Prominente gibt es keine richtige Party. Und Hemingway, Shakespeare, Goethe und Kazantzakis hätte ich schon gerne dabei gehabt, weißt du!«

Sofia lachte und meinte: »Ein wenig jüngeres Blut würde dir auch ganz gut tun. Jetzt muss ich aber gehen. Wir sehen uns!«

»Ja, viel Spaß Sofia, mit deinem…«

Despina dachte, als Sofia auf der Malinou verschwand, dass sie vielleicht nicht ganz unrecht hatte. Warum haben Männer mehr Freiheiten in Beziehungen als Frauen. Oder mit welcher Rechtfertigung nehmen die sich diese Freiheiten heraus? Sie nahm sich vor, ihrem Mann gegenüber in Zukunft weniger nachsichtig zu sein. Ein Fehler wäre dies auf jeden Fall nicht. Sie fürchtete sich nur vor seiner Dominanz.

Despina wollte sich die Hände waschen und ging zu ihrem Waschbecken in den hinteren Teil ihres Raumes. Dabei fiel ihr der Karton wieder auf, den ihr die seltsame Frau geschenkt hatte. Sie freute sich, denn nun hatte sie doch schon ein paar Bücher, die sie in ihre Regale stellen konnte. Das war ja toll. Sie nahm den Karton und stellte ihn neben dem Regal auf einen Stuhl. Dann öffnete sie ihn vorsichtig. Darin sah sie acht antiquierte Bücher. Sie freute sich, denn solche alten Bücher waren für sie Heiligtümer. Ihr Herz schlug schneller. Das waren ganz besondere Bücher, Kostbarkeiten, Schätze! Solche betagten Exemplare konnten viel mehr erzählen, als in ihnen stand. Sie hatten ein eigenes Leben, das man ihnen ansehen konnte. Sie hatten auch ihre eigene Geschichte zu erzählen. Da gab es Bücher, die ein Leben lang im Regal standen und monatlich einmal abgestaubt wurden. Ihre Blätter waren vergilbt, aber dennoch unversehrt und wie neu. Sie hatten noch viel Energie und hätten dieses Buchleben so noch ewig fortsetzen können. Dann gab es aber auch Bücher, die wurden gelesen. Und das nicht nur einmal. Diese Bücher sahen aus, wie ausgesaugt. Die Leser hatten sich daran bereichert und von ihnen gezehrt. Man sah es diesen Büchern an. Diese Bücher hatten gelebt, sie hatten viel gegeben. Sie gaben Freude, Leid, Weisheit und Unterhaltung. Diesen Büchern fehlte schon ein gutes Stück ihrer Energie, aber auch sie hatten noch ein weiteres Leben vor sich. Aber alle Bücher sagten auch etwas über ihre Besitzer aus. Waren es ordentliche Menschen? Waren es Menschen, die nachdachten? Waren es Menschen, die neugierig waren? Waren es oberflächliche Menschen, die ein Buch nicht einmal zu Ende lasen? All dies konnte Despina mit einem Blick beantworten und sie konnte sagen, ob dieses Buch seinen Sinn erfüllt hatte oder nicht. Bücher waren für sie wie Menschen. Es gab Sieger und Verlierer. Manche waren introvertiert, manche offen und kamen direkt auf einen zu. Manche Bücher verbargen Weisheit und manche waren einfach dumm. Es gab männliche und weibliche Bücher. Einige Bücher waren Kinder, die noch erwachsen werden mussten. Manche waren ernst, manche lustig. In vielen steckte viel Arbeit, manche wurden einfach dahingeschrieben. Bücher hatten ein Leben und Bücher starben auch. Manche früher, manche später. Aber sie waren wie wir. Und so sollten wir sie auch behandeln. Diese Bücher vor ihr waren alt und darum behandelte Despina diese Bücher mit viel Respekt. Das war sie ihnen schuldig. Vorsichtig nahm sie ein Buch aus dem Karton heraus und sah, dass es ein griechisches Buch war. Es war schon sehr alt. Sie wollte es hier und jetzt nicht aufschlagen, da sie fand, dass es der falsche Moment sein würde. Sie wollte sich dazu viel Zeit nehmen, die sie jetzt nicht hatte. Daher besah sie sich dieses Buch eine Zeit lang und legte es dann vorsichtig in ein leeres Regal. Daneben legte sie die nächsten zwei Bücher. Es waren insgesamt acht Bücher. Allesamt hatten sie ein stolzes Alter. Despina wollte nicht schätzen, wie alt sie waren. Dafür hatte sie zu viel Respekt vor diesen Büchern. Sie hatte den Eindruck, dass sie aus gutem Hause waren. Die Bücher waren gepflegt und in einem sehr guten Zustand. An den Blättern konnte sie erkennen, dass diese Bücher gelesen wurden. Sie wurden viel gelesen und waren dennoch in einem guten Zustand. Ein Buch, das letzte, das sie aus dem Karton nahm, sah mehr gebraucht aus als die anderen. Es schien ihr das Interessanteste der Bücher zu sein. Sie fand keinen Titel und keinen Autor, aber dennoch schien dieses Buch ein Geheimnis zu verbergen. Es hatte ihre Neugier geweckt und sie wollte es zu gegebener Zeit als erstes dieser Bücher anschauen. Daher legte sie es nicht zu den anderen, sondern in ein Fach ihrer Kassentheke, damit sie es nicht vergaß. Dieses Buch schien auch einen anderen Geruch als die anderen zu haben, aber er war kaum wahrnehmbar. Sie schlug es nicht auf, fühlte nur die Struktur des Einbandes und war begeistert von seiner Feinheit.

