So blutig die Nacht - Robert Bryndza - E-Book
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So blutig die Nacht E-Book

Robert Bryndza

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Beschreibung

Vor sechzehn Jahren überlebte die ehrgeizige Polizistin Kate Marshall die Begegnung mit einem Serienkiller nur knapp. Gezeichnet von dem Trauma, schied sie aus dem Polizeidienst aus. Als der Vater eines vor zwanzig Jahren verschwundenen Mädchens sie um Hilfe bittet, wird Kate zurück in die Welt des Mörders gezogen. Gleichzeitig wird die Leiche einer jungen Frau gefunden - sie wurde nach demselben Modus Operandi getötet wie damals. Doch der Nine Elms Killer sitzt noch hinter Gittern ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungHERBST 1995KAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5FÜNFZEHN JAHRE SPÄTERKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17KAPITEL 18KAPITEL 19KAPITEL 20KAPITEL 21KAPITEL 22KAPITEL 23KAPITEL 24KAPITEL 25KAPITEL 26KAPITEL 27KAPITEL 28KAPITEL 29KAPITEL 30KAPITEL 31KAPITEL 32KAPITEL 33KAPITEL 34KAPITEL 35KAPITEL 36KAPITEL 37KAPITEL 38KAPITEL 39KAPITEL 40KAPITEL 41KAPITEL 42KAPITEL 43KAPITEL 44KAPITEL 45KAPITEL 46KAPITEL 47KAPITEL 48KAPITEL 49KAPITEL 50KAPITEL 51KAPITEL 52KAPITEL 53KAPITEL 54KAPITEL 55KAPITEL 56KAPITEL 57KAPITEL 58KAPITEL 59KAPITEL 60KAPITEL 61KAPITEL 62KAPITEL 63KAPITEL 64KAPITEL 65KAPITEL 66ZWEI WOCHEN SPÄTERKAPITEL 67EIN PAAR ZEILEN VON ROBDANKSAGUNG

Über dieses Buch

Vor sechzehn Jahren überlebte die ehrgeizige Polizistin Kate Marshall die Begegnung mit einem Serienkiller nur knapp. Gezeichnet von dem Trauma, schied sie aus dem Polizeidienst aus. Als der Vater eines vor zwanzig Jahren verschwundenen Mädchens sie um Hilfe bittet, wird Kate zurück in die Welt des Mörders gezogen. Gleichzeitig wird die Leiche einer jungen Frau gefunden – sie wurde nach demselben Modus Operandi getötet wie damals. Doch der Nine Elms Killer sitzt noch hinter Gittern …

Über den Autor

Robert Bryndza wollte schon als kleiner Junge Autor werden. Da er sich aber nicht vorstellen konnte, wie er davon leben solle, hat er den Plan nach der Schule erst einmal auf Eis gelegt, ging zur Schauspielschule und wurde Schauspieler. Heute sind seine Bücher Bestseller und wurden in 29 Sprachen übersetzt. Der Brite lebt mit seinem Ehemann in der Slowakei.

R O B E R T  B R Y N D Z A

SO BLUTIG DIE NACHT

THRILLER

Aus dem Englischen von Michael Krug

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2019 by Raven Street Ltd

Published by Arrangement with RAVEN STREET LTD.

Titel der englischen Originalausgabe: »Nine Elms – A Kate Marshall Thriller«

Originalverlag: Thomas & Mercer, Seattle

Dieses Werk wurde im Auftrag der Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Einband-/Umschlagmotive: © Arcangel: David Lichtneker;© shutterstock: Nataliia K | Artem Kovalenco

Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-9859-5

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für Lola und Riky

HERBST 1995

KAPITEL 1

Detective Constable Kate Marshall befand sich im Zug nach Hause, als ihr Telefon klingelte. Es brauchte einen Moment der Suche in den Taschen ihres langen Wintermantels, bevor sie das Gerät in der Innentasche fand. Nachdem sie das große, ziegelartige Mobiltelefon herausmanövriert hatte, zog sie die Antenne aus und ging ran. Es war ihr Boss, Detective Chief Inspector Peter Conway.

