Smoke - Dan Vyleta - E-Book

Smoke E-Book

Dan Vyleta

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Beschreibung

Ein englisches Eliteinternat. Ein düsteres Komplott. Zwei Freunde auf der Suche nach der Wahrheit.

England, Ende des 19. Jahrhunderts. Thomas und Charlie sind adeliger Herkunft und besuchen ein Eliteinternat in Oxford. Dort werden sie nicht nur streng erzogen, sondern sollen gleichzeitig von einem düsteren Phänomen geheilt werden, das wie eine Krankheit um sich greift: Jeder unaufrichtige Gedanke, jede Lüge wird durch dunklen Rauch sichtbar, der unkontrolliert dem Körper des Betroffenen entweicht. Als die beiden Schüler es wagen, die Gesetze des Rauchs zu hinterfragen, stoßen sie auf ein Komplott aus Willkür, Macht und Unterdrückung. Und schon bald fürchten die beiden um ihr Leben.

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Seitenzahl: 771

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Zum Buch

Wie sähe eine Welt aus, in der jeder böse Gedanke, jede Sünde sichtbar wären? Dan Vyleta entwirft in Smoke ein faszinierendes historisches England, in dem aus jedem Menschen Rauch aufsteigt, sobald er eine Verfehlung begeht. Auch Thomas und Charlie, Schüler eines Elite-Internats, werden immer wieder durch Rauchattacken gebrandmarkt, wenn sie sich den strengen Regeln der Schule widersetzen – bis sie herausfinden, dass die Gesetze des Rauchs längst nicht für alle gelten. Auf der Suche nach der Wahrheit stürzen sich die beiden Freunde in ein dramatisches Abenteuer voller Gefahren und Intrigen und rufen damit schon bald mächtige Feinde auf den Plan …

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Smoke bei Doubleday, New York.1. Auflage

Copyright © 2016 by Vyleta Ink Limited

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

bei carl’s books, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.deSatz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20105-0V004

Für Chantal, mein Herz. Anstelle von Blumen.Für Mom. Du hast mir gezeigt, was Mut bedeutet.Für Hanna, die ihren Big Man verloren hat. Ich trauere mit dir.

Jene, die Naturwissenschaften studieren und sie zum Wohl der Menschen anwenden, erzählen uns, daß wir die schädlichen Bestandteile, die sich aus der verdorbenen Luft erheben, wären sie dem Auge sichtbar, in einer dichten schwarzen Wolke über den Schlupfwinkeln lagern und sich langsam weiterschieben sehen würden, um auch die besseren Viertel einer Stadt zu verderben. Aber wie grauenhaft wäre erst der Anblick, könnte auch die moralische Pestilenz, die mit ihnen aufsteigt […], erkennbar gemacht werden!

CHARLES DICKENS, DOMBEY & SOHN (1848)

ISCHULE

PRÜFUNG

Thomas! Thomas! Wach auf!«

Kaum ist er wach, sucht er Nachthemd und Bettzeug nach Ruß ab. Er macht es schnell, mechanisch, noch im Halbschlaf: fährt sich mit einer Hand über die Haut und tastet nach der verräterischen körnigen Substanz.

Erst danach fragt er sich, wie spät es ist und wer ihn geweckt hat.

Charlie, natürlich. Sein Gesicht verändert sich unaufhörlich im Licht der Kerze, die er in der Hand hält. Einen Moment lang erstarren die hellen und schattigen Flächen, dann verzerren sie sich wieder; Augen, Nase, Lippen wandern, ordnen sich neu. Der Schein der Flamme schießt in sein rötliches Haar hinauf.

»Charlie? Wie spät ist es?«

»Spät. Oder eher früh. Einer der Jungen hat behauptet, es wäre zwei. Weiß der Teufel, woher er das wissen will.«

Charlie beugt sich vor. Die Kerze kommt näher, treibt die Schatten an den Rand der schmalen Pritsche.

»Es ist Julius. Er hat gesagt, alle sollen sich versammeln. Im Waschraum. Jetzt gleich.«

Der gesamte Schlafsaal ist in Bewegung. Bleiche Gestalten, die sich strecken, aufrichten, die Köpfe zusammenstecken, manche hastig, andere widerwillig. Man sieht nur wenige Kerzen; der Mond beleuchtet den Schnee vor den Fenstern, die gespenstisch milchig schimmern. Schon bald ziehen die Jungen in einer Prozession durch die Doppeltür. Keiner will der Erste sein, keiner der Letzte: weder Charlie noch Thomas noch die Handvoll Jungen mit besonderen Privilegien. Besser in der Menge untertauchen.

Die Fliesen unter ihren nackten Füßen sind kalt. Der Waschraum ist groß. Links und rechts reihen sich eckige weiße Porzellanbecken aneinander, überzogen von einem Spinnennetz aus Rissen, die zu fein sind, um sie mit dem Finger nachzufahren, als hätte sie jemand mit einem spitzen Bleistift gezeichnet. Dahinter folgen die Klosettkabinen, und schließlich, in einem langen, schmalen Anbau, kauert eine Reihe blassgrün gekachelter Badewannen. Der Fußboden fällt zur Mitte hin ab. Das merkt man, wenn man Wasser verschüttet. Dann bilden sich kleine Bäche, die auf die Senke zurinnen. Am tiefsten Punkt befindet sich ein Abfluss, ein quadratisches Metallgitter, dreckverkrustet und halb verstopft von Haaren und Flusen.

Genau dort hat er den Stuhl platziert. Julius. Die Jungen aus der Unterstufe nennen ihn Cäsar. Das C sprechen sie wie ein K aus, wie der Lateinlehrer es ihnen beigebracht hat: Kä-sar. Der Name bedeutet designierter Kaiser. Der nächste Herrscher. Julius ist als Einziger angezogen: trägt eine Bügelfaltenhose und blank gewienerte Schuhe. Eine Weste, aber kein Jackett, um die Aufmerksamkeit auf sein Hemd zu lenken, dessen Ärmel so blütenweiß sind, dass es blendet. Wenn er die Arme bewegt, erzeugt das gestärkte Leinen ein Geräusch, irgendetwas zwischen einem Rascheln und einer Art Klatschen, je nachdem, wie schnell die Bewegung ist. Du kannst sogar hören, wie rein es ist. Und er selbst folglich auch. Nichts Böses hat ihn berührt. Julius ist an dieser Schule so etwas wie ein Heiliger.

Er legt beide Hände auf die Stuhllehne und beobachtet, wie eine Welle der Angst die Jungen durchläuft. Auch Thomas spürt sie. Das ist keine Frage des Muts, denkt er, sondern ein körperlicher Zwang. Als würde dir an einem stürmischen Tag der Wind ins Gesicht peitschen. Du kannst dich ihm nicht entziehen.

»Wir wollen losen«, sagt Julius beiläufig, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. Einer seiner Handlanger, ein bulliger Achtzehnjähriger, tritt vor, ein paar Bleistiftstummel, einen Stapel leerer Zettel und einen großen Jutesack in der Hand. So einen, mit dem man Kartoffeln transportiert oder Vogelscheuchenköpfe bastelt. Den man jemandem über den Kopf stülpt, bevor man ihn zum Galgen führt. Jetzt geht die Fantasie mit dir durch, sagt sich Thomas, nimmt einen Zettel samt Stift entgegen und schreibt seinen Namen darauf: Thomas Argyle. Den Titel lässt er weg. Die Zettel verschwinden im Sack.

Thomas weiß nicht, wie Julius schummelt, er weiß nur, dass er es tut. Vielleicht hat er die Zettel irgendwie markiert oder gibt nur vor, den Namen zu lesen, den er zieht, obwohl er ihn nach Belieben ersetzt. Die einzige Person, die für die Korrektheit seines Vorgehens bürgen könnte, ist derselbe loyale Handlanger, der die Zettel verteilt hat. Julius krempelt den Ärmel hoch, bevor er den Arm in den Sack taucht, als würde er auf dem Grund eines trüben Teichs nach Sünden wühlen. Als wäre es wichtig, sich nicht schmutzig zu machen.

Der erste Name ist eine Überraschung. Collingwood. Einer von Julius’ eigenen Leuten, ein Wächter, wie sie sich selbst gerne nennen, einer der Vertrauensschüler, die den Schlüssel zum Schlafsaal und die Achtung der Lehrer besitzen. Im ersten Moment ist Thomas irritiert. Dann begreift er. Die Wahl demonstriert Gerechtigkeit, erinnert daran, dass niemand über den Regeln steht. Dass es niemanden gibt, der nichts zu befürchten hat.

»Collingwood«, ruft Julius ein zweites Mal. Nur das, keinen Vornamen. Das sind sie hier füreinander. Vornamen sind vertraulich, nur für Freunde. Und für Julius, der jedermanns Freund ist.

Er muss ein drittes Mal rufen, bevor Collingwood sich rührt. Nicht, dass er sich widersetzen wollte. Er traut einfach seinen Ohren nicht. Er schaut sich um, sucht nach einer Erklärung, doch die Jungen sind längst von ihm abgerückt, meiden seinen Blick, als wäre allein der bereits ansteckend. So tritt Collingwood schließlich vor, die Arme um den Oberkörper geschlungen: ein großer, schlaksiger Bursche mit ewig saurem Atem.