Doch nun wollte sie gehen. Sie wollte zu ihrer Mutter fahren und sie fragen, wie es ihr ging, denn Sofia hatte ihr da ein wenig Angst gemacht. Obwohl Sofia in dieser Hinsicht bestimmt wieder sich selbst darstellen wollte, konnte sie aber auch nicht ausschließen, dass an der Sache etwas dran sein konnte.

Despina räumte noch ein wenig auf, löschte das Licht und verschloss die Tür.

IV

Als Andreas aus dem Flugzeug stieg und zum ersten Mal die frische Meeresluft in der Nase hatte, atmete er so tief ein wie er nur konnte und hielt den Atem lange an. Er fühlte sich befreit von dem ganzen Gedankenmüll, der ihn die letzten Wochen nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Er fühlte sich angekommen. Hier würde er wieder zu sich selbst finden können. Alles würde für ihn wieder gut werden. Er war zuversichtlich.

Tage später trafen eine Unmenge Kartons ein, in denen sie ihre Bücher geliefert bekam. Nun hatte sie Arbeit. Diese Arbeit konnte sie auch nur alleine machen, denn es ging darum, jedem Buch seinen speziellen Platz in dem jeweiligen Regal zuzuordnen.

Despina war aufgeregt. Ihr Herz pochte und ihr Puls versuchte sich selbst zu übertreffen. Sie wusste nicht richtig, wo sie anfangen sollte. Es fehlte ihr noch der Überblick, welches Buch, in welchem Karton lag. An die meisten Regale konnte sie gar nicht gelangen, da so viele Kartons davor standen. Es herrschte Chaos im ganzen Raum.

Despina mochte so ein Durcheinander bei ihrer Arbeit überhaupt nicht. Für sie war es schrecklich, wenn sie nicht Herr der Dinge war. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich Karton für Karton durchzuarbeiten. Das würde Stunden dauern. Es waren auch so viele Kartons. Sie befürchtete fast, dass sie zu viele Bücher bestellt hatte. Denn das war ja noch nicht die ganze Lieferung. Es war zwar der Großteil der Bücher da, aber viele würden auch noch folgen.

Despina freute sich, dass ihr Onkel noch rechtzeitig die Lichtstrahler angebracht hatte. Nun hatte sie ausreichend Licht und bekam schon eine Vorstellung davon, welche Atmosphäre der Raum später haben würde, wenn die Bücher in den Regalen ständen. Aber so richtig zufrieden war sie noch nicht damit. Darüber wollte sie sich aber Gedanken machen, wenn sie mit dieser Aufgabe hier fertig war. Sie nahm den ersten Karton in die Hand und stellte ihn auf ihren alten Stuhl, den sie immer noch nicht entsorgt hatte. Sie traute sich aber noch nicht so richtig, ihn zu öffnen. Für sie war dieser Moment wie eine Geburt. Ihre Lieblinge würden jetzt auf die Welt kommen. Doch sie hatte noch keine Wehen. Etwas fehlte, sie war noch nicht so weit. Sie war aufgeregt. Sie fühlte sich viel zu aufgeregt, um jetzt mit dem Einräumen zu beginnen. Sie wünschte sich, diesen Moment in Ruhe zu erleben und ihn richtig genießen zu können. Einen Moment zögerte sie, doch dann nahm sie ihre Jacke in die Hand, löschte das Licht, trat hinaus in die Malinou, verschloss ihre Tür und machte sich zielstrebig davon.