»Sir? Hallo.«

»Endlich. Sie geht ran!«, kam von ihm barsch und ohne Begrüßung. »Ich habe Sie angerufen. Mehrfach. Was hat es für einen Sinn, eines dieser neuartigen mobilen Telefone dabeizuhaben, wenn Sie nicht rangehen, verdammt?«

»Entschuldigung. Ich bin den ganzen Tag zur Urteilsverkündung im Fall Travis Jones bei Gericht gewesen. Er hat drei Jahre bekommen. Das ist mehr, als ich …«

»Jemand, der mit seinem Hund spazieren war, hat im Crystal Palace Park die Leiche einer jungen Frau gefunden«, fiel er ihr ins Wort. »Nackt. Bissspuren am Körper. Plastiktüte über dem Kopf.«

»Der Nine Elms Cannibal …«

»Operation Hemlock. Sie wissen, dass ich die Bezeichnung nicht leiden kann.«

Kate hätte gern entgegnet, dass sich der Name auf Lebenszeit festgesetzt hatte, doch Conway gehörte nicht zu den Vorgesetzten, die scherzhafte Bemerkungen goutierten. Die Presse hatte den Spitznamen vor zwei Jahren geprägt. Damals hatte man die siebzehnjährige Shelley Norris auf einem Schrottplatz in der Nine Elms Lane im Südwesten Londons gefunden, unweit der Themse. Genaugenommen biss der Mörder seine Opfer nur, doch davon ließen sich die Medien ihren eingängigen Spitznamen für den Serienmörder nicht vermiesen. In den vergangenen zwei Jahren waren zwei weitere Mädchen im Teenageralter entführt worden, jeweils am frühen Abend auf dem Heimweg von der Schule. Ihre Leichen waren einige Tage nach ihrem Verschwinden in verschiedenen Londoner Parks aufgetaucht. Nichts verkaufte Zeitungen besser als ein frei herumlaufender Kannibale.

»Kate. Wo sind Sie?«

Draußen vor dem Zugfenster herrschte Dunkelheit. Sie schaute zur elektronischen Anzeige im Wagon auf.

»Im DLR. Fast zu Hause, Sir.«

»Ich hole Sie vor dem Bahnhof an unserer üblichen Stelle ab.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf.

Zwanzig Minuten später wartete Kate auf einem kleinen Abschnitt des Bürgersteigs zwischen der Bahnhofsunterführung und dem verkehrsreichen South Circular, wo sich träge eine Kolonne von Autos vorbeiwälzte. Ein Großteil des Areals um den Bahnhof wurde gerade erschlossen. Kates Weg nach Hause zu ihrer kleinen Wohnung führte durch eine lange Straße mit leeren Baustellen. Kein Ort, an dem man sich nach Einbruch der Dunkelheit herumtreiben sollte. Die Passagiere, die mit ihr aus dem Zug gestiegen waren, hatten die Straße überquert und sich rasch in den dunklen Gassen zerstreut. Sie schaute über die Schulter zu der feuchten, verwaisten, schattigen Unterführung zurück und verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. Zwischen ihren Füßen stand eine kleine Tüte mit Lebensmitteln, die sie fürs Abendessen gekauft hatte.

Ein Wassertropfen traf sie am Hals, dann noch einer, und dann begann es zu regnen. Sie stellte den Kragen ihres Mantels hoch, zog den Kopf ein und bewegte sich näher zu den grellen Scheinwerferlichtern der Verkehrskolonne.

Kate war Operation Hemlock vor sechzehn Monaten zugeteilt worden, als die Zahl der Opfer des Nine Elms Cannibal bei drei stand. Es war für sie ein großer Schritt gewesen, auf einen hochkarätigen Fall angesetzt und in den Rang einer Ermittlerin in Zivil befördert zu werden.

In den acht Monaten seit dem Fund der Leiche des dritten Opfers – einer siebzehnjährigen Schülerin namens Carla Martin – war der Fall abgekühlt. Operation Hemlock war zurückgestuft worden, und man hatte Kate zusammen mit mehreren anderen jüngeren Beamten wieder zum Drogendezernat versetzt.

Mit zusammengekniffenen Augen spähte Kate durch den Regen die Kolonne des Autoverkehrs entlang. Grelle Scheinwerfer tauchten um eine scharfe Kurve der Straße auf, doch in der Ferne ertönten keine Polizeisirenen. Sie sah auf die Armbanduhr und trat einen Schritt aus dem gleißenden Licht zurück.