Als er sich auf den Stuhl setzt, rutscht sein Nachthemd bis zur Mitte der Oberschenkel hoch. Er zwingt sich zu einem Lächeln. Julius erwidert es leichthin, ohne die Zähne zu zeigen, dreht sich um und durchschreitet den Raum. Die Jungen teilen sich vor ihm wie das Rote Meer. Auf dem Rand einer Badewanne wartet, einer gusseisernen Krähe gleich, eine schwere Schaffnerlaterne – so eine, die nur zu einer Seite leuchtet. Julius öffnet sie, entzündet ein Streichholz und hält es an den Docht. Eine Drehung am Ventil, das Zischen der Flamme, die auf Öl trifft, und ein gebündelter Strahl satten gelben Lichts schießt heraus, rechteckig wie das Fenster zu einer anderen Welt.

Er greift nach dem Henkel und trägt die Laterne zurück zum Stuhl. Ihr schaukelnder Schein erfasst Körper, ängstliche kleine Gesichter, zerrt sie aus der Dunkelheit und isoliert sie von den anderen. Auch Thomas spürt den Strahl und zuckt zurück, sieht, wie sein Schatten über die Fliesen huscht, als suche er nach einem Versteck. Es wäre nicht nötig gewesen, die Lampe so weit entfernt abzustellen; Julius’ Gang zur Badewanne, das Anzünden der Laterne, der gemessene Rückweg – all das ist Teil einer lang geplanten Inszenierung. Genau wie der Metallhaken, der ganz zufällig zwei Schritte neben dem Stuhl in der Decke steckt. Julius richtet sich zu seiner vollen Größe auf und hängt die Laterne daran. Eine Hand lässt er auf ihrem eisernen Korpus liegen, dreht ihn so, dass Collingwood in einem Parallelogramm aus Licht sitzt, die Seiten schnurgerade, wie mit einem Lineal gezogen. Das Licht entkleidet ihn, strömt beinahe ungehindert durch den Baumwollstoff seines Nachthemds, sodass man die dunklen Brustwarzen und die gebogenen Rippen des schmalen Brustkorbs erkennt. Sein Gesicht wirkt angespannt, aber ruhig. Thomas bewundert ihn einen Augenblick lang, ihn, von dessen Hand er schon so oft bestraft worden ist. Sicher erfordert es gewaltige Selbstdisziplin, das gleißende Licht zu ertragen. Es ist so hell, dass es Collingwoods Sommersprossen aus der Haut zu lösen scheint: Sie schweben einen halben Zentimeter über den Wangen.

»Wollen wir anfangen?«

Collingwood braucht einen Moment, um sich zu sammeln. Er antwortet mit dem rituellen Satz.

»Ja, bitte, Sir. Prüfen Sie mich.«

»Du unterwirfst dich aus freiem Willen?«

»Das tue ich. Mögen meine Sünden enthüllt werden.«

»Das werden und das müssen sie. Dank sei dem Rauch.«

»Dank sei dem Rauch.«

Und dann alle im Chor: »Dank sei dem Rauch.«

Selbst Thomas murmelt ihn, diesen verhassten kleinen Satz. Er hat ihn erst gelernt, als er vor nicht einmal sechs Wochen an die Schule gekommen ist, doch inzwischen haben die Worte schon in ihm Wurzeln geschlagen, seine Zunge überwuchert. Wahrscheinlich können sie nur mit einem Messer wieder herausgeschnitten werden.

Die Befragung beginnt. Julius’ Stimme erfüllt den großen Raum. Er spricht mit einem angenehmen, sanften Tonfall, klar und rhythmisch. Wenn er will, klingt er wie dein Lieblingsonkel. Dein Bruder. Dein Freund.

»Du bist Vertrauensschüler, Collingwood«, sagt er. Typisch für ihn, so anzufangen. Mit etwas Harmlosem. Damit du deine Deckung vernachlässigst. »Wie lange ist es nun her, dass man dir das Abzeichen verliehen hat?«

»Ein Jahr und ein Trimester, Sir.«

»Ein Jahr und ein Trimester. Und das Amt bereitet dir Freude?«

»Es bereitet mir Freude zu dienen.«

»Es bereitet dir Freude zu dienen. Eine hervorragende Antwort. Also erfüllst du deine Pflichten gewissenhaft, nehme ich an?«

»Ich bemühe mich.«

»Und wie denkst du über die Jungen, für die man dir die Verantwortung übertragen hat?«

»Wie ich über sie denke, Sir? Mit … mit Wohlwollen. Mit Zuneigung.«

»Sehr gut, sehr gut. Obwohl sie manchmal ausgemachte Scheusale sind, nicht wahr?«

»Sie sind so gut, wie sie können, Sir, dessen bin ich mir gewiss, Sir.«

»Ein ›Sir‹ genügt vollkommen, Collingwood.«

Ein Kichern brandet durch den Raum. Julius wartet, bis es verebbt. Sein Gesicht ist in der Dunkelheit neben der Laterne nicht zu erkennen. Die ganze Welt ist auf einen Jungen, einen Stuhl reduziert. Als Collingwood sich bewegt, rutscht sein Nachthemd noch weiter hoch. Unbeholfen zieht er es hinunter. Seine Hände haben sich zu Fäusten geballt, und er hat Mühe, sie zu öffnen.

»Aber es gefällt dir, sie zu bestrafen, oder? Deine kleinen Schützlinge, die so gut sind, wie sie können. Bisweilen bestrafst du sie sogar recht streng. Erst gestern hat manch einer hier gesehen, wie du den Stock geführt hast. Einundzwanzig Schläge. Und nicht gerade zimperlich. Die Krankenschwester musste die Striemen versorgen.«

Collingwood schwitzt, doch er ist dieser Art von Fragen gewachsen.

»Ich tue nur, was ich muss, um sie zu besseren Menschen zu machen«, sagt er. Und fügt in einem Anflug von Unverfrorenheit hinzu: »Mich schmerzen die Schläge mehr als sie.«

»Also liebst du sie, diese Jungen.«

Collingwood zögert. Liebe ist ein starkes Wort. Er entscheidet sich für: »Ich liebe sie wie ein Vater.«

»Sehr gut.«

Bisher nicht die kleinste Rauchfahne. Collingwoods Nachthemd ist noch immer unbefleckt, der Kragen makellos, die Achseln schweißgetränkt, aber sauber. Trotzdem ist keiner im Raum so naiv zu glauben, dass er nichts als die Wahrheit gesprochen hat. Die Gesetze des Rauchs sind komplex. Nicht jede Lüge löst ihn aus. Ein flüchtiger böser Gedanke bleibt hin und wieder ungesühnt – eine Flunkerei, eine Ausrede, ein artiges Kompliment. Manchmal kannst du haarsträubend lügen und wirst verschont. Jeder kennt das Gefühl, kennt es seit frühester Kindheit: Du stehst vor deiner Mutter, deiner Gouvernante, dem Hauslehrer; denkst eine Lüge, schiebst sie vorsichtig über die Schwelle deiner Lippen, mit verschwitzten Händen und verkrampftem Magen, das Kinn in geheuchelter Zuversicht gereckt; dann die süße Erleichterung, wenn der Rauch nicht kommt. Ein andermal wird er von so geringfügigen Verfehlungen heraufbeschworen, dass sie dir kaum bewusst sind: Du greifst nach den Keksen, bevor sie dir angeboten wurden; du feixt, wenn ein Diener auf der frisch gebohnerten Treppe ausrutscht. Und plötzlich riechst du ihn. Es gibt keinen verhassteren Geruch auf der Welt als den des Rauchs.

Collingwood jedoch bleibt er erspart. Er hat die Prüfung mit Bravour bestanden. Allerdings ist Julius noch nicht fertig. Er steht weiter im Schatten neben der Lampe und hält sie auf Collingwood gerichtet. Es ist, als würde seine Stimme mit dem Licht hervorströmen.

»Dein Bruder ist vor Kurzem gestorben, nicht wahr?«

Die Frage trifft Collingwood unvorbereitet. Zum ersten Mal wirkt er eher verletzt als ängstlich. Seine Antwort ist leise.

»Ja.«

»Wie hieß er, dein Bruder?«

»Luke.«

»Luke. Ja, jetzt erinnere ich mich. Du hast mir von ihm erzählt. Wie ihr als Kinder miteinander gespielt habt.« Julius beobachtet, wie Collingwood sich windet. »Hilf mir auf die Sprünge: Wie ist Luke gestorben?«

Der Groll in Collingwoods Stimme ist nicht zu überhören. Trotzdem antwortet er.

»Er ist ertrunken. Aus einem Boot gefallen.«

»Ich verstehe. Ein Unglück. Wie alt war er?«

»Zehn.«

»Zehn? So jung. Wann wäre er elf geworden?«

»Dreieinhalb Wochen später.«

»Das ist bedauerlich.«

Collingwood nickt und fängt an zu weinen.

Thomas versteht seine Tränen. Kinder werden in Sünde geboren. Die meisten sind schon nach ein paar Minuten kohlrabenschwarz von Rauch und Ruß, und jedes Kindbett und jede Wiege sind von den dunklen Schwaden der Schande umgeben. Der Adel und alle Bürgerlichen, die es sich leisten können, stellen Ammen und Diener ein, die sich um das Kind kümmern, bis im Alter von drei, vier Jahren das Gute in ihm zu reifen beginnt. Manche verwehren dem Kind jeglichen Umgang mit der Familie, bis es sechs, sieben Jahre alt ist, verweigern ihm jegliche Liebe, damit sie es am Ende nicht verachten müssen. Bis zum elften Lebensjahr wird Rauch toleriert. Diese Schwelle, vor deren Überschreitung nur Heilige die Gnade Gottes erlangen können, taucht bereits in der Bibel auf. Wenn du vor dem elften Geburtstag stirbst, stirbst du in Sünde und kommst in die Hölle. Dank der Heiligen Jungfrau allerdings in eine weniger schlimme Hölle als die Erwachsenen: eine Kinderhölle. In Bilderbüchern wird sie oft als eine Art Hospital oder Internat dargestellt, mit langen Korridoren und endlosen Reihen steifer weißer Betten. Thomas hat als Kind ein solches Buch besessen und darin gemalt: Farben, Menschen, seltsame Vögel, die durch die Flure spazieren und ihre Federn wie Brautschleppen hinter sich herziehen. In vielen älteren Familien ist es Brauch, einen Leibeigenen in Dienst zu nehmen, wenn ein Kind zehn Jahre alt wird. Seine einzige Aufgabe ist es, das Leben des Kindes zu hüten. Versagt er, wird er hingerichtet. Man nennt sie auch Krähen, diese Leibeigenen, denn sie kleiden sich ganz in Schwarz und sind von ihrem Rauch umhüllt wie von einem Fluch.

