SKYDANCER - Michelle Reznicek - E-Book

SKYDANCER E-Book

Michelle Reznicek

0,0

Beschreibung

Walter Müller ist ein Niemand. Ein farbloser Bankangestellter. Elias Lee ist charmant, gutaussehend und der Chef eines erfolgreichen Verlags. Eine zufällige Begegnung am Flughafen beschert dem Bankangestellten Walter Müller das aufregende Leben von Elias Lee. Obwohl die beiden unterschiedlicher nicht sein könnten, scheint niemand den Identitätentausch zu bemerken. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser verwirrenden Situation entdeckt Walter, dass im Verlag seltsame Dinge vor sich gehen. Kann er, der biedere Bankangestellte, als Elias Lee dessen Probleme im Verlag lösen? Und wieso bemerkt niemand, dass er nicht der ist, für den ihn alle halten? Michelle Reznicek ist Autorin und Artistin. In der Zeit zwischen Schreiben, Proben und Auftritten widmet sie sich den grossen Fragen des Lebens wie: Was macht den Menschen einzigartig? Der vorliegende Roman nähert sich dem Thema auf eine traumtänzerische Weise.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 305

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michelle Reznicek

SKYDANCER

Niemand spielt eine Rolle

Roman

Mit 1 Prozent seiner Einnahmen unterstützt der Verlag eine Umweltschutzorganisation.

Impressum

© 2021 boox-verlag, Urnäsch

Alle Rechte vorbehalten

Cover-Illustration: Michelle Reznicek

Cover-Gestaltung: Jonathan Graf, www.media-graf.ch

Lektorat: Verena Schneider

Korrektorat: Beat Zaugg

ISBN 978-3-906037-45-5 (ebook)

Auch erhältlich als:

ISBN 978-3-906037-44-8 (Taschenbuch)

www.boox-verlag.ch

Ich widme dieses Buch meinen Liebsten.

Wir alle sind aus Sternenstaub.Alle und alles sind wir gleich – aus Staub gemacht.Doch ein jeder trägt auch einen Stern in sich.

Inhalt

Prolog

Ein Mann namens Walter Müller

Orangensaft und Café

In der Welt von Elias Lee

So gut wie goldblond

Skydancer

Eine Frau namens Vanessa

Die Wunderwelt von Elias Lee

Im Schoss der Familie

Ein Kuss im Dunkeln

Schnittstelle

Ein Abschied

Der Flughafen

Dank

Prolog

Jeden Tag gehen die Menschen aneinander vorbei. Jeder für sich. Eine gesichtslose Menge, die ineinander verschwimmt. Ein Meer von Stimmen und Lärm.

Wenn man den gehenden Gestalten so zusieht, fragt man sich unvermittelt, worüber sie wohl nachdenken, wenn sie auf ihre Handydisplays starren oder mit einem leeren Blick durch die Welt gehen, scheinbar ein fernes Ziel vor Augen.

Man fragt sich, ob sie je einmal aufschauen, um zu sehen, dass eine Welt um sie herum ist. Ob sie die Bewegungen um sich herum wahrnehmen?

Es scheint, sie verfolgen schlafwandlerisch eine unsichtbare Linie auf dem Boden. Einen vorgezeichneten Weg. Wer bestimmt ihr Gehen? Wer gibt dem Chaos Sinn? Und was geschieht, wenn sie einmal aufsehen? Erwachen sie aus einem Traum? Erkennen sie? Werden sie erkannt werden? Mitten im Rauschen des Menschenseins, den tausend anderen?

Es ist eine Welt voller Walter Müllers. Menschen wie jedermann. Kaum voneinander zu unterscheiden. Und dann gibt es sie, sie, die besonders sind – sie, die aufsehen. Er, der Elias Lee.

Aufgetauchtaus dem Meer, der Walter Müller – Elias Lee.

Ein Mann namens Walter Müller

Saturday International Bank, verkündeten die grossen goldenen Lettern stumm über dem Eingang der Bank. Gleich hinter der Schiebetür befanden sich die lebhaft besuchten Schalter, und hinter denen, in einem etwas verborgenen, abgetrennten Bereich, war ein grosses Büro – in dem Treuhandabschlüsse und allerlei andere Transaktionen getätigt wurden.

Wenn man das Gebäude von der anderen Seite, durch den Mitarbeitereingang, betrat, taten sich zwei Wege auf. Rechts hin zu den Schaltern, von denen meist nicht alle besetzt waren, und links hin zum separierten Grossraumbüro.

Es waren sieben oder acht Büroboxen, die sich in dem grossen Raum befanden, alle fast identisch, mit ihrem dunklen Grau etwas eingeschränkt wirkend und sich nur durch vereinzelte Bilder unterscheidend, die der aktuelle Besitzer an die Trennwand gepappt hatte. Hier gingen die Bilder der Neugeborenen mit der Zeit über in die Bilder von Teenagern und Abiturienten. Haustiere wurden mit der Zeit ersetzt, und Bilder des vergangenen Urlaubs wechselten die Saison. Manchmal hingen da Bilder von Menschen mit Skiern und Sonnenbrille, mal Pyramiden. Eine Art Leinwand für das vorbeiziehende Leben.

Nicht immer waren die Büroplätze alle besetzt. Manche von den Bankangestellten waren an den Schaltern, wenn jemand eine besondere Auskunft wünschte, oder sie waren in Besprechungen. Manche waren am Kopieren irgendwelcher Dokumente oder suchten Papier als Nachschub für das Kopiergerät, was beides nicht unbedingt nötig war, denn jedes Dokument war hier so oft kopiert und abgespeichert, dass es selbst mit Absicht kaum vernichtbar gewesen wäre.

