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Nach einem schweren Verlust fühlt sich Mila in der Großstadt gefangen. Als Krankenschwester hat sie alles gegeben - und doch reicht es nicht. Panikattacken und schlaflose Nächte bringen sie an den Rand ihrer Kräfte. Kurzentschlossen reist sie auf die abgelegene Rentierfarm ihres Onkels nach Lappland. Umgeben von endlosen Wäldern sucht sie nach Ruhe - doch sie findet ihn. Ragnar, den Rentierzüchter. Rau, unnahbar, mit einer Dunkelheit in den Augen, die sie herausfordert und gleichzeitig in den Bann zieht. Er kennt die Wildnis wie kein anderer, doch Menschen bleibt er lieber fern. Trotzdem kreuzen sich ihre Wege immer wieder - und bald merkt Mila, dass hinter seiner rauen Art eine Sehnsucht schlummert, die der ihren so ähnlich ist. Als ein gefährliches Feuer ausbricht, muss sich Mila ihren Ängsten stellen. Wird sie erneut fliehen oder wird sie es wagen, für das zu kämpfen, was ihr Herz entflammt hat?
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Das Flüstern der Rentiere
Vorschau
Impressum
Das Flüstern der Rentiere
In der Wildnis Lapplands findet Mila den Weg zu ihrem Herzen
Von Caroline Thanneck
Nach einem tragischen Unfall fühlt sich Mila in der Großstadt gefangen. Als Krankenschwester hat sie alles gegeben – und doch reichte es nicht. Panikattacken und schlaflose Nächte bringen sie an den Rand ihrer Kräfte. Kurz entschlossen reist sie auf die abgelegene Rentierfarm ihres Onkels nach Lappland. Umgeben von endlosen Wäldern sucht sie nach Ruhe – doch sie findet ihn. Ragnar, den Rentierzüchter. Rau, unnahbar, mit einer Dunkelheit in den Augen, die sie herausfordert und gleichzeitig in den Bann zieht. Er kennt die Wildnis wie kein anderer, doch Menschen bleibt er lieber fern. Trotzdem kreuzen sich ihre Wege immer wieder – und bald merkt Mila, dass hinter seiner rauen Art eine Sehnsucht schlummert, die der ihren so ähnlich ist.
Als ein gefährliches Feuer ausbricht, muss sich Mila ihren Ängsten stellen. Wird sie erneut fliehen oder wird sie für das kämpfen, was ihr Herz entflammt hat?
Warum? Warum musste es die kleine Sophie treffen?
Diese Frage hämmerte auf Milas Gedanken ein wie ein hungriger Schwarzspecht auf einen Baumstamm. Wieder und wieder. Bis nichts übrig blieb. Keine innere Regung. Kein warmes Gefühl. Gar nichts. Als würde das Leid ihr ganzes Sein verschlingen und nur die blanken Knochen wieder ausspucken.
Mila starrte auf die brennenden Kerzen am Altar. Je länger sie hinsah, umso stärker schien der Eindruck, dass sie sich von allein bewegten. Alles verschwamm vor ihren Augen, das flackernde Kerzenlicht ebenso wie die Wandmalerei.
Die Kapelle des St.-Marien-Krankenhauses war ein stiller, fensterloser Ort. Kein Laut drang von draußen herein. Nicht ein Hupen oder Rufen. Der lebhafte Verkehr auf den Straßen von Hamburg blieb hinter den verglasten Eingangstüren zurück. Das Krankenhaus war eine Welt für sich.
Milas Atem kam immer schwerer. Jäh überfiel sie das Gefühl, jeden Moment sterben zu müssen. Luft! Sie bekam nicht genügend Luft!
Weiße Schwaden zogen um sie herum auf, und sie klammerte sich mit der Hand an das blank polierte Holz der Bank. Mit der anderen rieb sie sich unbehaglich über die Brust. Kalter Schweiß rann zwischen ihren Schulterblättern hinunter.
Wenn sie nur richtig atmen könnte!
Irgendwo, ganz hinten in ihrem Verstand, klopfte der Gedanke an, dass ihr nichts geschehen würde, dass sie sicher und gesund war; doch in ihren Ohren rauschte es, und nackte Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Atme!, befahl sie sich selbst. Atme!
Sie zwang sich, langsam durch die Nase ein- und durch den Mund wieder auszuatmen. Bis sich die Schwaden um sie herum auflösten und der Druck auf ihre Brust nachließ.