Julius gibt den Jungen Zeit, das Gesagte zu verarbeiten, das Gewicht von Lukes Tod zu ermessen. Die Lampe, deren Strahl er lenkt, ist sicher schwer und heiß. Doch er ist geduldig.

»War Luke allein? In dem Boot, meine ich.«

Collingwood sagt etwas, aber seine Antwort ist unhörbar. Seine Tränen sind versiegt. Obwohl er noch immer sein Nachthemd trägt, haben die letzten paar Minuten ihn entblößt, ihm eine Schutzschicht geraubt, die auf unserer Haut liegt.

»Na los, Mann, heraus damit. Wer war es? Wer war mit deinem zehn Jahre alten Bruder in diesem Boot, als er ertrunken ist?«

Collingwood verschließt sich. Kein Wort dringt über seine bebenden Lippen.

»Anscheinend hast du es vergessen. Ich werde deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Ist es nicht so, dass dein Vater mit in diesem Boot saß? Dass er betrunken war und geschlafen hat, als sein Sohn ins Wasser gefallen ist? Dass er erst aufgewacht ist, als seine Bediensteten das Boot entdeckt haben, fünf Kilometer flussabwärts, festgefahren im Schilf?«

Collingwood findet die Sprache wieder. »Ja«, sagt er. Tatsächlich schreit er es fast. Seine Stimme ist eine Oktave höher als noch vor einer Minute.

Julius pariert den Schrei mit einem Flüstern. »Und liebst du deinen Vater, wie die Bibel es uns lehrt?«

Collingwood braucht nicht zu antworten. Der Rauch tut es für ihn. Zuerst sieht man ihn an den Schultern und an den Stellen, an denen der Schweiß das Nachthemd an die Haut klebt: schmierige schwarze Punkte, kaum größer als ein Penny. Als würde er Tinte bluten. Dann tauchen die ersten Rauchfäden auf, strömen aus den dunklen kleinen Flecken und hinterlassen körnigen Ruß.

Collingwoods Kopf sinkt herab. Er zittert.

»Du musst lernen, dich zu beherrschen«, sagt Julius, sagt es sanft und dreht den Strahl der Laterne in eine andere Richtung. »Du kannst gehen. Es ist gut.«

Es gibt keine Strafe, besser gesagt: keine, die Julius verhängen müsste. Die Flecken auf Collingwoods Nachthemd lassen sich nur durch stundenlanges Einweichen in konzentrierter Lauge entfernen. Nur die Schulwäscherei besitzt Laugenvorräte, und die werden streng bewacht. Wenn Collingwood morgen früh seine Wäsche aushändigt – und das muss er –, werden sie sein Nachthemd anhand des eingestickten Monogramms identifizieren und seinen Namen vermerken. Dann wird ihn der Lehrer für Rauch und Moral zu einem Gespräch bitten, das dem Verhör dieses nächtlichen Gerichts nicht ganz unähnlich ist. Er wird einen Bericht verfassen, ihn an Collingwoods Eltern schicken und Strafmaßnahmen festlegen. Vielleicht verliert Collingwood das Abzeichen des Vertrauensschülers und damit seine Privilegien. Vielleicht muss er den Waschraum der Lehrer schrubben oder nach dem Unterricht Bücher in der Bibliothek katalogisieren. Vielleicht darf er nicht mit auf den Ausflug. Collingwood wirkt nicht wütend, als er sich zitternd vom Stuhl erhebt. Der Blick, den er Julius zuwirft, gleicht dem eines geprügelten Hunds. Er will wissen, ob er noch geliebt wird.

Thomas schaut Collingwood lange nach, als der aus dem Waschraum schleicht. Stünde es ihm frei zu gehen, würde er ihm hinterherlaufen, sich zu ihm setzen, ohne etwas zu sagen. Die richtigen Worte würde er ohnehin nicht finden. Charlie möglicherweise. Charlie kann gut mit Worten umgehen, mehr noch: Er hat eine besondere Gabe, ein gütiges Herz. Es erlaubt ihm nachzuempfinden, was andere fühlen, und freimütig mit ihnen zu sprechen, als Ebenbürtiger. Thomas dreht sich zu seinem Freund um, doch dessen Augen sind auf Julius gerichtet. Heute Nacht werden noch mehr Jungen geprüft. Gleich wird ein zweiter Zettel gezogen, ein zweiter Name verlesen.

Sie nennen ihn Hau-ins-Klo, obwohl sein richtiger Name Hounslow ist, der neunte Viscount von. Er ist höchstens zwölf Jahre alt, wenn überhaupt. Einer der jüngsten Internatsschüler, mager, aber pausbäckig, ein Kind. Als er den Stuhl erreicht und sich umdreht, um sich hinzusetzen, entreißt die Angst seinem Darm einen Wind, lang und gedehnt, als wolle er nie enden. Das muss man sich mal vorstellen: das endlose Pfeifen eines Furzes in einem Raum voller Schulkameraden. Man hört ein paar Jungen kichern, allerdings kaum jemanden unverhohlen lachen. Es braucht nicht Charlies Einfühlungsvermögen, um Mitleid mit Hounslow zu haben. Sein Körper zittert so sehr, dass er kaum seinen Eröffnungssatz herausbringt.

»Bitte, Sir. Prüfen Sie mich.«

Seine Stimme bricht nicht, ist jedoch kaum mehr als ein Quieken. Das »Dank sei dem Rauch« würgt er so mühsam hervor, dass ihm Tränen der Frustration über die Pausbacken laufen. Thomas will vortreten, doch Charlie hält ihn unauffällig zurück, indem er ihn sanft am Arm fasst. Sie wechseln einen Blick. Charlie hat eine besondere Art, dich anzusehen: so einfach, so ehrlich, dass du vergisst, dich hinter deinen kleinen Lügen zu verstecken. Denn was würde Thomas tun, wenn Charlie ihn gehen lassen würde? Die Prüfung zu stören, wäre gleichbedeutend mit einer Rebellion gegen den Rauch. Aber der Rauch ist real: Wenn du willst, kannst du ihn jeden Tag sehen und riechen. Wie rebelliert man gegen eine Tatsache? Also muss Thomas stehen bleiben und zusehen, wie Hounslow den Wölfen zum Fraß vorgeworfen wird. Obschon dieser Wolf ein weißes Hemd trägt und eine Laterne ausrichtet, in die das Kind blind hineinblinzelt.

»Sag mir«, fängt Julius an, »warst du ein guter Junge?«

Hounslow schüttelt panisch den Kopf, und ein Geräusch, das einem Stöhnen gleichkommt, rollt durch den Raum.

Doch seltsamerweise übersteht der Junge das gesamte Verhör ohne die kleinste Rauchfahne. Er beantwortet alle Fragen, langsam und stockend, weil seine Zunge vor Angst wie gelähmt scheint und ihm zwischen den Antworten aus dem Mund hängt.

Liebt er seine Lehrer?

Ja.

Liebt er seine Schulkameraden, seine Bücher, sein Bett im Schlafsaal?

O ja, ja, sehr sogar, und die Schule selbst am allermeisten.

Welche Sünden lasten dann auf seinem Gewissen?

Sünden, die zu schwer und zahlreich sind, um sie aufzuzählen.

Aber genau das macht er nun, nimmt jede Schuld auf sich, die ihm einfallen will, bis er völlig niedergedrückt ist. Er habe den Lateintest am vergangenen Montag nicht bestanden, weil er »faul« und »dumm« sei. Er habe sich auf dem Schulhof mit einem Klassenkameraden namens Watson geprügelt, weil er, Hounslow, ein »bösartiger Unhold« sei. Er habe ins Bett gemacht, weil er »abstoßend« und »niederträchtig« sei, und zwar schon von Geburt an, das sage selbst seine Mutter. Er sei ein Verbrecher, ein Unmensch, ein Tier. »Ich bin Abschaum«, schreit Hounslow halb hysterisch, »Abschaum!«, und die ganze Zeit über bleibt sein Nachthemd sauber, die zarten Spitzenrüschen frei von Ruß.

Es dauert nicht einmal zehn Minuten. Julius lässt die Laterne sinken und küsst den Jungen auf den Kopf, genau auf den Scheitel, wie der Bischof es beim Schulkaplan getan hat. Als Hounslow aufsteht, liegt auf seinem Gesicht noch etwas anderes als Erleichterung. Etwas Triumphierendes. Heute, in dieser Nacht, ist er zu einem Auserwählten geworden. Er hat sich erniedrigt, hat all seine verborgenen Sünden (und noch einige mehr) gebeichtet, und der Rauch hat über ihn gerichtet und ihn für rein befunden. Wenn er Watson morgen eine blutige Nase verpasst, dann mit dem Gefühl, Recht zu sprechen. Julius schaut ihm mit belustigtem Stolz nach, bevor er erneut in den Sack greift. Und einen dritten Namen verliest, den letzten. Es wird nicht Cooper sein, Charlies Nachname. Charlie ist ein künftiger Earl, aus einer der angesehensten Familien des Landes. Die Mächtigen, das hat Thomas bereits herausgefunden, werden nur selten geprüft.