In der ersten Bürobox, in die man vom Korridor herkommend hineinblickte, sass ein junger Mann mit Brille, das Haar kunstvoll zerzaust. Sein Gesicht war nur vom Licht des Computerbildschirms erleuchtet, das sich in seinen Brillengläsern spiegelte, als wäre seine Brille selbst ein Bildschirm. In der gleichen Box, ihm vis-à-vis, sass eine Frau, fast in derselben, seltsam steifen Position verharrend.

Gemeinsam sahen sie aus wie eine merkwürdige Variante der Werbung «Für Sie und Ihn». Doch niemand bemerkte diese Analogie.

Ganz auf der rechten Seite des Grossraumbüros, etwas versteckt, befand sich eine ganz bestimmte Bürobox, in der ein Mann sass. Er war nicht besonders auffällig. Genauer gesagt, schien er ausgesprochen langweilig. In der Regel übersah oder bemerkte man ihn überhaupt nicht. Man hätte ihn gut und gern mit hundert anderen von der Strasse verwechseln können. Ehrlich gesagt, nicht einmal er selbst bemerkte sich wirklich. Er war etwas dicklich, hatte angegrautes, strähniges Haar und trug ein weisses Hemd, dass er aus irgendeinem Grund in eine ziemlich hässliche Gummizughose gestopft hatte. Seine Haut war käsig, und er wirkte kränklich. Man schätze ihn gerne auf Mitte fünfzig, dabei war er gerade erst vierzig geworden. Er war kein besonders angenehmer Mensch, auch kein unangenehmer, doch niemals der Mensch, auf den man gerade gehofft oder gewartet hatte. Er war ziemlich langweilig und generell langsam. Insgesamt ein Mann, den kaum einer wirklich sah und über dessen einzigen geschmacklosen Witz schon lange niemand mehr lachte. Seine Augen waren grau und glanzlos. Nur manchmal war da ein berechnender Blick. Distanziert und kühl irgendwie.

Auf dem Schild auf seinem Schreibtisch stand sein Name: «Walter Müller». Was ebenso nichtssagend war wie ein ausgeschalteter Fernseher. Denn das Schild schien wenig aussagekräftig: Walter wurde fast genauso oft Werner genannt wie Walter. Oder Meier statt Müller. Walter selbst hatte schon längst aufgehört, das zu korrigieren. Es kam ihm nicht so wichtig vor, ob es nun Werner oder Walter war, Meier oder Müller. Ebenso gut hätte auf dem Schild Werner Meier stehen können. Es wäre nicht einmal gross aufgefallen. Einfache Namen verwechselte man nun mal leichter.

Um achtzehn Uhr war Feierabend, und die Schalter schlossen. Die Mitarbeiter verabschiedeten sich voneinander und machten sich einzeln oder in kleinen Gruppen auf zu den Mitarbeiterparkplätzen, um nach Hause zu fahren.

Um achtzehn Uhr zehn fuhr Walter seinen Computer herunter, ging aus der Tür und zu seinem Auto, das auf dem Parkplatz mit der Nummer 213 stand.

Seit nun fast zwanzig Jahren stand sein Auto auf demselben Platz. Einmal, ganz am Anfang, hatte er einen anderen Parkplatz gehabt: die Nummer 18. Doch nur gerade mal zwei Wochen – dann wurde der Platz einem Kollegen zugeteilt.

Ja, seit zwanzig Jahren arbeitete Walter Müller in dieser Bank. Seit zwanzig Jahren hatte er immer dasselbe getan: Er stand um sechs Uhr auf, fuhr zur Arbeit, sass an seinem Schreibtisch und tat seine Arbeit, die um achtzehn Uhr zehn in der Regel ihr Ende fand. Danach fuhr er nach Hause. Er stand immer im Stau, was seinen Arbeitsweg unverhältnismässig verlängerte, doch er dachte nicht darüber nach. Zirka um neunzehn Uhr fünfzehn kam er zuhause am Langustinen Weg 12 an. Er ging die drei Treppenstufen hinauf, knipste das Licht für aussen an und trat schliesslich in die Dunkelheit hinter der Tür.

Seit zwanzig Jahren war es so. Jeden Tag, wie ein Uhrwerk. Doch niemand bemerkte es. Nicht einmal der automatische Terminkalender der Geschäftsleitung erinnerte daran, dass Walter Müller seit nunmehr genau zwanzig Jahren in dieser Bank arbeitete. Hätte jemand daran gedacht, wären seine Kollegen vielleicht mit einer Flasche Sekt aufgetaucht und hätten ihm gratuliert, ihnen war jede Unterbrechung des gewöhnlichen Alltags recht. Und wenn es nur dafür war, um auf zwanzig belanglose Jahre mit einem billigen Sekt anzustossen. Selbst Walter Müller bemerkte es nicht. Er legte sich genau um einundzwanzig Uhr achtzehn ins Bett, schloss die Augen und dachte an nichts.

Doch der nächste Morgen hielt etwas Neues für Walter Müller bereit. Nach nunmehr zwanzig Jahren verlässlichen, präzisen Klingelns um sechs Uhr morgens blieb Walter Müllers Wecker stehen.

Endgültig.

Er verstummte so gründlich und für immer, dass Walter Müller erst mit zwei Stunden Verspätung die Augen aufschlug, als ein lauter Knall von der benachbarten Baustelle die Stille zerschlug.

Mit dem vagen Gefühl, länger geschlafen zu haben als sonst, warf Walter einen Blick auf den Wecker, der noch immer vierundzwanzig Uhr drei anzeigte – die exakte Zeit, zu der er stehengeblieben war. Das Telefon, das nicht unweit vom Bett an einem Kabel hing, sprach allerdings eine andere Sprache.

Sein Herz tat einen sehr schmerzhaften Schlag. Mit einem angestrengten Keuchen sprang Walter aus dem Bett. So schnell es sein untrainierter Körper erlaubte, packte er seine Kleider und seine Tasche. Gründlich und sehr schmerzhaft stiess er sich seinen Zeh an einem Stuhl, als er versuchte, so schnell wie möglich aus seinem Schlafzimmer zu kommen. In seinem Kopf wummerte nur eine Information: Er hatte verschlafen – und er hatte in den letzten zwanzig Jahren noch nie verschlafen!