Kate hatte Peter seit zwei Monaten nicht mehr gesehen. Kurz vor ihrer neuerlichen Versetzung hatte sie mit ihm geschlafen. Er pflegte kaum außerdienstlichen Kontakt mit seiner Mannschaft, doch an einem der seltenen Abende mit einigen Drinks nach der Arbeit waren sie ins Gespräch gekommen. Dabei fand sie seine Gesellschaft und seine Intelligenz anregend. Sie blieben noch lang in dem Pub, nachdem der Rest des Teams nach Hause gegangen war. Danach waren sie in ihrer Wohnung gelandet. Und am nächsten Abend hatte er sie zu sich nach Hause eingeladen. Kates nicht nur einmalige, sondern zweimalige Affäre mit ihrem Vorgesetzten hatte ein Gefühl schwelender Reue hinterlassen. Es waren zwei Momente des Wahnsinns gewesen, bevor sie beide zur Besinnung gekommen waren. Seither siezten sie sich auch wieder. Kate besaß einen ausgeprägten moralischen Kompass. Sie war eine gute Polizistin.

Ich hole Sie an unserer üblichen Stelle ab.

Was Peter da gesagt hatte, störte sie. Zweimal hatte er sie zur Arbeit mitgenommen, beide Male hatte er auch ihren Kollegen Detective Cameron Rose abgeholt, der in der Nähe wohnte. Hätte er auch zu Cam unsere übliche Stelle gesagt?

Allmählich kroch die Kälte hinten unter ihren langen Mantel, und der Regen sickerte durch die Löcher in den Sohlen ihrer »guten Schuhe«, die sie zu Gerichtsterminen trug. Kate rückte den Kragen zurecht, zog den Mantel enger um sich und richtete die Aufmerksamkeit auf den Verkehr. Nahezu alle Fahrer waren Männer, weiß, Mitte bis Ende dreißig. Die perfekte Serienmörder-Demografie.

Ein verdreckter weißer Van rollte vorbei. Das Regenwasser auf der Windschutzscheibe verzerrte das Gesicht des Fahrers. Die Polizei ging davon aus, dass der Nine Elms Cannibal zum Entführen seiner Opfer einen Lieferwagen benutzte. An zwei der Leichen hatte man Teppichfasern gefunden, die zu einem Van des Typs Citroën Dispatch, Baujahr 1994, passten. Davon waren in und um London über einhunderttausend registriert. Kate fragte sich, ob die bei Operation Hemlock verbliebenen Beamten nach wie vor die Liste der Besitzer weißer Lieferwagen abarbeiteten, Modell Citroën Dispatch. Und wer war dieses neue Opfer? In den Zeitungen hatte nichts über eine vermisste Person gestanden.

Die Ampel weiter vorn wurde rot, und ein kleiner blauer Ford hielt wenige Meter entfernt in der Kolonne des Verkehrs. Der Mann darin sah nach einem typischen Stadtmenschen aus: übergewichtig, Mitte fünfzig, Nadelstreifenanzug und Brille. Als er Kate bemerkte, zog er anzüglich die Augenbrauen hoch und blinkte mit den Scheinwerfern. Kate schaute weg. Der blaue Ford rollte näher und schloss die Lücke in der Autokolonne, bis sich das Beifahrerfenster fast auf Kates Höhe befand. Der Mann ließ es herunter und beugte sich über den Sitz.

»Hallo. Du siehst aus, als wär dir kalt. Ich kann dich wärmen …« Er klopfte auf den Sitz neben ihm. Dazu streckte er die Zunge heraus, die sich als dünn und spitz erwies. Kate erstarrte. Panik stieg in ihr auf. Sie vergaß, dass sie einen Dienstausweis besaß und Polizistin war. Das alles ging den Bach runter, als Angst über ihr zusammenschlug. »Komm schon. Spring rein. Wärmen wir dich auf«, wiederholte der Unbekannte seine Aufforderung. Wieder klopfte er auf den Sitz, diesmal ungeduldiger.

Kate wich einen Schritt vom Bordstein zurück. Hinter ihr lag dunkel und menschenleer die Unterführung. In den anderen Fahrzeugen der Kolonne saßen ebenfalls Männer, die abgekapselt in ihren Autos von der Begegnung nichts mitzubekommen schienen. Die Ampel blieb rot. Der Regen trommelte stetig auf die Autodächer. Der Mann lehnte sich weiter herüber, und die Beifahrertür öffnete sich einen Spalt. Kate wich noch einen Schritt zurück, doch sie fühlte sich gefangen. Was, wenn er ausstieg und sie zur Unterführung drängte?

