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SCHOTTLAND wo … - Whisky zur Kunstform erhoben wurde, - der Urschrei des Dudelsacks die Wasser dunkler Seen kräuselt (kein Wunder, dass Nessie sich so selten blicken lässt), - Schlösser mit Gespenstern doppelten Eintritt kosten - die Menschen großzügig weglächeln, dass sie als geizig gelten. Kommen Sie mit auf eine literarische Rundreise durch die Lowlands und über die Highlands und Islands. Von Edinburgh über Dundee und Aberdeen zum Loch Lomond und nach Glencoe. Von Gretna Green bis zum Balnakeil Beach und weiter hinauf zu den Orkneys und den Shetland Inseln. Keine Angst vor Haggis, frittierten Schokoriegeln oder Männern in Faltenröcken, die Baumstämme werfen – WIR sind bei Ihnen: Zweiundzwanzig erfolgreiche schottische, englische, deutsche und österreichische Autorinnen, die sich in ihrer Liebe zu Schottland einig sind, übernehmen die Reiseleitung. Auf Schottland! Slàinte Mhath!
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Seitenzahl: 313
Veröffentlichungsjahr: 2024
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KURZGESCHICHTEN
BAND 2
Zweite Auflage
Copyright © 2023
Fenna Williams
& Klaudia Zotzmann-Koch
Coverdesign:
Klaudia Zotzmann-Koch
& Meike Schwagmann
Übersetzungen der englischsprachigen Beiträge:
Ulrike Bliefert, Gitta Edelmann, Edda Minck, Kate Morvern Reid,
Fenna Williams & Klaudia Zotzmann-Koch
* * *
Scraping, Crawling, Text- & Data-Mining untersagt.
Ein Hoch auf die Gemeinsamkeiten
diesseits und jenseits des Kanals.
Slàinte Mhath!
Geleitwort der Herausgeberin
Grüße aus Schottland!
1. Oh, William
Gretna Green
Edda Minck
2. Dye Water Blues
Longformarcus
Klaudia Zotzmann-Koch
3. Der Name der Rosi
Muirfield bei Gullane
Ulrike Bliefert
4. Am Ufer des Tay
Dundee, Firth of Tay
Brigitte Pons
5. Der Besuch
Dunkeld, Perthshire, Perth und Kinross
C. A. Hope
6. Blick zurück nach vorn
Glen Tanar, Deeside
Alison Templeton
7. Eine Frau verschwindet
Dunnottar Castle
Beatrix Erhard
8. Das rote Kleid
Aberdeen
Frances Brody
9. To a Haggis
Aviemore, Cairngorm Mountains
Gitta Edelmann
10. Im Nebel der Vergangenheit
Culloden, Drumossie Moor, nahe Inverness
Margaret Kirk
11. Mord beim Up Helly A
Lerwick, Shetlands
Marsali Taylor
12. Orkahaugr
Orphir, Mainland, Orkney
Lin Anderson
13. Balnakeil
Balnakeil Beach, Durness, Southerland
Kate Morvern Reid
14. Dougals Mütze
Isle of Harris
Alex Gray
15. Die rätselhafte Vergangenheit der Mairi McNicol
Poolewe, Inverewe Gardens, Achnasheen
Caryn Solomon
16. Der Rabbit Man
Fasnakyle, nahe Inverness
Thea Lehmann
17. Schotte werden, das ist schwer
Glencoe, Ballachulish, Highlands
Petra K. Gungl
18. Eine Prise Schottisch
Oban, Argyll and Bute
Susanne Brügmann
19. An den schönen Ufern des Loch Lomond
Loch Lomond, Argyll and Bute, Highlands
Meike Schwagmann
20. Unsichtbar in Ozeanblau
Glasgow
Mareike Fröhlich
21. Slàinte – Auf die Gesundheit
Lochranza, Isle of Arran
Laura Gambrinus
22. Goldenes Versprechen
Isle of Islay, Argyll and Bute
Fenna Williams
Die Schottlandreisenden
Literarische Rundreisen
Slàinte Mhath! Auf eine gute Reise!
Schreiben ist unsere Berufung. Und unser Beruf. Einer, den wir in aller Regel allein ausüben. Umso größer ist unsere Begeisterung für gemeinsame Buchprojekte, besonders auf internationaler Ebene. Für diese Sammlung schottischer Geschichten haben britische, österreichische und deutsche Autorinnen gemeinsam gedichtet, geschrieben, übersetzt, gedacht und gelacht.
Gemeinsam mit Autorinnen diesseits und jenseits des Ärmelkanals eine Anthologie herauszugeben, die sowohl in Deutsch als auch in Englisch erscheint, war für uns etwas ganz Besonderes, denn es gibt auf dem Buchmarkt derzeit nichts Vergleichbares.
Vom Schreibtisch aus tauchten wir in unsere Sehnsuchtsorte ein, reisten von Gretna Green bis hinauf auf die Shetlands und vom Balnakeil Beach wieder bis hinunter zur Insel Islay, ernteten (schottische) Einsichten, fanden Vorbilder für unsere Figuren und fingen jede Menge Lokalkolorit ein.
Die kreative Zusammenarbeit, die Vielfalt der Genres und die Gelegenheit, die eigene Story in einer anderen Sprache neu zu entdecken, hat viel Freude bereitet. Wir hoffen, diese Begeisterung überträgt sich auf unsere Leserschaft, auf alle jene, die von Schottland träumen oder es zu ihrem Sehnsuchtsland erkoren haben.
Ein Hoch auf grenzenlose Kollegialität und die Geschichten, die entstanden, damit Sie und wir rund um Schottland reisen können. Slàinte Mhath! Auf eine gute Reise!
Fenna Williams
Als ich Fenna, eine der Kolleginnen dieser Geschichtensammlung, auf einer Konferenz für KriminalschriftstellerInnen in Oxford das erste Mal traf, hätte ich nie gedacht, dass daraus einmal eine so aufregende Zusammenarbeit werden würde. Unser erstes Treffen im St. Hilda's College führte zunächst zu einer wunderbaren Freundschaft und – einige Jahre später – zu der großen Ehre, als Rednerin zur Jahreskonferenz der Mörderischen Schwestern eingeladen zu werden. Ich hatte ein fantastisches Wochenende, das damit endete, dass ich eine schottische Mörderische Schwester wurde. Deshalb war ich Feuer und Flamme, als Fenna mich fragte, ob ich zu dieser Anthologie eine Geschichte beisteuern würde.