Stöhnend humpelte er die Treppe hinunter, riss die Haustür auf und rannte zu seiner Garage, ohne das Aussenlicht auszuschalten. Er schloss die Autotür auf. Der Gedanke, dass sein Auto sehr bald in den jährlichen Service musste, schoss ihm durch den Kopf, doch er verdrängte den lästigen Gedanken, drehte den Schlüssel herum und fuhr los.

Pünktlich zum Mittagessen kam er bei der Arbeit an. Niemandem war seine Abwesenheit wirklich aufgefallen. Seine Kollegen amüsierten sich ein wenig über seinen panischen Gesichtsausdruck, besprachen aber dann weiter ihren Plan, heute zur Abwechslung für das Mittagessen zum Flughafen zu fahren. In der Regel assen sie alle gemeinsam. Ihre Mittagspause war sehr kurz und erlaubte keine langen Ausflüge. Aber heute hatten sie Zeit und Lust auf ein Abenteuer.

Die Idee wegzufahren gefiel Walter nicht.

Ihr Stammlokal lag auf der anderen Strassenseite. Eine mittelprächtige, keiner bestimmten Nationalität angehörende Beiz, die weder besonders gut noch besonderes schnell kochte, doch sie lag gleich gegenüber, und sie kannten die etwas ältere Bedienung beim Vornamen. Das Tagesgericht änderte täglich, und es gab einen kleinen Nachtisch dazu.

Wenn einer von ihnen mal wieder Abwechslung wünschte, dann gingen sie – ein gewagtes Unterfangen – zum Chinesen, zwei Strassen weiter. Die Gerichte waren mehr oder weniger immer dieselben, und die Bedienung kannte sie bereits, doch sie war nicht gewillt, beim Vornamen genannt zu werden. Ausserdem war es dort immer zu laut, und niemand verstand so genau, was das Personal sagte. Nicht einmal dann, wenn sie deutsch sprachen.

Wieso also wegfahren?

Der Aushang mit der Information, dass sie an diesem Nachmittag freihatten, hing an der Eingangstür des Büros. Walters Blick fiel darauf. Er war schon eine Woche dort und verkündete jedem (der ihn las), dass sie an dem Nachmittag dieses Tages freihaben würden. Die Reparatur einer defekten Stromleitung verschaffte ihnen die freie Zeit und Walter die Erkenntnis, dass er vollkommen umsonst zur Arbeit gefahren war. Er hatte den Ausfall schlicht vergessen.

Die Abenteuerlust ging weiter in der Belegschaft um, und bald fand er sich mit drei seiner Kollegen in seinem Auto auf dem Weg zum Flughafen wieder. Wie immer, wenn er überrascht wurde, reagierte er langsamer als sonst, daher war es ihm nicht eingefallen, einfach wieder nach Hause zu fahren. Ausserdem hätte seinen Kollegen dann eine Mitfahrgelegenheit gefehlt.

Während der Fahrt zum Flughafen diskutierten sie, welches der vielen Restaurants sie im Flughafen besuchen wollten. Zur Debatte stand aktuell: McDonald’s, Fish and Chips, Thailändisch und, aus irgendeinem merkwürdigen Grund, Chinesisch. Als ob der eine Chinese was anderes servieren würde als der andere Chinese.

Der Flughafen war natürlich rappelvoll. Ein Gewirr von Menschen, Kindern und Koffern, Shoppingbegeisterten und Flugpersonal, Kindergeschrei, lautes Lachen und laut hallende Flughafendurchsagen. Die Diskussion über das passende Restaurant war immer noch im Gang. Inzwischen waren die Hauptoptionen: Italienisch, Chinesisch und – mit einem einzelnen Fürsprecher – Griechisch, doch niemand wollte sich den käsegefüllten Weinblättern anschliessen. Überall war es überfüllt, und schliesslich warteten sie fast eine halbe Stunde auf einen kleinen Plastiktisch, der zu fünf verschiedenen Restaurants gehörte. Gespräche waren so gut wie unmöglich, während sie sich bemühten, sich gegenseitig nicht mit den Ellenbogen zu stossen. Walter sass da, hielt seine Plastikgabel und sein Plastikmesser krampfhaft fest und stocherte in italienischen Nudeln mit Käsesauce.

Im Gewirr der lauten Stimmen und Geräusche war kein Gespräch richtig zu verstehen. Doch manchmal erhob sich ganz deutlich ein bestimmtes Wort über den Lärm hinweg. Ganz klar zu verstehen. Was war an diesem einen Wort so besonders, so einzigartig, dass es sich über alle hinweghob? Vielleicht waren diese Worte Teile grosser Fragen, grosser Fragen, die sich alle stellten. Vielleicht hörte man sie darum heraus.

«Wer sind wir?»

«Woher kommen wir?»

«Wohin gehen wir?»

«Wer bin ich?»

«Bin ich einzigartig?»

«Tschüss dann mal!», rief der erste von Walters Kollegen nach kaum zwanzig Minuten. «Ich muss noch wohin!», er grinste vielsagend und entfernte sich.

Bald ging auch schon der nächste, und ehe es sich Walter versah, fand er sich alleine wieder an dem kleinen Tisch inmitten des Flughafenlärms. «Mach’s gut, Walter», sagte jemand.

Langsam stand Walter auf und ging los in Richtung der Parkdecks. Er war erleichtert darüber, dass er mit seinem eigenen Auto gekommen war. Er durchquerte die Halle, eilte durch die Korridore und liess endlich den Lärm und das Gedränge hinter sich. Ein ziemlich grosser Mann ging mit einem ziemlich grossen Gegenstand in den Händen an ihm vorbei. Walter drehte den Kopf im Gehen, um zu sehen, was es war. Da prallte er mit voller Wucht in einen fremden Körper, der scheinbar aus dem Nichts gekommen war. Eine orange Flüssigkeit ergoss sich über sein weisses Hemd, und er fiel beinahe hin. Torkelnd gelang es ihm, Halt an einer Wand zu finden. Dann erst blickte er auf, um zu sehen, was überhaupt passiert war. Der Fremde, mit dem er kollidiert war, kniete nun auf dem Fussboden.

