Smarte grüne Welt? - Tilman Santarius - kostenlos E-Book

Smarte grüne Welt? E-Book

Tilman Santarius

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Beschreibung

»Alles wird sich ändern!« Dieser prophetische Ruf aus der IT-Branche ist inzwischen zur gängigen Einschätzung über die Tragweite der Digitalisierung geworden. Doch was bringt die Digitalisierung für Ökologie und Gerechtigkeit? Führt sie uns in eine Smarte grüne Welt?, in der alle vom technologischen Fortschritt profitieren und wir zugleich schonender mit der Umwelt umgehen? Oder steuern wir in einen digitalen Kapitalismus, in dem sich Geld und Macht auf wenige konzentrieren und die Wirtschaft noch weiter über die planetaren Grenzen hinauswächst? Steffen Lange und Tilman Santarius analysieren, wie sich die Digitalisierung bisher auf Energie- und Ressourcenverbräuche, Arbeitsplätze und Einkommensverteilung ausgewirkt hat, und entwickeln Design-Prinzipien für eine nachhaltige Digitalisierung. Damit die Digitalisierung die Welt auch wirklich smarter macht.

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Steffen Lange
Tilman Santarius
SMARTEGRÜNEWELT?
Digitalisierungzwischen Überwachung,Konsum und Nachhaltigkeit
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Layout und Satz: Reihs Satzstudio, LohmarLektorat: Konstantin Götschel, oekom verlagKorrektorat: Silvia Stammen, MünchenUmschlagkonzeption: www.buero-jorge-schmidt.deUmschlaggestaltung: Elisabeth Fürnstein, oekom verlagE-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-453-1
Das dieser Veröffentlichung zugrunde liegende Vorhaben »Digitalisierung und sozial-ökologische Transformation – Rebound-Risiken und Suffizienz-Chancen digitaler Dienstleistungen« wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Rahmen der sozial-ökologischen Forschung (Nachwuchsgruppenförderung) unter dem Förderkennzeichen 01UU1607A unterstützt. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.
Inhaltsverzeichnis
1. Disruptionen für Nachhaltigkeit?
2. Triebkräfte der Digitalisierung
3. Mit Nullen und Einsen die Umwelt retten?
Die materielle Basis von Bits und Bytes
Dematerialisierung durch digitale Geräte?
Dezentrale Energiewende nur mit Digitalisierung
Quantensprung für den nachhaltigen Konsum
Big Data, Big Needs
E-Commerce: anything, anywhere, anytime
Verkehrsvermeidung durch Lieferdienste?
Smarte Mobilität – große Chancen, große Risiken
Industrie 4.0: Mit Effizienz zu mehr Wachstum
4. Mit Automaten und Algorithmen Gerechtigkeit schaffen?
Jobs: Is this time different?
Die Rückkehr der Diener
Chancen für Wirtschaftsdemokratie
Monopolisierung und Machtkonzentration
Polarisierung 4.0: Mit Ungleichheit zu weniger Wachstum
Trittbrettfahren beim Gemeinwohl
Die Illusion vom ›Guten Leben‹
5. Prinzipien einer zukunftsfähigen Digitalisierung
Zwischenfazit: Der Digitalisierung eine klare Richtung geben!
Leitprinzip 1: Digitale Suffizienz
Leitprinzip 2: Konsequenter Datenschutz
Leitprinzip 3: Gemeinwohlorientierung
6. Agenda für eine vernetzte Gesellschaft
Elemente einer transformativen Digitalpolitik
Was können Nutzer*innen tun?
Die Rolle der Zivilgesellschaft
7. Plädoyer für eine sanfte Digitalisierung
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Anmerkungen
Danksagung
Über die Autoren

Kapitel 1Disruptionen für Nachhaltigkeit?