Ein Miteinander, wie diese Anthologie sie bietet, ist heute wichtiger denn je, schließlich hat sich Schottland historisch immer schon mit dem Kontinent verbunden gefühlt. Diese alten Bande könnten durch den Brexit gefährdet sein – aber nur, wenn wir uns erlauben, wie Brexiteers zu denken.
Schließlich umspült dieselbe See noch unsere Küsten. Wir sind noch immer Europäer, wir sind Cousins und Cousinen. Auch wenn es schwieriger erscheint, das bisschen mehr an Bürokratie ist es wert, weiterhin durch Europa zu reisen. Wir können uns immer noch treffen, auch online, oder uns durch unser Schreiben austauschen, so wie es einst die Europäer taten, als das Reisen noch viel schwieriger war als heute.
Ich bin begeistert, Teil dieser Anthologie zu sein, zusammen mit so beliebten schottischen und englischen Autorinnen, von denen jede einen anderen Aspekt Schottlands beleuchtet und zeigt, wie wir unser Land sehen. Ich freue mich, durch die in Schottland angesiedelten Geschichten der deutschen Autorinnen zu erfahren, wie sie Schottland verstehen und erleben: die Gefahren des Dudelsacks, ein Mord durch Haggis, ein Tod in einer Whisky-Brennerei, ein unheimliches Schlachtfeld und ein oder zwei Geister …
Wie wir hier sagen, wenn wir das Glas heben: Here’s tae us, wha’s like us?’ oder ›Auf uns, wer ist wie wir?‹ Die meisten Schotten würden das beantworten mit ›Damn few, and the rest are aa’ locked up …‹ – ›Verdammt wenige, und der Rest ist weggesperrt …‹
Slainte, liebe Freunde! Slainte Mhath, liebe Freundinnen!
Marsali Taylor
Bis dahin war es ein erträglicher Tag gewesen. Aber nun marschierte das Unheil geradewegs auf mich zu. Malte, Chefredakteur der Land & Genuss (für mich nur Langer Verdruss), wünschte offenbar Feindkontakt. Er legte eine Mappe auf meinen Schreibtisch. Ich schaute hinein: fünf Tage Schlösser- und Gespenstertour in Schottland.
»Für die Novemberausgabe«, sagte er.
»Nein.«
»Doch«, sagte Malte. »Für die Novemberausgabe.«
»Ich mach lieber alle Destillen Schottlands – für alle Ausgaben der nächsten zwölf Monate.«
»Das macht Frederick.«
»Dann tauschen wir eben.« Mein Kollege war mir was schuldig, seit ich seinen Artikel über das Mille Miglia Oldtimer-Rennen redigiert und ihn vor einem Fiasko aus PS, Zwischengas und Graf Berghe von Trips bewahrt hatte. Mein Kollege hatte es nicht so mit den ›Männerthemen‹.
»Das geht nicht«, sagte mein Chefredakteur.
»Und warum nicht?«
»Frederick fürchtet sich vor Gespenstern.«
»Haha, selten so gelacht.«
»Charlotte, man macht sich nicht über die Defizite anderer Leute lustig.«
»Aber du musst zugeben, dass es was Komisches hat, wenn jemand anfängt zu kreischen, wenn in der Teeküche plötzlich das Licht ausgeht.«
Ich konnte sehen, wie Malte ein Grinsen niederrang.
»Abgesehen davon«, schob ich hinterher. »Es gibt keine Gespenster. Ich könnte genauso gut über das letzte Stückchen Kuchen von Marie-Antoinette schreiben … das ist ebenso real wie ein Gespenst.«
»Frankreich machen wir nächstes Jahr. Gute Reise, Charlotte. Und wenn es irgendwie geht, wäre ein scharfes Foto von Nessie auch nicht schlecht.«
Was tut man nicht alles, um seine Miete zu bezahlen? Malte blieb stur und ich machte mich auf den Weg. In jedem alten Gemäuer, das auf der Liste stand, absolvierte ich die Mitternachtsführungen, aber mehr, als dass es dort überall mächtig zog, war nicht festzustellen. Ein paar Enthusiasten, die ich kennenlernte, schleppten hochempfindliche Rekorder, Nachtsichtgeräte und Wärmebildkameras mit sich, um den Beweis ihres Lebens einzufangen. Es gab Gänsehaut und Gekreische, wenn irgendwo ein Papierkorb umfiel, natürlich jede Menge Expertengelaber, und morgens spukten im Hotel mehr verwirrte Geister am Frühstückstisch herum als auf irgendeinem Schloss, sobald sich die Ghost Whisperer zeigten. Als die fünf Tage herum waren und ich alle spukbewehrten Örtlichkeiten abgeklappert hatte, bekam ich von Malte eine E-Mail: Frederick Schulter ausgekugelt, E-Roller-Crash, Krankenhaus. Kannst du Whisky auch noch machen?
Warum nicht gleich so? Ich tourte durch Highlands und Lowlands per Bus, Bahn und per pedes, erlangte tiefgreifende Erkenntnisse über das leckere Gesöff, wie man es herstellt und vor allem darüber, wo ungefähr die kritische Masse für den Genuss liegt. Weder fotografierte ich das Ungeheuer von Loch Ness noch traf ich die Royals in Balmoral, aber das war zu verschmerzen. Leider hatte ich mir bei meinem selbstlosen Einsatz eine schmerzhafte Blase am Fuß gelaufen, die kurz vor Gretna Green ärztliche Behandlung verlangte. Die bekam sie in der örtlichen Surgery samt dickem Verband und einer Empfehlung vom freundlichen Doktor, wenigstens einen Ruhetag einzulegen.
Gretna Green ist nicht groß und so dachte ich, ein kleiner Spaziergang könnte nicht schaden. Nach dem Frühstück im Bensmoor Guesthouse klapperte ich hinkend die Sehenswürdigkeiten ab, froh, mal einen Tag ohne großen Rucksack, Wanderstiefel und Outdoor-Outfit in einem luftigen Kleid, Sandalen und Strohhut unterwegs sein zu können.