Er trug einen sehr schicken schwarzen Anzug, der perfekt und tadellos auf seiner fast schon etwas zu schlanken Figur sass. Gerade stützte sich der Fremde auf seine ebenso schicke Tasche, um wieder aufzustehen. Unter den goldblond gesträhnten, glänzenden Haaren hervor blickten ein paar erstaunte, graublaue Augen Walter entgegen. Das Gesicht des Mannes war ebenso attraktiv wie seine übrige Erscheinung. Der makellose Teint wurde durch die graublauen, leuchtenden Augen, umrahmt von langen Wimpern, noch betont. Er sah aus, als wäre er gerade vom einem Laufsteg gefallen.

Orangensaft und Café

«Entschuldigen Sie bitte.» Er lächelte zerknirscht, stand wieder aufrecht und glättete seinen Anzug mit den Händen. «Ich habe Sie übersehen.»

Seine Stimme klang klar und melodisch. Er wischte sich mit der schlanken Hand eine vorwitzige Locke aus der Stirn, die gleich wieder zurückfiel.

«Ich war etwas in Eile. Mein Flug, Sie verstehen schon, am Ende ist man dann immer doch ein wenig zu spät.» Er liess ein schönes, perlendes Lachen hören.

Ich erwiderte nichts.

Er deutete auf mein Hemd. «Das tut mir wirklich leid. Ich schulde Ihnen wohl ein frisches Hemd», dann hob er die Hand und winkte leicht mit einem leeren Plastikbecher, « … und Sie mir einen Orangensaft», scherzte er.

Zustimmend nickte ich, brummte etwas und wollte auch schon an ihm vorbeigehen, da fasste er meinen Ellenbogen.

«Ach, herrje! So kann ich Sie doch nicht auf die Strasse lassen!» Seine Augen schauten erstaunt.

Er musterte mich einen Moment eingehend, währenddessen ich mich immer unwohler zu fühlen begann. Es war, als würde jemand meine Haut mit Nadeln traktieren. Er überraschte mich mit dem Satz: «Ich habe ein Hemd im Koffer, das könnte ich Ihnen ausleihen.»

Ich starrte ihn ungläubig an. «Ich …», räusperte ich mich, meine Stimme schien eingerostet, «… ich glaube nicht, dass mir das passen könnte», brachte ich schliesslich hervor.

Vergnügt gluckste er, den Wink verstehend. «Wenn es Sie beruhigt, es ist von einem Freund von mir. Er hat eine etwas, sagen wir, stattlichere Figur. Es könnte Ihnen meiner Meinung nach gut stehen.»

«Hatten Sie es nicht eilig?», versuchte ich mich herauszureden.

«Auf meinem Handy habe ich gerade gesehen, dass mein Flug Verspätung hat – darum bin ich auch in Sie hineingerannt.» Er hob die andere Hand, um zu beweisen, dass er sein Handy in der Hand hielt. «Dumm von mir, gleichzeitig zu rennen und zu lesen», meinte er verschmitzt lächelnd. Sein Lächeln war so perfekt und kokett, dass ihm in diesem Moment jeder alles verziehen hätte. Niemand hätte ihm böse sein können.

Eigentlich wollte ich mich schnellstmöglich aus dem Staub machen, doch er liess kein Nein gelten. Flugs hatte er mich herumgedreht, mir das Hemd, welches er bereits aus seiner schicken Tasche gezogen hatte, in die Hände gedrückt und mich damit in eine Herrentoilette geschoben. Ihm konnte man schlecht irgendetwas abschlagen, dachte ich, während ich nun doch das fremde Hemd anzog. Ich mochte es nicht. Es war aus einem edlen Stoff und anders geschnitten als meine eigenen Hemden. Unwillkürlich stellte ich mir den eigentlichen Besitzer vor und fand keine Gemeinsamkeiten mit mir.

Wieder zurück, zupfte ich unentwegt an den Ärmeln des geborgten Hemdes herum und fühlte mich ziemlich unwohl darin.

Der schöne Fremde hatte sich derweilen an die Wand gelehnt. Er hielt sein Handy in der Hand, als überlege er zu telefonieren. Seine Gepäckstücke standen um ihn herum, als warteten sie auf eine weltverändernde Rede. Wären sie fähig gewesen zu hören, wären sie gewiss nicht enttäuscht worden. Er war genau der Typ Mann, der die Welt veränderte.

Als er mich aus der Toilette kommen sah, strahlte er mich an, als hätte er den ganzen Tag nur auf mich gewartet. Eine Eigenschaft, die andere an ihm lieben mussten.

«Das Hemd steht Ihnen gut.» Er verstaute das Handy in seiner Tasche.

Verlegen zupfte ich an meinen Ärmeln.

Er streckte mir seine Hand entgegen. «Guten Tag übrigens, ich bin Elias Lee.»

Das Licht des Tages fiel hinter ihm durch das Fenster, als würde es ihn persönlich bescheinen. Er war aussergewöhnlich, besonders, auf eine unbegreifliche Art. Seine Hand fühlte sich kühl an.

«Walter Müller», stellte ich mich ebenfalls vor.

«Kommen Sie. Nach diesem Schreck lade ich Sie auf eine Tasse Kaffee ein. Vom Orangensaft habe ich erst einmal genug – bis zu dem im Flugzeug natürlich.» Er lächelte selbstironisch.