»Argyle.« Julius sagt den Namen langsam und deutlich, beinahe genüsslich.

Argyle.

Thomas’ Nachname.

Es wäre falsch zu behaupten, er habe es nicht erwartet.

Wie von einem Ruderblatt geteilt, öffnet sich das Meer der Jungen nun für ihn. Charlies Hand drückt seinen Arm, als er sich in Bewegung setzt. Später wird er sich über diese übermäßige Eile, seinen fehlenden Widerstandswillen wundern und sich einen Feigling schelten. Doch es ist nicht Feigheit, die sich in seiner Miene spiegelt, im Gegenteil: Er kann den Kampf kaum erwarten. Er reckt das Kinn ins Licht, als würde er in den Boxring steigen. Julius bemerkt es.

Und lächelt.

Das Licht blendet. Der Raum dahinter hört auf zu existieren. Thomas kann nicht in Charlies Augen nach Rat oder Rückhalt suchen, denn Charlie ist in der Dunkelheit versunken, während er selbst in gleißendes gelbes Licht getaucht ist. Sogar Julius, nicht einmal zwei Schritte von ihm entfernt, ist nur mehr ein Schatten aus einer anderen Welt.

Und er bemerkt noch etwas anderes. Das Licht gibt ihm das Gefühl, nackt zu sein. Nicht ungeschützt oder verletzlich, sondern im wahrsten Sinne des Wortes nackt. Das Gewebe seines Nachthemds fühlt sich plötzlich so dünn an, als habe es sich in Luft aufgelöst. Das allein hätte ihn vielleicht gar nicht so sehr gestört. Zu Hause war er oft mit seinen Freunden nackt im Fluss schwimmen, und wenn er sich abends im Schlafsaal umzieht, sorgt er sich wenig um Sittsamkeit. Doch das ist nicht dasselbe. Hier steht er im Rampenlicht. Er ist nackt in einem Raum voller bekleideter Leute. Er ist nicht darauf vorbereitet, wie wütend ihn das macht.

»Fang an«, knurrt er, weil Julius nur dasteht, wartet, die Laterne ausrichtet. »Na los. Ich unterwerfe mich aus freiem Willen. Dank sei dem Rauch. Jetzt rück raus mit deinen Fragen.« Der Stuhl unter seinem Hintern wackelt. Thomas muss beide Beine in den Boden stemmen, um ihn gerade zu halten.

Julius pariert seinen Ausbruch gelassen.

»So ungeduldig … Und das, obwohl du reichlich spät zur Schule erschienen bist. Und reichlich lange brauchst, um deine Lektionen zu lernen.«

Er nimmt die Laterne vom Haken und trägt sie näher, baut sich vor ihm auf, badet ihn in ihrem Strahl.

»Weißt du was?«, flüstert Julius so leise, dass nur Thomas ihn hört. »Ich glaube, ich sehe deinen Rauch schon jetzt. Wie er aus jeder kleinen Pore strömt. Es ist ekelhaft.

Aber nun gut«, fährt er mit lauterer Stimme fort, der beherrschten, biegsamen Stimme des Redners. »Wenn du so überaus ungeduldig bist, werde ich dir entgegenkommen. Deine Prüfung wird aus einer einzigen Frage bestehen. Ist das ein Angebot?«

Thomas nickt. Er wappnet sich, spannt die Muskeln an. Charlie wird ihm später erklären, dass es besser ist, locker zu bleiben, den Schlag zu absorbieren wie Wasser.

»Schieß los.«

»Nun denn«, setzt Julius an, nur um sich gleich wieder zu unterbrechen. Er dreht die Laterne herum und lässt ihr Licht über die Gesichter der Jungen tanzen. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht Thomas seinen Freund Charlie, nicht lang genug, um seine Miene zu entschlüsseln. Dann ist der Strahl wieder auf seine Augen gerichtet.

»Weißt du«, beginnt Julius von Neuem, »die Frage, die ich dir stellen will, habe nicht ich mir ausgedacht. Sie ist in allen Köpfen hier. Die ganze Schule stellt sie sich. Jeder Junge in diesem Raum. Die Lehrer. Sogar dein Freund dort drüben, auch wenn er es vielleicht nicht zugibt. Es ist die folgende: Was an dir ist so schmutzig, so unsagbar verdorben, dass deine Eltern dich wider Sitte und Vernunft bis zu deinem sechzehnten Lebensjahr versteckt gehalten haben?«

Und noch langsamer, jede Silbe betonend: »Oder ist an ihnen etwas so abscheulich, so widerwärtig, dass sie Angst hatten, du würdest es enthüllen und verbreiten?«

Die Frage trifft ins Schwarze: als Beleidigung (seiner selbst, seiner Familie und aller Dinge, die ihm heilig sind), aber noch mehr als Wahrheit – dieses Gespenst, das Thomas schon sein halbes Leben lang heimsucht. Sie durchschlägt seine Verteidigung und dringt bis ins Mark, weckt Furcht und Zorn und Scham. Der Rauch ist da, lange bevor er ihn erklären kann. Als würde er bei lebendigem Leib verbrennen, völlig grundlos. Dann weiß er, was der Rauch bedeutet: Er trägt Hass, Mord in seinem Herzen.

Jeder andere würde vor Scham im Boden versinken. Thomas springt auf. Stürzt sich mit dem Kopf voran auf Julius und lässt die Laterne auf die Fliesen knallen. Die Flamme erlischt nicht, sondern beleuchtet ihren Kampf von der Seite. Für die anderen Jungen sind sie nur ein Schatten, deckenhoch an die Wand geworfen, ein Ungeheuer mit zwei Köpfen. Doch für sie beide, direkt neben der Laterne, ist alles glasklar. Thomas raucht wie nasse Glut. Seine Hände sind zu Fäusten geballt und prasseln auf Julius nieder. Aus seinem Mund strömen Beschimpfungen.

»Du bist ein Nichts«, schreit er immer wieder, »ein Nichts. Ein Hund, ein dreckiger Hund, ein Nichts!«

Ein Schlag trifft Julius’ Kinn, und irgendetwas löst sich, wahrscheinlich ein Zahn, ein verfaulter schwarzer Backenzahn, der zwischen den Lippen hervorspringt wie ein ausgehustetes Bonbon. Außerdem ist da Blut und noch mehr Rauch, der so pur und pechschwarz aus Julius’ Haut quillt, dass er Thomas’ Zorn erstickt.

Julius gewinnt die Oberhand. Über zwei Jahre älter und stärker, wirft er den kleineren Jungen herum. Doch anstatt ihn zu schlagen, drückt er ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden, umklammert ihn, presst sich an ihn, rollt ihn gegen die Laterne, bis sie umfällt und ihre Flamme erlischt. Thomas durchschaut sofort, was er bezweckt. Er reibt seinen Ruß auf Thomas und Thomas’ Ruß auf sich selbst. Später wird er behaupten, dass sein Angreifer ihn besudelt habe, dass er selbst während des gesamten Kampfs rein geblieben sei. Jetzt, im Schutz der Dunkelheit, packt er Thomas’ Hals und drückt zu, bis Thomas sich sicher ist, dass er sterben wird.

Aber Julius lässt ihn los, sobald die anderen Jungen nahe genug herangetreten sind, um besser sehen zu können. Er steht auf, klopft sein Hemd ab und stellt seine Selbstbeherrschung zur Schau. Thomas bleibt zusammengekauert liegen. Nur Charlie beugt sich zu ihm herab, besänftigt ihn und hilft ihm zurück in den Schlafsaal.

CHARLIE

Gegen den Ruß kannst du nur eines tun, wenn du keine Lauge hast: ihn in Urin einweichen. Das ist widerlich, ich weiß, aber irgendetwas in der Pisse lässt ihn verblassen. Also schleichen Thomas und ich uns später, als alle anderen wieder schlafen, zurück in den Waschraum, legen Thomas’ Nachthemd in eine der Badewannen (die, die Julius benutzt, wenn er zu baden geruht), trinken gläserweise Leitungswasser und pinkeln abwechselnd darauf. Das Nachthemd einfach verschwinden zu lassen, kommt nicht infrage. Alle Kleidungsstücke sind genau registriert. Sie würden es sofort herausfinden und Thomas von der Schule werfen.

Ich wünschte, ich könnte Thomas beschreiben, ihn mit Worten einfangen. Er ist weder groß noch klein, weder stämmig noch zierlich. Sein Haar ist weder lockig noch ganz glatt. Das klingt jetzt so, als wäre er unscheinbar, dabei ist er alles andere als das. Er fällt auf, wenn er einen Raum betritt. Er hat eine intensive Präsenz. Als würde er mit einem Fässchen Schießpulver vor der Brust herumlaufen. Teils liegt das an seinem Blick. Er sieht die Dinge, schaut sie wirklich an, genau wie die Menschen. Bewertet sie, ohne sich ein Urteil anzumaßen. Sieht sie so, wie sie sind, versucht, ihr wahres Ich zu ergründen. Die meisten Leute mögen das nicht. Ich bin wahrscheinlich sein einziger Freund hier, obwohl wir insgesamt fast zweihundert Jungen sind. Einige wohnen allerdings in einem anderen Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite des Schulhofs, und eine Handvoll Tagesschüler kommt aus dem Dorf – Söhne reicher Bürger, denen es um den Unterricht geht, nicht um das andere. Die »moralische Erziehung«. Gemeine Bürger dürfen ab und an rauchen. Von ihnen erwartet man nichts anderes.