»Jetzt zick nicht rum. Wie viel?«, fragte er. Sein Lächeln war verschwunden, und Kate sah, dass er die Hose geöffnet hatte. Seine Unterhose sah ausgebleicht und schmuddelig aus. Er hakte einen Finger unter den Bund, entblößte seinen Penis und wuchernde, ergrauende Schambehaarung.

Kate stand wie angewurzelt da und wünschte inständig, die Ampel würde umschalten.

Plötzlich ertönte eine Polizeisirene und zerriss schrill die Stille. Blau blinkendes Licht erfasste die Autos der Kolonne und den Bogen der Unterführung. Hastig verpackte der Mann seinen Schritt, schloss die Hose, zog die Tür zu und aktivierte die Zentralverriegelung. Seine Züge nahmen wieder einen teilnahmslosen Ausdruck an.

Kate kramte in ihrer Handtasche und holte ihren Dienstausweis heraus. Sie trat zu dem blauen Ford und klatschte den Ausweis gegen das Beifahrerfenster, verärgert darüber, dass sie nicht schon früher daran gedacht hatte.

Peters ziviler Polizeiwagen mit dem rotierenden Blaulicht auf dem Dach schoss außen an der Kolonne vorbei, fuhr halb auf dem grasbewachsenen Bankett. Die Ampel schaltete auf Grün. Der Wagen vor dem blauen Ford fuhr an, und Peter lenkte in die entstehende Lücke. Mittlerweile geriet der Mann im Ford in Panik. Nervös strich er sein Haar und seine Krawatte glatt. Kate fixierte ihn mit einem stechenden Blick, verstaute ihren Dienstausweis wieder in der Handtasche und ging zur Beifahrertür von Peters Auto.

KAPITEL 2

»Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Der Verkehr …«, erklärte Peter mit einem breiten Lächeln. Er hob einen Stapel Papier vom Beifahrersitz und legte ihn hinter seinen Sitz. Peter war ein gutaussehender Mann Ende dreißig, breitschultrig, mit dichtem, dunklem, gewelltem Haar, hohen Wangenknochen und sanftmütigen braunen Augen. Er trug einen teuren schwarzen Maßanzug.

»Natürlich«, erwiderte Kate und verspürte Erleichterung, als sie ihre Handtasche und die Tüte mit den Lebensmitteln im Fußraum abstellte, bevor sie sich auf den Sitz plumpsen ließ. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, fuhr Peter los und schaltete die Sirene wieder ein.

Auf der Beifahrerseite war die Sonnenblende heruntergeklappt. Kate erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild, als sie die Blende hochklappte. Sie trug weder Make-up, noch war sie aufreizend gekleidet. Kate hatte ihr Aussehen immer für ein wenig schlicht gehalten. Sie war nicht zierlich, besaß markante Züge. Das schulterlange Haar trug sie aus dem Gesicht zurückgebunden und wie beiläufig unter den Kragen des langen Wintermantels gesteckt. Auffallend an ihr waren lediglich die ungewöhnlichen Augen von kräftigem Kornblumenblau mit aus den Pupillen fließenden Einsprengseln eines brünierten Orangetons. Das lag an einer sektoriellen Heterochromie, einem seltenen Befund, bei dem die Augen deutliche Farbunterschiede aufweisen können. Ein weniger dauerhaftes Merkmal ihres Gesichts war eine verschorfte aufgeplatzte Lippe, die sie einem wütenden Betrunkenen verdankte, der sich vor wenigen Tagen der Verhaftung widersetzt hatte. Beim Umgang mit dem Mann hatte sie keinerlei Angst empfunden, und sie schämte sich auch nicht dafür, dass es ihm gelungen war, sie zu schlagen. Das gehörte mit zum Job. Warum also schämte sie sich jetzt so dafür, dass dieser schmierige Geschäftsmann sie angemacht hatte? Immerhin war er derjenige mit der traurigen, ausgeleierten grauen Unterwäsche und dem verkümmerten Stummel von Mannespracht.

»Was war das eben? Mit dem Auto hinter uns?«, erkundigte sich Peter.