Wir setzten uns in das nächste Café. Ich mochte sie nicht, diese Kaffeeketten, mit den ewig langen Listen von Kaffeespezialitäten, die mich ganz benommen machten und bei denen man dann doch nicht wusste, wie man einen ganz normalen, schwarzen Kaffee bestellen konnte. In solchen Cafés sah ich immer nur junge geschwätzige Leute, die englisch sprachen, am Computer arbeiteten, oder Teenager, die aufgeregt tuschelten. Wenn ich je ein solches Café betreten hatte, dann nur um gleich wieder umzudrehen. Der Name dieser Kette wollte mir nie einfallen. Jetzt entdeckte ich ihn – spiegelverkehrt am Fensterglas. «Starbucks», hiess es da.

Derweil stand Elias Lee in der Schlange am Tresen und bestellte. Er hatte gefragt, was ich wollte, und als ich ihm nicht antworten konnte, war er sofort dazu bereit, etwas für mich auszuwählen.

Kaum dass er angestanden war, hatte man ihn auch schon zur Kasse vorgelassen, wo er einer Dame die Herkunft der Kaffeebohnen erklärte und damit Verkäuferin und Kunden gleichermassen unterhielt. Unter beifälligem Gelächter und mit einem gratis Muffin kam er einen Moment später zurück an unseren Tisch.

«Ich hoffe, Sie mögen Lemon-Muffins?», lächelte er und stellte Kaffee und Muffin vor mich auf den Tisch.

Während ich auf den Becher starrte, den er mir gebracht hatte, setzte er sich. Obwohl er mir erklärt hatte, was er mir bestellen würde, konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Das Getränk sah jedenfalls aus wie Kaffee – schlammbraun.

«Walter?»

Überrascht zuckte ich zusammen und blickte auf zu Elias Lee, der mir gegenübersass und das Kinn auf seine gefalteten Hände stützte.

«Woran denken Sie?»

Ich konnte mich nicht erinnern, wann man mir diese Frage zuletzt gestellt hatte. Zugleich ärgerte ich mich über sie. Schliesslich ging es niemanden etwas an, woran ich dachte. Doch etwas an seinem Blick, an seinen grauen, fast kühlen Augen, gemahnte mich, nicht unhöflich zu reagieren.

«An nichts», sagte ich platt. «Ich habe vergessen, welchen Kaffee Sie mir bestellt hatten», fügte ich schliesslich aus Verlegenheit hinzu.

Erstaunt blickte Elias mich an, und ich spürte die Röte in mein Gesicht steigen. Elias’ Blick glitt über mich, und ich meinte zu wissen, was ihm durch den Kopf ging: Er fragte sich, ob er sich um meine Gesundheit Sorgen machen musste.

Schliesslich schien er zu dem Schluss zu kommen, dass er mich nicht nach meinem Gesundheitszustand fragen würde, doch seine Stimme war auffallend ruhig, als er weitersprach.

«Einen Caramel-Macchiato», sagte er.

«Einen was?», ich war verwirrt.

«Der Kaffee, den ich Ihnen bestellt habe: einen Caramel Macchiato. Ein Milchkaffee mit Caramelsirup. Es ist sozusagen der Klassiker im Starbucks.»

«Oh.» Mehr fiel mir dazu nicht ein.

«Eigentlich sagen alle, dass ein Macchiato italienisch sei, aber die Italiener haben keine Ahnung, was ein Macchiato überhaupt ist.» Ein leises Lachen kam über seine Lippen.

Ich verstand den Witz nicht.

«Was arbeiten Sie, Walter?», fragte Elias und rührte mit dem Löffel seinen Kaffee um. Dabei sah er sehr elegant aus, und ich fragte mich, woran das liegen mochte. Dann wurde mir bewusst, dass er mich etwas gefragt hatte. Ich schreckte hoch.

«Bank», rief ich – dann riss ich mich wieder zusammen und sagte, peinlich berührt: «Ich meine: Bankangestellter.»

«So, so.» Elias hob seine Tasse an den Mund. An seinen Lippen blieb kein bisschen Milchschaum haften. «Wo denn?»

Ich verstand nicht, was er meinte.

«In welcher Bank?», präzisierte er seine Frage.

«In der Saturday international Bank», antwortete ich.

«Ah, ja. Ich glaube ich weiss, wo das ist.» Elias hielt seine Tasse mit beiden Händen umfasst.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Elias diese Bank je betreten hatte. Bestimmt machte er seine Bankgeschäfte online.

«Und sind Sie verheiratet?», fragte er höflich.

«Geschieden», antwortete ich schnell, und nach einem kurzen Moment fragte ich zurück: «Und was machen Sie?» Meine Frage entlockte ihm ein kleines, perfektes Lächeln.

«Ich arbeite seit kurzer Zeit im Skydancer. In einem Verlag.» Ganz feine Falten umrahmten seine Augen, wenn er lächelte.

«Seit kurzer Zeit?», fragte ich nach.

Nach einem weiteren Schluck fuhr er sich über die Lippen. «Seit zwei Jahren.»

Ich sah ihm an, dass er über etwas nachdachte.

«Und was machen Sie da?»

Mit einer Miene, als hätte er ganz vergessen, dass ich da war, sah er auf.

«Ach so, entschuldigen Sie, ich war ganz in Gedanken.» Wieder blickte er mich mit seinen seltsam hellen Augen an. «Ich leite den Verlag.»

Überrascht starrte ich ihn an. «Sie sind der Verleger? Sind Sie dafür nicht etwas jung?»

Sein schönes Lachen schien den Raum zu erhellen. Einige der anderen Cafébesucher drehten sich neugierig nach uns um. Sie lächelten unwillkürlich, als sie Elias erblickten. «Sie schmeicheln mir.»