»Alles wird sich ändern, es wird eine neue Welt!« Dieser prophetische Ruf aus der IT-Branche ist inzwischen zur gängigen öffentlichen Einschätzung der gesellschaftlichen Tragweite der Digitalisierung geworden. Unzählige Zeitungsartikel und Blogbeiträge zur Digitalisierung beginnen mit der Aussage, dass diese unser Leben von Grund auf umkrempeln wird. Und nicht nur das: Viele meinen, dass die digitalen Neuerungen ›disruptiv‹ seien. Mit einem Ruck würden sie Geschäftsfelder, Kommunikationsweisen, Herstellungsverfahren oder Konsumgewohnheiten erschüttern und umwälzen.1 Ja, sogar Kritiker*innen lassen oft keinen Zweifel daran, dass wir uns mitten in einer digitalen Revolution befinden.
Und tatsächlich: Noch nie war eine technologische Entwicklung so schnell und hat so tief in unseren Alltag hineingewirkt. In weniger als zehn Jahren sind die kleinen Maschinen, die jede Information über alles und nichts zu jeder Zeit an jedem Ort verfügbar machen, zum persönlichen Begleiter eines Großteils der Bevölkerung geworden. Die ›Smartphonisierung‹ unserer Lebenswelt wird allerdings nicht das Ende der Fahnenstange gewesen sein. Mit dem Internet der Dinge, Big Data, künstlicher Intelligenz, Smart Cities oder selbstfahrenden Autos werden derzeit Visionen einer Welt entworfen, die weitreichende Auswirkungen auf viele Lebens- und Wirtschaftsbereiche haben könnten. Noch wissen wir zwar nicht, was davon Wirklichkeit werden wird. Aber wir sollten uns darauf vorbereiten: Unsere Zukunft dürfte ganz maßgeblich von der Digitalisierung geprägt werden. Offen ist nur die Frage: Wird dies unsere Gesellschaft in eine positive Richtung verändern?
Die Entwickler*innen digitaler Technologien sind weder die Ersten noch die Einzigen, die große soziale Umgestaltungen anstreben. Seit Langem mahnen viele Nachhaltigkeitswissenschaftler*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, dass unser Wirtschaften und unser Konsum von Grund auf umgekrempelt werden müssen. Ihre Sorge: Die Tragfähigkeit unseres blauen Planeten könnte an den Rand des Kollapses geraten und soziale Gemeinschaften könnten riskant destabilisiert werden.2 An aufrüttelnden Nachrichten mangelt es dabei nicht: Der gefährliche Klimawandel schreitet unaufhörlich voran und könnte in den nächsten Jahrzehnten gravierende Folgen für Mensch und Natur nach sich ziehen.3 Zugleich kämpft ein wachsender Teil der Bevölkerung – nicht nur in den ärmsten Regionen der Welt oder in den südeuropäischen Krisenländern, sondern zunehmend auch hierzulande – um einen sicheren Arbeitsplatz, ein verlässliches Einkommen und einen würdevollen Platz in der Gesellschaft.4 Auch hierauf sollten wir vorbereitet sein: Wenn sich an den grundlegenden Strukturen unseres Wirtschaftens und unserer Lebensweisen nichts verändert, dürfte unsere Zukunft ganz maßgeblich durch ökologische und soziale Krisen geprägt werden.
Wie viele andere sind auch wir, die Autoren, der Meinung, dass eine »sozialökologische Transformation« nötig ist, um unsere Gesellschaft(en) zukunftsfähig zu machen.5 Das bedeutet, dass die Art und Weise, wie wir produzieren und konsumieren, grundlegend umgestaltet werden muss, um ökologisch nachhaltig und sozial gerecht zu werden. Wir brauchen also durchaus große Veränderungen, um die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern – aber mit einer klaren Zielsetzung: Sie sollen den sozialökologischen Wandel voranbringen! Kann das viel gepriesene ›Disruptionspotenzial‹ der Digitalisierung hierfür genutzt werden?
Unsere Generation steht vor zwei Herkulesaufgaben: Wir müssen die Welt mit 7,5 Milliarden Menschen gerechter machen und gleichzeitig die Umwelt vor dem Kollaps bewahren. Gerechtigkeit und Ökologie – beide Ziele sind zentral und müssen gleichrangig miteinander verschränkt werden. Denn wenn die Ungleichheit zunimmt und immer weniger Menschen eine Chance auf ein Leben in Würde erhalten, dann schrumpfen die Bereitschaft und das – auch finanzielle – Vermögen, in den Umbau unserer Wirtschaft und Gesellschaft zu investieren und nachhaltigere Formen von Produktion, Konsum, Mobilität und Wohnen auszuprobieren. Und wenn wiederum der Klimawandel, die Erosion fruchtbarer Böden, das Artensterben und die Übernutzung endlicher Ressourcen unseren Kindern und Enkel*innen die Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen entziehen, dann werden soziale Konflikte zunehmen und hierzulande wie global immer mehr Bevölkerungsgruppen von Arbeitsplatzverlusten, sozialer Ausgrenzung und Verarmung betroffen sein.
Auf den Punkt gebracht heißt das: Ohne Gerechtigkeit wird kein Umweltschutz zu machen sein, und ohne Umweltschutz lässt sich keine soziale Gerechtigkeit erzielen.6 Deshalb müssen die Treibhausgasemissionen aus fossilen Energieträgern – Kohle, Öl und Gas – in Deutschland und anderen Industrieländern in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren auf null (!) sinken, um einen fairen Beitrag zum weltweiten Klimaschutz zu leisten und die globale Erwärmung unter der gefährlichen Schwelle von 2 Grad, möglichst bei nur 1,5 Grad Celsius zu halten.7 Der Verbrauch von natürlichen Ressourcen muss in den nächsten zwanzig Jahren auf ein Zehntel sinken, damit die Regenerationsfähigkeit von Ökosystemen und Biosphäre gewährleistet bleibt.8 Zugleich darf sich die Schere zwischen Reich und Arm, also zwischen den höchsten und niedrigsten Einkommensgruppen der Gesellschaft, nicht noch weiter öffnen, im Gegenteil: Sie muss sich schließen, um sozialen Frieden und Demokratie dauerhaft zu sichern.9 Und bei alledem müssen alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können – sei es durch einen Job, der auskömmlich entlohnt wird, oder ein Einkommen jenseits der Erwerbsarbeit.
All diese Ziele sind derzeit noch sehr weit entfernt. Deutschland wie auch viele andere (Industrie-)Länder bewegen sich kaum in diese Richtung. Zwar wächst die Einsicht, dass Umwelt- und Sozialpolitik wichtig sind und dass schlichte Rezepte, wie etwa am Wirtschaftswachstum als Allheilmittel festzuhalten, fehlschlagen werden.10 Doch von einer großen gesellschaftlichen Transformation kann keine Rede sein. Die meisten Unternehmen setzen nach wie vor auf Wachstum statt auf grundlegende Transformation, und selbst Nachhaltigkeitspioniere können sich nur bedingt den Systemzwängen entziehen. Auch bleiben die meisten Menschen in ihren Konsumgewohnheiten gefangen oder nehmen die immer neuen Konsumangebote willig an. Derweil scheint sich das Gros der Politiker*innen mutlos in der politischen Mitte zu verstecken, während der Einfluss von Populist*innen wächst, die verbissen am überkommenen Status quo festhalten und zugleich unsere Demokratie untergraben. Große soziale oder ökologische Würfe stehen also auch seitens der Politik nicht in Aussicht. Wenn die öffentliche Diskussionskultur vergiftet wird, die Funktionsfähigkeit unserer demokratischen Institutionen leidet und weltweit Kriege und Konflikte zunehmen, dürfte ein friedlicher gesellschaftlicher Wandel in Richtung Nachhaltigkeit nur noch schwieriger werden.
Wir stehen also vor der Megaherausforderung des nachhaltigen gesellschaftlichen Wandels, während der Megatrend Digitalisierung sich in vielen Lebensbereichen Bahn bricht. Kann das disruptive Potenzial der Digitalisierung helfen, den dringend nötigen Wandel anzustoßen und die Welt von morgen zu einer sozial gerechteren und ökologisch nachhaltigeren zu machen? Immerhin, an ambitionierten Absichtserklärungen aus der IT-Branche und dem Silicon Valley mangelt es nicht.11 Facebook-Gründer Mark Zuckerberg möchte eine ›global community‹ aller Menschen schaffen, Elon Musk mit dem Tesla das umweltfreundliche Auto durchsetzen und Bill Gates, der Gründer von Microsoft, Armut und Hunger in der Welt beenden. Doch hält die Praxis dieser und anderer Konzerne ihrer Rhetorik stand? Welchen Einfluss auf Energie- und Ressourcenverbräuche, auf Arbeitsplätze und Einkommensverteilung haben die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), das Internet, die unzähligen Apps und digitalen Plattformen bisher? Und wie wird sich die immer vernetztere und schnellere Kommunikation von Menschen, Dingen und Maschinen künftig auf Ökologie und Fairness auswirken?
In diesem Buch suchen wir Antworten auf die Kernfragen, die für die Zukunft der Menschheit zentral werden könnten: Welchen Beitrag kann die Digitalisierung zum Schutz der Biosphäre und zur Verbesserung sozialer Gerechtigkeit leisten? Und wo liegen Chancen, wo liegen Risiken der zunehmenden Digitalisierung vieler unserer Lebens- und Wirtschaftsbereiche für eine soziale und ökologische Transformation der Gesellschaft?