Quälend langsam bekam sie wieder Luft.
Sie ließ sich auf der Bank zurücksinken und fühlte sich so erschöpft, als hätte sie gerade den Hamburg-Marathon hinter sich gebracht. Mit ineinander verschlungenen Händen suchte sie nach einem Gebet, aber ihr Kopf war wie leer gefegt. In ihr war nur diese kalte Leere, die jedes warme Gefühl verdrängte.
Würde irgendwann gar nichts mehr von ihr selbst übrig sein?
»Hier bist du! Ich habe dich schon überall gesucht!« Lena ließ sich neben ihr auf die Bank sinken. Sie war Assistenzärztin und arbeitete seit wenigen Wochen ebenfalls auf der interdisziplinären Intensivstation. Ihre honigblonden Haare waren zu einem Zopf geflochten. »Himmel, du bist ja bleich wie ein Laken. Ist alles in Ordnung?«
Mila brachte nur ein schwaches Kopfschütteln zustande.
Ein wissender Ausdruck trat in die Augen ihrer Kollegin. »Wieder eine Panikattacke?«
Mila schwieg. Lena war die Einzige auf der Station, die von den Attacken wusste, die sie immer wieder heimsuchten. Sie war einmal zufällig dazu gekommen, wie Mila zitternd am Waschbecken in der Damentoilette gekauert und um Luft gerungen hatte.
Nun legte sie ihr sacht eine Hand auf den Arm. »Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«
Mila zog die Schultern hoch. »Wenn du es nicht mehr weißt, ist es definitiv zu lange her. Wollen wir zusammen rauf in die Cafeteria gehen und uns eine Portion von Hedwigs berühmtem Hühncheneintopf gönnen?«
»Ich ... kann nicht.«
»Ich habe gehört, was vorhin auf der Station passiert ist.« Lena sah sie mitfühlend an. »Es tut mir so leid.«
»Die Chancen standen von Anfang an nicht gut, aber ich hatte gehofft, Sophie würde es schaffen. Sie hatte doch ihr ganzes Leben noch vor sich.«
Mila stockte. Als Krankenschwester auf der Intensivstation kämpfte sie täglich um das Leben ihrer Patientinnen und Patienten. Sie war darauf trainiert, selbst unter größtem Druck zu funktionieren. Und das tat sie. Sie hatte ihre Schicht gewissenhaft hinter sich gebracht. Doch jetzt fühlte sich ihr Körper bleischwer an. Sie konnte einfach nicht mehr.
Wie eine Marionette, deren Fäden gekappt worden waren.
Am vergangenen Abend war Sophie Brunner zu ihnen gebracht worden. Ein Mädchen von fünf Jahren. Bei der Geburtstagsfeier ihrer Freundin aus der Kita hatte es ein Kostümfest mit einem Laternen-Umzug gegeben.
Ein Moment der Unachtsamkeit – und plötzlich hatte eine Kerze Sophies Kostüm in Brand gesteckt. Innerhalb weniger Augenblicke hatte der Stoff lichterloh gebrannt. Bis jemand die Flammen ersticken konnte, war der Schaden bereits angerichtet gewesen. Sophie hatte schwere Verbrennungen erlitten. Vor allem ihr Rumpf und ihre Arme waren betroffen gewesen.
Sophie war mit dem Rettungshubschrauber aus ihrer Heimatstadt Büsum nach Hamburg geflogen worden. Dem hochspezialisierten Team aus Ärzten und Pflegekräften war es gelungen, sie ein paar Stunden lang zu stabilisieren. Doch dann hatte sich Sophies Zustand plötzlich verschlechtert. Ihr Herz war stehen geblieben, und alle Maßnahmen hatten nichts bewirkt.
Mila schluckte, aber gegen den kalten Klumpen, der in ihrer Kehle klemmte, kam sie einfach nicht an. Sophie hätte im nächsten Herbst in die Schule kommen sollen. Nun war ihr Leben vorbei, noch ehe es wirklich begonnen hatte, und das zerriss Mila das Herz.
Zu Beginn ihrer Ausbildung hatte sie gefürchtet, dass die Arbeit sie mit der Zeit abstumpfen würde. Doch nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können. Was sie tagtäglich erlebte, ging ihr an die Substanz. Mit jedem Kind, das sie verloren, zerbrach etwas mehr in ihr.