Man sollte meinen, ich würde es Thomas verübeln. Dass seine Seele schlecht ist. Dass er, wenn er sich nicht bessert, direkt zur Hölle fährt. Immerhin ist es die Wahrheit. Der Rauch lügt nicht. In Thomas steckt das Böse wie eine Made in einem Stück verfaultem Fleisch. Aber das alles gilt nur auf einer bestimmten Ebene, der Ebene der Wahrheit und der Vernunft der Erwachsenen, der Ebene der Wissenschaft, der Theologie, der Gesetze. Es gibt noch eine andere Ebene, eine, für die ich keinen Namen habe, und auf dieser anderen Ebene ist er mein Freund. So einfach ist das.

Was mich betrifft, sehe ich, wenn ich in den Spiegel schaue, einen großen und irgendwie kantigen Jungen; knochig, würde meine Schwester sagen. Rothaarig. Nicht Rotblond, sondern dunkles Kupfer, sehr kurz geschnitten. Meine Haut ist ebenfalls ziemlich dunkel. Manche behaupten, in mir fließe ausländisches Blut; dass solches Haar, solche Haut nur von östlich des Schwarzmeers stammen könnten, wo noch immer Nomadenvölker durch die endlose Steppe reiten. Das ist natürlich Quatsch. Meine Familie ist durch und durch englisch. Wir sind eine alte Familie und ziemlich bedeutend. Ich meine, richtig bedeutend. Es gibt Bilder von meinem Vater, wie er mit den Söhnen der Königin auf die Jagd geht. Aber genug davon. Ob die Mädchen mich hässlich oder hübsch finden, musst du sie schon selbst fragen. Ich weiß nur, dass ich meine Nase nicht besonders mag – zu groß –, und ich werde einfach nicht dick, nicht einmal, wenn ich mich ausschließlich von Nachtisch ernähre. Beim Rugby bin ich ein hoffnungsloser Fall, dafür könnte ich den ganzen Tag über Stock und Stein laufen. Thomas sagt immer, ich sei ein halber Hirsch. Dann ist er wohl ein Dachs; wenn die Hunde kommen, bleibt er stehen, dreht sich um und fletscht die Zähne. Anders als ich weiß er nicht, wann man Reißaus nehmen muss.

Wir haben auf ziemlich einfache Weise Freundschaft geschlossen. Er kam in der letzten Oktoberwoche. Das war natürlich ungewöhnlich, fünf Wochen nach Beginn des Trimesters. Und dann sein Alter – sechzehn. Manchmal wechseln Jungen von anderen, weniger angesehenen Schulen hierher, für den »letzten Schliff« und um sich unter die zukünftigen Lenker des Königreichs zu mischen. Doch Thomas hatte keine andere Schule besucht. Er war zu Hause unterrichtet worden. Niemand wusste, was man davon halten sollte. Ein paar meinten sogar, es sei illegal. Es ging das Gerücht, dass seine Eltern sich geweigert hätten, ihn zur Schule zu schicken, sich seit seinem elften Lebensjahr widersetzt hätten. Ich glaube, sie sind adelig, aber arm, und leben ganz im Norden – ein ungezähmtes Land. Der Arm der Krone reicht zwar bis dorthin, hat allerdings nicht dieselbe Kraft. Und nun ist er hier, dieser wilde Junge. Wie einer, der von Füchsen aufgezogen wurde.

Aber Thomas redet nicht gern über sich selbst. Nicht einmal mit mir.

Er kam allein: kein Elternteil, der ihn verabschiedete, kein Bruder und keine Schwester, nicht einmal ein Diener, der seine Koffer getragen hätte. Stieg einfach aus der Postkutsche, die ihn am Bahnhof in Oxford abgeholt hatte. Einen Rucksack auf dem Rücken, einen Koffer in jeder Hand. So bin ich ihm in meiner Freistunde nach der Mittagspause über den Weg gelaufen. Das Kinn gereckt, erschöpft, stand er am Schultor vor dem Pförtner, der in seinem derben Dorfdialekt auf ihn einredete, beinahe einschrie, um in Erfahrung zu bringen, wer er sei.

»Das ist der Neue«, schaltete ich mich ein. »Sie haben gestern eine Pritsche für ihn aufgestellt. Oben im Schlafsaal. Ich bringe ihn hin, wenn Sie möchten.«

Thomas schwieg, bis wir angekommen waren und ich ihm sein Bett gezeigt hatte. Es stand in der Nähe des Fensters – der unbeliebteste Platz, denn dort zieht es. Er stellte sein Gepäck ab, richtete sich wieder auf, musterte mich und fragte:

»Wie ist es hier?«

Ich wollte schon irgendetwas Nichtssagendes von mir geben – er würde sich gleich wie zu Hause fühlen, keine Sorge –, doch dann bemerkte ich seinen Gesichtsausdruck. Irgendetwas darin sagte: Verschon mich nicht, lüg mich nicht an, erzähl mir keinen Mist.

Sonst verachte ich dich für immer.

Also habe ich die Wahrheit gesagt.

»Es ist wie ein Gefängnis. Ein Gefängnis, für das unsere Eltern bezahlen.«

Er lächelte und stellte sich vor: »Thomas.«

Seither sind wir Freunde.

DER AUSFLUG

Sie lassen ihn auf seine Bestrafung warten.

Am nächsten Morgen ist Waschtag, und weil Thomas keine andere Wahl hat, wirft er das triefende, stinkende Nachthemd in den Korb, zusammen mit den Betttüchern und der Unterwäsche der letzten Woche. Die Rußflecken sind verblasst, aber nicht verschwunden.

Es ist kein Trost, dass noch andere Jungen ihre befleckten Kleider auf den wachsenden Haufen werfen. Jede Verfehlung hinterlässt ihre eigene Art von Ruß, und wer in diesen Belangen bewandert ist, kann die Schwere deines Verbrechens anhand der Farbe und Struktur des Flecks bestimmen. Deshalb entfällt am Waschtag der Unterricht in Rauch und Moral: Der Lehrer, Dr. Renfrew, verbarrikadiert sich den gesamten Vormittag in seinem Büro und wühlt sich durch Jungenunterwäsche. Die Liste derer, die »Unreiner Gedanken und Handlungen« für schuldig befunden wurden, wird vor der Mittagspause in einer Glasvitrine ausgehängt. So erfährt jeder Schüler, welche Strafe ihn erwartet: zwei Tage Speisesaaldienst; eine dreiseitige Abschrift aus dem Zweiten Buch des Rauchs; eine öffentliche Entschuldigung bei der Schulversammlung. Das gilt für kleinere Vergehen. Schwerere Delikte ziehen eine genauere Untersuchung nach sich. Der fragliche Junge wird in Dr. Renfrews Büro zitiert und muss sich für seine Sünden verantworten. Dort steht ein lederbezogener Stuhl mit Riemen. Die Jungen nennen ihn den Zahnarztstuhl. Nur dass Dr. Renfrew keine Zähne zieht, sondern die Wahrheit bis zur Wurzel freilegt, wie er es nennt. Für die schwersten Verstöße gegen die gute Ordnung reicht auch dieses Verfahren nicht aus. Sie erfordern die Einberufung eines sogenannten Tribunals. Das hat Thomas zumindest gehört. Seit er an der Schule ist, hat es noch keinen solchen Fall gegeben.

Während des Unterrichts ist Thomas unaufmerksam und wird getadelt, weil er die vier Arten von Ursachen der aristotelischen Kausaltheorie nicht aufzählen kann. Ein anderer Junge übernimmt es mit gelassener Genugtuung. Er wird nicht gefragt, worin die vier Ursachen bestehen, wie sie bestimmt werden oder was sie Gutes bewirken können, und auch nicht, wer dieser Aristoteles überhaupt war, dessen Marmorbüste in der Eingangshalle der Schule thront, ganz in der Nähe des Porträts von Lord Shrewsbury, dem hochgeschätzten Schulgründer. Generell hat Thomas festgestellt, dass hier mehr Wert auf die äußere Form als auf den Inhalt der Dinge gelegt wird und lernen vor allem heißt, Namen und Daten und Zahlen aufzusagen, schnell, laut und mit Überzeugung. Er selbst hat sich bislang als miserabler Schüler erwiesen.

In der Mittagspause bekommt er kaum etwas hinunter. Er sitzt im Speisesaal, der die Form und die Ausmaße einer Kapelle hat und grässlich kalt ist. Der Dezemberwind wirbelt den Schnee gegen die Fenster. Von außen sind sie mit einem schmutzig weißen Schleier überzogen, der die Wärme aus jedem Sonnenstrahl saugt. Innen sickert kaltes Wasser aus den Ecken der Metallrahmen und sammelt sich in Pfützen auf dem Boden, wo es wieder gefriert und das unbehandelte Holz zerfrisst.

Das Mittagessen besteht aus einem zähen Stück gekochtem Schinken, halb versteckt unter einer Schöpfkelle lauwarmer Erbsen. Für Thomas schmeckt alles wie Dreck. Zweimal beißt er versehentlich auf die Gabel und bohrt sich die Zinken in die Zunge. Als er fast aufgegessen hat, setzt sich Charlie zu ihm. Einer der Lehrer hat ihn nach dem Unterricht aufgehalten. Charlie wartet, bis der dürre kleine Junge, der Servierdienst hat, ihn zu seiner eigenen Portion ledrigem Schinken und dem dazugehörigen Haufen gräulicher Erbsen verdammt hat.

»Schon was gehört?«, fragt er.