Falls mir bis hierher noch nicht aufgefallen war, dass es in Gretna Green einzig und allein um Hochzeiten ging, jetzt war es so weit: Aufgeregte Verwandte, Bräute und Bräutigame, angetrunkene und kichernde Trauzeugen, die alle ihren Weg zum Gretna Green Famous Blacksmith Shop suchten, um im Angesicht eines Schmiedeambosses das Ja-Wort zu geben oder dabei zu assistieren, brachten es auf den Punkt. Ich war in diesem Trubel ein Exot, allein, ohne zukünftigen Gatten oder Verwandtschaft besichtigte ich die alte Schmiede, besuchte den Souvenirladen, den Skulpturengarten, das Kaufhaus und sogar die örtliche Foodhall, selbstverständlich nur, weil mir der Name der Straße gefiel: Headless Cross, und nicht, weil ich unbedingt ein paar schottische Butterkekse als Wegzehrung brauchte, schließlich waren es zur Wall of Love und dem Courtship Maze nur ein paar wenige Schritte, die mein lädierter Fuß gerade noch bereit war, herzugeben. Die Wall of Love beherbergt die Lovelocks, kleine Schlösser, die dort aufgehängt werden, um die ewige Liebe anzuketten. Was per se schon mal nicht funktioniert, dachte ich. Das Courtship Maze besteht aus zwei ringförmigen – haha – Labyrinthen; an der einen Seite geht der Mann hinein, an der anderen die Frau, und wenn sie sich in der Mitte, dort, wo beide Labyrinthe sich überschneiden, nicht wiederfinden, wird vermutlich die Hochzeit abgesagt … und was passiert, wenn sich der Mann von Paar A mit der Frau von Paar B im Schnittmengensektor trifft? Während ich Kekse mampfend durch das Labyrinth mäanderte, ohne irgendjemanden zu suchen, überfiel mich große Müdigkeit, und kaum hatte ich die Mitte erreicht, setzte ich mich hin und lehnte mich an die Hecke. Die Bienen summten, die Sonne schien, und mir fielen die Augen zu.
Niemand hatte sich offenbar an einer schlafenden Touristin gestört, die sich die Zeit, bis ihr Liebster endlich den Weg durchs Labyrinth gefunden hatte, damit vertrieb, ein Nickerchen zu machen und ihre Keksdose festzuhalten. Und so wachte ich aus einem Schlaf mit wirren Träumen auf, als die Sonne schon tief stand und mein Magen wieder nach Nahrung verlangte. Ich wischte mir die Kekskrümel vom Mundwinkel und bemerkte dabei, dass meine linke Hand schmerzte. Als ich sie einer näheren Betrachtung unterzog, sah ich einen tiefroten Streifen, der sich um meinen Ringfinger wand. Wie ein Ring, nur, dass der nicht golden glänzte, sondern heftig brannte und juckte. Ich versuchte, den Finger mit Wasser abzukühlen, aber der Ring schwoll an und die Farbe intensivierte sich bis hin zu einem tiefen Lila. Ich hoffte, der Doktor in der Surgery könnte einem neuerlichen Notfall nicht widerstehen, und wollte mich eben aufmachen, um meiner Rettung entgegen zu hinken, als eine junge Frau auf mich zukam und meine linke Hand anstarrte. Sie trug ein langes, hellgelbes Kleid, darüber einen dünnen Mantel in dunkelgrün und auf dem Kopf eine mit Spitze und gelben Bändern verzierte grüne Haube. In ihrer Brust steckte ein Messer. Aber das schien sie nicht zu stören, weder sah ich Blut noch fiel sie um, also vermutete ich, in die Dreharbeiten zu einem Kostümfilm geraten zu sein.
»Hello«, sagte ich. Die Dame nickte und aus ihren Augen tropften Tränen. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich auf Englisch, aber sie schüttelte nur den Kopf und griff sich theatralisch an die Brust. »Na dann, viel Spaß noch mit Ihrem Kostüm, toller Auftritt übrigens.« Ich packte meinen Kram zusammen und ging dem Ausgang entgegen.
Hinter meinem Rücken hörte ich sie seufzen: »Oh, William …« Oder war es die Abendbrise in den Buchsbaumhecken? Ich drehte mich um, die Frau war verschwunden. In der Hecke hing ein gelbes Seidenband, das sich offenbar aus ihrer Haube gelöst hatte. Ich steckte es in die Tasche, um es ihr bei nächster Gelegenheit zurückzugeben, denn weit konnte sie ja nicht sein. Auf dem Weg fragte ich einige Spaziergänger, ob sie eine Frau in einem georgianischen Kostüm gesehen hätten oder eine Filmcrew, aber sie schüttelten nur die Köpfe.
Als ich vor der Foodhall ankam, knurrte mein Magen laut und ich beschloss, dass er der größere Notfall sei. Der Finger war nicht dicker geworden, aber der rote Streifen juckte immer noch. Ich packte ein paar Sandwiches und eine Flasche Wasser ein, ging zur Kasse und wollte bezahlen, als ich den panischen Blick der Kassiererin sah. Sie starrte meine linke Hand an, in der ich das Portemonnaie hielt. Mein Geld schien sie nicht zu interessieren, denn sie sprang auf und rief: »Granny! Granny!«
Eine alte, gebeugte Dame trat aus einer Tür hinter der Kasse. »Mein Gott, was gibt’s denn?«
»Er ist wieder da!«, rief die Kassiererin und zeigte mit dem Finger auf mich.
»Ich bin kein Mann«, sagte ich.
Granny musterte mich vom Hut bis zu den Sandalen. Dann murmelte sie »Oh, William …«, packte meinen Ellbogen und zog mich von der Kasse weg in Richtung der Tür, aus der sie gekommen war. Ich konnte gerade noch meine Sandwiches schnappen, da schob sie mich auch schon in ein kleines, fensterloses Büro, in das wir beide kaum hineinpassten.