Nachts schreckte sie aus Albträumen hoch, in denen Bilder von geschundenen Körpern und zerstörten Leben vorkamen. Dann fuhr sie mit wild jagendem Herzen hoch und fand nur schwer in die Wirklichkeit zurück. Und tagsüber schlichen sich die Panikattacken an sie heran und lähmten sie.
Noch immer sah sie vor sich, wie sich ihr Team um Sophie bemühte, sie hörte noch die gebrüllten Anweisungen und dann ... die Stille.
Nun saß sie hier in der Kapelle und suchte nach Trost, wo es keinen gab. Sie hatte schon mehrmals darüber nachgedacht, sich auf eine andere Station versetzen zu lassen, aber sie hatte den Schritt jedes Mal verworfen. Doch die Tage, an denen sie einen Patienten verloren, waren immer schwerer zu ertragen.
Sie hob den Blick zu Lena. »Denkst du manchmal darüber nach, dir einen anderen Job zu suchen?«
»Jeden Tag«, erwiderte Lena mit einem schiefen Lächeln.
»Und was hält dich davon ab?«
»Ich hab es mir ausgesucht, und ich weiß, dass ich hier etwas bewirken kann.« Lena schob eine Hand in die Tasche ihres weißen Kittels. »Hier ist mein Platz.«
»Das dachte ich früher auch, aber jetzt ... Jetzt fühle ich mich, als würde ich an einem löchrigen Gleitschirm über den Himmel taumeln. Als wäre der Absturz bereits besiegelt.«
»Hast du darüber einmal mit Dr. Wegener gesprochen?«
»Er kann nichts daran ändern, dass wir nicht alle Patienten retten können«, wich Mila aus. Tränen rollten über ihre Wangen. Sie bemerkte es erst, als ihre Kollegin sich zu ihr neigte und ihr ein Taschentuch hinhielt.
»Vielleicht solltest du dir ein paar Tage freinehmen. Den Kopf freibekommen und rausfinden, wohin dich dein Herz führt.«
»Ein Urlaub?«
»Warum nicht? Du könntest wandern gehen. Dir einmal Zeit für dich selbst nehmen.«
»Ich glaube nicht, dass mir das helfen würde. Sobald der Urlaub herum ist, stehe ich wieder am selben Punkt wie jetzt.« Mila schaute auf ihre gefalteten Hände hinunter.
Als sie gerade neun Jahre alt gewesen war, hatte man bei ihrer Mutter Leukämie festgestellt. Es war ein harter Kampf gewesen, aber ihre Mutter war schließlich wieder gesund geworden. Und sie war überzeugt, dass die Fürsorge der Krankenschwestern sie gerettet hatte.
Damals war in Mila der Wunsch herangewachsen, später selbst Krankenschwester zu werden und kranken Menschen zu helfen. Unbeirrt hatte sie darauf hingearbeitet und ihre Ausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen.
Da hatte sie noch nicht gewusst, was sie erwarten würde ...
Der Pieper in der Tasche ihres weißen Kasacks ertönte. Sie wurde auf ihrer Station gebraucht.
Mila stellte den Ton ab und stand auf.
»Warte, ich begleite dich.« Lena gesellte sich zu ihr, als sie die Kapelle verließ. Ihr Blick war dunkel und sorgenvoll.
»Ich schaffe das schon«, versicherte Mila leise. Dabei war sie sich nicht sicher, wen sie damit beruhigen wollte.
Ihre Kollegen? Oder sich selbst?
♥♥♥
Sieben Stunden später lief Mila über die abendlich belebte Reeperbahn. Während der Betrieb auf den übrigen Straßen ihrer Heimatstadt längst nachließ, ging er hier gerade erst los. Aus den Bars und Discotheken wummerten Bässe, Paare saßen in Lokalen, und einsame Passanten suchten Gesellschaft.
Mila strebte einem Lokal zu. Eine Bar war es. Der Türsteher ließ seinen Blick prüfend über ihren kurzen schwarzen Rock und das hautenge schwarze Shirt gleiten und winkte sie dann mit einer flüchtigen Geste durch.
Irgendwo in ihrem Hinterkopf warnte eine leise Stimme, dass sie nach Hause gehen und sich besser ausschlafen sollte. Doch Mila schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht nach Hause. Und sie wollte nicht schlafen. Sie wollte vergessen!