Thomas schüttelt den Kopf. »Nichts. Aber schau sie dir an. Sie können es kaum erwarten. Schüler wie Lehrer. Alle fiebern danach, dass das verfluchte Fallbeil fällt.«

Seine Stimme klingt verbittert, und noch während das letzte Wort aus seinem Mund dringt, schlängelt sich ein Rauchfaden aus seinen Nasenlöchern, zu hell und zu licht, um Ruß zu hinterlassen. Charlie verscheucht ihn mit einer schnellen Handbewegung, nicht weiter besorgt. Kaum jemand kommt ohne eine kleine Verfehlung durch den Tag, und selbst dem ein oder anderen Lehrer steigt gelegentlich eine Rauchfahne aus dem Mund. Die Schüler mögen diese Lehrer für gewöhnlich lieber. In ihrer Unvollkommenheit stehen sie dem Gnadenstand der Jungen näher.

»Sie können dich nicht nach Hause schicken.« Charlie sagt es, als wäre er wirklich überzeugt davon. »Du bist doch erst vor ein paar Wochen angekommen.«

»Wer weiß.«

»Renfrew wird dich in sein Büro zitieren.«

»Vermutlich.«

»Du musst ihm erzählen, wie es war. Halte mit nichts hinterm Berg.«

Und dann sagt er das, was Thomas schon den ganzen Vormittag durch den Kopf geht. Was er nicht auszusprechen gewagt hat.

»Sonst lässt er dich vielleicht nicht mit auf den Ausflug.«

Thomas nickt. Sein Mund ist zu trocken, um zu antworten.

Seit seiner Ankunft ist der Ausflug das Thema an der Schule. Ein außergewöhnliches Ereignis: Etwas Vergleichbares hat es seit fast drei Jahrzehnten nicht gegeben. Den Gerüchten zufolge hat Renfrew die Wiederbelebung dieser Tradition durchgesetzt, gegen den erbitterten Widerstand der Lehrer, der Eltern und sogar des Schulbeirats. Das ist kaum überraschend. Die meisten ehrbaren Leute waren noch nie in London. Mit einer Gruppe Schuljungen dorthin zu fahren ist sonderbar, beinahe befremdlich. Manche waren sogar der Meinung, dass es die ganze Schule in Gefahr bringen könnte. Dass die Jungen vielleicht nie zurückkehren.

Thomas bemüht sich immer noch, genug Spucke für eine Antwort zu sammeln. »Ich will nach London«, ist alles, was er hervorwürgt, bevor er in ein trockenes Husten ausbricht. Der Satz wird seinem Empfinden nicht gerecht. Er muss nach London. Nur die Aussicht auf den Ausflug hat ihn die letzten paar Wochen überstehen lassen. Nur wegen des Ausflugs hat er beschlossen, dass seine Anwesenheit hier womöglich einen Sinn hat, einem höheren Zweck dient. Er könnte gar nicht genau in Worte fassen, was er von diesem Londonbesuch erwartet. Eine Offenbarung vielleicht. Etwas, das ihm die Welt erklärt.

Das Husten erschöpft sich in einem Fluch.

»Julius ist ein Mistkerl. Ich könnte ihn umbringen, diesen verfluchten Bastard.«

Charlies Gesicht ist so ehrlich, dass es schmerzt.

»Wenn du nicht mitdarfst, will ich auch nicht –«

Thomas unterbricht ihn, weil eine Gruppe Lehrer an ihrem Tisch vorbeikommt. Sie unterhalten sich angeregt, senken jedoch die Stimmen zu einem Flüstern, als sie auf ihrer Höhe sind. Thomas zieht eine Grimasse, und eine weitere dünne Rauchfahne dringt ihm aus der Nase. Seine Zunge verfärbt sich leicht, bevor er den Ruß schließlich hinunterschluckt. Wenn du das zu oft machst, werden deine Luftröhre und deine Mandeln rau und schwarz, zusammen mit allem, was dahinterliegt. Im Biologieraum steht ein Glasgefäß mit einer Lunge, die aussieht, als hätte man sie in Pech getaucht.

»Schau dir an, wie sie flüstern. Sie genießen es, mich schmoren zu lassen! Warum setzen sie mich nicht endlich auf die verdammte Anklagebank?«

Doch Charlie schüttelt den Kopf, den Blick auf die Lehrer gerichtet, die in der Nähe der Tür die Köpfe zusammenstecken.

»Ich glaube nicht, dass sie über dich reden, Thomas. Hier geht irgendetwas anderes vor sich. Das ist mir vorhin schon aufgefallen, als ich beim Pförtnerhäuschen war. Ich wollte nachsehen, ob ich Post bekommen habe. Master Foybles war dort und hat sich bei Cruikshank nach etwas erkundigt. Sie warten auf etwas. Eine Lieferung. Irgendetwas Wichtiges. Foybles klang ziemlich verzweifelt. Hat ständig gesagt: ›Sie geben mir gleich Bescheid, ja? Sobald es da ist!‹ Als würde er Cruikshank verdächtigen, dass er es irgendwo versteckt. Was auch immer dieses es sein mag.«

Thomas denkt nach. »Etwas, das sie für den Ausflug brauchen?«

»Keine Ahnung. Wenn, dann sollte es besser heute kommen. Wenn sie den Ausflug verschieben müssen, sagen sie ihn am Ende noch ab.«

Charlie traktiert den Schinken, als hätte der ihm etwas getan, und verteilt die Erbsen überall. Thomas flucht und wendet sich wieder seinem eigenen Teller zu. Essen übrig zu lassen, ist gegen die Regeln und zieht ebenfalls eine Strafe nach sich, als sei es der Beweis für eine unsichtbare Art von Rauch.

Sie schicken nach der Abendandacht nach ihm.

Julius holt ihn ab. Grinsend kommt er den Flur entlanggeschritten, noch schwungvoller als sonst. Er sagt nichts. Aber das muss er auch nicht. Seine Geste genügt, der weite Bogen, mit dem er die Hand von der Brust in Richtung Ende des Korridors schweifen lässt. Ironisch, als wäre er ein Kellner, der Thomas zu Tisch bittet. Dann geht er voran, langsamer jetzt, die Hände in den Hosentaschen, und bittet ein paar Jungen lautstark, ihnen die Tür zu öffnen.

Damit es auch jeder mitbekommt.

Thomas ist gefangen hinter diesem provozierend gelassenen Schlenderschritt. Das allein genügt, um sein Blut in Wallung zu bringen. Er schmeckt Rauch und fragt sich, ob man ihn bereits sieht. Ein dunkler Umhang bedeckt sein Hemd, aber den wird er zweifellos bald ausziehen müssen. Er atmet tief durch, pickt sich mit der Zunge den Ruß aus den Zähnen. Der bittere Geschmack lässt ihn würgen.

Julius wird sogar noch langsamer, als sie sich Dr. Renfrews Büro nähern. Der Lehrer für Rauch und Moral. Es ist ein neuer Posten, gerade mal ein Jahr alt. Früher war der Religionslehrer für die gesamte moralische Erziehung zuständig, zumindest hat Charlie ihm das erzählt. Vor der Tür bleibt Julius stehen, grinst und schüttelt den Kopf. Geht weiter, schneller nun, und bedeutet Thomas, ihm zu folgen.

Thomas braucht eine Minute, um zu begreifen, was da gerade passiert ist. Er wird nicht in Dr. Renfrews Büro zitiert. Er kommt nicht auf den Zahnarztstuhl. Es ist schlimmer als das. Sie steuern auf die Räumlichkeiten des Direktors zu.

Es gibt ein Tribunal.

Allein von dem Wort wird ihm übel.

Julius klopft nicht an. Das verwirrt Thomas, bis sie eingetreten sind. Die Tür führt nicht direkt in ein Büro, sondern in eine Art Vorraum, wie ein Wartezimmer beim Arzt: zwei lange Bänke an beiden Wänden und ein eisiger Luftzug, der durch die Fensterflucht auf der rechten Seite dringt. Sie befinden sich hoch oben in einem der Türme des Schulgebäudes. Unter ihnen erstrecken sich die Felder von Oxfordshire: ein silberner See aus gefrorenem Mondlicht. Unten am Bach erhebt sich ein Baum aus der schneeüberwucherten Erde, nackt und blattlos. Eine Trauerweide, deren Äste ins Wasser hängen, die Spitzen im Eis gefangen. Zitternd wendet Thomas sich ab. Dabei bemerkt er, dass die Tür zum Korridor von innen gepolstert ist. Wahrscheinlich, um den Direktor vor dem Lärm der Schüler zu schützen. Und damit niemand deine Schreie hört.

Julius steht vor der Tür am anderen Ende des Zimmers und klopft leise an, mit dem Selbstvertrauen und dem Feingefühl des Schulsprechers. Sie öffnet sich beinahe sofort: Renfrews Gesicht, eingerahmt von blondem Haar und Bart.

»Da sind Sie ja, Argyle. Gut. Nehmen Sie Platz.«

Und als Julius sich zum Gehen wendet, fügt er hinzu: »Sie ebenfalls.«

Er schließt die Tür wieder, bevor Julius nach dem Grund fragen kann.

Sie sitzen einander gegenüber, Thomas mit dem Rücken zu den Fenstern, Julius ihnen und dem Mond zugewandt. Das verschafft Thomas die Gelegenheit, Julius genauer zu betrachten. Irgendetwas hat er bei diesem »Sie ebenfalls« eingebüßt. Etwas von seiner großkotzigen Mir-gehört-die-Welt-Überheblichkeit. Er sieht aus, als würde er auf der Innenseite seiner Wange herumkauen. Attraktiv ist er, das muss Thomas zugeben, mit der hellen Haut und den dunklen Haaren, diesem schmalen Schnäuzer, eher Flaum als Bart. Thomas wartet, bis Julius’ Blick auf ihn fällt, dann beugt er sich vor.