Charmant beugte er sich zu mir, sich dabei mit dem Ellenbogen auf dem Tisch aufstützend, und flüsterte: «Ich bin vierzig.» In seinen Augen lag ein Zwinkern. «Aber ich weiss, was Sie meinen», gab er zu, hob die Arme über den Kopf und streckte sich elegant. «Es war auch gar nicht meine Wahl.» Elias zuckte mit den Schultern. «Ich habe in London studiert. Das ist übrigens eine wunderbare Stadt. Die schönste aller Städte, um dort seine Jugend zu verbringen.» Wieder zwinkerte er mir zu, und ich verschüttete etwas Kaffee beim Versuch, einen Schluck zu trinken.

«Was haben Sie studiert?», fragte ich und nahm das Taschentuch, das mir Elias reichte.

«Germanistik», erwiderte er und tupfte Kaffee vom Tisch. Dabei schaffte er es, weder seine Hände noch seine Ärmel mit dem verschütteten Kaffee in Berührung zu bringen.

«Und wie kommt es dann, dass Sie hier arbeiten?»

«Ich bin zwischen London und hier hin und her gereist. Immer ein wenig der Arbeit und der Familie hinterher.» Er setzte sich wieder richtig hin und sah mich an. «Wissen Sie, ich und meine Familie stehen uns nicht sehr nahe. Ich habe zwei Halbgeschwister. Mein Vater und meine Mutter sind geschieden – sie lebt jetzt in Südfrankreich.» Er machte eine Pause. «Ich besuche sie manchmal. Beide Teile der Familie. Doch ich wollte schon immer mein eigenes Leben leben. Ich nehme an, deswegen habe ich die erste Gelegenheit ergriffen, die sich mir bot, es auch zu tun.» Er drehte eine Strähne seines glänzenden Haares. «Vor zwei Jahren…», fuhr er fort, «hat meine langjährige Beziehung zu einer Frau ziemlich spektakulär geendet. Ich verliess London, wo ich gerade lebte, und ging nach Hause, wo mein Vater mit einer Überraschung aufwartete.» Elias lächelte schief. «Er besitzt mehrere Firmen, müssen Sie wissen, und eine davon ist der Skydancer-Verlag. Weil er meine Vorliebe für Literatur und Kunst kannte, bot er mir an, den Verlag zu übernehmen.» Elias wippte immer noch mit dem Stuhl auf und ab. «Ich war nicht unbedingt begeistert von dem Gedanken, für meinen Vater zu arbeiten – meine Halbgeschwister hingegen sind gleich nach dem Studium bei ihm eingestiegen.» Wieder machte er eine Pause und warf mir einen Blick zu. «Zu jenem Zeitpunkt hegte ich keinerlei Ambitionen, bei meinem Vater zu arbeiten, aber dann – dann habe ich den Verlag betreten und war irgendwie verzaubert. Ein Ort mit Wänden aus Papier, an dem hinter jeder Ecke die Abenteuer warteten und Wörter lebendig wurden. Ich war plötzlich zwischen dem hier», er machte eine weitausholende Geste mit den Armen, «und dort zuhause.» Wieder machte er eine Pause. «Trotzdem war ich noch unentschlossen. Der Verlag gefiel mir, doch ich wollte nicht für meinen Vater arbeiten – und dann habe ich mich ziemlich unerwartet verliebt.» Er warf mir einen undefinierbaren Blick zu und fuhr fort. «Meine Halbgeschwister wollten mich unbedingt überzeugen, im Verlag zu bleiben, und haben mich oft zu den verschiedensten Veranstaltungen eingeladen, um mit mir zu reden und mir zu zeigen, wie schön es sein konnte, in den Firmen meines Vaters zu arbeiten. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte meine Schwester mich jemandem vorgestellt. Ich weiss nicht einmal, ob sie wusste, was sie da tat. Wenn ja, dann muss sie mich um vieles besser kennen, als ich es je für möglich gehalten hätte. Dazu war es jemand, der viel zu jung war für mich, und viel zu ungestüm.» Seine Augen wirkten auf einmal durchscheinend. «Und viel zu verliebt in mich», fügte er leiser hinzu. Dann fragte er mich ganz unerwartet: «Denken Sie manchmal über den Sinn des Lebens nach?»

Ich sah ihn verdutzt an.

«Wieso etwas passiert, meine ich.»

Völlig ahnungslos, worauf er hinauswollte, wartete ich.

«Ich habe gerade ein Buch gelesen», erzählte er. «Ein Buch von einem meiner Autoren. Marcel Shoes. Er kann einem ziemlich auf die Nerven gehen, wenn es um Textarbeit geht, aber seine Bücher sind wirklich gut.» Er machte eine Pause. «Es lässt mich nicht los, dieses Buch und seine Fragen. Immerzu geht es mir durch den Kopf.» Erneut machte er eine Pause und seufzte. «Sind wir einzigartig? Ich meine, wir möchten es alle gerne sein, gerne glauben, dass wir es sind, einzigartig. Dass wir individuell, unnachahmlich sind. Dass es uns nur einmal gibt, so wie wir sind. Und wir unser Tun selber steuern, nicht fremdbestimmt sind.» Ich runzelte die Stirn.

«Wir sind, wer wir sind. Wie meinen Sie, sollten wir denn fremdbestimmt sein?»

Elias lachte auf, doch es klang nicht sehr vergnügt, sondern eher verhalten.

«Sie machen mir Spass, Walter.» Dann fügte er hinzu: «Natürlich sind wir fremdbestimmt.» Er seufzte kurz. «Welche Farben wir mögen, welche Möbel, was uns moralisch erscheint oder nicht. All das nehmen wir von unseren Eltern, Vorbildern und unserem Umfeld mit. Wir sind alle Nachahmer.» Ich sah ihn an, und er fuhr mit freundlicher Miene fort. «Und dann: Jeder hat eine Vorstellung von einem Banker oder von einem Künstler. Man hat gewisse Ansprüche an diese Personen – und man zwängt sie hinein in diese Vorstellung, ob sie wollen oder nicht. Wie oft stehe ich jemandem gegenüber, der eine Vorstellung davon hat, wie ich sein sollte, ohne dass er wirklich mit mir spricht. Er nimmt mich gar nicht wahr, nur was er von mir denkt, zählt. Wir sind voreingenommen. Das Gleiche mit den Namen. Man denkt sich schon, wie ein Walter ist oder wie ein Elias ist. Wir verbinden unsere Vorstellung mit Menschen, die wir schon kennen. Wenn Sie jemanden namens Jack kennen, der Ihnen beispielsweise einmal übel mitgespielt hat, dann werden Sie Ihren Sohn nicht Jack nennen und jedem Jack mit Misstrauen begegnen. Hat das was mit Ihrem Gegenüber zu tun? Nein. Aber wir sind so.»