Kapitel 2Triebkräfte der Digitalisierung

Einer der abgedroschensten Allgemeinplätze in Gesprächen über Digitalisierung ist der, dass Technik ›neutral‹ sei. Technik, so wird dann behauptet, sei weder gut noch schlecht, sondern ein rein sachliches ›Werkzeug‹, mit dem die allerunterschiedlichsten Ziele verfolgt werden könnten. Eine Technik sage nichts über die Zwecke aus, für die sie eingesetzt werde. Frei nach dem Beispiel: Ein Auto kann Verletzte ins Krankenhaus transportieren, als Panzerwagen im Krieg dienen oder aber für vergnügliche Spritztouren am Wochenende bereitstehen. Doch diese Sichtweise gilt höchstens für die abstrakte Erfindung von Technik, also für die rein theoretische Idee eines ›Automobils‹ oder ›der Digitalisierung‹. In der konkreten Ausgestaltung hingegen verkörpern technische Geräte immer auch die Interessen und Zwecke derer, die sie machen. Welche konkreten Formen Technik annimmt, wird von denen bestimmt, die sie designen, herstellen, verkaufen und ihre Rahmenbedingungen regulieren. Wie sähen Autos denn aus – ja, gäbe es sie überhaupt als Privatwagen oder nur als öffentliche Transportmittel? –, wenn sie nicht gemäß den Interessen der Automobilindustrie, Ölkonzerne, Tankstellenbetreiber, Straßenbaufirmen, Verkehrspolitiker*innen und natürlich der Lobby der Autofahrer*innen gestaltet worden wären?
So ist es auch mit der Digitalisierung, sprich: dem Einzug unzähliger Geräte und Anwendungen der Informations- und Kommunikationstechnologien (Hard- und Software) in unterschiedliche Lebens- und Wirtschaftsbereiche. Wie und wofür können sie genutzt werden? Und wofür nicht? Welche Bedürfnisse werden befriedigt, welche verletzt? Die Art, wie jedes einzelne digitale Gerät gestaltet und jede Anwendung programmiert ist, wie Suchmaschinen Auskunft geben oder wie das Internet als Ganzes geregelt ist, wird niemals ›neutral‹ sein. Daher entscheiden die Nutzer*innen auch keineswegs alleine, wem die Digitalisierung dient und nützlich ist. Die Gestaltung von Technik ist das Ergebnis eines andauernden Prozesses gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Und in diesem Prozess schlägt sich auch die unterschiedlich große Macht der beteiligten Akteure nieder.
Um zu verstehen, welche Anliegen die Digitalisierung besonders prägen, erweist sich ein Blick in ihre Geschichte als äußerst aufschlussreich. Er zeigt: Wer die Entwicklung von Computern und des Internets aus der Taufe gehoben hat, dessen Anliegen prägen bis heute die Gestaltung, Regulierung und Nutzung verschiedenster Formen der Digitalisierung. Unzählige Wissenschaftler*innen, Ingenieur*innen und Praktiker*innen haben über Jahrzehnte daran mitgewirkt, dass Informations- und Kommunikationstechnologien und das Internet so geworden sind, wie wir sie kennen. Doch blickt man auf die Anfänge zurück, dann können insbesondere drei Interessengruppen die Patenschaft der Digitalisierung für sich beanspruchen: Militär, Wirtschaft und Weltverbesserer.
Die Anfänge der Entwicklung und Vernetzung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien gehen auf das US-amerikanische Militär zurück. Fernmeldedienste sind nicht nur in der akuten Kriegführung, sondern auch zur Spionage gegen potenzielle Feinde oder zur Entwicklung automatisierter Waffensysteme von großer Bedeutung. Unmittelbar nach dem ›Sputnik-Schock‹ von 1957, als die Sowjetunion als erste Nation ins Weltall geflogen war und damit den ›Westen‹ das Fürchten gelehrt hatte, gründete das US-amerikanische Verteidigungsministerium die ›Advanced Research Projects Agency‹ (ARPA) und beauftragte sie, ein flexibles, möglichst autonom funktionierendes Informationsnetzwerk zu entwickeln. Es sollte ohne zentrale Kommandostelle auskommen, um im Falle eines Atomkriegs möglichst robust zu sein. Gut zehn Jahre später, 1969, wurde das ›Arpanet‹ als einer der wichtigsten Vorläufer des Internets in Betrieb genommen und ab 1975 auch in Militäroperationen eingesetzt.1 An der Entstehung wie auch Weiterentwicklung des Arpanets während der darauffolgenden Jahre waren zwar auch etliche Wissenschaftler*innen beteiligt, die nicht direkt dem Verteidigungsministerium unterstanden, aber der Großteil der Finanzierung für die Computerwissenschaften in den 1950er- bis 1970er-Jahren stammte aus dem Militärhaushalt.2 Auch die Forscher*innen und Techniker*innen, die lediglich aus Erkenntnisinteresse gearbeitet haben mögen oder für den hehren Traum, mittels Computerkommunikation die Welt zu verändern, verdankten ihre Aufträge und Ressourcen letztlich dem Kalten Krieg, der jahrzehntelang auf ein Wettrüsten und Wettauspionieren der amerikanisch dominierten NATO-Staaten gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten zielte.3
Wirtschaftliche Akteure begannen etwas später, Informations- und Kommunikationstechnologien für ihre Zwecke zu nutzen – und zu prägen. Während noch in den 1950er-Jahren der überwiegende Teil der Computer von militärischen und wissenschaftlichen Einrichtungen betrieben wurde, übernahm ab Mitte der 1960er-Jahre die Wirtschaft. Nun waren es vor allem Banken, Versicherungen und zunehmend auch große Industrien, die über die meiste Rechenkapazität verfügten.4 Bereits 1969 wurde die sogenannte ›speicherprogrammierbare Steuerung‹ erfunden, mit der Maschinen digital programmiert und betrieben werden konnten. Die industriellen Automatisierungsschübe in den folgenden Jahrzehnten erlaubten es den Unternehmen, in hohem Maße Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen und so ihre Produktion auszuweiten und Profite zu erhöhen. Spätestens seit den 1970er-Jahren wurde die Privatwirtschaft daher ein wichtiger Motor der Digitalisierung. Die zentralen Triebkräfte waren einerseits Telekommunikationsunternehmen wie etwa der nordamerikanische Konzern AT&T, die mit politischem Druck eine weitreichende Deregulierung des Telekommunikationsmarkts erwirkten und dafür sorgten, dass Computerdaten zwar dieselben Netze wie Telefondaten verwenden können, dabei aber kaum politisch reguliert werden. Andererseits trieben Hard- und Softwarefirmen wie IBM, Intel, Microsoft oder Oracle diese Entwicklung an. Diese stiegen bald in die Riege der kapitalstärksten Weltkonzerne auf und Firmenchefs wie Bill Gates oder Larry Ellison zählen bereits lange zu den reichsten Milliardären der Welt.5 In diesen großen transnationalen Unternehmen legten Systementwickler*innen die Grundlagen für die Ausbreitung von PCs und anderen digitalen Technologien sowie deren Vernetzung im Internet – deutlich bevor Tim Berners-Lee 1991 das World Wide Web erfand. Viele Unternehmen betrieben zudem Intranets. Beispielsweise verfügte Ende der 1980er-Jahre die Bank Citicorp über das damals größte private Intranet der Welt, um zwischen ihren 94 nationalen Standorten Währungsgeschäfte in Höhe von rund 200 Milliarden US-Dollar täglich abzuwickeln.6 Digitalisierung lieferte somit die Basis dafür, dass transnationale Konzerne ihre Produktions- und Wertschöpfungsketten quer über alle Kontinente aufspannen konnten. Die industriellen Automatisierungsschübe erlaubten es, Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen, um Profite zu erhöhen und die Produktion auszuweiten. Und dank Digitalisierung konnten Wissen und Informationen systematisch in Wert gesetzt und schrittweise zum lukrativsten Geschäftsfeld des 21. Jahrhunderts ausgebaut werden.7