»Tut es weh? Der Zahn, meine ich.«

Julius reagiert nicht sofort, sondern verbirgt seine Gefühle, wie er es so gut versteht.

»Du bist derjenige, der in Schwierigkeiten steckt«, sagt er schließlich. »Ich bin nur als Zeuge hier.«

Damit hat er höchstwahrscheinlich recht. Nichtsdestoweniger wirkt er leicht aufgewühlt, und Thomas kann die Schadenfreude nicht ganz verhehlen. Er und Charlie haben gestern Nacht noch nach dem Zahn gesucht, aber er war verschwunden. Julius muss ihn selbst aufgehoben haben. Hätte eine nette Trophäe abgegeben. Aber das war gestern. Jetzt sitzt Thomas hier, mit schweißnassen Händen. Wartet. Wie viel leichter wäre es zu kämpfen, selbst wenn er verlöre: eine Faust im Gesicht, eine blutige Nase, ein Beutel Eis auf den schmerzenden Stellen. Er lehnt sich zurück und versucht, die Verspannung in seinen Schultern zu lösen. Der Mond ist die einzige Lichtquelle. Sobald sich eine Wolke vor ihn schiebt, wird der kleine Warteraum in Dunkelheit getaucht. Alles, was Thomas dann von Julius sieht, ist ein Schatten, schwarz wie Ruß.

Es dauert bestimmt eine Viertelstunde, bis Renfrew sie hineinruft. Warmes goldenes Gaslicht empfängt sie, dicke Teppiche, die das Geräusch ihrer Schritte schlucken. Sie sind alle da, alle sieben Lehrer – Renfrew, Foybles, Harmon, Swinburne, Barlow, Winslow, Trout. Doch nur drei von ihnen zählen.

Renfrew ist groß, gut gebaut und immer noch eher jung. Sein Haar ist kurz geschnitten, genau wie sein Bart, und er trägt einen dunklen Anzug mit Gürtel, was aussieht, als stecke er vom Hals bis zu den Füßen in einer Kapsel. Ein weißer Seidenschal, eng um den Hals geknotet, bürgt für seine Tugend.

Trout ist der Schuldirektor. Er ist sehr dick und zieht seine Hose sehr hoch, sodass die Fleischmassen zwischen den Oberschenkeln und dem Hosenbund die kurze, eingesunkene Brust winzig erscheinen lassen, obschon sie mit erlesener Spitze und Rüschen geschmückt ist. Was ihm an Haaren fehlt, macht er mit Bart wett. Seine Stupsnase wirkt zwischen den aufgedunsenen roten Wangen ziemlich verloren.

Und schließlich Swinburne, der Religionslehrer. Wenn Renfrew groß ist, ist er ein Riese, allerdings gebeugt vom Alter. Er trägt das Gewand und die Kopfbedeckung seines Amtes. Das bisschen, was man von seinem Gesicht sieht, ist mit geplatzten Äderchen in der Form und Farbe von Disteln übersät. Ein langer, strähniger Bart bedeckt den Rest.

Renfrew, Swinburne, Trout: alle drei, so heißt es, in Angelegenheiten verwickelt, die bis zu Parlament und Krone reichen. Thomas hat schon oft überlegt, sie zu malen. Er kann gut mit dem Pinsel umgehen. Ein Triptychon. Er hat sich noch nicht entschieden, wer in die Mitte gehört.

Renfrew bedeutet ihnen, Platz zu nehmen. Er weist auf zwei Stühle in der Mitte des Raums, ohne einen Unterschied zwischen den Jungen zu machen. Verglichen mit der Theatralik von Julius’ Auftritt gestern Nacht, ist seine Geste beinahe beiläufig. Die Lehrer stehen in Grüppchen zusammen. Sie tragen Winteranzüge aus Kammgarn. Ein paar haben Teetassen in den Händen. Foybles kaut an einem Keks. Thomas setzt sich. Nach einem kurzen Zögern tut Julius es ihm nach.

»Sie wissen, warum Sie hier sind.«

Das ist eine Feststellung, keine Frage; Renfrew wendet sich sogar ab, während er spricht, um in einem Korb herumzukramen. Das erlaubt Thomas, sich kurz im Zimmer umzuschauen. Er sieht ein ledernes Sofa und einen Messingleuchter, bunte Glasfenster mit Szenen aus der Heiligen Schrift – Sankt Georg, wie er die Lanze in das Maul des Drachen stößt –, ein Gemälde von einer Fuchsjagd unter wolkengesprenkeltem Himmel, Schränke und Türen und eine Anrichte mit feinem Porzellan; sieht das alles, nimmt aber kaum etwas wahr. Sein Geist ist unruhig, seine Haut kribbelt, nervös, ängstlich. Als Renfrew sich ihnen wieder zuwendet, hält er zwei Hemden in der Hand. Eins legt er über die Lehne eines unbenutzten Stuhls, das andere breitet er mit beiden Händen aus, präsentiert den Rußfleck darauf.

Und hebt zu seinem Vortrag an:

»Rauch kann viele Farben annehmen. Oft ist er hell, grau, fast weiß, und riecht kaum stärker als ein angezündetes Streichholz. Dann gibt es gelben Rauch, dicht und feucht wie Nebel. Blauen Rauch, säuerlich wie verdorbene Milch, der sich, kaum hat er sich gebildet, auch schon wieder auflöst. Gelegentlich beobachten wir schwarzen Rauch, ölig und schwer, der an allem, was er berührt, kleben bleibt. Die unterschiedlichen Texturen, Tönungen und Dichten sind ausführlich in den Vier Büchern des Rauchs beschrieben und nach dreiundvierzig Arten klassifiziert. Schwieriger ist es, die genaue Ursache für jede dieser Arten zu ermitteln. Dabei kommt es nicht nur auf die Tat, sondern auch auf den Täter an. Die durch und durch Verdorbenen erzeugen dunkleren, dichteren Rauch. Ist das moralische Siechtum eines Menschen erst weit genug fortgeschritten, sind all seine Handlungen von der Krankheit gefärbt. Selbst die unschuldigste Tat wird –«

»Sünde, Master Renfrew«, fällt Swinburne ihm ins Wort. Seine Stimme, die Thomas von den drei wöchentlichen Predigten vertraut ist, besitzt eine unverwechselbare, durchdringende Schrillheit. Er klingt, als hätte er einen Jungen gefressen, der mit den Fingernägeln über die Tafel kratzt. »Es ist die Sünde, die die Seele schwärzt, keine Krankheit.«

Verärgert hebt Renfrew den Kopf, doch ein Blick des Direktors bringt ihn dazu, seine Erwiderung hinunterzuschlucken.

»Sünde also. Einzig eine Frage der Nomenklatur.« Er hält kurz inne, sammelt seine Gedanken, bohrt die Finger in den Stoff des Nachthemds. »Rauch ist, in jedem Fall, sehr leicht zu lesen. Er ist die lebendige, stoffliche Manifestation des Verfalls. Der Sünde. Ruß hingegen – nun, das ist eine völlig andere Angelegenheit. Ruß ist träge, tot. Das Produkt eines Symptoms und als solches unerforschlich. Oh, jeder Narr kann bestimmen, in welcher Menge er vorliegt und ob er fein wie Meeressand oder grob wie zerstoßener Ziegelstein ist. Doch das sind nur primitive Maßeinheiten. Ein präzises wissenschaftliches Vorgehen« – bei diesen Worten streicht Renfrew sein Jackett glatt – »ist nötig, um eine differenzierte Analyse hervorzubringen. Ich habe den ganzen Vormittag Proben von beiden Hemden unter dem Mikroskop studiert. Es gibt Mittel, die Trägheit der Substanz rückgängig zu machen und sie sozusagen vorübergehend wieder zum Leben zu erwecken. Eine konzentrierte Lösung aus Papaver fuliginosa richteria, auf sechsundachtzig Grad erhitzt und mit –«

Renfrew unterbricht sich. Seine Selbstbeherrschung nimmt durch die Aufregung Schaden. Er fährt an anderer Stelle fort, mit veränderter Stimme, sanfter, vertraulicher, als würde er nur mit den Jungen sprechen; tritt näher.

»Ich habe also den Vormittag damit verbracht, diese beiden Hemden zu untersuchen, und dabei etwas Ungewöhnliches entdeckt. Etwas Beunruhigendes. Eine Art von Ruß, die mir erst einmal begegnet ist. In einem Gefängnis.«

Er tritt noch einen Schritt näher, befeuchtet die Lippen. Mitgefühl schwingt in seinem Tonfall mit. »In einem von Ihnen wächst etwas heran. Ein Geschwür. Ein moralisches Krebsgeschwür. Sünde« – ein rascher Blick zu Swinburne, feindselig und ironisch – »so schwarz wie die von Adam. Das erfordert drastische Maßnahmen. Wenn sie sich ausbreitet, wenn sie den Körper bis zur letzten Zelle befällt, dann kann niemand mehr etwas ausrichten.« Er macht eine kurze Pause, fixiert die beiden Jungen. »Dann sind Sie verloren.«

Thomas ist ein, zwei Minuten lang taub. Eine merkwürdige Taubheit: Seine Ohren funktionieren bestens, aber die Worte, die er hört, erreichen sein Gehirn nicht mehr, zumindest nicht auf die übliche Weise, nach Bedeutung gefiltert und nach Wichtigkeit sortiert. Stattdessen sammeln sie sich einfach an.

Julius spricht als Erster, in gemessenem, wenn auch verletztem Tonfall.

»Wollen Sie nicht einmal fragen, was geschehen ist, Master Renfrew? Ich dachte, ich hätte mir an dieser Schule ein gewisses Maß an Vertrauen erworben, doch das war offenbar ein Irrtum. Argyle hat mich angegriffen. Wie ein tollwütiger Hund. Ich hatte keine andere Wahl, ich musste ihn bändigen. Er hat mich mit seinem Dreck beschmiert. Es ist sein Ruß. Ich rauche nie.«

Renfrew lässt ihn ausreden, beobachtet dabei aber nicht ihn, sondern die anderen Lehrer, von denen einige zustimmend nicken und murmeln. Irritiert folgt Thomas seinem Blick und entdeckt die Anklage in ihren Gesichtern. Er, Thomas, hat das einem von ihnen angetan, scheinen sie zu sagen. Hat ihn besudelt. Ihren Goldjungen. Thomas würde den Vorwurf gerne widerlegen, aber sein Gehirn will ihm nicht gehorchen. Er kann nur eines denken: Was bedeutet es, »verloren« zu sein?

»Ich hatte Gelegenheit, drei unterschiedliche Aussagen über den Vorfall einzuholen, Mr Spencer«, erwidert Renfrew schließlich. »Ich glaube, ich habe einen sehr guten Eindruck gewonnen, wie sich die Ereignisse zugetragen haben. Tatsache ist, dass beide Hemden beschmutzt sind – von außen und von innen. Der Ruß ist von unterschiedlicher Qualität. Doch fand ich Proben hiervon« – er zieht einen Objektträger aus der Tasche, auf dem ein paar Rußkörner in einem Tropfen rötlicher Flüssigkeit schweben – »auf beiden Hemden. Der Ursprung ließ sich nicht eindeutig ermitteln.

Beide Hemden«, fährt er fort und wendet sich jetzt an die Lehrer, »weisen zudem Spuren der Manipulation auf: in einem Fall sehr plump« – ein Nicken in Thomas’ Richtung – »im anderen raffinierter. Beinahe unmerklich, Mr Spencer.«

Julius schluckt, macht eine ruckartige Kopfbewegung. Raue Panik verzerrt jetzt seine Stimme.

»Ich verbitte mir … Meine Familie wird Ihnen … Es war allein dieser Junge, dieses Tier –«

Er bricht ab, heiser vor Wut. Swinburne rettet ihn, eilt mit raschelnder Robe zu ihm, legt ihm die Hand auf die Schulter, bedeutet ihm zu schweigen. Von Nahem riecht der Religionslehrer muffig und moderig, wie ein ungelüfteter Kellerraum. Der Geruch hilft Thomas, wieder zur Besinnung zu kommen. Er ist realer als alles andere im Raum. Abgesehen von diesem Klopfen. Als würde eine harte Faust auf Holz hauen. Niemand reagiert darauf. Es wird wohl sein Herz sein.

»Mr Spencer ist unschuldig.« Swinburnes Stimme duldet keinen Widerspruch. »Ich habe ebenfalls Nachforschungen angestellt. Die Situation ist mehr als eindeutig. Es ist die Schuld dieses Jungen. Sein Rauch ist mächtig. Er hat Spencer infiziert.«

»Infiziert?« Renfrew lächelt, während das Klopfen immer lauter wird. »Ein medizinischer Terminus, Master Swinburne. Ungewöhnlich aus Ihrem Mund. Aber Sie haben völlig recht. Rauch infiziert. Ein Punkt, der bisher nur unzureichend verstanden wird, fürchte ich. Deshalb bestehe ich darauf, dass beide Jungen morgen mit auf den Ausflug kommen.«

In dem Gewirr aus Stimmen und Schreien, das sich auf Renfrews Ankündigung hin erhebt, scheint Thomas’ Herz auszusetzen. Es tut einen letzten Schlag, dann ist es still. »Das darf nicht sein«, kreischt einer der Lehrer – Harmon? Winslow? – immer wieder schrill, als würde er Thomas’ Bestürzung in Worte kleiden. Einen Augenblick später fliegt die Tür auf, und die kleine, ungepflegte Gestalt von Cruikshank steht im Rahmen. Der gesamte Raum verstummt.

»Verzeihung, die Herren. Hab mir die Knöchel wund geklopft. Keine Antwort. Ne Nachricht für Master Foybles. Dringend, nich wahr. Wenn’s recht is.«

Der Angesprochene ist tief beschämt.

»Doch nicht jetzt, Sie Narr!«, schreit er, hastet durch das Zimmer und zerrt den Pförtner am Arm hinaus. Ihr geflüsterter Wortwechsel im Vorraum ist laut genug, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen.

»Sie ham doch ›sofort‹ gesagt«, beschwert sich Cruikshank.

»Aber einfach so hereinzuplatzen«, schimpft Foybles. »Sie Narr, Sie Narr!«

Trotzdem wirkt er hocherfreut, als er Cruikshank stehen lässt, die Tür schließt und sich wieder zu seinen Kollegen gesellt.

»Die Lieferung ist eingetroffen«, verkündet er triumphierend und reibt sich die Hände, ehe ihm die Atmosphäre im Raum ins Gedächtnis zurückruft, was sich hier soeben abgespielt hat. Enttäuscht verdrückt er sich in eine Ecke und vergräbt das Gesicht in einem Taschentuch, um sich gründlich die Nasenhöhlen zu reinigen. Wie eine Kompassnadel, die nur kurzzeitig von einem Magneten abgelenkt wurde, wenden sich alle erneut Renfrew zu. Die Entrüstung über seine Ankündigung hat sich allerdings erschöpft, und Thomas kann endlich wieder klar denken.

Er ist verloren.

Aber er darf mit nach London.

»Sie haben Einwände?«, fragt Renfrew mit ruhiger Stimme.

Swinburne funkelt ihn wütend an, dreht ihm den Rücken zu und richtet das Wort an den Direktor.

»Master Trout, dieser Junge ist ein Seuchenherd in unserer Mitte. Er sollte umgehend der Schule verwiesen werden.«

Swinburne lässt sich nicht einmal dazu herab, mit dem Finger auf Thomas zu zeigen. Doch Trout schüttelt den Kopf.

»Unmöglich. Er hat einen mächtigen Gönner. Ich will nichts mehr davon hören.«

Bevor Swinburne etwas erwidern kann, hievt Trout seinen schweren Körper aus dem Armsessel.

»Es ist Aufgabe des Lehrers für Rauch und Moral, die Strafe festzulegen. Die Richtlinien sind in dieser Hinsicht eindeutig. Wenn Dr. Renfrew der Meinung ist, dass diese beiden Jungen von der morgigen Exkursion profitieren, dann soll es so sein. Aber davon einmal abgesehen –« Er schaut Renfrew fragend an.

»Nach unserer Rückkehr werde ich mit den beiden arbeiten, Direktor Trout. Ein intensives Besserungsprogramm.« Renfrew schlägt einen versöhnlicheren Tonfall an. »Und falls es Sie beruhigt, meine werten Kollegen: Ich habe hier eine Liste der Seiten aus dem Buch des Rauchs, die die beiden für mich abschreiben werden. Aus dem dritten Band.« Er wirft Swinburne einen Blick zu. »Passagen, deren Erkenntnisse von den neuesten Forschungen bestätigt werden. Das ist mehr, als man von einem Großteil des Buchs behaupten kann.«

Er händigt Thomas und Julius jeweils eine Kopie der Liste aus, bleibt kurz neben dem Schulsprecher stehen.

»Eins noch, Mr Spencer. Diese mitternächtlichen Prüfungen werden aufhören. Ich allein habe an dieser Schule die Befugnis, Schüler zu verhören.«

Swinburne ist zu wütend, um seinen Ärger hinunterzuschlucken. »Das ist eine alte Tradition. Nur ein Narr mischt sich in –«

Renfrew fällt ihm ins Wort. Jetzt klingt seine Stimme kalt und grausam.

»Eine neue Ära bricht an, Master Swinburne. Gewöhnen Sie sich besser daran.«

Er bedeutet den beiden Jungen aufzustehen und schiebt sie förmlich zur Tür hinaus. Auf dem Korridor halten Thomas und Julius einen Moment lang inne, leicht benommen. Kurz flackert so etwas wie Kameradschaft zwischen ihnen auf, das Gefühl, gemeinsam einer Gefahr entronnen zu sein. Dann strafft Julius die Schultern.

»Ich hasse dich«, sagt er und marschiert davon. Nicht die geringste Spur von Rauch dringt aus seiner Haut, und Thomas fragt sich, weshalb Julius’ Hass gerecht und sein eigener so verdorben ist.

»Da bist du ja. Ich hab dich schon überall gesucht.«

Charlie erwischt ihn, kurz bevor das Licht gelöscht wird. Das ist das Problem im Internat: Egal, wie groß es ist, du kannst dich nirgendwo verstecken. Jede Ecke steht zu jeder Stunde unter Aufsicht. Leere Räume sind verschlossen, und die Korridore wimmeln vor Jungen. In allen Treppenhäusern patrouillieren Bedienstete, und draußen ist es einfach verflucht kalt.

»Die anderen behaupten, es hätte ein Tribunal gegeben. In Trouts Büro.«

»Ja.«

Charlie will etwas sagen, schluckt es aber hinunter und sieht ihn direkt an. Seine Augen wirken derart besorgt, dass es Thomas Angst einjagt.

»Was haben sie dir angetan?«

»Nichts.«

»Sicher?«

»Ja.«

Denn wie sollte Thomas es ihm erzählen? Dass er infiziert ist. Dass etwas Böses in ihm heranwächst, so schwarz und hässlich, dass es sogar Renfrew erschreckt. Dass er eines Tages aufwachen und etwas Unsägliches tun wird. Dass ihm das Verbrechen im Blut liegt.

Dass es gefährlich ist, mit ihm befreundet zu sein.