»Oh, eines seiner Bremslichter war kaputt«, antwortete Kate. Die Lüge fand sie einfacher. Ihr war zu peinlich, was sich da zugetragen hatte. Kate verdrängte den Mann und seinen blauen Ford aus den Gedanken. »Haben Sie das ganze Team zum Tatort gerufen?«

»Natürlich«, antwortete Peter und sah zu ihr herüber. »Nach unserem Gespräch hatte ich einen Anruf von Assistant Commissioner Anthony Asher. Er hat gesagt, wenn dieser Mord mit Operation Hemlock in Verbindung steht, muss ich es nur sagen, und mir werden alle Ressourcen zur Verfügung gestellt, die ich brauche.«

Er raste im vierten Gang durch einen Kreisverkehr und nahm die Ausfahrt zum Crystal Palace Park. Peter Conway war ein Karrierepolizist, und Kate hegte keinerlei Zweifel, dass die Lösung dieses Falls für ihn zur Beförderung zum Superintendent oder sogar Chief Superintendent führen würde. Peter war auch als jüngster Beamter in der Geschichte der Met Police zum Detective Chief Inspector ernannt worden.

Als die Scheiben anfingen, sich zu beschlagen, regelte er die Heizung höher. Der Kondensationsbogen auf der Windschutzscheibe kräuselte sich und wich zurück. Zwischen einer Gruppe von Reihenhäusern erhaschte Kate einen flüchtigen Blick auf die schillernde Skyline von London. Millionen Lichter zeichneten sich winzig vor dem schwarzen Hintergrund des Himmels ab, Symbole der Wohnungen und Büros von Millionen Menschen. Kate fragte sich, welches der Lichter zum Nine Elms Cannibal gehörte. Was, wenn wir ihn nie finden?, ging ihr durch den Kopf. Die Polizei hat auch Jack the Ripper nie gefunden, und damals war London im Vergleich zu heute winzig.

»Haben sich aus der Datenbank der weißen Vans neue Spuren ergeben?«, fragte sie.

»Wir haben sechs weitere Männer zur Befragung geholt, aber ihre DNA passte nicht zu unserem Mann.«

»Dass er DNA an den Opfern hinterlässt, ist weder Nachlässigkeit noch mangelnde Kontrolle. Es ist eher so, als würde er sein Territorium markieren. Wie ein Hund.«

»Glauben Sie, er will, dass wir ihn fassen?«

»Ja … Nein … Möglich.«

»Er verhält sich, als wäre er unbesiegbar.«

»Er denkt, er wäre unbesiegbar. Aber ihm wird ein Fehler unterlaufen. Ist immer so«, sagte Kate.

Sie bogen zum nördlichen Zugang des Crystal Palace Parks ab. Dort stand bereits ein Polizeiwagen. Der Beamte winkte sie durch. Sie fuhren eine lange gerade, normalerweise Fußgängern vorbehaltene Kiesallee entlang, gesäumt von mächtigen Eichen. Die Bäume verloren Blätter, die mit nassen Klatschlauten auf der Windschutzscheibe landeten und die Scheibenwischer behinderten. In weiter Ferne ragte der riesige Crystal Palace Sendeturm über die Bäume wie eine dünne Version des Eiffelturms. Die Straße beschrieb eine Kurve und endete in einem kleinen Parkplatz neben einer langen, flachen Wiese, die an ein Waldgebiet grenzte. Polizeiabsperrband umgab die gesamte Grasfläche. In der Mitte befand sich eine zweite, kleinere Absperrung um ein weißes, in der Dunkelheit leuchtendes Zelt der Spurensicherung. Neben der zweiten Absperrung parkten der Van der Gerichtsmedizin, vier Streifenwagen und ein großes, weißes Begleitfahrzeug der Polizei.

Wo der Asphalt ans Gras grenzte, flatterte das Band der ersten Absperrung im Wind. Zwei uniformierte Polizeibeamte traten Kate und Peter entgegen – ein Mann mittleren Alters, dessen Bauch über den Gürtel hing, und ein großer, dünner junger Bursche, der noch nach Teenager aussah. Kate und Peter zeigten dem älteren Beamten ihre Ausweise. Seine Lider wirkten durch zu viel lose Haut schwer, und als er von einem Dienstausweis zum anderen blickte, erinnerte er Kate an ein Chamäleon. Er gab die Ausweise zurück und setzte dazu an, das Absperrband hochzuheben, zögerte dann jedoch und schaute hinüber zu dem leuchtenden Zelt.

»In all meinen Dienstjahren hab ich so was noch nie gesehen«, kommentierte er.

»Waren Sie als Erster vor Ort?«, fragte Peter, der ungeduldig darauf wartete, dass der Mann das Absperrband hob, es jedoch nicht selbst tun wollte.