Und so betrat sie nun die Bar und wurde von gedämpfter Musik empfangen. Die schummrige Beleuchtung schien das Lokal eher dunkler als heller zu machen. Die meisten Tische waren besetzt. Lediglich am Tresen fanden sich noch freie Hocker. Mila bahnte sich einen Weg zur Bar und bestellte einen Mojito.
Der Mann hinter der Bar nickte ihr zu und machte sich daran, das Getränk für sie zu mixen. Wenig später stellte er ihr das Glas mit einem Lächeln hin, das sympathische Grübchen um seine Mundwinkel eingrub.
Mila versuchte es zu erwidern, aber ihr Lächeln verrutschte dermaßen, dass es wohl eher einem Zähnefletschen glich. Der Barmann versteifte sich kurz, ehe er sich einem anderen Gast zuwandte.
Mila senkte den Kopf über ihr Glas.
Nach Sophies Tod und ihrer Panikattacke hatte sie geglaubt, dieser Tag könnte nicht noch schlimmer werden. Doch sie hatte sich getäuscht. In ihrem Kopf hallten noch immer die Schreie von Sophies Vater nach ... als er erfahren hatte, dass sich seine Frau aus Kummer vom Dach gestürzt hatte. Man hatte ihr nicht mehr helfen können. Sie war ihrem Kind nur wenige Stunden später in den Tod gefolgt.
Mila schlang die Hand um ihr Glas.
»Hey, alles gut bei dir?« Ein schlaksiger Mann schwang sich auf den Hocker neben ihr und grinste sie an.
Mila schüttelte schweigend den Kopf.
»Harten Tag gehabt?« Er rückte noch ein wenig näher, sodass ihr sein teurer Herrenduft entgegenwehte.
Er mochte in seinen Dreißigern sein und war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet – schwarzes Hemd, schwarze Hosen und schwarze Lederschuhe. In seinem rechten Ohrläppchen funkelte ein silberner Ring. Er wirkte gepflegt, und sein Blick ruhte scheinbar mitfühlend auf ihr, aber er hatte etwas Raubtierhaftes an sich, das die Alarmglocken in ihrem Kopf schrillen ließ.
»Ja, ich hatte schon bessere Tage«, erwiderte sie leise.
»Dachte ich mir schon. Hör zu: Ich hab da etwas, mit dem es dir besser gehen wird.« Er klopfte sich auf die Hosentasche. »Interessiert?«
Moment mal! Wollte er ihr wirklich und wahrhaftig Drogen verkaufen? Hier? In der Öffentlichkeit? Mila hätte geschnaubt, wenn sie noch die Motivation hätte aufbringen können. So jedoch starrte sie schweigend in ihr Getränk.
»Geht aufs Haus«, raunte er und schob ihr eine Serviette hin. »Komm wieder her, wenn du mehr willst.« Damit ließ er sich vom Hocker gleiten und war kurz darauf in der Menge verschwunden.
Mila starrte die Serviette an, als könnte sie jeden Moment mit Reißzähnen nach ihr schnappen. Der Unbekannte schien zu glauben, dass sie eine Stammkundin werden könnte. Sonst hätte er ihr kaum eine Probe von Was-auch-immer-es-war dagelassen.
Sie setzte ihr Glas an die Lippen und leerte es mit einem Zug. Dann zog sie einen Geldschein hervor und legte ihn auf die Theke, um ihr Getränk zu bezahlen. Das, was unter der Serviette verborgen war, wollte sie nicht anrühren, aber als sie einen Schritt von ihrem Hocker weggetreten war, hielt sie inne und drehte sich um. Wenn es ihr beim Vergessen helfen würde ... Warum eigentlich nicht?
Sie schnappte sich die Serviette, fühlte ein Päckchen und bahnte sich einen Weg hinüber zu den Toiletten.
Dort schloss sie sich in einer Kabine ein, setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel und ignorierte den stechenden Uringeruch und die vollgeschmierten Wände der Kabine. Sie riss das Päckchen auf und starrte auf das weiße Pulver.
Was sollte sie nun damit tun?
Es schnupfen? Das schien ihr am wahrscheinlichsten zu sein. Also kramte sie ihren Taschenspiegel heraus und streute das Pulver darauf, wie sie es im Fernsehen gesehen hatte. Sie beugte sich tiefer ... und hielt plötzlich inne.
War sie eigentlich vollkommen verrückt geworden?
Da drehte ihr ein Typ, den sie nicht mal kannte, irgendwelches Zeug an, von dem sie nicht wusste, was es war, und sie wollte es sich zuführen?