»Aber … ich muss noch bezahlen«, sagte ich. »Und ich heiße nicht William …«
»Später, meine Liebe, später … Setzen Sie sich erst mal hin.«
Ich wurde auf einen klapprigen Drehstuhl gedrückt. Dann stand in Sekundenschnelle ein Pappbecher mit Tee vor mir.
»Ich bin Daisy«, sagte die alte Dame. »Und wie heißen Sie?«
»Charlotte, aber meistens nur Lotti.«
»Oh – oh. Oh.«
»Ja, und jetzt? Ich meine außer Oh?«
»Sind Sie Single?«
»Ja.«
»Sie waren im Labyrinth?«
»Ja.«
»Haben Sie dort etwas gefunden?«
»Ja, ein seidenes Band.« Ich kramte in meiner Tasche und hielt es ihr hin. Daisy fuhr zurück, als würde das harmlose Ding in Flammen stehen. »Ich habe auch die dazu passende Dame im Kostüm gesehen«, sagte ich. »Kennen Sie die? Ich würde es ihr gern zurückgeben.«
»Kennen …« Daisy hustete. »Nun ja … jeder kennt sie.«
»Na, dann geh ich sie mal suchen.«
»Sie können jetzt nicht gehen.« Daisy nahm meine linke Hand und warf einen Blick darauf, griff zum Telefonhörer, wählte und sagte nach ein paar Sekunden: »Komm sofort hierher, Rufus. Und bring Thomas mit, der soll sich das ansehen … Seit über hundert Jahren das erste Mal wieder. Ich dachte, wir wären ihn los! Du hast gesagt, Thomas hätte gesagt, der Pfarrer damals hätte ihn exorziert!« Sie legte auf und tiefe Sorgenfalten zeigten sich auf ihrer Stirn.
»Könnte ich bitte mal erfahren, was hier los ist? Was ist denn mit meinem Finger? Warum müssen jetzt noch mehr Leute kommen? Ich habe Hunger! Und ich muss noch meinen Artikel über Schottlands Destillen …«
»Trinken Sie Ihren Tee. Ich werde Ihnen sagen, was los ist: Sie sind verheiratet. Oh dear, oh dear … mit William. William ist ein Geist, kein sonderlich netter, wie ich hinzufügen muss.«
Ich guckte die alte Dame an, um herauszufinden, ob es Anzeichen von Wahnsinn in ihren Augen gab. Aber da war nichts weiter als Besorgnis. Sie riss die Sandwichpackung auf und hielt mir das Brot hin. »Essen Sie. Und dann erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben.«
Das tat ich zwischen zwei Bissen und ein paar Schlucken Tee, denn viel gab es nicht zu berichten.
»Sie sind also eingeschlafen. Haben Sie was geträumt?«
»Ja, aber ich weiß nicht mehr, was.«
»Hm. Sie sollten unbedingt aus Gretna Green verschwinden. Wo wohnen Sie, meine Liebe?«
»In Deutschland. Ich wollte morgen eh zurück …«
»Nein, heute.« Sie riss die Tür des Büros auf und rief: »Maggs! Geht noch ein Zug nach Leeds oder Newcastle?«
»Der letzte fährt in fünf Minuten. Den schafft sie nicht mehr, selbst wenn sie in Hogwarts studiert hätte.«
»Oh weh … die Hochzeitsnacht … Oh weh, oh weh, oh weh …«
Es klopfte an der Tür. Daisy rief »Herein!«, und zwei ältere Herren quetschten sich ins Büro, was dazu führte, dass dem kleinen Raum allmählich die Luft ausging. Die beiden wurden mir als Rufus und Thomas vorgestellt, wobei zweiterer am Beffchen im Halsausschnitt seines Hemdes als Pfarrer zu erkennen war. Rufus vertrat als Vorsitzender die Gretna Green Historical Group, wie er mir erklärte. Die beiden betrachteten meine Hand mit gebührendem Interesse, bis Rufus seufzte und sagte: »Es hat Sie erwischt. Sie sind verheiratet mit dem Duke of Enslow. William the Ladykiller Duke of Enslow, um genauer zu sein.«
»Ha!«, brachte ich nur heraus und Rufus setzte seinen Vortrag fort. »Er wollte vor Ort die Ehrenwerte Charlotte Wittingham gegen den Willen ihrer Eltern ehelichen, im Jahre 1793. Charlotte wartete vergebens auf ihn, was eigentlich ihr Glück hätte sein sollen, denn der Duke hatte schon vier Frauen verschlissen, um es höflich auszudrücken. Seine Gemahlinnen waren alle unter obskuren Umständen ums Leben gekommen. Charlotte war so enttäuscht, als ihr Zukünftiger nicht auftauchte, dass sie ihn verfluchte und sich mit einem Dolch entleibte. Das war ungefähr dort, wo jetzt das Labyrinth ist. Man fand die Unglückliche Stunden später; alle Welt glaubte, der Duke habe sie erstochen, obwohl Zeugen unter Eid versicherten, dass seine Kutsche einen Radbruch gehabt hätte, drei Meilen vor Gretna Green.«
»Wie Sie sich vorstellen können«, mischte sich Thomas ein, »war die Kriminologie noch nicht so weit. Vielleicht war es ein Gottesurteil, dass niemand seinen Ausführungen Glauben schenkte, oder es war Charlotte Wittinghams Fluch. Friede ihrer armen Seele.«
Rufus räusperte sich. »Danke, Thomas. Jedenfalls wurde William nach kurzem Prozess enthauptet, ungefähr dort, wo die Straße Headless Cross verläuft. Seither taucht er jedes Mal auf, wenn eine Frau mit dem Namen Charlotte das Labyrinth besucht. Sie hätten nicht allein hineingehen sollen, denn nun hat er Sie geheiratet, dank des Geistes von David Lang, dem Schmied, der hier in den Jahren zwischen 1792 und 1827 die Paare verheiratet hat. Ein eher übler Zeitgenosse, ehemals Soldat der königlichen Marine, dann Pirat, Säufer und was nicht noch alles, der den Job von seinem Onkel Joseph Paisley übernommen hatte. Zu jeder Schandtat bereit, wie man so sagt.«
Daisy und Thomas nickten. »Und deswegen tauft hier niemand seine Tochter auf den Namen Charlotte«, schob Daisy flüsternd hinterher.