Scheinbar konträr zum Kontroll- und Abhörinteresse des Militärs und zum Profitinteresse der Wirtschaft wurde die Digitalisierung von früh auf auch durch die ›alternative Szene‹ der 1960er- und 1970er-Jahre, insbesondere der amerikanischen Hippie- und Gegenkultur (counterculture), geprägt und gestaltet.8 Als Vorläufer der Studentenrevolution hat bereits das Free Speech Movement von 1964 für Meinungsfreiheit, Gerechtigkeit und gegen den ›militärisch-industriellen Komplex‹ demonstriert. Es kämpfte für eine Gesellschaft, in der die Technik zurück in die Hände der Menschen gelegt wird, anstatt den Menschen zu einem Rädchen in der industriellen Maschine zu machen.9 Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre suchte dann eine ganze Bewegung in den USA und weltweit nach alternativen Lebensformen, die im Einklang mit der Natur stehen sollten und sich gegen den freiheitsberaubenden Kapitalismus wandten. Diese Bewegung war nicht unbedingt technikfeindlich: Kleinmaßstäbliche, ›konviviale Technologien‹10 aller Art – auch zur Informationsbeschaffung – wurden als wichtige Werkzeuge für die Emanzipation und Unabhängigkeit vom Industriekapitalismus eingesetzt. Der Whole EarthCatalogue von 1968 etwa, der Kommunard*innen Informationen und Instrumente zur Selbstversorgung an die Hand gab, gilt als wichtiger analoger Vorläufer des Internets.11 Die Werte und Ideale der ›Alternativ-Szene‹ prägten die ›Computer-Szene‹ von Anfang an mit: Etliche IT-Firmen wurden von langhaarigen Hippies in Hinterhöfen hochgezogen. Steve Jobs gründete Apple als ›countercultural computer company‹. Und es wuchs eine ganze Generation von Hacker*innen heran, die einer strengen normativen Ethik folgten.12 Auch wenn manche von ihnen eher individualistische oder libertäre Ziele verfolgten, sahen und sehen viele Hacker in der Digitalisierung die Chance, unterdrückende Hierarchien abzubauen, ausbeuterische Konzerne lahmzulegen und den destruktiven Kapitalismus durch eine umweltfreundliche und gerechte Ökonomie zu ersetzen.13 Es nimmt nicht wunder, dass sowohl Spionageversuche von Militär und Geheimdiensten als auch die digitalen Giganten – allen voran der Konzern Microsoft – in der digitalen Alternativszene von jeher Feindbilder waren und als Abtrünnige bekämpft wurden.
Mit Militär, Wirtschaft und alternativer Szene prägten also höchst unterschiedliche Gruppen die frühe Entwicklung digitaler Technologien. Daher stellt sich die Frage: Wes Geistes Kind ist die Digitalisierung geworden? Sind es Bespitzelung und Kontrolle, weitere Effizienz- und Profitsteigerungen für den globalen Kapitalismus oder die Stärkung von Selbstbestimmung, sozialer Kooperation und einer nachhaltigen Ökonomie? Bis heute begleiten diese drei Großthemen die Debatten über jede neue Welle der Digitalisierung. Mitunter ist es schwierig auszumachen, welche Interessen im Vordergrund stehen. Drei aktuelle Beispiele verdeutlichen dies.
Derzeit werden zahlreiche Smart-Home-Systeme entwickelt, mit denen man etwa die Heizung intelligent steuern kann. Das spart Energie und ist daher gut fürs Klima. Doch werden viele dieser Systeme so gestaltet, dass die Sensoren in der Wohnung und die vernetzten Geräte minutiöse Bewegungsprofile der Nutzer*innen erstellen und intimste persönliche Informationen über ihr Verhalten sammeln – was beinahe der Kontrolle eines Straftäters durch eine elektronische Fußfessel gleichkommt. Geht es bei Smart-Home-Systemen also um das Energiesparen, den Abhörwahn von Geheimdiensten oder das Interesse von Unternehmen, nicht nur neue Elektronikprodukte, sondern auch noch die Nutzerdaten zu verkaufen?
Beispiel zwei: Dank künstlicher Intelligenz sollen Roboter und digitale Assistenten bald auch in vielen noch nicht automatisierten Bereichen menschliche Tätigkeiten ersetzen können. Befreit dies Menschen von mühevoller Arbeit, hebt ehemalige ›Klassenunterschiede‹ auf und verbessert die Möglichkeiten eines selbstbestimmten, kreativen Arbeitens für alle? Oder führt es zu massenweisen Entlassungen und einer Umverteilung des Einkommens der dann arbeitslosen Bevölkerung hin zu jenen, die die Roboter entwickeln und besitzen?
Und ein drittes Beispiel: Mithilfe der Blockchain-Technologie, so versprechen es alternative Kreise,14 könnten Zwischenhändler jeglicher Art wie auch (Zentral-)Banken und Handelskonzerne überflüssig gemacht und die Wirtschaft radikal demokratisiert werden. Doch erstaunlicherweise sind es gerade internationale Banken und andere Finanzinstitutionen, die massiv in den Ausbau von Bitcoins und anderen Blockchain-Anwendungen investieren. Wird diese Technologie den Kapitalismus also tatsächlich transformieren – oder aber seine Effizienz optimieren und den globalen Kapitalverkehr noch weiter beschleunigen?
In diesem Buch werden wir uns solchen und vielen weiteren Fragen vertieft widmen. Die Antworten hängen davon ab, welche Akteure mit welchen Interessen die jeweiligen digitalen Technologien und Anwendungen entwickeln, gestalten und nutzen. ›Neutral‹ sind sie jedenfalls kaum, sondern oft von Widersprüchen gekennzeichnet. Immer wieder steht daher die entscheidende Frage im Raum: Dient die Digitalisierung der Überwachung, der Kommerzialisierung oder der gesellschaftlichen Transformation in Richtung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit?
Für jedes der drei Anliegen gibt es sowohl leidenschaftliche Befürworter*innen als auch heftige Kritiker*innen. Manche sehen in der Digitalisierung nach wie vor einen Meilenstein für die Meinungsfreiheit und demokratische Willensbildung.15 Andere befürchten, sie führe geradewegs in eine ›smarte Diktatur‹, die unsere Privatsphäre und Demokratie mit Füßen trete.16 Die Bundesregierung betrachtet die Digitalisierung der Produktion und des Konsums hin zu einer ›Industrie 4.0‹ als Königsweg, um das Wirtschaftswachstum anzufachen, Arbeitsplätze zu sichern und Einkommen zu steigern.17 Etliche kritische Forscher*innen warnen jedoch davor, binnen weniger Jahrzehnte drohe der Hälfte der Menschen Arbeitslosigkeit und Prekarisierung.18 Schließlich meinen einige, die Digitalisierung sei ein mächtiges Werkzeug, um Klima und Ressourcen zu schützen und eine kollaborative Gemeinwirtschaft aufzubauen.19 Andere wiederum befürchten, durch Digitalisierung könne der kapitalistische Raubbau an der Umwelt in Form einer ›intelligenten Naturbeherrschung‹ noch forciert werden.20
Bei allen Ansichten ist auffällig, dass die Hoffnungen und Befürchtungen gerne zwischen Hype und Hysterie oszillieren. Kritiker*innen zeichnen apokalyptisch anmutende Szenarien, die alle nur erdenklichen Übel pauschal der Digitalisierung zuordnen. Technophile Utopist*innen rufen dagegen vorauseilend den Segen des ›next big thing‹ der digitalen Revolution aus, bevor überhaupt klar ist, ob sich dieses je durchsetzen wird und wer es eigentlich haben möchte. Ja, manches Mal hat man sogar den Eindruck, dass mit dramatischen Schreckensmeldungen letztlich doch eine Ehrfurcht vor der nächsten Welle der Technologisierung unserer Lebenswelten vorbereitet werden soll.21 Vielleicht kommt alles ja weder so schlimm noch so wohlfeil daher, wie es herausposaunt wird, sondern dient im Wesentlichen der Fortsetzung des – leider gar nicht nachhaltigen – Status quo?
Am Ende können sich alle Warnungen und Hoffnungen als richtig oder als falsch erweisen, denn es kommt darauf an, was unsere Gesellschaft und jede*r Einzelne aus der Digitalisierung macht und welche Ausprägungen digitaler Technologien wir im Einzelfall haben und nutzen wollen. Für die Frage, ob sich die Digitalisierung eher Richtung Überwachung, Kommerzialisierung oder Nachhaltigkeit entwickeln wird, ist es besonders relevant, wie die politischen und gesellschaftlichen Weichen gestellt werden. Weder Politik noch Forschung oder Zivilgesellschaft haben begonnen, die Agenda einer transformativen Digitalpolitik zu besetzen. Wir meinen: Es ist höchste Zeit dafür!
In den folgenden Kapiteln analysieren wir zunächst die Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Umwelt – für die Reduktion von Energie- und Ressourcenverbräuchen, der Treibhausgasemissionen und des ökologischen Umbaus der Produktions- und Konsumweisen (Kapitel 3). Danach untersuchen wir, wie Digitalisierung Fragen der ökonomischen Gerechtigkeit beeinflusst – Arbeitsplätze, Machtkonzentration, Einkommensgerechtigkeit und Wirtschaftswachstum (Kapitel 4). Auf Basis der Ergebnisse dieser Analysen entwickeln wir drei Leitprinzipien, auf die eine umwelt- und gerechtigkeitsorientierte Digitalisierung ausgerichtet werden sollte (Kapitel 5). Und schließlich erörtern wir, was aus diesen Leitprinzipien für die Politik, für Nutzer*innen und für die Zivilgesellschaft folgt (Kapitel 6): Mit welchen Rahmenbedingungen und Steuerungsinstrumenten kann die Digitalisierung gelenkt und flankiert werden, welche Konsum- und Verhaltensmuster können sie begünstigen und welche Rolle kann eine kritische Zivilgesellschaft spielen, damit die Digitalisierung zu einer sozialökologischen Transformation der Gesellschaft beiträgt?