Fast eine Stunde später kehrte sie zurück und schloss die Eingangstür wieder auf. Nun fühlte sie sich wohl und ruhig. Sie war nun bereit, ihre Bücher zu empfangen. Alle Aufregungen waren weg. Alle ihre Probleme hatte sie Gott anvertraut, hatte sie mit ihm besprochen, und sie hatte damit ihre innere Ruhe wieder gefunden. Sie saß lange in der Kirche und wollte nichts unausgesprochen lassen. Gott hatte ihr zugehört und ihr die Zuversicht gegeben, dass sie gemeinsam mit ihm ihr Glück finden würde. Ihr Gewissen war beruhigt und alle bohrenden Fragen waren meilenweit entfernt. Sie konnte sich nun ganz auf ihre Bücher konzentrieren, alles andere hatte sie ausgeblendet. Despina verschloss die Eingangstüre von innen und hängte ein großes Tuch darüber, sodass niemand mehr von außen sehen konnte, ob sich jemand in dem Laden befand. Sie wollte ihre Ruhe, ihre absolute Ruhe.

Vorsichtig öffnete sie den ersten Karton. Es wurde ihr warm und gleichzeitig spürte sie, wie sie eine Gänsehaut auf dem Rücken und an den Armen bekam. Aber Despinas Erwartung wurde nicht erfüllt. Sie erwartete, dass sie ihre Bücher wahrnahm, dass sie sie fühlte. Es kam ihr aber nichts entgegen. Sie vernahm weder den leisesten Geruch der Bücher, noch verspürte sie irgendeine Aura aus dem geöffneten Karton ihr entgegen strömen. Sie holte tief Luft und berührte dann mit ihrer rechten Hand das erste Buch. Es war sehr kühl. Sofort wurde ihr klar, dass die Bücher noch durch den Transport eine andere Temperatur hatten. Sie waren unterkühlt. Noch nicht dazu bereit, dass sie sie aus dem Karton nahm. Sie mussten sich erst noch an die Temperatur des Raumes gewöhnen. Sie mussten erst die Atmosphäre des Raumes riechen und ein wenig aufnehmen. Despina musste ihren Büchern die Gelegenheit geben, dass sie sich hier wohlfühlten. Sie konnte sie unmöglich in diesem kalten Zustand aus ihrem Karton nehmen. Ihre Bücher würden durch so eine gefühllose Behandlung an Ausstrahlungskraft und Wirkung verlieren. Da war sie sich sicher. Sie durfte auf keinen Fall die Seele ihrer Bücher durch so einen Schock in Mitleidenschaft ziehen. Ihre Bücher sollten sich bei ihr ab der ersten Sekunde nur wohlfühlen.

Vorsichtig öffnete sie mit ihrem Messer alle Kartons und verteilte die geöffneten Kartons auf dem Boden und in den Regalen im ganzen Raum. Nun konnten alle Bücher ihre neue Umgebung aufnehmen, sie einatmen, sie verinnerlichen, sich mit ihr anfreunden. Despina löschte das Licht und zündete eine Kerze an. Beruhigt und mit einem Lächeln setzte sie sich danach auf ihren einzigen Stuhl und schloss die Augen. Sie atmete langsam und versuchte sich in ihre Bücher hineinzuversetzen. Auch sie nahm nun die Energie ihrer Umgebung auf. Sie zog die Luft tief in sich hinein. Sie roch noch ein wenig die frische Farbe der Wände. Ihre neuen Regale hatten aber mit ihrem Duft inzwischen die Oberhand gewonnen. Der Lack- und Holzgeruch überwog eindeutig. Sie wünschte sich, dass dieser störende Geruch sich so schnell wie möglich verflüchtigte, doch das würde sicher noch einige Wochen dauern. Zu ihrer Freude war er aber nicht so stark, dass es für sie nicht mehr akzeptabel gewesen wäre. Nein, sie war sich sicher, dass sie durch ein gutes Lüften des Raumes es verhindern konnte, dass ihre Bücher diesen Geruch merkbar annahmen. Von ihren Büchern nahm sie aber noch keinerlei Geruch wahr.