Ich gab mir Mühe, ernst zu bleiben, nahm einen Schluck Tee, doch dann brach ein Lachkoller aus mir heraus, der den Supermarkt samt Büro beinahe zum Einsturz brachte. Die drei starrten mich an, und als ich mich wieder eingekriegt hatte, sagte ich: »Ist das hier Versteckte Kamera? Oder eine Aktion des Tourismusbüros?« Oder ein dummer Streich von Malte? Aber so viel Phantasie traute ich ihm eigentlich nicht zu.
Die drei schüttelten den Kopf.
»Okay … okay … Ihrer Meinung nach bin ich also mit dem Geist eines blutrünstigen Herzogs verheiratet. Bin ich jetzt eine Herzogin von Enslow? Werde ich mit Ihre Hoheit angesprochen? Wo ist mein Schloss?«
Thomas bekreuzigte sich. »Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter, meine Liebe. Wenn Sie hierbleiben, holt er Sie heute Nacht, um sein Recht als Ehemann einzufordern. Sie sollten so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und diesen Ort bringen. Am besten kommen Sie nie wieder.«
»William ist ein lokaler Geist, also besteht Ihre einzige Rettung in der sofortigen Flucht.«
»Richtig, Rufus. Aber es geht doch kein Zug mehr!«, sagte Daisy und fuhr sich mit zitternden Händen durch ihr wirres graues Haar.
»Wie wär’s mit Scheidung?« Ich fand, das war ein konstruktiver Vorschlag, aber Daisy war anderer Meinung. »Sie haben ja keine Ahnung, meine Liebe!«
»Kann sein, aber vor allem glaube ich nicht an Gespenster. Ich war in acht Burgen, die angeblich alle heimgesucht werden …«
Daisy schüttelte den Kopf und sagte zum Pfarrer: »Thomas, du solltest vielleicht über Nacht bei Charlotte bleiben.«
»Was?!«, riefen der Pfarrer und ich wie aus einem Mund.
»Am besten, Sie verbringen die Nacht in der Kirche«, sagte Rufus.
»Und wenn nicht?«
»Wird niemand Sie jemals wiedersehen.«
»So ist es«, sagte Daisy. »Ob Sie daran glauben oder nicht, ist dem Duke of Enslow vollkommen egal.«
Ich verkniff mir den nächsten anrollenden Lachkoller, denn die drei schienen bis in die Knochen erschüttert zu sein. Wegen des Dukes oder wegen meiner Weigerung, bei der Posse mitzuspielen, konnte ich nicht erkennen. Ich drückte Daisy für meinen Einkauf 10 Pfund in die Hand, bedankte mich bei allen für die wahnwitzige Geschichte und lief zurück zum Guesthouse, wo ich vorhatte, ausgiebig zu schlafen, um am nächsten Morgen den Zug nach London über Leeds zu nehmen. Damit überließ ich drei ältere Herrschaften in einem kleinen Büro ihrer großen Verzweiflung.
In der Nacht, kurz nach zwölf, schreckte ich auf, weil jemand unter meinem Fenster Greensleeves sang. Ich schlug die Decke zurück, quälte mich aus dem Bett und sah hinaus. Der Gesang war durchaus entzückend, ein voller englischer Tenor, der nichts zu wünschen übrig ließ, nur war der Anblick des Sängers etwas befremdlich: Der Troubadour trug seinen Kopf unter dem Arm. Seine Augen schauten zu mir auf, der Kopf unterbrach das Gesinge und rief: »Charlotte, endlich, hör mich an!«
Mein Schrecken war nur kurz; im nächsten Augenblick riss ich das Fenster auf und rief: »Scheren Sie sich zum Teufel, Duke von Wasauchimmer! Sie sind um Jahrhunderte zu spät! Do you have me?! Und wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Ich knallte das Fenster zu, legte mich ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Die Gretna Greener gaben sich für meinen Geschmack einen Hauch zu viel Mühe, ihre Touristen bei Laune zu halten. Und sie waren noch nicht fertig damit, denn im nächsten Moment sagte eine Stimme neben mir: »Charlotte, lass mich in dein Bett.«
»Gar nichts werde ich. Ich bin nicht scharf auf einen One Night Stand.«
»Aber Charlotte! Wir waren in der Schmiede, heute Nachmittag. Du hast mir dein Ja-Wort gegeben. David Lang wird es bezeugen. Es gibt kein Zurück. Wir sind Mann und Frau.« Er ließ dem Satz ein horrorfilmreifes Lachen folgen.
Ich schlug die Decke weg und konnte nicht glauben, was ich sah. Der Duke, in gelben Hosen, Stulpenstiefeln und langer roter Jacke samt Kopf unterm Arm, stand am Fußende meines Bettes. Dazu gesellte sich wie auf Stichwort eine zweite, etwas unscharfe Gestalt in einem schwarzen Anzug und mit einem großen schwarzen Hut auf dem Kopf. »Ehrenwerte Charlotte, ich bin David Lang, und nun tun Sie gefälligst, was eine Ehefrau zu tun hat. Teilen Sie das Bett mit Ihrem Gatten.«
Mein Ringfinger glühte und brannte, als wollte mir der purpurne Streifen den Finger abtrennen. Ich schaute in die eiskalten Augen des Dukes, die er unpassenderweise immer noch auf Hüfthöhe trug.
»Geht’s noch? Raus mit euch! Alle beide. Ich hab den Witz verstanden. Ha, ha. Tolle Vorstellung.«
»Charlotte, meine süße widerspenstige Charlotte …«, säuselte der Kopf und kam samt seinem Besitzer auf mein Bett zu. Ich warf das Kopfkissen nach ihm. Der Kerl duckte sich noch nicht mal, musste er auch nicht, denn das Kissen flog durch ihn hindurch. »Aber du liebst mich doch …«
»Nein, tu ich definitiv nicht. Aber ich weiß, wer Sie geliebt hat. Charlotte Wittingham, und zwar im Jahr 1793. Wir haben jetzt 2022 und keinen Tag später oder früher. Außerdem heiße ich gar nicht Charlotte«, log ich. »Was fällt Ihnen ein, mich im Schlaf zu ehelichen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Ja gesagt habe! Wo ist die Urkunde? Häh?!«
Die Erscheinung, die sich David Lang nannte, zog ein gerolltes Dokument aus seinem Wams, entrollte es und hielt es mir hin. Da stand es Schwarz auf Weiß in kunstvoll verschnörkelten Buchstaben.