Kapitel 3Mit Nullen und Einsen die Umwelt retten?

Die größte Bibliothek der Welt ist die British Library in London. Dass die umfassendste Sammlung von Büchern, Zeitschriften, Tonträgern, Karten, Gemälden und vielem anderen nach wie vor in England steht, zeigt, welche lange Tradition die Aufbewahrung physischer Informationsgüter hat. Die Geschichte der Bibliothek reicht bis 1753 und damit in die Zeit des Ersten Britischen Empires zurück. Die Sammlung umfasst derzeit circa 200 Millionen Medien, davon 25 Millionen Bücher, und befindet sich auf einem Gelände von 111.500 Quadratmetern in einem der größten Gebäude des Vereinigten Königreichs. Würde man die komplette Anzahl der Bücher als E-Books speichern, beliefe sich dies auf ein Datenvolumen von geschätzt 65 Terabyte. Da eine 3,5-Zoll-Festplatte heute bereits 12 Terabyte Speicherplatz bietet, könnten wir also die gesamte Länge der rund 625 Kilometer Bücherregale der British Library in drei externen Festplatten auf einem kleinen Beistelltisch neben unserem Laptop platzieren. Auf den ersten Blick scheint es trivial: Digitalisierung hat das Potenzial, in enormem Umfang physische Ressourcen zu sparen.
Dementsprechend ist die Hoffnung in die Digitalisierung als dem Retter der ökologischen Probleme vielerorts groß, zum Beispiel im Bundeswirtschaftsministerium: »Durch die Digitalisierung wird die deutsche Wirtschaft nachhaltiger, da sie erheblich zu Ressourcenschonung und Energieeffizienz beiträgt.«1 Grund für diese Erwartung ist die Annahme, dass die Digitalisierung die Produktivität von natürlichen Ressourcen und Energie enorm steigern werde.2 Laut Studien einiger Unternehmensberatungen und der Global e-Sustainability Initiative – einem weltweiten Zusammenschluss großer Telekommunikations- und IT-Unternehmen – können mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien bis zum Jahr 2030 angeblich sagenhafte 20 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen eingespart werden.3 Damit würde die Digitalisierung einen deutlich größeren Beitrag leisten als alle bisherigen Gesetze der Klimapolitik!
Ob die Annahmen der Studie plausibel sind, ist allerdings fraglich; wir werden darauf im Folgenden zurückkommen. Neben einigen großen Chancen, etwa bei der Energiewende oder dem öffentlichen Verkehr, gibt es in anderen Bereichen, etwa beim Konsum oder in der Industrie, Fragezeichen, ob Digitalisierung wirklich zu ökologischer Nachhaltigkeit beitragen kann. In diesem Kapitel gehen wir den Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Verringerung des Energie- und Ressourcenverbrauchs sowie für die nachhaltige Transformation unserer Produktions- und Konsumweisen nach. Hierbei betrachten wir fünf Bereiche:
Erstens fragen wir nach der materiellen Basis all der Geräte und Infrastrukturen vom Smartphone bis zum Serverpark, die den virtuellen und immateriell erscheinenden digitalen Anwendungen zugrunde liegen. Lassen sich durch den Ersatz physischer Produkte Material und Treibhausgasemissionen einsparen – etwa, wenn wir Bücher auf einem E-Book-Reader lesen oder Filme streamen, statt uns ein Taschenbuch oder eine DVD zu leihen oder zu kaufen? Wir werden zeigen, dass ein Vergleich der Ökobilanzen digitaler und konventioneller ›analoger‹ Dienstleistungen oft keine signifikanten Unterschiede zeigt. Spannend ist allerdings die Frage, wie sich die Bilanz verändert, wenn Rebound-Effekte einberechnet werden.
Zweitens gehen wir der Frage nach, wie die Digitalisierung dabei helfen kann, bei der Herstellung von Strom und Wärme in Zukunft vollständig auf Kohle, Öl und Gas zu verzichten und eine stabile Versorgung aus erneuerbaren Energieträgern sicherzustellen. Hier zeigt sich, dass die großen ökologischen und sozialen Chancen eines dezentralen, demokratischen Energiesystems erst mithilfe der Digitalisierung genutzt werden können. Eine der zentralen Herausforderungen besteht hier im Schutz der Privatsphäre, den es durch entsprechende Maßnahmen sicherzustellen gilt.
Das dritte große Feld, dem wir uns zuwenden, ist unser Konsum. Einerseits beleuchten wir, welche Chancen sich für nachhaltige Konsumweisen auftun, etwa für Sharing, ›Do it yourself‹ oder den Verzicht auf Neukauf. Andererseits werden wir zeigen, wie Digitalisierung durch personalisierte Werbung und omnipräsente Shoppingoptionen dazu beiträgt, das bestehende, hohe Konsumniveau noch weiter zu steigern.
Verbunden mit steigendem Konsum ist viertens eine Zunahme des Verkehrs, die erst durch die Digitalisierung ermöglicht wird und durch selbstfahrende Privatautos auf die Spitze getrieben werden könnte. Wir zeigen aber auch, wie – richtig gelenkt – eine Digitalisierung des nutzungsgeteilten und öffentlichen Verkehrs enorme ökologische Potenziale für eine Verkehrswende birgt.
Fünftens blicken wir auf das produzierende Gewerbe, in dem die Digitalisierung im Konzept der Industrie 4.0 aufgeht. Wir beleuchten, welche Chancen für Material- und Energieeffizienzsteigerungen darin liegen, zeigen aber auch, wie neues Wachstum zu Rebound-Effekten führen und so Umweltentlastungen zunichtemachen könnte.
Selbstverständlich haben all diese Facetten der Digitalisierung nicht nur ökologische Auswirkungen. Genau die gleichen Entwicklungen beeinflussen, welche Arbeitsplätze entstehen und verloren gehen, wie sich die Einkommen (um-)verteilen und wer wirtschaftlich dabei gewinnt oder verliert. Diesen Fragen widmen wir uns in Kapitel 4. Zunächst also zu den ökologischen Auswirkungen der Digitalisierung. Wir beginnen mit den technischen Geräten, die aus unser aller Leben inzwischen kaum mehr wegzudenken sind: Smartphones, PCs, Tablets und mehr.