Ich brummte: «So wie Sie das sagen, sind wir einzigartig, nur niemand anerkennt es.»

Elias sah zum ersten Mal überrascht aus. Einen ganzen Moment lang sahen wir uns in die Augen. Es war ein sehr seltsames Gefühl. Seine Augen waren genau wie meine – und für einen Sekundenbruchteil war es, als gäbe es mich zweimal, einmal hier und einmal mir gegenüber, als blickte ich in einen höchst merkwürdigen Spiegel. Ein Prickeln ging durch meinen Körper, als würden sich all meine Nervenbahnen auf einmal winden. Dann fing er an zu lachen. «So gesehen, haben Sie recht», gluckste er.

Mir lief ein kleiner Schauer über den Rücken. Sein melodisches Lachen war eine Spur zu perfekt.

«Ah, entschuldigen Sie! Manchmal gehen mir Dinge durch den Kopf, die ich nicht mehr loswerde. Die grossen Fragen machen niemanden glücklich. Und trotzdem müssen wir sie uns immer und immer wieder stellen. Wissen Sie: Jeder will so zwanghaft einzigartig und individuell sein – und ist dabei doch genauso wie die anderen. Alle scheinen mir wie leblose Klone. Bei so vielen Menschen … kann ich mir gar nicht vorstellen, dass wir alle einzigartig sein sollen.» Er machte eine kleine Pause und sagte dann: «Würde man mich vermissen, wenn ich nicht mehr da wäre? Wenn man mich mit jemand anderem einfach ersetzte, würde man es merken?», dachte er laut.

Unwillig zuckte ich mit den Schultern. «Ich habe noch nie darüber nachgedacht», sagte ich sachlich.

Elias seufzte. «Ach, das stelle ich mir wunderbar vor.» Dann beugte er sich zu mir. «Was meinen Sie? Machen wir ein Spiel?» Mit gerunzelter Stirn sah ich ihn misstrauisch an. «Wir tauschen für einen Moment die Namen. Sie und ich. Ich bin Walter Müller.» Er hatte seinen Computer geöffnet, und ich sah, wie das Zeichen für die WLAN-Verbindung aufleuchtete. «Und Sie sind Elias Lee. Dann denken Sie darüber nach und ich nicht mehr. Dann werden wir ja sehen, ob wir uns verändern», sagte er mit einem süffisanten Grinsen. Dann drehte er den PC ganz zu mir, und ich sah Dokumente, die mir nicht im Mindesten bekannt vorkamen. Doch eines davon schien von meiner Arbeitsstelle, ein anderes meine Geburtsurkunde zu sein. Und da war es. Aus Walter Müller war – auf dem Bildschirm – Elias Lee geworden. Keine Flammen waren aus dem Boden geschossen, kein Abgrund hatte sich aufgetan. Einfach so war aus Walter Müller Elias Lee geworden. Elias lehnte sich zufrieden zurück und liess, um das Gefühl ganz auszukosten, einen Moment verstreichen. «Und wie ist es, Herr Elias Lee? Fühlen Sie sich anders?», fragte er lächelnd.

Das konnte ich nicht behaupten, mir war sehr unbehaglich zumute bei dieser Sache.

Elias wollte noch etwas sagen, doch in diesem Moment piepste sein Telefon. Er drehte das auf dem Tisch liegende Gerät zu sich und sah auf die Nachricht. Die Schrift war so gross, dass ich sie auch lesen konnte. Thomas schreibt: Ich liebe dich.

Ich runzelte die Stirn und blickte zu Elias auf, der mich seinerseits aufmerksam betrachtete.

Er lächelte. «Mein Freund. Er macht sich immer Sorgen, wenn ich in ein Flugzeug steige.»

Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, was diese Worte bedeuteten. Ein Witz lag mir auf der Zunge, den ich in solchen Fällen, wenn ich mich peinlich berührt fühlte und mich rausreden wollte, immer zum Besten gab. Doch als ich in Elias Gesicht sah, blieb er mir im Hals stecken. Zum ersten Mal dachte ich, dass der Witz vielleicht doch nicht lustig war. Stattdessen sagte ich etwas, was ich selbst nicht erwartet hatte: «Muss schön sein.»

Elias sah mich aufmerksam an, er schien auf etwas zu warten. «Wie meinen Sie?», fragte er. «Das jemand um Sie fürchtet, wenn Sie in ein Flugzeug steigen?»

«Meine Exfrau würde wohl eher auf einen Absturz hoffen.»

Elias lachte herzlich. «Dann würde ein gemeinsamer Flug ja sehr interessant werden.»

Ich erwischte mich dabei, wie ich ebenfalls lachte. Man konnte Elias’ Lachen einfach nicht widerstehen. Man musste in sein Lachen mit einstimmen. Er sah dabei so makellos aus – als würde ihn immerzu jemand mit einem Scheinwerfer perfekt ausleuchten. Hätte er sich nicht bewegt – er hätte auch eine Plakatwerbung sein können.

In diesem Augenblick tönte eine Ansage durch die Halle. «Aufruf für Herrn Elias Lee – bitte finden Sie sich umgehend bei Ihrer Crew für den Flug nach New York ein.»

Elias zuckte zusammen, sprang auf und blickte dabei auf die Uhr an seinem Handgelenk.