»Nun, meine Liebe, genug getändelt«, sagte er, »Geben Sie Ihrem Ehemann, was ihm zusteht, und danach möge er mit Ihnen verfahren, wie ihm beliebt. So ein garstiges Weib! Ich bitte um Vergebung, Your Grace …«
Der kopflose Duke machte Anstalten, sein abgetrenntes Haupt auf dem Schreibtisch in meinem Zimmer abzulegen, und auch noch diverse andere Dinge wie sein Wams, sein Hemd und seine Hosen.
»Moment, Moooment!«, rief ich, sprang aus dem Bett, holte das gelbe Band aus der Tasche, die am Haken an der Tür hing, und wedelte damit herum. »Ich habe Charlotte gesehen. Und sie gab mir etwas für Sie mit. Ein Liebespfand. Sie wartet im Courtship Maze. Machen Sie hinne.«
Die beiden Männer starrten mich an. Ich warf dem Duke das Seidenband vor die Füße. »Nehmen Sie es. Und jetzt gehen Sie mit Gott, aber flott!«
»Ha! Your Grace! Dieses Weib trägt Hosen!« David Lang zeigte auf meinen gestreiften Pyjama.
»Und es hat kurze Haare! Pfui, Teufel! Geschoren wie eine Hexe!«, rief der Duke und klemmte sich seinen Kopf wieder unter den Arm. »Was fällt dir ein, Charlotte!«
»Ich darf so viel Hosen und kurze Haare tragen wie ich will, weil … weil … ich gar keine Frau bin. So!«
Der Duke bückte sich, nahm das Seidenband und zischte: »Sie sind nicht Charlotte?!«
»Nein. Ich bin Charles! Das versuche ich schon die ganze Zeit zu erklären.«
»Aber bei der Vermählung trugen Sie ein Kleid!« David Lang kratzte sich den Kopf.
»Ja, und? Tragen nicht alle Schotten Röcke?« Zugegeben, die Argumentation hinkte gewaltig, und bevor Mister Lang auf dem Unterschied zwischen Rock und Kleid, Tartanmuster oder Batikkringel herumreiten würde, plapperte ich einfach weiter. »Trag ich ein Nachthemd, ein Häubchen? Hab ich ein Messer in der Brust? Soll ich Ihnen zeigen, dass ich ein Mann …?« Ich packte den Bund der Schlafanzughose, während in meinem Kopf plötzlich die Titelmelodie von Ghostbusters kreiselte.
»Um Himmels Willen, nein! Behalten Sie gefälligst Ihre Hosen an, Sir!«, riefen der Duke und David Lang.
»Na, also! Raus hier! Sie wollen doch wohl nicht in das Bett eines Gentlemans steigen – und, Gott bewahre, sein Wort anzweifeln«, sagte ich und zurrte meinen Pyjama zurecht. »Und sollten Sie es trotzdem versuchen, werde ich Sie zum Duell fordern, Sie … Sie Perversling!«
Wenigstens hatte ich ein Geräusch erwartet, ein leises Flopp! oder Plopp!, aber die beiden verblassten einfach nur und waren in der nächsten Sekunde verschwunden. Ich ging durchs Zimmer, schnüffelte, tastete in der Luft herum, aber sie waren weg, ohne einen Hauch von Verwesung, Schwefel oder Ektoplasma hinterlassen zu haben. Ich ließ mich aufs Bett plumpsen, fiel hintenüber und muss wohl auf der Stelle eingeschlafen sein, denn irgendwann fuhr ich wieder aus den Kissen, um genau zu sein, um halb eins, weil jemand unter meinem Fenster Greensleeves sang. Er sang es noch einmal um viertel vor eins, um zehn vor eins, um sechs vor eins und eine Minute vor eins. Mich zog es gewaltig in Richtung Fenster, aber da ich nicht sicher sein konnte, ob die beiden wieder auf den Pyjama und meine Frisur hereinfallen würden, blieb ich auf dem Bett liegen und hielt mir die Ohren zu, bis um Schlag ein Uhr der Gesang erstarb und endlich Ruhe einkehrte.
Am nächsten Morgen stieg ich mit lädiertem Fuß und brennendem Finger in den Zug nach Leeds. Auf dem Bahnsteig tauchten plötzlich Daisy, Rufus und Thomas auf. Ich winkte ihnen zu, aber sie starrten mich an, als hätten sie einen Geist gesehen, winkten lahm zurück, drehten sich um und schlurften in Richtung Ausgang, als wäre ich die Enttäuschung ihres Lebens. Wären sie noch eine Minute geblieben, hätten sie der Historie von Gretna Green noch mein nächtliches Abenteuer hinzufügen können, das ich ihnen gern erzählt hätte. Ich fand, für jemanden, der nicht an Geister glaubte, hatte ich mich vorbildlich geschlagen.
Der Zug setzte sich in Bewegung und mit jeder Umdrehung der Eisenräder, die mich von Fachwerkhäuschen und Heiratshysterie forttrugen, ließ der Schmerz im Finger nach. Der rote Streifen verblasste. Als der Schaffner kam und nach meiner Fahrkarte fragte, zog ich mit dem Ticket auch das Seidenband aus meiner Jackentasche. Wie konnte es hier sein, wenn der kopflose Duke es mitgenommen hatte? Ich hielt dem Schaffner den Brit Rail Spirit of Scotland Pass hin, aber das Band, so unvermutet, wie es aufgetaucht war, war verschwunden. Ich suchte auf dem Sitz, in den vielen Taschen meiner Wanderhose, aber es war weg. »Bye, bye, ehrenwerte Charlotte Wittingham«, murmelte ich, »der Dösbaddel wird es hoffentlich irgendwann rechtzeitig schaffen.«
»Wie meinen?«, sagte der Schaffner.