Die materielle Basis von Bits und Bytes

Denkt man an die ökologische Seite der Digitalisierung, könnte man zunächst an den Stromverbrauch all der Geräte denken, die in unser Leben Einzug gehalten haben. Vor einigen Jahren wurde in den Medien diskutiert, ob eine einzelne Google-Suche womöglich mit vier Watt pro Stunde so viel Strom verbrauche wie eine Energiesparlampe in einer Stunde; Google selber verlautbarte, es seien ›nur‹ sechs Minuten (circa 0,4 Wattstunden).4 Manch anderer mag sich fragen, wie viel Strom der Computer und die Datenübertragung fressen, während man einen Film streamt. Zu solchen Beispielen kommen wir in den folgenden Abschnitten, denn diese spiegeln einen Großteil der bestehenden Statistiken und Forschungen zum Thema wider. Was dabei jedoch vergessen wird: Die digitalen Geräte, Infrastrukturen und Anwendungen erfordern selbstverständlich schon in ihrer Herstellung Ressourcen und Energie. Und am Ende müssen die – oft noch dazu kurzlebigen – Geräte als Elektroschrott auch wieder entsorgt werden.5
Die materielle Basis möchten wir beispielhaft am Smartphone verdeutlichen, dass mit der Markteinführung des ersten iPhone im Jahre 2007 seinen Siegeszug in die Hosentaschen angetreten hat – jedenfalls beim reicheren Teil der Weltbevölkerung. Jedes einzelne Gerät ist leicht, klein und mit einer funkelnden Oberfläche versehen. Anders als bei stinkenden Lokomotiven, schweren Autos oder lärmenden Flugzeugen – den Schlüsseltechnologien vorangegangener Epochen der Industrialisierung – scheint der Umweltverbrauch für jedes einzelne Gerät kaum ins Gewicht zu fallen: Nur 5 Gramm Kobalt, 15 Gramm Kupfer, 22 Gramm Aluminium und etliche andere Ressourcen befinden sich durchschnittlich in einem Smartphone. Aber es kommt auf die Gesamtmenge an! So wurden in nur zehn Jahren weltweit über sieben Milliarden Smartphones verkauft. Insgesamt wurden dabei 38.000 Tonnen Kobalt, 107.000 Tonnen Kupfer, 157.000 Tonnen Aluminium und Tausende Tonnen weiterer Materialien verbaut.
Für Smartphones werden zwar bei den meisten metallischen Rohstoffen nur ein bis drei Prozent ihrer globalen Primärproduktion verbraucht (bei Kobalt und Palladium sind es rund zehn Prozent).6 Doch Smartphones sind ja nur ein Device unter vielen. Im Zuge der Digitalisierung werden mannigfaltige weitere Geräte wie etwa PCs, Tablets oder MP3-Player und andere Wearables produziert. Hinzu kommen Aufbau und Betrieb der digitalen Infrastrukturen: all die Datenkabel, Server oder Rechenzentren, die wir nie zu sehen bekommen, die uns aber erst den Zugang zum Internet ermöglichen. Dies alles verbraucht ebenfalls Millionen Tonnen an Ressourcen. Beispielsweise werden in Elektronikprodukten 25 Prozent des weltweit gewonnenen Silbers verbaut. Neben Silber stammen auch etliche andere Rohstoffe der Elektronikindustrie wie Kobalt, Tantal, Platin oder Palladium aus Ländern, in denen Menschen unter unwürdigsten Bedingungen arbeiten müssen und wo sie hohen Gesundheits- und Sicherheitsrisiken ausgesetzt sind. Ganz zu schweigen von den meist miserablen Löhnen, die dort bezahlt werden.7 Auch landen die meisten digitalen Geräte am Ende in Form von Elektroschrott wieder in ärmeren Weltregionen, wo Gesundheitsfürsorge, Arbeitsschutz und wirtschaftliche Gerechtigkeit kleingeschrieben werden und lokale Umweltverschmutzung durch nicht sachgerechte Entsorgung droht. Allein im Jahr 2015 summierte sich die Masse ausrangierter Elektrogeräte auf 42 Megatonnen weltweit, und schon für 2020 werden rund 52 Megatonnen prognostiziert.8 Dieser Berg von Elektroschrott entspricht dann in etwa der Größe eines Schrotthaufens aller 46 Millionen Pkws, die auf Deutschlands Straßen derzeit unterwegs sind.
Genau wie das Smartphone laufen alle digitalen Geräte und Infrastrukturen nur, wenn der Strom fließt. Zunächst gilt das für deren Herstellung. Allein der Energiebedarf für die Produktion der sieben Milliarden Smartphones – circa 250 Terawattstunden – summiert sich auf die stattliche Größenordnung der jährlichen Stromnachfrage von Ländern wie Schweden oder Polen.9 Was die Nutzung der digitalen Endgeräte betrifft, gibt es zunächst eine erfreuliche Nachricht: Sie werden laufend energieeffizienter. Aber weil die Prozessoren immer schneller und die Rechenleistung und auch die Bildschirme immer größer werden, verpufft dieses Einsparpotenzial. So zeigt sich über die lange Dauer der folgende Zusammenhang: Die Rechnerleistung pro Kilowattstunde hat sich alle 1,5 Jahre verdoppelt.10 Aber zugleich ist die Leistungsfähigkeit der Prozessoren,11 aber auch der Energieverbrauch der Bildschirme und der Stromverbrauch der Datenzentren deutlich angestiegen. Die Digitalisierung ist daher ein idealtypisches Beispiel für den sogenannten ›Rebound-Effekt‹:12 Technische Effizienzsteigerungen führen zu Mehrverbräuchen und damit ist das Potenzial für Einsparungen dahin (siehe Abbildung 1).13
Abbildung 1: Energieverbrauch pro Rechenleistung und Prozessorkapazität (Erläuterung im Abbildungsverzeichnis).
Dennoch werden viele Nutzer*innen nicht das Gefühl haben, dass das Laden ihres Handyakkus und der Betrieb ihres Routers global ins Gewicht fallen. Und tatsächlich ist der Stromverbrauch in der Nutzungsphase vieler digitaler Geräte rückläufig. Doch erstens erfordert die Herstellung der neuen, immer leistungsfähigeren Geräte mehr Energie – ein weiterer Grund, der den Einsparpotenzialen in der Nutzungsphase zuwiderläuft.14 Und zweitens kommen immer mehr Rechenkapazität, Speicherplatz und Dienstleistungsangebote aus der ›Cloud‹. Mit dem eigenen Smartphone nehmen wir auch die Rechenleistung von Datenzentren in Anspruch und verlagern damit einen Teil unseres Stromverbrauchs zu den Anbietern der Apps und digitalen Dienstleistungen. Der Stromverbrauch aller Informations- und Kommunikationstechnologien beläuft sich bereits heute auf rund 10 Prozent der weltweiten Stromnachfrage (in Deutschland auf circa 8 Prozent) und könnte bis 2030 auf 30 oder gar 50 Prozent ansteigen (siehe auch Abbildung 3 unten).15 Der enorme Stromverbrauch lässt sich mit einem eindrücklichen Bild veranschaulichen: Wenn wir die rund 2.500 Terawattstunden Stromverbrauch aller IKT-Geräte mithilfe von stromerzeugenden Heimtrainern (›Pedelecs‹) decken wollten, müssten alle gut sieben Milliarden Erdenbürger*innen in drei aufeinanderfolgenden Achtstundenschichten rund um die Uhr in die Pedale treten.16 Immerhin, da damit ja der Strom fürs Internet gedeckt würde, könnten wir währenddessen unsere Smartphones und Tablets benutzen.
Entsprechend des globalen Strommixes wird das Gros der Stromnachfrage für Informations- und Kommunikationstechnologien aus klimaschädlichen Kohlekraftwerken bedient.17 Zwar gehen Apple, Google und einige andere Unternehmen mit gutem Beispiel voran und beziehen für ihre Server größtenteils Strom aus erneuerbaren Energien.18 Der Anteil regenerativ erzeugten Stroms an der gesamten Stromnachfrage von IKT ist jedoch immer noch gering. Daher gilt: Je mehr wir in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen auf digitale Lösungen setzen, die ohne Strom nicht funktionieren, desto größer wird die Herausforderung, die Versorgung der Welt mit 100 Prozent erneuerbarer Energie zu realisieren. Zugleich werden wir im Folgenden sehen, dass es unbedingt einer erheblichen Digitalisierung im Energiesystem selbst bedarf, um eine Energiewende hin zu einer Vollversorgung durch erneuerbare Energien ins Werk zu setzen (siehe Abschnitt ›Energiewende‹).
Abbildung 2: CO2-Fußabdruck von Smartphones (Erläuterung im Abbildungsverzeichnis).
Mit Blick auf den Energie- und Ressourcenverbrauch müssen wir konstatieren: In ihrer materiellen und energetischen Basis ist die Digitalisierung bislang alles andere als nachhaltig. Ganz zu schweigen davon, dass manche digitale Geräte nur eine kurze Lebensdauer aufweisen, weil Sollbruchstellen eingebaut wurden oder sie schnell wieder out sind.19 Damit kommen wir zur Frage, wie die ökologische Wirkung der digitalen Geräte während ihrer Nutzungsphase aussieht. Tragen sie in einem solchen Umfang zu einer Dematerialisierung bei, dass der gesamtgesellschaftliche Energie- und Ressourcenverbrauch auf ein nachhaltiges Niveau sinkt? Und rechnen sich diese Einsparungen auch noch, wenn man die Energie- und Ressourcenverbräuche der Geräteherstellung mit in die Bilanz einbezieht? Dieser Frage widmen wir uns in den nächsten Abschnitten.