»Ganz sicher nicht!«, stieß sie leise hervor, sprang auf und lüftete den Toilettendeckel, um Pulver und Päckchen hinunterzuspülen.
Dann floh sie aus der Kabine ... und aus der Bar.
Draußen schlug ihr die kühle Abendluft entgegen und vertrieb die Benommenheit aus ihrem Kopf. Mila rannte beinahe zur S-Bahn und hatte Glück, dass gleich eine Bahn kam, die sie fast bis nach Hause brachte. Ein kurzer Spaziergang noch, dann fiel ihre Wohnungstür hinter ihr zu, und Mila lehnte sich gegen die Tür mit dem Gefühl, haarscharf an einer Gefahr vorbeigeschrammt zu sein.
Was um alles in der Welt hatte sie sich nur dabei gedacht?
Dieses Zeug anrühren? Nie und nimmer!
Sie stieß sich von der Tür ab und knipste nacheinander die Lampen ein. Ihre Wohnung wurde in sanftes Licht getaucht. Die beiden Zimmer befanden sich im Dachgeschoss eines hübschen gelben Mietshauses am Stadtrand. Sie waren klein, aber bezahlbar, und Mila hatte sie gemütlich eingerichtet.
Sie mochte warme Erdtöne, und das spiegelte ihre Wohnung wider: terracottafarbene Fliesen, ein Sofa und Sessel in derselben Farbe, kombiniert mit sandfarbenen Kissen und Läufern. Neben dem Sofa war ihre Yogamatte ausgebreitet. Auf dem Fensterbrett reihte sich ihre Kakteensammlung aneinander.
In dem Terrarium neben der Leseecke aalte sich Henriette im warmen Schein der Wärmelampe. Die Landschildkröte war ein Geschenk ihrer Eltern zu ihrem achtzehnten Geburtstag gewesen und hatte Mila schon durch viele Höhen und Tiefen ihres Lebens begleitet. Henriette liebte alles, was grün war – Löwenzahn, Salat und probehalber auch Milas Socken ...
Mila steuerte die Küchenzeile an. Sie stellte den Wasserkocher ein, gab einen Teelöffel Kaffeepulver in eine Tasse und öffnete den Kühlschrank, um Milch herauszunehmen. Als sie die Tür wieder schloss, fiel ihr Blick auf eine Postkarte, die mit einem Magneten daran festgemacht war.
Die Karte zeigte ein Rentier vor einer sonnenbeschienenen Schneefläche. Mila zupfte die Karte ab und drehte sie um. Beim Anblick der markanten Handschrift huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Es waren nur wenige Zeilen. Ihr Onkel Oge war kein Mann vieler Worte, aber er schrieb ihr regelmäßig und zeigte ihr, dass er an sie dachte.
Er hatte sie schon oft eingeladen, ihn zu besuchen. Sie hatte das immer aufgeschoben. Nie war Zeit für einen Urlaub. Doch jetzt schloss Mila die Augen und sah schier endlos weite Schneeflächen vor sich ... einsame grüne Wälder ... und Herden von Rentieren, die frei durch die Landschaft zogen.
Frieden breitete sich bei dieser Vorstellung in ihr aus. Und für einige kostbare Momente verstummte das schmerzhafte Hadern in ihrem Inneren. Plötzlich zog es sie mit jeder Faser dorthin.
Impulsiv griff sie zum Telefon und wählte die Nummer ihres Onkels. Zu spät fiel ihr ein, dass es schon nach Mitternacht war und dass er vermutlich tief und fest schlafen würde. Doch als sie auflegen wollte, wurde am anderen Ende abgenommen und eine warme, ein wenig rauchige Männerstimme meldete sich.
»Aström.«
»Onkel Oge? Ich bin es, Mila. Es tut mir leid, dass ich dich so spät noch störe ...«
»Aber du störst doch nicht.« Ein Lächeln schwang in dem vertrauten schwedischen Akzent mit. »Ich freue mich, dass du anrufst.«
»Hoffentlich habe ich dich nicht aus dem Bett geholt.«
»Keine Sorge. Eines der Rentiere bekommt heute Nacht sein Junges, und ich bleibe wach. Ich will sichergehen, dass alles gutgeht.«
Es raschelte kurz im Hörer. »Wie geht es dir? Es ist doch alles in Ordnung, hoffe ich? Auch mit deinen Eltern?«