»Ach, nichts … gar nichts.« Ich, die Herzogin für eine Nacht, steckte das Ticket wieder ein.
»Hat es Ihnen in Schottland gefallen?«, fragte der Schaffner.
»Natürlich. Prima Whisky. Aber ich bin etwas enttäuscht, drei Tage habe ich am Loch Ness gesessen, aufs Wasser gestarrt – und nichts ist passiert.«
»Das kann vorkommen. Besuchen Sie uns doch im nächsten Jahr wieder, wie wäre es mit Three Oaks, dem Familiensitz derer von Enslow?«
»Gibt es ein Gespenst?«
»Und was für eins! Sie werden begeistert sein.«
»Kann es auch singen?«
»Ja, der Duke, William of Enslow soll einen wunderbaren Tenor gehabt haben, bis man ihm den Kopf abschlug, Sir.«
Eben wollte ich den Sir richtigstellen, biss mir aber auf die Zunge, denn wenn Daisy, Rufus und Thomas doch recht hatten, war ich noch nicht aus der Gefahrenzone. Ich stotterte ein: »Danke für den Tipp«, hervor.
Der Schaffner lächelte, drehte sich um, ging den Gang entlang und verschwand im nächsten Waggon, ohne dass ich bemerkt hätte, dass sich die Tür geöffnet und wieder geschlossen hatte. Und mir war, als hätte sein Kopf bedenklich gewackelt, als er im Vorbeigehen etwas Gelbes in seiner Tasche verschwinden ließ. Nach diesem verwirrenden Schauspiel hielt ich es für angebracht, einen Schluck aus meinem Flachmann zu nehmen, wurde aber unterbrochen, weil ein Schaffner auftauchte.
»Sie waren doch schon hier«, sagte ich und gab ihm das Ticket.
»Da müssen Sie sich irren.«
»Dann eben ein Kollege von Ihnen.«
»Ich bin allein im Zug.«
»Aber hier war ein anderer Schaffner.«
Er zog die Augenbrauen hoch, betrachtete den offenen Flachmann, den ich immer noch in der Hand hielt, schnüffelte und sagte: »Oh, ein Glen Scotia … Eine gute Wahl.«
Ich hielt ihm die Flasche hin. »Wollen Sie mal?«
»Lieber nicht. Ich bin, im Gegensatz zu allen anderen Schaffnern, die Sie glauben, in diesem Zug gesehen zu haben, real und somit im Dienst … Es sei denn …?«
»Was?«
»Ach nichts … Sie sind eher … nicht sein Typ. Slàinte und weiterhin eine gute Reise, Madam.«
»Na, zufrieden?«, fragte ich zwei Tage später Malte, der mit gerunzelter Stirn auf meinen Schreibtisch zusteuerte.
»Der Whisky-Artikel ist supi, aber die Story vom kopflosen Duke kauft uns doch keiner ab.«
»Hm … Frag Frederick, der sitzt immer noch in der Teeküche und kaut auf den Fingernägeln. Und wenn du jetzt das Licht ausmachst …«
»Du bist ein garstiges Weib, Charlotte.« Malte grinste. »In einer Woche ist übrigens Hochzeitsmesse in München. Ich könnte mir vorstellen, dass du …«
»Ich eher nicht.«
Tintenblau prangte die Scheune vor dem sattblauen Himmel. Hinter ihr erhoben sich die Lammermuir Hills, ein Stück weiter rechts machte der Lauf des Dye Water einen kleinen Schlenker. Schäfchenwolken sprangen im Trab landeinwärts über das Dach. Ein Tag zum Niederknien – und das hatte Gordon auch getan. Baahbara und Milk hatten es genau gesehen. Gekniet hatte er und dann gelegen. An einem windigen Tag, bevor der Frühling die Hecke und die Beete färbt. Das Blau seiner Lippen passte so gar nicht zum Blau von Himmel und Scheune, wohl aber zum stahlblauen SUV, der gerade den schmalen Weg zwischen trockenem Gras und niedrigen Büschen heraufkroch.
* * *
Alles hatte mit einem Sprung in der einfachen Glasscheibe der blauen Scheune zwei Tage zuvor begonnen. Baahbara hätte schwören können, der kam von dem fürchterlichen Streit zwischen June und Gordon nebenan im Haus. Es klirrte schon zum zweiten Mal. Baahbara schlackerte mit den Ohren, als der weiße Kater Milk in die Scheune stürmte.
»Das war der Milchtopf. Der Milch-Topf!« Das weiße Fell schien vor Aufregung das dreifache Volumen angenommen zu haben.
»Worum geht es überhaupt?«
»Um irgendwen, dem Gordon was versprochen hat, wovon June gar nichts hält.«
Baahbara dachte nach. June gab ihnen immer am Sonntag, wenn sie aus der Kirche kam, Heublumen und blieb dann den restlichen Vormittag über bei ihnen. »Sie ist schon zwei Heublumenfutter nicht bei uns in der Scheune geblieben. Und vorgelesen hat sie uns auch schon lange nicht mehr.«
»Oder uns gezeigt, wie schön bunt sie unsere Wolle gefärbt hat«, ergänzte Polly, die zwischen den Wolken aus Weiß eine graubraune Strähne besaß.
Milk tänzelte auf dem Gatter hin und her. »Ich habe sie drüben im Haus schon lange nicht mehr am Webstuhl gesehen. Aber am Computer.«
»Was macht sie denn da?«
»Weinen.« Der Kater verzog die pelzige Schnute.
Baahbaras Ohren hoben sich. »Dieser Computer scheint ihr nicht gutzutun. Wenn sie unsere Wolle spinnt und färbt und webt, dann lacht sie und singt.«
Baahbara nahm den Riegel des Gatters ins Maul und öffnete es. Sie hatte June nie verraten, dass sie das konnte. Die glaubte bis heute, dass sie die Tür offengelassen hätte. Jedes einzelne Mal. Sie ließ die Weberin in dem Glauben, brachte es doch erhebliche Freiheit, jederzeit aus der Scheune auf die Wiese zu können. Milk sprang vom Gatter herunter und lief hinter Baahbara her.