»Ja. PC Stanley Gresham, Sir. Das ist PC Will Stokes«, stellte er seinen jüngeren Kollegen mit einer Handbewegung vor, der plötzlich das Gesicht verzog, sich abwandte und sich über das Absperrband übergab. »Ist sein erster Tag im Dienst«, fügte Gresham kopfschüttelnd hinzu. Kate bedachte den jungen Beamten mit einem mitleidigen Blick, als er würgte und erneut erbrach. Von seinem Mund baumelten dünne Speichelfäden. Peter zog ein sauberes weißes Taschentuch aus seiner Innentasche. Kate dachte, er wollte es dem jungen Beamten anbieten. Stattdessen drückte er es sich selbst auf Mund und Nase.

»Ich will, dass der Fundort abgeriegelt wird. Zu niemandem ein Wort«, ordnete Peter an.

»Natürlich, Sir.«

Peter deutete mit den Fingern auf das Absperrband. Stanley hob es an, und sie duckten sich darunter hindurch. Die Wiese verlief abschüssig zur zweiten Absperrung, wo Detective Cameron Rose und Detective Inspector Marsha Lewis warteten. Cameron war wie Kate Mitte zwanzig. Marsha war älter als sie alle, eine stämmige Frau über fünfzig. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug und einen langen schwarzen Mantel. Sie hatte kurzes, silbriges Haar und eine kratzige Raucherstimme.

»Sir«, grüßten beide unisono.

»Wie sieht’s aus, Marsha?«, erkundigte sich Peter.

»Alle Zugänge und Ausgänge des Parks sind abgeriegelt, und ich habe örtliche Beamte als Unterstützung bei der Beweismittelsuche und bei Zeugenbefragungen angefordert. Die Rechtsmedizinerin ist schon da drin und bereit, mit uns zu reden.«

Der große, schlaksige Cameron überragte alle Anwesenden. Er hatte keine Zeit gehabt, sich umzuziehen, und wirkte in Jeans, Turnschuhen und grüner Winterjacke mehr wie ein halbseidener Teenager denn wie ein Ermittler der Polizei. Flüchtig fragte sich Kate, was er gerade gemacht hatte, als er zum Fundort gerufen worden war. Vermutlich war er zusammen mit Marsha eingetroffen.

»Wer ist unsere Rechtsmedizinerin?«, fragte Peter.

»Leodora Graves«, antwortete Marsha.

Die Beleuchtung in dem heißen und stickigen Zelt erwies sich als beinah schmerzhaft grell. Rechtsmedizinerin Leodora Graves, eine kleine, dunkelhäutige Frau mit stechenden grünen Augen, arbeitete mit zwei Assistenten. Eine junge Frau lag mit dem Gesicht nach unten in einer schlammigen Vertiefung der Wiese. Eine durchsichtige, um den Hals fest zugeschnürte Plastiktüte hüllte den Kopf ein. Dreck und Blut verschmierten die von zahlreichen Schnitten und Kratzern überzogene blasse Haut. Die Rückseite der Oberschenkel und das Gesäß wiesen mehrere tiefe Bissspuren auf.

Kate stellte sich neben den Leichnam. Sie schwitzte bereits unter der Kapuze und der Gesichtsmaske ihres dicken, weißen Schutzanzugs, den alle am Tatort tragen mussten. Der Regen prasselte laut auf den dünnen Stoff des Zelts und zwang Leodora, die Stimme zu heben.

»Das Opfer ist in Pose platziert. Es liegt mit dem rechten Arm unter dem Kopf auf der rechten Seite. Der linke Arm ist flach ausgestreckt. Im Kreuz, auf dem Gesäß und an den Oberschenkeln sind insgesamt sechs Bisse zu erkennen.« Sie zeigte auf die tiefsten Verletzungen, wo so viel Fleisch herausgerissen worden war, dass die Wirbelsäule durchschimmerte. Dann bewegte sie sich zum Kopf des Opfers und hob ihn sanft an. Das dünne Seil war dermaßen fest um den Hals geschnürt, dass es tief ins mittlerweile aufgedunsene Fleisch schnitt. »Ihnen wird der spezielle Knoten auffallen.«

»Die Affenfaust«, meldete sich Cameron erstmals zu Wort. Er klang erschüttert. Zwar verhüllten die Gesichtsmasken der Tatortschutzanzüge die Gesichter aller, doch Kate konnte ihnen das Entsetzen auch an den Augen ablesen.