Dematerialisierung durch digitale Geräte?

Allem Anschein nach dematerialisiert die Digitalisierung unsere Welt: Schallplatten und CD-Regale verschwinden aus unseren Wohnungen, seit wir quasi alle Platten der Welt streamen können. Die renommierte Brockhaus-Enzyklopädie, für die nicht wenige früher ein ganzes Regalbrett reservierten, wird seit 2014 nicht mehr als gedruckte Buchreihe vertrieben. Auch die Tageszeitung lesen immer weniger Menschen auf Papier, sondern informieren sich online. Und wann haben Sie sich zuletzt per Autoatlas oder Falk-Stadtplan orientiert statt mit einem Onlinekartendienst? Die Erwartung, dass wir durch Digitalisierung unterm Strich den Ressourcenverbrauch verringern können, speist sich aus der haptischen Erfahrung, die uns die Wunderwelt der kleinen technischen Geräte vermittelt: Wie viele Anwendungen können wir mit nur einem Laptop ausführen oder sogar einem kleinen Smartphone, das in die Westentasche passt? Lassen sich nicht allein dadurch Ressourcen einsparen, weil nun zig materielle Dinge und Geräte durch ein Smartphone, Tablet oder ein anderes omnipotentes Handheld ersetzt werden können?
Was zunächst simpel klingt, ist tatsächlich nicht so leicht zu beantworten und erfordert umfangreiche ökologische Bilanzierungen. Nähern wir uns dieser Fragestellung mit dem Beispiel des E-Book-Readers. Bilder aus der Werbung suggerieren, dass die Herstellung zig kiloschwerer Bücher verzichtbar wird, wenn wir uns nur einen kleinen, schlanken E-Book-Reader anschaffen. Das Fällen der Bäume, die fürs Papier dran glauben müssen, die Chemikalien für Druckfarbe, Einband und Bindung, der Energie- und Ressourcenverbrauch bei Logistik und Handel und nicht zuletzt die Fahrt zum Buchladen oder der Transport durch den Onlinehändler zur Haustüre – das alles fällt weg.
Um zu wissen, ob der E-Reader ökologisch wirklich vorteilhaft ist, müssen diese Effekte der Buchproduktion in einer Ökobilanz mit denen der Herstellung des E-Readers verglichen werden. Elektronische Geräte zu produzieren, ist offensichtlich um ein Vielfaches energie- und ressourcenintensiver als der Druck eines einzelnen Buches. So entfallen auf die Herstellung eines meist unter 200 Gramm schweren E-Readers circa 15 Kilogramm unterschiedlichste Materialien (vor allem nicht erneuerbare Metalle und seltene Erden), 300 Liter Wasser und 170 Kilogramm des Klimagases Kohlendioxid.20 Doch sind nicht allein die Mengen der In- und Outputstoffe entscheidend, sondern auch ihre Umweltwirkungen. So bestehen zwischen E-Reader und Buch vor allem bei der Toxizität der Materialen und Herstellungsprozesse große Unterschiede. Zwar weist auch die Papierindustrie in vielen Ländern (noch) sehr negative Umweltwirkungen auf, etwa wenn Chlor oder Säuren örtliche Gewässer vergiften. Aber auch die Umweltwirkungen der Elektronikindustrie sind mitunter verheerend: In E-Readern und anderen IT-Produkten finden sich unter anderem bromierte Brandschutzmittel, Phthalate, Beryllium und zahlreiche andere chemische Stoffe, die stark gesundheits- und umweltschädigend sind.21 Ganz zu schweigen von sozialen Folgen, wie den teils miserablen Arbeitsbedingungen, unter denen Kobalt, Palladium, Tantal und andere Ressourcen digitaler Geräte in Diktaturen wie der Republik Kongo oder in anderen Ländern des globalen Südens zunächst gewonnen – und am Ende ihrer Lebensdauer dann als umweltbelastender Elektroschrott wieder entsorgt werden.22
Trotz alldem kann es sein, dass der E-Reader besser abschneidet als das Buch.23 Letztlich hängt dies von zwei Faktoren ab: Wie viele Bücher werden auf dem E-Reader über seine Lebensdauer gelesen – und wie viele Personen teilen sich einen analogen Schmöker? Damit sich die hohen Umweltkosten der Herstellung des Readers ökologisch amortisieren, muss eine bestimmte Anzahl von Büchern auf einem E-Reader gelesen werden. Dies ist nach 30 bis 60 Büchern der Fall – je nach Dicke des Buchs und je nach Umweltindikator.24 Liest man also weniger als diese Anzahl an Büchern auf dem Reader, ist es besser, die Papierform zu wählen. Geht man darüber hinaus, ist jedes weitere Buch auf dem Reader ökologisch besser als sein analoger Counterpart. Ferner ist die Art der Nutzung entscheidend, auch nachdem der Punkt überschritten wurde, an dem sich der E-Reader ökologisch amortisiert hat und dann nur noch der Energieverbrauch und die CO2-Emissionen ausschlaggebend sind: Wird davon ausgegangen, dass jemand ein Buch erwirbt und niemand anderen reinschauen lässt, dann stellt sich die Datei auf dem Reader rund fünfmal energiesparender dar, als der Regalbieger.25 Der Vorteil schwindet indessen, wenn sich mehrere Personen ein Buch teilen. Ob nun Buch oder E-Reader besser ist, entscheidet sich also für jede Nutzerin und jeden Nutzer individuell. Doch insgesamt ist fraglich, ob alle verkauften E-Reader, bevor diese gegebenenfalls kaputtgegangen oder technisch schon wieder veraltet sind, durchschnittlich so intensiv genutzt werden, dass in Summe ein ökologischer Nutzen erzielt wird.26
Auch für andere Produkte oder Dienstleistungen gibt es Studien, die Analoges mit Digitalem vergleichen, beispielsweise den Print- mit dem Onlinemedienkonsum.27 Wir wenden uns nun dem Musikhören und Filmeschauen zu, denen Mediennutzungsanalysen zufolge viele Nutzer*innen deutlich mehr Zeit widmen als dem Buchlesen.28 Für den Musikkonsum gab es bereits früh Studien, die das Potenzial der Dematerialisierung durch Digitalisierung aufgezeigt haben.29 Greifen wir hierbei einen Umweltindikator heraus, nämlich die CO2-Bilanz: Je nach Annahmen spart das Herunterladen von MP3s gegenüber einer CD zwischen ein und zwei Kilogramm CO2 pro Album – stark abhängig vom Transportmittel, mit dem die Käufer*innen der CD ins Geschäft einkaufen fahren.30 Bei der Produktion eines iPods fallen circa 70 Kilogramm CO2 an.31 Daraus folgt: Ab rund 50 heruntergeladenen Alben – circa 600 Songs – lohnt es sich aus Sicht des Klimaschutzes, einen MP3-Player anzuschaffen. Aber ist es eigentlich angemessen, in solchen Berechnungen die Emissionsbilanz des CD-Players mit jener des iPods zu vergleichen? Prinzipiell natürlich schon. Aber zugleich ist es so, dass allerorten die Schallplattenspieler, Kassettenrekorder, Kompaktstereoanlagen, Walkmans, Gettoblaster, CD-Player, Discmans, Digital-Audio-Tapes, Minidiscplayer und all die anderen Zeugnisse mehr oder minder flüchtiger unterhaltungselektronischer Epochen ja noch funktionstüchtig in den Kellern und auf den Dachböden herumstehen – und nun MP3-Player obendrein dazukommen. Und wenn dann noch berücksichtigt wird, dass der Musikkonsum über die Jahre deutlich zugenommen hat – unter anderem auch, weil Digitalisierung überall und jederzeit Zugang ermöglicht und zugleich die finanziellen Kosten für die Hörer*innen senkt –, dann kann die Musikindustrie insgesamt wohl keine Dematerialisierung vermelden.32
Inzwischen wandern auch die MP3-Player schon wieder Richtung Mottenkiste. Zum einen wird Musik heute meist übers Handy gehört, zum anderen ist Streaming angesagt. Aufs Streaming entfallen heute sagenhafte 70 Prozent des weltweiten Datenaufkommens33 – für Musik, aber vor allem auch für Videos. Die Daten fließen etwa für das legale und halblegale Streaming von Kino- und Fernsehfilmen, über Plattformen wie Youtube, Apps wie Instagram, Musical.ly und viele andere sowie in hohem Ausmaß auch für pornografische Videos. Betrachten wir nun, ob durch das Streaming von Filmen die Treibhausgasemissionen verringert werden können. Eine Studie aus den USA gelangt zu dem Ergebnis, das Onlinestreaming eines neunzigminütigen Films spare rund ein Drittel CO2-Emissionen ein, wenn es mit dem Ausleihen einer DVD verglichen wird, die eine Nutzerin mit dem Pkw von einer 17 Kilometer entfernten Videothek abholt (das entspricht der Durchschnittsentfernung amerikanischer Haushalte von der nächstgelegenen Videothek). Indessen errechnet die Studie eine identische Emissionsbilanz, wenn Streaming mit einem postalischen DVD-Verleih verglichen wird.34 Andere Untersuchungen zeigen, dass die missliche Bilanz des Streamings immerhin verbessert werden kann, wenn die Geräte neuesten Effizienzstandards entsprechen und die Serverparks zunehmend mit erneuerbaren Energien betrieben werden, was für die Zukunft zu hoffen wäre.35
Doch allen Voraussagen nach wird zugleich die Datenmenge fürs Streaming – und dabei vor allem fürs mobile Streaming unterwegs – in Zukunft weiter deutlich steigen; allein von 2015 bis 2020 könnte sie sich global verdrei- bis vervierfachen.36 Dieses Wachstum dürfte die Einsparpotenziale durch verbesserte Effizienzstandards bei den Geräten wieder auffressen. Aus vielerlei Gründen werden immer mehr Menschen künftig Filme streamen: weil es finanziell günstiger sein kann, weil es komfortabler ist, weil die Auswahl des Angebots größer ist, weil sofort und überall auf alles zugegriffen werden kann, weil schon jetzt DVD-Verleihe Pleite gehen und die analoge Infrastruktur von der digitalen verdrängt wird. Und so steigert das Streaming unzweifelhaft den gesamtem Film- und Musikkonsum: Die Einschaltquoten im Fernsehen und Radio gehen derzeit nur leicht zurück, während der rasant wachsende Onlinekonsum dazukommt.37 Und zugleich nimmt das Datenvolumen insbesondere bei Filmen zu, weil immer höher auflösende Streifen angeboten werden. Ganz so, wie die Bildschirmgröße von Fernsehern über die Jahrzehnte drastisch zugenommen hat, steigert sich die Datenmenge beim Übergang von herkömmlichen Formaten (circa 4 Gigabyte pro Film) auf HD (circa 8 bis 15 Gigabyte), Blu-ray (circa 20 bis 25 Gigabyte) und 4k-Movies (mehr als 100 Gigabyte) bis zum Faktor 20. Wenn in einiger Zukunft 3-D-Filme, zum Beispiel für Virtual-Reality-Animationen, abgerufen werden, könnte für eine Streamingminute sogar das Vierzigfache an Daten fließen.38 Was bedeutet diese gigantische Zunahme des Datenverkehrs aus ökologischer Sicht? Wie viele zusätzliche Rechenzentren werden dafür gebaut? Wie viele Ressourcen beansprucht das, und wie viel Energie?
Insgesamt lässt sich zusammenfassen: Ein Umstieg von analogen auf digitale Geräte und Anwendungen birgt das Potenzial für Energie- und Ressourceneinsparungen, wenn neu angeschaffte Geräte wie E-Book-Reader oder MP3-Player so intensiv genutzt werden, dass sie sich ökologisch amortisieren. Doch es gibt ein großes ›Aber‹: Weil der Onlinezugriff – wie das Streaming von Musik und Filmen – so viel einfacher, schneller und oft auch günstiger wird, hören wir heute so viel Musik, schauen wir so viele Filme und Onlinevideos wie nie zuvor. So kommt es, dass sich die Digitalisierung in diesen Bereichen bestenfalls als ökologisches Nullsummenspiel darstellt.