Sie trabten über die Wiese zum Haus, das im fahlen Licht des schwindenden Tages seltsam blass aussah, obwohl es neben der tintenblauen Scheune sonst in hellem Bläulichgrün erstrahlte. Nicht saftig grün wie frischer Klee, eher als würde heller Himmel mit Sommerwiesengrün zusammenfließen.
Baahbara näherte sich dem Fenster, hinter dem Junes kleiner Schreibtisch stand. Der sei Teil ihrer Arbeit, genauso wie die Bottiche zum Waschen und Färben der Wolle, das Spinnrad und der Webstuhl, hatte sie ihnen erklärt. Jetzt saß sie am Computer und sah so blass aus wie das Haus und ähnlich grünlich. Sie vergrub das Gesicht in den Händen.
Baahbara und Milk trippelten im Februargras auf der Stelle. Sie hörten, wie die Eingangstür zuknallte, dann Schritte auf harter Erde, das Starten eines Motors. Baahbaras Ohren zuckten. Milk nahm die Abkürzung zur Auffahrt und kam kurz darauf wieder zurück, als das Motorengeräusch leiser wurde und in Richtung Longformacus verschwand.
»Gordon ist weggefahren«, sagte er.
»Und ich habe eine Idee.«
Die beiden liefen zurück zur Scheune. Der Abendwind trug die Seeluft über die Scottish Borders bis zu ihnen ins Land. June sagte, das Meer sei fünfzehn Kilometer entfernt. Baahbara wusste nicht, wie weit das war, aber an Tagen wie diesem schien das Wasser näherzukommen.
Sie rief die Herde zusammen. »Wir müssen June helfen. Irgendwas ist los, aber wir wissen nicht, was. Wenn wir sie herlocken, erzählt sie es uns vielleicht. Also, alle Lärm machen, damit sie kommt und nachsieht!«
Alle begannen zu blöken, so laut sie nur konnten.
Milk lief hinaus vor das Scheunentor. Es dauerte eine Weile, dann rief er: »Es funktioniert! Sie kommt!«
Als June die Scheune betrat, tänzelte Milk um ihre Beine, dirigierte sie zu einem Strohballen. Sie ließ sich darauf fallen und atmete tief durch. Ihre Augen waren verquollen und rot.
»Erzähl uns von deinen Sorgen, Juniper.« Baahbara schaute die Zweibeinerin aufmunternd an. Sie wusste, dass diese sie nie wörtlich verstand, aber doch genug, dass sie sich meist gut unterhalten konnten.
»Ach, ihr seid so lieb.« June lief eine Träne über die Wange.
Milk sprang auf Junes Schoß, rollte sich ein. »Erzähl schon«, schnurrte er und legte eine Pfote auf ihre Hand.
»Ich werde euch so furchtbar vermissen.«
Baahbaras Ohren schlackerten. Sie musste sich verhört haben.
Auch Milk schien sich beim Schnurren verschluckt zu haben. »Vermissen?«, fragte er ganz ohne Schnurren und tapste mit seiner Pfote gegen Junes Unterarm.
June zog die Nase hoch. »Ihr seid wie eine Familie für mich, aber Gordon sieht nur das Geld.« Sie schüttelte den Kopf. »Er will die Farm samt Weberei verkaufen. Es mache alles keinen Sinn, viel zu unrentabel so klein, und obendrein alles Handarbeit, sagt er.« Sie schaute auf ihre Hände, ließ sie wieder in den Schoß sinken.
Die ganze Herde hatte sich in der Mitte der Scheune um sie versammelt und hörte aufmerksam zu.
Milk begann wieder zu schnurren.
»Dabei läuft das Geschäft so gut wie noch nie. Wir haben Anfragen aus der ganzen Welt. Ich könnte jede Woche zig Stränge gesponnenes und gefärbtes Garn verkaufen und dreißig Meter Stoff. Keine traditionellen Tartans für die Clans, nein, ganz tolle individuelle mit außergewöhnlichen Mustern und Farben. Und die meisten wollen immer wieder neue haben. Kleine Indie-Mode-Labels, die unsere handgewebten Stoffe für ihre Kollektionen verwenden …« June seufzte tief, stützte die Ellenbogen auf die Knie.
Milk stupste mit seiner Pfote gegen ihren Oberarm. »Das klingt doch gut. Was ist denn das Problem?«
»Aber das passt meinem feinen Herrn Großcousin nicht. Dem ist es ein Dorn im Auge, dass alle Tartans haben können. Auch wenn es natürlich nicht die geschützten Muster der Clans sind. Wenn es nach ihm ginge, wäre dem Rest der Welt jedes einzelne Karomuster verboten.«
Baahbara und Polly legten die Köpfe schief, ihre Hörner stießen dabei aneinander.
»Da ist er sich mit den Lynch-Brüdern einig: Schottland den Schotten. Und die anderen Stoffe, die verkaufen die Gebrüder Halsabschneider teuer in die ganze Welt. Stellt euch vor: Wenn es nach Gordon ginge, sollen die alles hier kriegen. Und euch gleich mit. Auf eure weiche Wolle sind sie besonders scharf. Northumberland Blackface, da kriegen sie gutes Geld dafür.«
Die Herde rückte näher an June heran.
»Das Land, euch Schafe und natürlich meine Färberezepte und den Webstuhl, den mein Großvater gebaut hat. Alles …«
Baahbaras Augen wurden schmal. »Das wird er nicht wagen …«
»Vorhin hat er die Lynch-Brüder angerufen. Hat den Deal klargemacht. Ich habe noch zwei Tage, dann wird der Vertrag unterzeichnet. Gleich hier.«
Milk setzte sich auf Junes Schoß auf.
»Dann wird unsere kleine Welt Teil von deren Weberei-Imperium. Eure Wolle wird einer vollautomatisierten Produktion mit computergesteuerten Webstühlen in großen Hallen zugeführt, zusammen mit der von tausenden anderen Schafen. Das geht alles viel schneller, als ich je arbeiten könnte.«
»Aber wer will denn das?«, blökte Baahbara empört.
»Kann Gordon denn überhaupt alles verkaufen?« Milk trippelte auf Junes Schoß.