»Ja«, bestätigte Leodora, die den Knoten in der behandschuhten Hand hielt. Ungewöhnlich war er aufgrund der Reihe sich kreuzender Windungen, die ihn beinah wie ein kleines Wollknäuel aussehen ließen und die man maschinell so gut wie unmöglich nachahmen konnte.

»Er ist es. Der Nine Elms Cannibal«, sagte Kate. Die Worte drangen aus ihrem Mund, bevor sie es verhindern konnte.

»Weitere Schlüsse kann ich zwar erst nach der Obduktion ziehen, aber … ja«, pflichtete Leodora ihr bei. Der Regen wurde stärker, das donnernde Prasseln auf das Zeltdach lauter. Sie ließ den Kopf der jungen Frau los, legte ihn behutsam zurück auf den Arm, wo er zuvor geruht hatte. »Es gibt deutliche Anzeichen, dass sie vergewaltigt wurde. Körperflüssigkeiten sind vorhanden, und sie wurde gefoltert, mit einem scharfen Gegenstand geschnitten und verbrannt. Sehen Sie die Brandmale an den Armen und außen an den Oberschenkeln? Sie scheinen vom Zigarettenanzünder eines Autos verursacht zu sein.«

»Oder eines weißen Lieferwagens«, merkte Kate an. Peter warf ihr einen strengen, eindringlichen Blick zu. Er konnte korrigierende Einwürfe nicht leiden.

»Todesursache?«, fragte er.

»Dafür muss ich erst die Obduktion durchführen, aber inoffiziell würde ich vorab sagen: Erstickung durch die Plastiktüte. Es sind Anzeichen für petechiale Blutungen im Gesicht und am Hals vorhanden.«

»Danke, Leodora. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse Ihrer Obduktion. Hoffentlich können wir diese arme junge Frau schnell identifizieren.«

Leodora nickte ihren Assistenten zu, die daraufhin eine ausklappbare Transportliege mit einem glänzenden, neuen schwarzen Leichensack hereinbrachten. Sie stellten die Liege neben dem Leichnam ab, bevor sie die junge Frau behutsam umdrehten, anhoben und darauf ablegten. Kleine runde Verbrennungen und Kratzer verunstalteten die Vorderseite des nackten Körpers. Wie die Frau ausgesehen hatte, ließ sich unmöglich abschätzen – das Gesicht zeichnete sich unter dem Plastik grotesk verzerrt ab. Sie hatte große, hellblaue Augen, im Tod milchig und starr. Der Ausdruck darin ließ Kate schaudern. Es fehlte jede Hoffnung, als wären die Augen mit einem letzten Gedanken erstarrt: Sie hatte gewusst, dass sie sterben würde.

KAPITEL 3

Durch den Anblick des misshandelten Leichnams der jungen Frau fühlte sich Kate aufgewühlt und nach einem ohnehin schon langen Tag umso erschöpfter. Aber bei Ermittlungen dieses Kalibers hieß es, schnell vorzugehen. Kaum hatten sie das Zelt der Spurensicherung verlassen, wurde Kate mit der Zeugensuche entlang der Thicket Road beauftragt, einer langen Allee mit gepflegten Einfamilienhäusern auf der Westseite des Parks.

Trotz eines Teams von acht Beamten dauerte es fast fünf Stunden, die gesamte Straße abzuklappern, und der Regen ließ einfach nicht nach. Die Hauptfrage, die sie stellten, lautete: Haben Sie einen weißen Citroën Dispatch Baujahr 1994 gesehen und/oder jemanden, der sich verdächtig verhalten hat? Damit entfachten sie bei den Anwohnern der Thicket Road sowohl Angst als auch Neugier. Über die Suche nach dem weißen Lieferwagen war in der Presse ausführlich berichtet worden, aber die Polizei durfte sich nicht zu den Einzelheiten des Falls äußern. Trotzdem wussten die meisten Leute, mit denen Kate sprach, dass es um den Nine Elms Cannibal gehen musste. Jeder schien dazu eine Meinung, Fragen oder einen Verdacht zu haben. Aus all dem ergaben sich endlose Spuren, denen nachgegangen werden musste.

Kurz nach Mitternacht wurden Kate und ihr Team zurück zum Treffpunkt gerufen. Der Körper der jungen Frau befand sich längst in der Leichenhalle zur Obduktion. Die Suche nach Beweismitteln im Crystal Palace Park wurde durch schlechte Sicht und strömenden Regen dermaßen erschwert, dass ihnen aufgetragen wurde, es für die Nacht gut sein zu lassen und am nächsten Morgen weiterzumachen.