Dezentrale Energiewende nur mit Digitalisierung

Wie wir gesehen haben, bedeutet der Umstieg von physischen Produkten auf digitale Dienstleistungen oft, dass materielle Ressourcen teilweise durch Energie ersetzt werden. Das Streaming eines Films statt des Kaufs einer DVD, das Lesen von Onlinenachrichten statt des Zeitungsabonnements – insgesamt elektrifiziert die Digitalisierung schrittweise unsere Wirtschafts- und Konsumweisen. Zwar weisen der gesamte Gerätepark und die digitalen Infrastrukturen nach wie vor eine materielle Basis auf, deren ökologische Implikationen, wie wir gesehen haben, keinesfalls zu vernachlässigen sind. Dennoch gilt: Je mehr Digitalisierung, desto wichtiger wird vor allem Strom als zentrale Ressource und Antriebskraft unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Und wie Abbildung 3 zeigt, ist trotz der Verringerung der Verbräuche von Endgeräten ein starker Anstieg des Energieverbrauchs von IKT zu erwarten.
Abbildung 3: Globaler Stromverbrauch von Informations- und Kommunikationstechnologien (Erläuterung im Abbildungsverzeichnis).
Um nachhaltig zu werden, muss der Energieverbrauch in allen gesellschaftlichen Bereichen, also neben dem Stromsektor auch in den Sektoren Wärme und Mobilität, in Zukunft auf der Nutzung erneuerbarer Energieträger basieren. Die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015 bedeuten, dass die Treibhausgasemissionen zwischen 2045 und 2060 global auf nahe null zurückgefahren werden müssen.39 Für Länder wie Deutschland, die in der Vergangenheit bereits viele Treibhausgase in der Atmosphäre akkumuliert haben, folgt daraus aus Gründen der Klimagerechtigkeit, dass die Treibhausgasemissionen aus fossilen Energieträgern bereits in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren nahezu auf null sinken müssen.40 Eine Umstellung auf erneuerbare Energieträger – Wind, Sonne, Wasser, Geothermie, Biomasse etc. – ist daher ein zentraler Bestandteil einer jeden Perspektive ökologischer Nachhaltigkeit.
Im Folgenden werden wir sehen, dass die Energiewende nicht ohne Digitalisierung zu machen sein wird.41