Despina hörte auf zu denken, sie zog nur noch die Energie und Atmosphäre ihres Raumes in sich hinein. Sie fiel in eine Art Dämmerschlaf, achtete aber unbewusst auf jede Veränderung ihrer Umgebung.

Nach gut einer Stunde nahm sie wahr, dass sich der Geruch veränderte. Ihre Bücher begannen nun zu atmen. Sie nahmen nicht nur den Atem des Raumes in sich auf, nein, sie atmeten nun auch ihre Atmosphäre aus. Sie begannen, dem Raum ihre Note zu geben. Despina roch ihre Bücher. Sie lächelte und spürte, wie sich die Energie der Bücher in der Luft verteilte. Sie spürte, dass ihre Bücher langsam bei ihr ankamen. Sie begrüßten Despina mit einem Hauch von Sympathie und Wohlgefühl. Sie begrüßten ihre neue Umgebung und nahmen sie in Besitz. Die Seelen der Bücher füllten langsam ihre Umgebung und Despina hieß sie alle mit einem Lächeln willkommen.

Zwei weitere Stunden genoss Despina dieses Schauspiel und als ihre Kerze langsam erlosch, stand sie auf und lief zu ihrer Tür. Sie nahm vorsichtig das große Tuch weg und beobachtete, wie sich der Raum mit Licht füllte. In ihrem Bauch begannen Schmetterlinge zu fliegen und sie fühlte sich wie frisch verliebt.

Nun wollte sie sich an die Arbeit machen. Ihre Bücher waren bereit und sie fühlte sich ebenfalls bereit, ihr Werk zu vollenden. Sie schloss die Tür wieder auf und blickte kurz nach draußen, wo es noch sehr ruhig war. Sie sah nur eine Frau weiter unten in der Gasse stehen, sonst war niemand zu sehen. Also öffnete sie beide Flügel ihrer Tür, um dem Raum frische Luft zu geben und den immer noch präsenten Lackgeruch zu vertreiben. Langsam bahnte sie sich dann den Weg durch die Kartons hindurch, zurück in die hinterste Ecke ihres Raumes. Hier wollte sie beginnen. Gerade als sie sich bückte, um das erste Buch aus dem Karton zu heben, hörte sie schnelle Schritte in der Gasse näher kommen. Sie fuhr zusammen, weil sie meinte, an dem Gang ihren Ehemann zu erkennen. Geschockt von dem Gedanken wünschte sie sich, dass dies nicht wahr sein sollte. Nicht in diesem Moment. Eine Sekunde später stand er in der Tür. Alle ihre guten Gefühle waren verschwunden und ihr Gewissen mit allen bohrenden Fragen traten wieder hervor. Ihr Gehirn schaltete wie von selbst auf Abwehrhaltung um und ihr Lächeln im Gesicht verschwand. Sie brachte nur ein kurzes: »Hallo« heraus und wartete, was nun kommen sollte.

Ioannis blickte grinsend in den Raum, den er sich zuvor noch nie angesehen hatte. Despina hatte das sichere Gefühl, dass er sich für ihre Tätigkeit überhaupt nicht interessierte. Er hatte noch nicht ein einziges Mal danach gefragt, geschweige denn seine Hilfe angeboten. Er konnte ihre Leidenschaft für Bücher in keiner Weise nachvollziehen, und genau dies sagte in diesem Moment sein Blick aus.

Mit seinen herablassenden Ton, den er ihr gegenüber immer hatte, sagte er:

»Hier sieht es ja aus wie in einem Stall. So wirst du kein einziges Buch verkaufen. Ich habe es mir ja gleich gedacht, dass dies eine Schnapsidee von dir war. Arbeite doch etwas Vernünftiges, womit man auch ein wenig Geld verdient.«