«Ach du Schreck!», rief er, «Ich habe zwar ein ganz wunderbares Zahlengedächtnis, aber mit der Uhrzeit tue ich mich immer wieder schwer.»

Er griff nach einem Tablett, um seine Tasse und den Teller daraufzustellen, aber schon tauchte eine Kellnerin auf, die ihm alles abnahm, nur um in den Genuss seines perfekten Lächelns zu kommen.

«Ich fliege heute nach New York und bin in drei Wochen zurück. Thomas wollte eigentlich mitkommen, das wäre dann unser erster gemeinsamer Urlaub gewesen, aber wie immer kam seine Arbeit dazwischen.» Dabei klappte er eilig sein Notebook zu und steckte es in seine Tasche. «Und wenn nicht bei ihm, dann bei mir. Natürlich.» Er sah sich etwas ratlos um. «Ich muss leider los, es war schön, sich mit Ihnen zu unterhalten, Elias.» Er zwinkerte mir zu. «Ich würde mich doch gut als Banker machen, finden Sie nicht? Genügend Anzüge hätte ich schon.»

Ich sah zu ihm auf. Er hätte allerhöchstens als Werbung für eine Bank durchgehen können oder auch nur als «glücklicher» Bankkunde. «Sie wären in etwa so glaubhaft wie ich als Verleger», erwiderte ich sachlich.

Elias lächelte. Dann erinnerte er sich an etwas. «Ach ja! Ich werde das mit den Namen natürlich sofort rückgängig machen, sobald ich in der Luft bin. Es sollte aber sowieso nicht abgespeichert sein. Es war nett, mit Ihnen zu plaudern, Walter.»

Ich kannte niemanden, der sich gerne mit mir unterhielt. Schon lange hatte ich kein richtiges Gespräch mehr geführt. Die letzte Unterhaltung, die ich geführt hatte, war gestern mit Denis im Büro gewesen. Er hatte versucht, mir ein Fussballspiel zu erklären. Dann war aber glücklicherweise Agnes dazugekommen. Mit ihr konnte er die Diskussion wirklich führen, und ich konnte wieder arbeiten.

Elias zuckte zusammen, als erneut eine Durchsage ertönte. «Passagiere für den Flug nach New York mit der Flugnummer 562121 melden sich bitte umgehend an ihrem Gate.»

«Herrje, ich muss wirklich los. Sonst fliegen sie noch ohne mich. Auf bald, Walter.»

Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, wann wir uns wiedersehen sollten, doch ich sagte nichts. Elias lief eilig los, winkte noch einmal und verschwand in der Menge, als hätte es ihn niemals gegeben. Er verschwand so plötzlich, dass ich mich einen Augenblick lang ernsthaft fragte, ob ich diese Begegnung vielleicht nur geträumt hatte.

Mühselig stand ich von meinem Stuhl auf und wollte das Café verlassen. Dabei fiel mein Blick auf die Tasche und die Koffer, die Elias ganz offensichtlich vergessen hatte. Sein Handy lag auf dem Tisch. Ich starrte drauf. Es war für mich kaum vorstellbar, dass ein Mann wie Elias Lee jemals einen Fehler machte. Aber vielleicht war es ja so eine liebenswürdige Marotte – etwas, das andere Menschen furchtbar süss fanden und dann Dinge sagten wie: Ach, Elias schon wieder, und dann liebevoll lächelten – denn bei Elias war so etwas charmant. Einen Moment überlegte ich, ob ich die Taschen am Tresen abgeben sollte. Elias würde ich im Traum nicht einholen können. Dann dachte ich, dass die Kellner von alleine darauf kommen und das Gepäck ins Fundbüro bringen würden. Also drehte ich mich um und verliess das Lokal.

Doch ich kam nicht einmal bis zur nächsten Ecke, als jemand hinter mir rief: «Hallo! Hallo, Sie! Sie haben Ihre Taschen vergessen!»

Erst reagierte ich überhaupt nicht, denn niemals galt ein Ruf mir. Da legte mir jemand die Hand auf die Schulter. Schwerfällig wandte ich mich um. Vor mir stand die junge Kellnerin aus dem Starbucks, beladen mit Elias Handgepäck, und strahlte mich an.

«Sie haben Ihre Taschen vergessen.»

Erst wollte ich ärgerlich werden, doch als ich ihr leuchtendes Gesicht betrachtete, fühlte ich mich irgendwie verwirrt und seltsam berührt ob ihres so freundlichen Gesichtsausdrucks, bis ich begriff, dass dieser daher rührte, dass ich eben noch mit Elias Lee am selben Tisch gesessen hatte. Es war, als hafte ein Restleuchten, eine Art Abglanz, von Elias Lee an mir, das die Leute noch immer blendete. Unwirsch machte ich den Mund auf, um sie anzublaffen, dass es nicht meine Koffer seien, doch als ich in ihre lächelnden Augen sah, stockten mir die Worte. Hinter ihr war eine grosse Anzeigetafel mit allen Abflügen. Da war der Flug von Elias Lee.

Sie drückte mir die Tasche in die Hand. «Kein Problem», lächelte sie.

Mir blieb nichts anderes übrig – ich nickte.

Dann drehte sie sich um mit den Worten: «Bis zum nächsten Mal.»

Sie verschwand, und ich starrte ihr hinterher. Ich war bis zu diesem Tag noch nie in einem Starbucks-Café gewesen, noch hatte ich das Bedürfnis, je wieder hinzugehen, doch sie nahm automatisch an, dass ich immer wieder kommen würde. Als ob ich extra zum Flughafen fahren würde, nur um einen Kaffee zu trinken! Musste ich jetzt aber wohl. Sie war eine nette und offenbar kompetente Kellnerin, wegen solcher Menschen besuchte ich ja auch meine anderen Stammlokale oder wenigstens, weil das Personal da noch über meine Witze lachte. Ich schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn.