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Eine Insel zu betreten, indem man durch ein böses und dazu noch schlafendes Tor geht, ist nur der Anfang eines gefährlichen Abenteuers. Doch der Kobold Snobby und die Fee Aella müssen auf die Insel Selan gelangen. Es gibt keinen anderen Weg. Zugleich müssen ihre Freunde in der Stadt Bochea die schwarze Fürstin Monga, den finsteren König Vagho und seinen Magier Orapius an dem Raub der Kinder hindern, die der Feenkönigin Theodora gehören. Doch es mischt sich ein weiterer Dieb ein und auf der Insel kommt es zu einem dramatischen Kampf. Mit allen magischen Mitteln wird über Sieg und Niederlage entschieden. Auch in seinem siebentem Buch erzählt der Autor Jork Steffen Negelen vom Kampf der finstern Mächte gegen die Träger der weißen Magie. Es geht um Macht und Intrigen. Und es geht auch um die Liebe.
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Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Jork Steffen Negelen
Die Abenteuer der Koboldbande
Siebter Teil:
Snobby und das Geheimnis der weißen Fee
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2017
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Die Legende der Alten
Das Tor von Selan
Die Krone der Schattenalp
Die Fallen des Barbaron
Der Bruder des Orakels
Laurus gefährliche Puppen
Die Stimme des Schicksals
Das Schwert des Generals
Auf der Suche nach den Elflingen
Bruder und Schwester
Die magische Hinrichtung
Dämonicons Flucht
Der Ausbruch
Das Geheimnis des schlafenden Tores
Die Jagd der Feenkönigin
Der Wächter des Bannes
Der Feuertempel
Der Hüter des Seelenfinders
Nachwort
Registerverzeichnis
Der eisige Nordwind wirbelte mit aller Macht den Schnee in den Tälern des Drachengebirges auf. Er trieb ihn gegen die felsigen Wände der Berge. Krachend brach hier und da ein Ast durch die Last der Schneemassen von einem der Bäume, die sich mit aller Kraft gegen die Mächte des Winters stemmten. Das Heulen des Windes vereinte sich mit den Jagdrufen der Wölfe, die hungrig durch die Wälder des Drachengebirges zogen. Sie waren auf der Suche nach Beute. Trotz ihres gewaltigen Hungers mieden sie jedoch die Orte, die ihnen zu unsicher waren.
Einer dieser Orte war die Insel Dragon-Gorum. Da sie von einer tiefen Schlucht umgeben war, durch die sich das eisige Gebirgswasser mit aller Macht seinen Weg bahnte, konnte ein sterbliches Wesen diesen unheiligen Ort nur schwer erreichen. Nicht nur die Schlucht mit dem reißenden Wasser, auch die felsigen Berge mit ihrem finsteren Wald und einem steinernen Labyrinth mussten überwunden werden.
Doch da war noch etwas, das jedes Wesen genau betrachtete, das nach Dragon-Gorum wollte, oder von dort kam. Ein magisches Tor wachte über den unheiligen Ort. Am Ende einer Felsenhöhle wartete es geduldig auf jeden Reisenden. Aufmerksam betrachtete es ihn, wenn er von Dragon-Gorum kam, oder dort hin ging. Und wenn es mit dem Reisenden sprechen wollte, zeigte es sein Gesicht.
Vor diesem Tor standen die Gefährten, die nur wenige Stunden vorher eine Reihe gefährlicher Abenteuer mit Mühe und Not überstanden hatten. Zwei von ihnen waren die Riesen Artem und Tritor. Da dem Fürsten der Nachtaugenriesen die Weinbecher von Albanarius Festtafel zu klein waren, trank er den edlen Rebensaft gleich aus einem der großen Krüge. Der Nekromant füllte sie mit der Hilfe seiner Magie bis zum Rand wieder auf, sobald einer der Krüge geleert war.
Der Waffenmeister Tritor hatte ebenfalls einen Krug in seiner linken Hand. Doch bevor er ihn austrank, schüttete er dem Elfenkrieger Gordal den Becher noch einmal voll. Dann stimmte er in den Lobgesang der Minitrolle ein, die gerade die Kobolde hochleben ließen.
Die weiße Fee Aella sah dem lustigen Treiben der Minitrolle mit einem Lächeln auf den Lippen zu. Sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal bei einem so fröhlichen Fest dabei gewesen zu sein.
Aurelia, die Bergnymphe, sah den feiernden Freunden ebenfalls zu. Doch in Gedanken war sie noch immer bei dem Kampf, den sie gemeinsam mit Aella vor wenigen Stunden bestanden hatte.
Die schwarze Fürstin Monga war entkommen. Den Kobolden und den Nekromanten war es zwar gelungen, Mongas dämonische Chimäre zu vernichten, doch Monga würde bestimmt so schnell nicht aufgeben. Irgendetwas würde ihr schon einfallen. Da war sich die Nymphe sicher.
Zwei Freunde fehlten allerdings an der Tafel. Cylor und Orbin hatten es vorgezogen, durch das Tor hindurch in die Höhle zu gehen, die sich hinter dem Tor befand. Sie wollten nachschauen, ob sich noch ein ungebetener Gast in der Nähe aufhielt. Doch es war niemand da, der die Siegesfeier und den Gesang der Minitrolle stören konnte.
Zufrieden kehrten die beiden Nekromanten zu ihren Freunden an die Festtafel zurück. Einen Becher Wein und ein Stück vom Schweinebraten halfen ihnen, sich vor der Kälte zu schützen.
Als die Minitrolle ihr Lied beendeten, sprang ihr König mitten auf die Festtafel. Dann streckte er seine Arme in die Höhe. »Hört zu, meine Freunde!«, rief er ihnen zu. »Wir haben gut gekämpft und wir haben einen Sieg errungen. Jeder von uns, der aus Imperos Reich entkommen konnte, ist heute froh und glücklich. Doch wir sollten uns nichts vormachen. Es werden noch harte Zeiten auf uns zukommen. Deshalb sollten wir unser kleines Fest beenden und zur Drachenhöhle zurückkehren. Dort können wir ja …«
»Nein!«, unterbrach das Gesicht, das sich im Tor zeigte, den kleinen König Barbaron. Es wankte hin und her, bevor es weiter sprach. »Ich bitte um Entschuldigung, mein lieber Barbaron. Doch ich musste dich an dieser Stelle unterbrechen. Ein Schneesturm wird in wenigen Stunden ausbrechen. Er wird eure Reise zu der Drachenhöhle erschweren. Und ich habe euch noch nicht alles erzählt.«
»Ach ja?«, fragte Barbaron und er sah das Gesicht im Tor herausfordernd an. »Wir können ja den Schneesturm abwarten. Doch was willst du uns berichten? Hast du etwa noch ein Geheimnis, das du uns preisgeben willst?«
Das Gesicht im Tor lächelte gütig und betrachtete den kleinen König, der frech und angriffslustig auf dem Tisch stand und das Gesicht herausfordernd ansah. Es nickte und sprach mit sanfter Stimme weiter. »So könnte man es nennen, mein kleiner Freund. Ich möchte euch berichten, wie es vor langer Zeit zum Streit zwischen dem Schöpfer und seinen Söhnen kam.«
Barbaron sprang mit einem kurzen Trollsprung vom Tisch und landete auf der linken Schulter des Fürsten Artem. Der Riese sah den kleinen König grinsend an, doch er sagte kein Wort zu ihm.
Dafür sprach das Gesicht des Tores weiter. »Seht zu mir, meine Freunde. Ich kann auch mit euch reden, wenn ich mein Gesicht nicht zeige. Meine Magie ist groß und ihr könnt in mir sehen, was sich damals alles ereignete.«
Mit einem Blick erfasste das Tor, dass jeder der Gefährten mit voller Aufmerksamkeit zu ihm sah, und so sprach es weiter. »Niemand weiß heute genau, wie lange es schon her ist, als sich die sieben Söhne des Schöpfers mit ihrem Vater überwarfen und das Band zerriss, das sie miteinander verbunden hatte. Doch warum es geschah, das kann ich euch erklären.«
Das Tor stieß einen tiefen Seufzer aus und erzählte weiter. »Die Dämonen lebten damals in unserer Welt friedlich auf der Oberfläche und nicht in einem unterirdischen Reich. Wie in jedem Jahr brachten sie am Ende der Erntezeit ihr Opfer für den Schöpfer dar. Dazu gingen sie in ihre Tempel und sie opferten von dem, was auf ihren Feldern wuchs und in ihren Ställen stand. Vor allem Getreide und das Blut von Schafen, Ziegen und Rindern wurde auf den heiligen Altären dargebracht. So ehrten sie den Schöpfer und sie erfüllten damit den Bund, den sie mit ihm geschlossen hatten. Und dann geschah etwas, dass der Schöpfer nicht beabsichtigt hatte. Auf einer großen Insel, die weit im südlichen Meer liegt, wollte der Schöpfer Riesen und Erz-Elfen ansiedeln. Doch seine Söhne beanspruchten diese Insel für sich. Sie flehten ihren Vater an, ihnen diese Insel zu lassen, denn sie wollten allein auf ihr leben. Doch der Schöpfer blieb bei seiner Entscheidung, denn er meinte, dass auf der Insel für alle genügend Platz sei. Da berieten sich die sieben Söhne und sie schmiedeten einen Plan. Gegen den Willen ihres Vaters erschufen sie selbst zwei Völker. Sie sind euch bekannt, meine lieben Freunde.«
Im Tor waren die übergroßen Söhne des Schöpfers im Schleier einer Nebelwolke zu sehen. Sie verschwanden und eine Horde grünheutiger Wesen tauchte im Nebel auf. Ihnen folgte eine Horde, die gelb aussah und wie den grünen Wesen, wuchs auch ihnen ein Knochenkamm auf den Köpfen.
»Das sind doch die Dragolianer und die Obinarer!«, rief der Hauptmann der Minitrolle aufgebracht.
»Ja, das sind sie tatsächlich«, sprach das Tor weiter. »Sie wurden nicht von unserem Schöpfer erschaffen. Doch er duldet bis heute ihr Dasein, denn er würde niemals selbst in unsere Welt kommen, um zu vernichten, was er nicht haben will. Er entschloss sich viel mehr, die Riesen und die Erz-Elfen im Norden viele Meilen neben dem Reich der Dämonen anzusiedeln. Die beiden Völker wuchsen schnell und sie breiteten sich immer weiter aus. So siedelten sie nach wenigen Jahrhunderten an der Grenze des Dämonenreichs.«
»Und damit kam es zum ersten Grenzstreit!«, rief Barbaron dazwischen.
»Ach wirklich? Woher weißt du das?«, fragte das Gesicht und es sah mit strenger Miene zu dem kleinen König.
»Na das ist doch klar«, antwortete Barbaron. »Ich habe die Chronik des Schöpfers gelesen. Der Zauberer Meerland hat sie geschrieben, so wie sie ihm der Drachenkönig Urgos erzählte.«
»Ach ja …«, seufzte das Gesicht im Tor. »Die Drachen darf ich nicht vergessen. Sie sollten die Streitigkeiten zwischen den Dämonen und den Riesen schlichten. Doch die Söhne des Schöpfers wollten keinen Frieden. Sie sahen sich selbst als die wahren Herrscher unserer Welt. Könige wollten sie sein und sie stellten sich offen gegen den Willen ihres Vaters. Sie verbündeten sich mit den Dämonen und stellten ein gewaltiges Heer auf. Dann zogen sie gegen das Land der Riesen. Den Riesen kamen die Erz-Elfen und die Drachen zu Hilfe. In einer gewaltigen Schlacht wurde das Heer der Söhne geschlagen und der Schöpfer bestrafte sie. Auf ihrer Insel ließ er einen großen Berg aus hartem Felsen wachsen. Mit eisernen Ketten fesselte er seine ungehorsamen Kinder so, dass sie noch heute um diesen Berg herum stehen und sich nicht rühren können. An Händen und Füßen tragen sie ihre Ketten und sie sind im Laufe der Jahrtausende zu Stein erstarrt. Bevor sie erstarrten, gaben sie die schwarze Magie an die Dämonen weiter, die mit ihrer Hilfe noch weitere zwei Mal zur Schlacht antraten. Nachdem die dritte Schlacht verloren war, ereilte sie die endgültige Strafe. Der Schöpfer ließ sie von den siegreichen Erz-Elfen, Riesen und Drachen in eine große Ebene jagen. Die Erde dieser Ebene senkte sich in die Tiefe herab und eine Wand aus Felsen und Bergen wuchs drum herum. Dann bedeckte ein dickes Dach aus hartem Felsen das neue unterirdische Reich der Dämonen. Seit dem leben sie in der Dunkelheit und das Licht der Sonne ist am Tag ihr Feind.«
Das Gesicht machte eine Pause und sah zu Barbaron. Der trank gerade einen Schluck Wein aus Cylors Becher und wischte sich den Mund mit einem Tuch ab. Dann sah der kleine König aller Minitrolle wieder zum Tor. »Das kennen wir schon alles«, erklärte er. »Erzähl uns doch mal was Neues.«
Das Gesicht wankte wieder im Tor hin und her, ehe es weiter sprach. »Bevor die sieben Söhne des Schöpfers zu Stein erstarrten, kam Dämonicon zu ihnen auf die Insel. Die Dragolianer und die Obinarer lebten noch immer auf ihr. Sie hatten für jeden der Söhne einen eigenen Tempel gebaut. Von jedem Tempel führte damals ein Gang in den Berg hinein. Dort, wo sich die Gänge in einer großen Halle mitten im Berg treffen, steht ein Brunnen.«
»Schon wieder ein Brunnen«, stöhnte Barbaron. Das Gesicht sah ihn mit strenger Miene an. »Dämonicon beherrschte schon damals die schwarze Magie sehr gut«, sprach es weiter. »Als er auf die Insel kam und den Brunnen im Berg sah, da war ihm klar, das er den Ort gefunden hatte, der das Schicksal der Söhne des Schöpfers vollenden würde. Er wurde ihr erster Zauberer und die Dragolianer und die Obinarer mussten auch ihm dienen. Die sieben Alten wurden die Söhne des Schöpfers ab dieser Zeit genannt. Langsam wurden sie zu Stein, denn sie gaben immer mehr die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit auf. Der Schöpfer konnte ihnen ihre fürchterlichen Taten nicht vergeben. Dämonicon verschloss alle Eingänge, bis auf einen einzigen. Dann ließ er über den Brunnen ein großes Loch in das Dach des Tempels schlagen. Seit dem scheint der Vollmond immer wieder in den Brunnen hinein.«
»Das ist ja alles sehr schön«, unterbrach Barbaron das Gesicht. »Doch was haben wir mit dieser alten Legende zu tun? Wir sollten uns lieber um unsere Feinde kümmern.«
»Das stimmt«, sprach das Gesicht mit einem gütigen Lächeln weiter. »Dämonicon hat vor vielen Jahrhunderten sieben magische Schlüssel erschaffen. Doch er weiß nicht, wo sie sich befinden. Und er weiß auch nicht, wie sie aussehen. Ich kenne die magischen Schlüssel um so besser und ich glaube, die sieben Kobolde können sich denken, was ich meine.«
»Ja ja, wir wissen, was du meinst«, brummte Artur vor sich hin. »Meine Brüder und ich, wir haben schon längst erfahren, wer uns erschuf und welchem Zweck wir dienen sollen. Doch wir wollen die sieben Alten nicht erwecken. Wir würden damit ein dunkles Zeitalter heraufbeschwören und selbst der Schöpfer könnte uns nicht helfen. Deshalb darf kein Kobold jemals diese verfluchte Insel betreten.«
Das Gesicht betrachtete für einen Moment mit ernster Miene den Anführer der Koboldbande, ehe es weiter sprach. »Ich muss dir widersprechen, mein lieber Artur. Einer deiner Brüder muss zusammen mit Aella zu der Insel reisen. Ich habe Snobby diese gefahrvolle Aufgabe zugedacht. Er ist listig und klug und er hat Mut.«
Das Gesicht sah zu der weißen Fee und zu dem Kobold, der seinen großen Hut auf seinem Kopf zurechtrückte und etwas verlegen in die Runde der Freunde sah.
»Nur zwei Wesen dürfen zu gleich durch das finstere Tor auf der Insel gehen,« erklärte das Gesicht. »Es schläft meist und wir wollen es auf keinen Fall wecken. Es ist bösartig und seine Magie würde unsere Freunde nicht lebend von der Insel der Alten lassen. Für die Kobolde und ihre Freunde habe ich andere Aufgaben. Artem und Tritor sollten schnell nach Ando-Hall zurückkehren. Vagho wird bald seine Krieger schicken. Der König der Schattenalp fürchtet Dämonicons Macht und er wird deshalb alles tun, was der schwarze Prinz von ihm verlangt. Außerdem haben sie den Tod von zwei schwarzen Hexern zu beklagen. Der Verlust von Morwes wird sie nicht weiter kümmern, doch Mauran war für sie ein wichtiger Mann. Sie werden auf Rache sinnen. Ich kann wittern, dass sie deshalb etwas Gemeines planen. Doch ich kann ihre Pläne nicht genau erkennen. Zu dunkel sind die Geheimnisse, so als ob sie von einem schwarzen Nebel verhüllt werden.«
Barbaron stand wieder auf der Festtafel und zeigte mit den Resten einer Hühnerkeule zu dem Gesicht. Hastig schluckte er herunter, was er im Mund hatte. Er brachte mit Mühe eine Frage hervor. »Kannst du dir mit deiner Witterung nicht etwas mehr Mühe geben?«
Mit finsterer Miene sah das Gesicht zu dem kleinen König. »So einfach geht das nicht. Das Wittern ist eine Gabe, die zu weilen etwas unbestimmt ist. Nicht alles kann man so herausbekommen. Gerade bei finsteren Gedanken ist das schwierig.«
»Na, da helfe ich dir doch ein wenig«, sprach Barbaron und er spülte den letzten Brocken Hühnerfleisch mit einem Schluck Wein hinunter. Dann zog er seinen Hauptmann zu sich heran und tippte ihm mit dem abgenagten Hühnerknochen auf die Brust. »Hör gut zu, mein Freund. Du nimmst dir noch zwei Begleiter von unserem Volk und holst mit ihnen den Kompass. Lass dich nicht aufhalten und beeile dich. Ihr springt alle drei von Tal zu Tal, bis ihr an die Drachenhöhle kommt. Dort schnappt ihr euch den Kompass. Von ihm erhaltet ihr die Koordinaten für euren Rücksprung.«
»Sollen wir dir auch deinen blauen Kristall mitbringen?«, fragte der Hauptmann und er erkannte die Antwort am Grinsen seines Königs. »Das ist eine glänzende Idee«, verkündete Barbaron. Er gab seinem Hauptmann einen Kuss auf die Stirn. Mit vor Stolz geschwallter Brust drehte sich der Hauptmann zu den anderen Minitrollen um und winkte zwei von ihnen zu. Noch bevor das Gesicht etwas dazu sagen konnte, war der Hauptmann mit seinen Begleitern durch das Tor hindurchgelaufen.
»Wir werden in einer Stunde mit etwas Glück ein gutes Stück klüger sein«, meinte Barbaron und er zwinkerte dem Gesicht zu. Bedächtig wiegte es sich im Tor hin und her. »Möge der Schöpfer deinem tapferen Volk beistehen, mein lieber kleiner König.«
Obwohl das Gesicht diese Worte leise aussprach, hörte Barbaron sie sehr gut. »Du solltest uns Minitrollen ein wenig mehr zutrauen«, erklärte er, während ihm Cylor seinen Becher wieder füllte. »Wir haben viele gefährliche Abenteuer überstanden. Da kannst du jeden von uns fragen.«
Das Gesicht nickte nur und es sah wieder zu Aella und Snobby. »Ihr beide werdet auf der Insel der Alten viele Dinge sehen, die euch das fürchten lehren werden. Ihr müsst vorsichtig sein, denn die Kreaturen, die ihr dort findet, könnten euch töten, wenn ihr ihnen in die Hände fallt.«
Snobby hatte bei dem Gedanken an das, was ihm und Aella noch bevorstehen würde, seinen Appetit verloren. Lustlos sah er sich die vielen Teller und Schalen an, die Albanarius mit seiner Magie immer wieder auffüllte. Er hörte die Worte des Gesichts, das von den grausamen Wesen sprach, die auf der Insel den Felsen mit den sieben versteinerten Söhnen des Schöpfers bewachten. Sie sollten die Nachfahren der Obinarer und der Dragolianer sein, die auf der Insel von den Alten erschaffen wurden.
»Wieder so eine Legende …«, flüsterte Snobby Aella zu. »Niemand weiß, ob sie wahr ist oder ob sich dahinter noch etwas anders verbirgt.«
»Natürlich ist die Legende der Alten wahr!«, fauchte das Gesicht Snobby an. Es kam dabei erstaunlich weit aus seinem Tor in der Felswand heraus. Erschrocken schwiegen die Gefährten und sahen das Gesicht an. Es schwankte im Tor hin und her und es wechselte dabei mehrmals die Farben. Erst wurde es rot, dann gelb und zum Schluss leuchtete es im hellen Blau auf. »Entschuldigung«, sprach es leise zu den Gefährten. »Ich bin wohl etwas laut geworden.«
»Etwas!«, ereiferte sich Barbaron, noch bevor einer der Freunde ein Wort sagen konnte. »Da untertreibst du wohl etwas«, erklärte der kleine König mit erhobenem Zeigefinger. »Mir sind beinah die Ohren abgefallen.«
Das Gesicht wendete sich Barbaron zu und grinste ihn an. »Och na ja«, sprach es und es zwinkerte dabei mit den Augen. »Sie sind ja noch dran, deine kleinen spitzen Lauscher.«
Der kleine König saß mitten auf dem Tisch und nahm sich noch eine Hühnerkeule von einer der vollen Schalen. Er zog es vor, dem Gesicht nicht zu antworten und seine Gedanken wanderten beim Essen zu seinem Hauptmann und den beiden Begleitern. »Hoffentlich kommen die Drei gut voran«, flüsterte er vor sich hin. Im Winter war es für einen kleinen Minitroll nicht leicht, den hohen Schnee beim Springen zu meiden und sichere Landeplätze zu finden. Sie würden mindestens eine Stunde brauchen, um zur Drachenhöhle zu gelangen. Der Sprung zurück nach Dragon-Gorum würde ein Stück leichter werden. Mit dem Kompass waren größere Sprünge möglich. Doch die Landung war immer ein Risiko. Barbaron erinnerte sich, wie er vor vielen Jahren einmal ausversehen im Schrank eines Elfen gelandet war. Der Kerl war der Koch eines großen Wirtshauses. Sein Schrank war voller Töpfe und Pfannen und zu allem Übel auch noch verschlossen. Der kleine König musste lächeln, als er an das entsetze Gesicht des Kochs dachte. Der hatte Barbarons Lärm gehört, als die Stapel des Kochgeschirrs im Schrank durch die Landung umfielen. Der Elf öffnete damals sofort den Schrank und seiner rechten Hand entglitt vor Schreck die Kelle, mit der er wohl zuschlagen wollte. Barbaron war viel schneller, als der Koch. Er sprang dem Kerl auf den Kopf und dann zum nächsten Fenster hinaus, direkt in einen stinkenden Misthaufen. Bei dem Gedanken an den üblen Geruch lehrte der kleine König noch einmal seinen Weinbecher.
Das Gesicht erzählte noch über eine Stunde lang von der Legende der Alten. Es berichtete von einem geheimnisvollen Orakel, das die Bewohner der Insel erst seit kurzer Zeit hatten und das sie in den Vollmondnächten beschwören konnten. Es sollte auch ein Dutzend schwarzer Priester gegeben haben, die von Dämonicon vor langer Zeit getötet wurden. Ihre Seelen mussten seit dieser Zeit Imperos dienen.
Als dem Gesicht nichts mehr einfiel, was es noch über die Legende berichten konnte, erklärte es Snobby und Aella die bevorstehende Aufgabe. Einige Gefährten, die noch vor einem Augenblick an der Tafel mit der Müdigkeit kämpften, wurden augenblicklich wieder wach. Jeder wollte wissen, was dieses so ungleiche Paar zu erwarteten hatte.
»Sobald ihr auf der Insel seid …«, sprach das Gesicht zu der Fee und dem Kobold, »werdet ihr euch ein Versteck suchen müssen. Schaut euch vorsichtig um und versucht nicht, zu dem Felsen zu gehen, der in der Mitte der Insel steht. Ihr könnt schon von weiten sehen, dass um ihn herum sieben Tempel mit den versteinerten Figuren von beträchtlicher Größe stehen. Diese Figuren sind alle zusammen an Händen und Füßen durch unzerstörbare Ketten verbunden. Die Tempel, die um sie herum gebaut wurden, sind schon längst wieder zerfallen und erneut aufgebaut worden. Doch die Bewohner der Insel sind mit dieser Arbeit noch längst nicht fertig. Sollten die Ketten der sieben Alten jemals fallen, so werden sie auferstehen und unsere Welt wird untergehen. Sie werden den Himmel verdunkeln und die Dämonen kehren zurück an die Oberfläche unserer Welt. Durch die Macht der schwarzen Magie währen sie unaufhaltbar.«
Das Gesicht hatte wieder seine Farbe gewechselt. Ein blasses Grau war zu sehen, das sich langsam in ein helleres Gelb wandelte. Traurig sah es Aella und Snobby an. »Ihr beide seid nicht zu beneiden. Jeder von euch erfüllt dort auf der Insel ein Stück seines Schicksals. Am Rande der Insel findet ihr die Stadt der Inselbewohner und den Tempel mit dem Orakel. Eure Aufgabe ist es, das Orakel zu stehlen. Es handelt sich um ein Wesen, das im Tempel der Stadt gefangen gehalten wird. Am besten wird es sein, ihr bringt der Königin Theodora dieses Wesen unversehrt, noch vor dem nächsten Vollmond. Wenn ihr es nicht schafft, so wird Dämonicon seinem Ziel ein Stück näher kommen. Als Orakel muss es ihm gehorchen. Weicht den Wächtern des Tempels aus, denn sie sind überaus gefährliche Krieger. Außerdem müsst ihr zu dritt durch das Tor der Insel fliehen, wenn ihr alles erledigt habt. Das Tor wird dann erwachen und Dämonicon erfährt, was geschehen ist. Doch das soll uns nicht weiter kümmern. Wenn ihr das Orakel von der Insel nach Bochea zu Theodora bringt, kann Dämonicon es nicht mehr finden. Dafür wird die Königin sorgen, das verspreche ich euch, meine Freunde.«
Ein erneuter Farbwechsel war im Gesicht zu erkennen. »Bei meiner Seele!«, rief es aus und es leuchtete purpurrot auf. Der Hauptmann stand plötzlich zusammen mit seinen Begleitern auf dem Tisch vor Barbaron. Mit ausgestreckten Armen hielt er den Kompass und den blauen Kristall seinem König unter die Nase. Barbaron war darüber hocherfreut und er griff sofort zu. »Na endlich«, jubelte er. »Da sind sie ja, meine drei Lieblinge. Ich danke euch, meine tapferen Krieger. Hoffentlich habt ihr unterwegs keine Schwierigkeiten gehabt.«
»Nein, das hatten wir nicht«, meldete der Hauptmann. »Tabor und sein Vater waren mit Urgos und Tangossa in der Drachenhöhle. Der Drachenjunge hat uns den Kompass und den Kristall gegeben. Sie waren sehr erleichtert, als ich ihnen sagte, dass wir alle wohl auf sind. Doch auf dem Weg zur Höhle haben wir ein Rudel Schattenalps gesehen. Zehn waren es bestimmt und sie hatten es sehr eilig. Woher sie kamen, konnten wir nicht erkennen. Doch sie wollten bestimmt zum Bluthort.«
Barbaron steckte seinen Kristall hastig ein und setzte sich wieder auf den Tisch. »Die besten Tischmanieren hast du ja nicht, mein lieber Freund«, knurrte Gordal leise zu Barbaron.
»Wenn die Zeiten besser sind, gewöhne ich mir die mal an«, antwortete der kleine König. Er hielt seinen Kompass vor sich hin, sodass auch das Gesicht ihn sehen konnte. »Das ist ja nicht zu fassen«, flüsterte es leise vor sich hin. »Dass ich hier auf meine alten Tage einen Hüter der Wege sehen werde, das hätte ich nie für möglich gehalten.«
Barbaron lächelte, als er die Worte des Gesichts hörte. »Ja, mein Freund«, sprach er und er streichelte liebevoll über den Kompass. »Wir Minitrolle sind voller Überraschungen. Doch nun werde ich den Kompass befragen und er wird uns bestimmt zeigen, wo sich unsere Feinde befinden.«
Die Freunde rückten enger zusammen und die Tischplatte füllte sich mit einem Haufen kleiner Minitrolle. Jeder wollte sehen und hören, was nun geschah. Der kleine König aller Minitrolle beschwor seinen heiß geliebten und so lang vermissten Trollkompass. Natürlich wollte Barbaron zuerst wissen, wo sich der gefährlichste aller Feinde befand und wer gerade bei ihm war. Der Kompass zeigte zum allgemeinen Erstaunen an, dass sich Dämonicon an einem weit entfernten Ort befand. »Der Kerl ist in der südlichen Wüste«, sprach Barbaron und ein bedeutungsvolles Raunen fuhr aus den Mündern seines Volkes. »Diesen Ort nannte man früher das Blutfeld von Hardion.«
»Dort war ich schon gewesen«, erklärte Gordal. »Hardion ist ein unheiliger Ort. Die Elfen von Penda haben dort eine Schlacht gewonnen. Doch was wir damals besiegten, das war kein Volk, sondern eine riesige Räuberbande. Dunkle Elfen, Menschen, schwarze Gnome und sogar Zwerge waren in dieser Räuberbande vereint. Hardion ist ein Labyrinth aus unzähligen Schluchten. Dort gibt es viele Verstecke und ich kann mir gut vorstellen, dass der schwarze Zauberer in dieser verfluchten Gegend etwas sucht.«
»Nicht so schnell«, ereiferte sich Barbaron. »Dazu kommen wir gleich. Ich sage euch erstmal, wer alles bei ihm ist.« Der kleine König beschwor wieder seinen Kompass. »Na sieh mal einer an«, sprach er und seine Miene verfinsterte sich. »Da haben wir ja die liebe Frau Mama.«
»Monga!«, entfuhr es Aella und Aurelia gleichzeitig. Die beiden ungleichen Kriegerinnen sahen sich sofort an. »Ich werde sie jagen und töten«, knurrte die Bergnymphe. »Und ich bin mit der Jagd an der Reihe, wenn du versagst«, knurrte die weiße Fee zurück.
Barbaron hatte große Mühe, seinen aufkommenden Zorn zu unterdrücken. »Wenn noch eine von euch Weibern ein Wort sagt, so jage ich euch beide. Und dann geht es quer durch das versteinerte Labyrinth«, zischte er leise, aber gut hörbar vor sich hin. »Der Kompass zeigt mir jetzt, das bei Dämonicon Vagho und Orapius sind«, erklärte Barbaron weiter. Er schaute sich um, darauf lauernd, dass jemand etwas sagte. Doch es war kein Wort zu hören. Zufrieden wendete sich der kleine König aller Minitrolle wieder seinem Kompass zu. Er beschwor ihn erneut und die Antwort kam schnell. »Das ist ja nicht zu fassen«, zischte Barbaron los. »Vagho und Orapius graben die Überreste eines dunklen Elfen aus. Assgho hieß der Kerl, als er noch lebte. Er hatte wohl eine wertvolle Krone bei sich, als er begraben wurde. Hat jemand den Kerl gekannt?«
Der kleine König sah in die Gesichter der Freunde, die ihm am nächsten waren. Die Nekromanten nickten nur und Gordal beugte sich zu Barbaron vor. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte, sodass sie sich noch ein wenig mehr bog. »Assgho war der letze König der dunklen Elfen von Villbass«, sprach der Elf und er sah den König der Minitrolle genau in die Augen. »Die Menschen haben ihn und sein Volk von der Insel Villbass vertrieben, weil sie von seinen ständigen Überfällen genug hatten.«
»So ist das also«, flüsterte Barbaron und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Vagho hat also seinem Nachfolger einen Besuch abgestattet. Ich konnte mich nicht mehr an den Namen erinnern. Doch da fallen mir so einige Geschichten über diese dunklen Elfen wieder ein. War da nicht eine magische Krone im Spiel?« Die Frage richtete der kleine König mit einem forschenden Blick an Albanarius.
Der Nekromant ließ sich mit seiner Antwort etwas Zeit. Erst trank er seinen Becher Wein in aller Ruhe aus und dann sah zu Barbaron, der noch immer auf dem Tisch saß und seinen Kompass in den Händen hielt. »Ja ja«, brummte der Zauberer los. »Der hatte so eine magische Krone auf dem Kopf. Mit ihr konnte er mühelos jedes Schloss öffnen. Selbst wenn es durch Zauberei versiegelt war, gelang es ihm. Nichts war vor ihm sicher und er wusste genau, wo er nach Gold und Edelsteinen suchen musste. Es gab kein Versteck, das er nicht plünderte. Nachdem er Vagho als König von Villbass abgesetzt hatte, ließ er nach dem Gold der weißen Elfen von Illwerin suchen. Doch er hatte keinen Erfolg, denn die Elfen waren klüger als er es sich vorstellen konnte. Sie haben Vagho und Assgho irgendwie überlistet.«
Der Bergboss mischte sich ein. Er stand hinter dem kleinen König und flüsterte ihm etwas zu. »Das weiß er nur, weil er selbst bei der Schlacht um die Stadt der weißen Elfen dabei war.« Barbaron drehte sich zu Bebo um. »Ich erinnere mich. Er hat mir und meinem Hauptmann diese Geschichte auch erzählt.«
Leise flüsterten einige Minitrolle miteinander und schließlich redeten alle durcheinander. Barbaron beschwor noch einmal seinen Kompass und seine Frage, die er danach laut ausrief, ließ jeden verstummen. »Kann mir mal jemand sagen, was ein Elfling ist?!«
Alle Gefährten sahen gleichzeitig zu dem kleinen König, der immer noch auf dem Tisch saß und seinen Kompass betrachtete. »Elflinge …?«,brachten Albanarius, Cylor und Orbin gleichzeitig heraus. Dabei beugte sich Orbin soweit über den Tisch, dass er mit seiner Nase fast den Kompass berührte. »Sagtest du soeben Elflinge?«, hauchte er beinah tonlos seine Frage heraus.
Barbaron beugte sich nun selbst etwas vor, so das seine Stirn gegen die Stirn des Nekromanten drückte. »Ja, mein lieber Orbin, das sagte ich laut und deutlich genug. Oder hast du was in deinen Ohren, was da nicht hinein gehört?«
Barbarons Frage und sein Grinsen waren unmissverständlich. Augenblicklich richtete sich Orbin zu seiner vollen Größe auf und er fing an zu stottern. »Wie … äh … ich meine … äh … wie …«
»Wie ich darauf komme, willst du bestimmt wissen«, erklärte Barbaron mit absolut freundlicher Miene. »Nun, das ist sehr einfach. Ich fragte den Kompass, was Dämonicon und seine Lumpen mit der Hilfe der Krone stehlen wollen. Und der Kompass antwortete mir, dass sie die Elflinge Albi, Membi und Sambo haben wollen. Also ist meine Frage doch durchaus verständlich. Wer oder was sind die drei Elflinge?«
Orbin holte tief Luft, bevor er Barbaron antwortete. »Wie du weißt, ist die Königin Theodora meine Schwester. Was ich dir hier sage, das sollte eigentlich niemand wissen. Sie bekam einst in einer einzigen Nacht drei Knaben. Diese Kinder waren so schön und so rein, dass ihre Liebe zu ihnen unvorstellbar groß war. Es war für Theodora ein furchtbarer Schmerz, als die Kinder sieben Jahre später an einem warmen Sommertag plötzlich erkrankten und in der folgenden Nacht starben. Sie waren von etwas gestochen worden, einem Insekt oder etwas Ähnlichem. Es half kein Gegengift und keine Magie. Sie starben sehr rasch. Theodora warf sich im Tempel von Bochea vor dem Abbild des Schöpfers auf den Boden und flehte ihn um Hilfe an. Der Schöpfer erhörte sie und er schloss mit ihr einen Bund. Er gab den drei Knaben das Leben zurück. Doch sie müssen seit dieser Nacht vor den Blicken der Bewohner von Bochea verborgen bleiben. Neben dem Tempel von Bochea steht ein großes Haus. Nur wenige verschwiegene Diener dürfen da hinein. In diesem Haus leben die Kinder und sie dürfen im Garten spielen, weil er von einer hohen Mauer umgeben ist. Wenn das Volk von Bochea die drei fliegenden Knaben sieht, werden sie die Kinder bestimmt töten wollen.«
»Warum wollen die Bewohner der Stadt das tun?«, fragte der Hauptmann aufgebracht. »Ja, Orbin. Erklär uns das!«
»Ja, erkläre es!«, riefen gleich mehrere Minitrolle.
Orbin hob seine Hände hoch und bat um Ruhe. Dann sprach er weiter. »Das Gift, das nach ihrer Wiederbelebung durch den Schöpfer noch immer in ihren Körpern war, tat etwas Erstaunliches. Es verhinderte, dass sie älter wurden und es ließ ihnen Flügel wachsen. Diese Flügel sehen den Flügeln von Libellen sehr ähnlich und die Elflinge können erstaunlich schnell mit ihnen fliegen. Doch eine Prophezeiung besagt, dass Bochea zerstört wird und alle Bewohner sterben, wenn die drei geflügelten Kinder über die Stadt fliegen. Jeder Bewohner von Bochea kennt diese Prophezeiung. Sieben Nächte vor dem Tod und der Wiedererweckung der Kinder hat Theodora im Schlaf die Prophezeiung selbst verkündet. Ihre Dienerinnen und die Krieger, die ihren Schlaf bewachten, haben sie gehört und weitererzählt. Die Feenkönigin konnte ihre eigenen Worte später nicht zurücknehmen. Seit dieser Zeit lässt sie es nicht mehr zu, das jemand im Schlaf ihre Worte belauschen kann. Es ist bei härtester Strafe verboten und die geschwätzigen Dienerinnen und Wachsoldaten mussten den Tempel verlassen. Ich habe nie wieder gehört, dass ein Geheimnis aus dem Tempel heraus kam. Und das soll auch so bleiben.« Orbin sah zu Barbaron und sein Blick verriet, dass er es ernst meinte.
»Da brauchst du dir keine Sorgen um mich und mein Volk zu machen. Wir sind nicht so geschwätzig. Außerdem kann ich mir denken, wo dich dein nächster Weg hinführen wird. Du willst doch bestimmt dein liebes Schwesterlein in die Arme schließen.«
»Ja, genau«, erklärte Orbin. »Das will ich tun und ich denke mal, dass außer Artem, Tritor, Snobby und Aella alle anderen dabei sein wollen. Ich will dem schwarzen Prinzen das Handwerk legen und Theodora zur Seite stehen.«
»Das wollen wir auch!«, rief der Hauptmann und seine Stimme ging in den Rufen der Freunde unter.
So wie es das Tor von Dragon-Gorum angekündigt hatte, zog ein mächtiger Sturm auf. Er trieb große Mengen von Schnee und Eis vor sich her und sein Heulen war nicht zu überhören. Als er nach einigen Stunden nachließ, brachen die Gefährten rasch auf. Artem und Tritor hatten es besonders eilig. Für sie war der Weg zurück nach Ando-Hall lang und beschwerlich. Der Sturm hatte den Weg zugeweht und sie würden suchen müssen, um ihn zu finden. Sie verabschiedeten sich und verschwanden durch das Tor.
Die nächsten Gefährten, die aufbrachen, waren die Kobolde, die Minitrolle und die Nekromanten. Artur gab Snobby noch eine Menge guter Ratschläge mit auf dem Weg. Snobby nickte nur und hörte sich geduldig die Worte seines Bruders an.
Aurelia machte Arturs Belehrungen ein Ende. »Lass es gut sein, mein lieber Freund. Snobby ist alt genug und er weiß bestimmt, was er tut.«
»Endlich erkennt das mal jemand«, rief Snobby erfreut aus.
Als Artur noch etwas sagen wollte, packte die Bergnymphe den Kobold am Kragen und zog ihn mit sich zum Tor. »Da geht es hinaus, mein kleiner Freund. Halte deine Flugschale bereit und verliere nicht deine Wolfsfelle. Sonnst frierst du beim Flug nach Bochea an deiner Schale fest. Um Snobby kümmert sich Aella. Die beiden haben ihre Aufgabe auf der Insel Selan zu erfüllen. Du erinnerst dich an die Worte des Tores?«
»Sagtest du Selan?«, fragte Artur verblüfft. »Heist die Insel etwa so?«
»Ja, so nennt man die Insel der Alten«, erklärte Aurelia. »Hast du das etwa nicht gewusst, mein kleiner Artur?«
»Nein, das habe ich noch nicht gewusst. Erinnere mich daran, dass ich es in meine Bücher eintrage, wenn ich mit meinen Brüdern wieder wohlbehalten zu Hause angekommen bin.« Artur sah, wie die Bergnymphe ihm erstaunt ansah. Aurelia ließ seinen Kragen los und sie gingen beide durch das Gesicht hindurch. Es leuchtete in allen Farben des Regenbogens auf und ein gütiges Lächeln umspielte seinen Mund.
»Aurelia will also Monga jagen«, sprach das Gesicht zu Snobby und Aella. Die beiden waren die letzten Gefährten, die noch durch das Tor gehen mussten. »Sie hat den Namen der Insel genannt. Ich selbst kann ihn nicht aussprechen. Das würde das Tor aufwecken, das die Insel der Alten bewacht. Wenn ihr diesen verfluchten Ort betreten habt, so sprecht diesen verdammten Namen niemals laut aus. Das Tor würde erwachen und es gäbe für euch keine Möglichkeit zur Flucht. Selbst eure Flugkünste würden euch nicht helfen. Die Insel ist mit einem Bann umgeben, der euch an einer Flucht hindert. Ihr müsst durch das Tor zurückkehren, wenn es schläft. Prägt euch meine Worte ein. Kommt dem Felsen nicht zu nah und holt euch das Orakel. Es ist ein Wesen aus Fleisch und Blut. Seine Macht ist groß, doch gebunden an den Tempel der Insel dient es Dämonicon und seinem Vater Imperos. Ihr müsst vorsichtig sein und jedes Versteck nutzen, das ihr findet. Mich selbst betrübt es unendlich, dass ich euch zu so einem gefährlichen Ort schicken muss.«
»Das verstehen wir sehr gut«, sprach Snobby. »Du solltest dir aber keine großen Sorgen machen«, fügte Aella hinzu. »Wir können gut auf uns selbst achten und die weiße Magie wird uns helfen.«
»Ich hoffe, dass euch der Schöpfer hilft«, entgegnete das Gesicht. »Die Zeit ist gekommen, um Abschied zu nehmen. Ihr geht durch mich hindurch und ich schicke euch auf die Insel. Seid vorsichtig, meine Freunde und hütet euch vor dem Tempel der sieben Alten, denn nur dann werdet ihr euer Schicksal meistern.«
Der Kobold und die Fee traten an das Tor heran. Das Gesicht leuchtete auf der Felswand in allen Farben auf, als sie hindurchgingen. Es verschwand sofort, als die beiden ungleichen Gefährten die Insel erreichten.
Selan erwies sich als düsterer Ort. Das Tor der Insel stand in einer großen Ebene. Es sah wie ein hoher Bogen aus, den Wind und Wetter aus einem Felsen herausgewaschen hatten. Doch beim näheren Betrachten bemerkten die beiden Reisenden, dass dieses Tor das Werk eines Baumeisters sein musste. In seiner Mitte war ein Gesicht zu erkennen. Es ähnelte dem Tor von Dragon-Gorum ein wenig, doch seine Augen waren geschlossen und es schnarchte fürchterlich.
Aella und Snobby gingen hinter einem der vielen Felsbrocken in Deckung, die in der Nähe des Tores herumlagen. Das Gesicht des Tores hörte plötzlich auf zu schnarchen. Es räusperte sich laut und öffnete die Augen. Dann gab es ein drohendes Brummen von sich. Schließlich schlief es wieder ein und sein Schnarchen dröhnte so laut, das es die Felsen erzittern ließ.
Snobby gab Aella einen Wink und sie schlichen von einem Felsbrocken zum nächsten. Da sie nicht wussten, wo sie sich auf der Insel befanden, wollten sie sich ein Stück vom Tor entfernen. Danach mussten sie nach einem Hinweis suchen. Irgendwo würde es einen Weg geben und am Strand der Insel musste die Stadt sein, von der ihnen das Tor von Dragon-Gorum berichtet hatte. Dort sollte auch der Tempel mit dem Orakel sein.
Das Einfachste war es wohl, einmal um die Insel zu fliegen. Dann kamen sie auf jeden Fall zu der Stadt. Snobbys Gedanken kreisten um diese Stadt und er fragte sich, wie sie wohl aussehen würde. Ihm fiel auf, dass er den Namen der Stadt nicht ein einziges Mal gehört hatte. Er zupfte Aella am Ärmel ihres Mantels. Die Nymphe sah sich gerade die Gegend an.
»Was ist denn?«, flüsterte sie und sie beugte sich zu dem viel kleineren Kobold herunter.
»Ich wollte dich nicht stören«, flüsterte Snobby zurück. »Doch ich kenne den Namen der Stadt nicht, die wir auf dieser öden Insel suchen. Das freundliche Tor hat ihn nicht erwähnt.«
Die Nymphe hockte sich neben Snobby hin. »Du hast recht«, flüsterte sie. »Wir kennen nicht einmal den Namen dieser Stadt. Doch das ist für uns nicht wichtig. Viel wichtiger ist der Weg, der zu ihr führt. Ich konnte noch keine Straße oder einen Weg entdecken. Außerdem ist es hier verdammt warm.«
Dem stimmte der Kobold sofort zu. »Das habe ich auch schon bemerkt. Ich schwitze mächtig und meine Wolfsfelle sind eine große Last. Ich werde meinen Mantel ausziehen und ihn zusammen mit den Fellen in meinem Zylinder verstauen. Da passt alles hinein und durch seine Magie wiegt er nicht mehr als vorher.«
Die Nymphe war erstaunt und sie zog sofort ihren Mantel aus. »Passt der auch noch hinein?«, wollte sie wissen.
»Selbstverständlich kommt das gute Stück in mein geheimes Versteck«, flüsterte Snobby mit einem kleinen Lächeln. Er verstaute alles, was sie nicht unbedingt brauchten, in seinem Zylinder. Danach setzte er ihn wieder auf seinen Kopf. Zufrieden sah er zu Aella, die schon wieder die Gegend betrachtete und dann zum nächsten Felsbrocken schlich.
Der Kobold folgte ihr und so kamen sie nach einer Stunde zu einem großen Stein, der keinem der Felsen ähnelte, die hier in der Gegend herumlagen. Auf ihm hatte vor langer Zeit jemand einige Zeichen hineingeschlagen. Aella strich mit beiden Händen über sie und flüsterte dann dem Kobold zu, was sie auf dem Stein lesen konnte. »Wanderer, gehst du nach Norden, so kommst du zum Heiligtum unserer Ahnen. Gehst du nach Süden, so kommst du zu unserer Stadt und zum großen Wasser, dass die Insel umgibt. Gehst du nach Westen, so führt dich dein Weg zu der Höhle des Wächters und gehst du nach Osten, so wirst du den Tod in die Augen schauen.«
»Na dann ist ja alles klar«, flüsterte Snobby. »Wir gehen selbstverständlich nach Süden. Alle anderen Richtungen wären wohl Quatsch für uns.«
Aella sah zu dem kleinen Kobold mit dem großen Zylinder und sie streckte ihre Armen aus, so als wollte sie in alle Richtungen gleichzeitig zeigen. »Du hast absolut recht, mein kleiner Freund. Doch eine Frage habe ich an dich. Wo ist Süden und wo ist der Weg, der uns zu der Stadt bringt?«
Snobby wollte etwas entgegnen, doch nun fiel ihm auf, dass der Himmel mit düsteren Wolken verhangen war und kein Sonnenstrahl die Insel erreichte. Er sah sich um, doch so weit er auch schaute, ein Weg oder etwas Ähnliches war nicht zu entdecken. Ratlos sah er zu Aella. Er rieb sich mit der linken Hand sein Kinn und schob seinen Zylinder auf seinem Kopf ein wenig nach hinten. »Vielleicht sollten wir es mit fliegen probieren?«, fragte er vorsichtig.
Aella schüttelte heftig den Kopf. Sie hockte sich wieder neben dem Kobold hin und tippte ihn sanft an seiner Nase an. »Damit sollten wir es probieren«, erklärte sie. »Der Himmel ist mit Absicht verdunkelt worden. Man kann am Tage ein gutes Stück von der Insel sehen, doch die Sonne sieht man nicht. Straßen und Wege wurden mit Absicht nicht angelegt, damit sich jeder verirrt, der nicht auf diese verdammte Insel gehört. Doch einen Wegweiser konnte niemand von diesen Inselkreaturen ausschalten. Es sind unsere Nasen, die uns führen werden. Ich kann das Meer riechen, und wenn du dir ein wenig Mühe gibst, dann kannst du es auch.«
Snobby war erstaunt, doch er hielt seine Nase in den Wind, der leicht über die staubige Sandebene strich. Ein feiner Geruch von Salzwasser lag in der Luft und der Wind zeigte ihm die Richtung an. Mit einem breiten Grinsen sah er zu Aella. Seine rechte Hand zielte nach Osten, denn von dort kam der Wind.
»Meine liebe weiße Fee«, sprach er leise zu ihr. »Du hast absolut den richtigen Riecher, wenn ich das so sagen darf.«
Die Fee lächelte und sie zwinkerte dem Kobold zu. »Lass uns keine Zeit verlieren. Wir holen uns das Orakel und verschwinden wieder.«
»Ja«, antwortete Snobby. »Das machen wir.«
Doch so leicht, wie sich das die beiden ungleichen Gefährten dachten, war die Aufgabe nicht zu schaffen. Ein Geräusch schreckte sie auf und sie duckten sich hinter dem Stein mit der Inschrift. Aus der Ferne drang das Rumpeln eines Karrens in die Ohren der Fee und des Koboldes. Dieser Karren kam schnell näher und das Knallen einer Peitsche ließ die Gefährten zusammenzucken. Sie warteten, bis der Karren dicht neben dem großen Stein war.
Eine Stimme wurde laut und die Peitsche knallte wieder. »Zieh, du faules Miststück!«, rief der Kutscher. Ein Knacken war darauf hinzuhören und ein fürchterlicher Fluch folgte. Dem Gefährt war ein Rad von der Achse gesprungen. Der Karren kippte zur rechten Seite weg und der Kutscher flog mit seinem Begleiter in den Dreck. Die Gefährten sahen vorsichtig hinter dem Stein hervor und der Kobold konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Der Karren hatte nur zwei Räder und ein bedauernswerter kleiner Esel musste ihn ziehen. Der Kutscher war ohne jeden Zweifel ein Dragolianer und sein Begleiter ein Obinarer. Waffen hatten sie nicht bei sich. Wegen der Wärme waren sie nur spärlich bekleidet. Der Dragolianer hob den Karren an und der Obinarer steckte das Rad auf die Achse. Dann gönnten sie sich einen Schluck Wasser aus einer Kürbisflasche.
»Das tut gut«, schnaufte der Obinarer. Auf seiner gelben Schuppenhaut war deutlich der Staub zu sehen, den der Karren aufgewirbelt hatte.
»Wir haben den Weg bald geschafft«, erklärte der Dragolianer. Das Orakel wird morgen Nacht sprechen und einer der Priester hat mir versichert, dass es uns sagen wird, wer uns bedroht. Außerdem soll unser Herr bald zurückkommen. Er ist schon längst auferstanden, so wie es der erste Priester vorhergesagte.«
»Da erzählst du mir nichts Neues«, meinte der Obinarer. »Ich war dabei, als er im Frühjahr die Auferstehung Dämonicons vorausgesagt hatte. Niemand kennt das Schicksal so gut, wie der erste Priester. Doch der Iht-Dag meint, dass Orakel wäre noch viel besser. Lass uns die Opfergaben zum Felsen bringen. Dann sind wir rechtzeitig wieder in der Stadt. Platos wird dieses Mal auch im Tempel sein.«
Der Kutscher setzte er sich wieder auf seinen Platz und der Obinarer schob ihn ein Stück an. Danach sprang auch er auf und sie setzten ihre Fahrt fort.
Als die Karre nicht mehr zu hören war, sah Snobby zu Aella. Sie schien über die Worte des Obinarers erschrocken zu sein. »Stimmt etwas nicht?«, fragte der Kobold.
»Nein nein, es ist alles in Ordnung«, antwortete die Fee. »Lass uns der Spur des Karrens folgen. Sie wird uns zur Stadt bringen. Doch wir müssen verdammt vorsichtig sein.«
»Das wollte ich auch vorschlagen«, entgegnete der Kobold. Er sah sich die weiße Fee noch einmal prüfend an. Sie schaute in die Umgebung und deutete zu der Karrenspur, die im Sand gut zu sehen war. Snobby nickte ihr zu und sie schlichen weiter von Felsbrocken zu Felsbrocken.
Nach ungefähr zwei Stunden legten die Gefährten eine Rast ein. Sie hockten sich hinter einem Felsen und teilten sich den Inhalt einer Flasche Wasser. Es schmeckte köstlich und die Hitze des späten Nachmittags verstärkte diesen Eindruck noch. Als sie aufbrechen wollten, hörten sie wieder den Knall einer Peitsche. Der Eselskarren mit dem Dragolianer und dem Obinarer kam vom Felsen der Alten zurück. Sie hatten sich mit der Auslieferung ihrer Opfergaben nicht viel Zeit gelassen und der Esel zog den Karren, so schnell er konnte, zur Stadt zurück.