Der Beamte, mit dem Kate zusammengearbeitet hatte, ging los, um einen Bus in den Norden Londons zu nehmen, wodurch Kate allein auf dem Parkplatz zurückblieb. Sie wollte sich gerade ein Taxi rufen, als die Lichter eines Wagens in der hinteren Ecke aufblitzten und sie Peter auf das Fahrzeug zugehen sah. Er bemerkte sie und blieb stehen, ließ sie zu sich aufschließen.

»Brauchen Sie eine Mitfahrgelegenheit nach Hause?«, fragte er. Kates Vorgesetzter war völlig durchnässt und wirkte müde. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er selbst die Ärmel hochgekrempelt hatte, statt in einem der Begleitfahrzeuge bei einer Tasse Kaffee zu warten. Kate ließ den Blick über den Parkplatz wandern. Drei Streifenwagen waren noch übrig, aber sie vermutete, sie gehörten den Beamten, die den Kürzeren gezogen hatten und im Park bleiben mussten.

Er bemerkte ihr Zögern.

»Ist kein Problem, und Sie haben ohnehin noch Ihre Einkaufstüte in meinem Auto«, sagte er. Seine offenkundig mangelnde Begeisterung dafür, sie nach Hause zu fahren, verringerte ihre Hemmungen, das Angebot anzunehmen.

»Danke. Das wäre toll«, erwiderte Kate. Sie sehnte sich plötzlich nach einer heißen Dusche, Tee, Toast mit Butter und Honig und anschließend ihrem warmen Bett. Er öffnete den Kofferraum des Wagens und holte einen Stapel Handtücher aus einem Wäschesack.

»Danke«, sagte sie, nahm ein Handtuch entgegen, legte es sich um die Schultern und wrang ihren nassen Pferdeschwanz aus. Als sie die Beifahrertür öffnete, sah sie, dass ihre Einkaufstüte tatsächlich noch auf dem Boden stand. Peter zog die Fahrertür auf, lehnte sich hinein und klappte das Handschuhfach auf. Er kramte darin herum, holte die Bedienungsanleitung des Wagens und einen Schlüsselbund heraus, bis er eine Packung Feuchttücher fand. Rasch wischte er sich die Hände sauber und warf die schmutzigen Tücher unter das Auto.

»Hat die Spurensuche etwas ergeben?«, erkundigte sich Kate.

»Ein paar Fasern, Zigarettenstummel, einen Schuh … Aber das hier ist ein öffentlicher Park. Wer weiß schon, von wem die Sachen stammen?«

Er breitete ein Handtuch auf dem Beifahrersitz aus, ergriff aus der Mittelkonsole eine Thermosflasche und reichte sie Kate, bevor er ein weiteres Handtuch auf den Fahrersitz legte. Kate beobachtete ihn belustigt. Es wirkte so häuslich, wie er geschäftig und penibel das Handtuch unter die Ecken der Sitzpolsterung klemmte, damit der improvisierte Schonbezug ordentlich saß und nicht verrutschen würde.

»Ich glaube, Sie sind der Erste, dem ich bei dem Versuch zusehe, einen Autositz nach Krankenhausart zu beziehen«, merkte sie an.

»Wir sind triefnass, und das ist ein neuer Wagen. Sie haben ja keine Ahnung, wie hart ich darum kämpfen musste«, gab er stirnrunzelnd zurück.

Es war das erste Mal an diesem Abend, dass er Emotionen zeigte. Die drohende Gefahr schmutziger Autositze verursachte ihm offensichtlich echtes Unbehagen. Kate fragte sich, ob man nach langer Zeit bei der Polizei so wurde. Ob man sich gegen die wirklich grauenhaften Dinge derart abkapselte, indem man sich in Kleinigkeiten hineinsteigerte.

Auf der Fahrt zurück nach Deptford schwiegen sie. Kate starrte aus dem Fenster. Sie fühlte sich hin- und hergerissen, wusste nicht recht, ob sie versuchen sollte, den Anblick der jungen Frau aus dem Kopf zu bekommen oder ihn darin zu behalten. Um sicherzustellen, dass sie ihr Gesicht nicht vergaß und um sich jede Einzelheit einzuprägen.

Kate lebte in einer Erdgeschosswohnung hinter einer langen Reihe niedriger Geschäfte an der Deptford High Street. Zur Haustür gelangte man über einen von Schlaglöchern übersäten Schotterparkplatz. Peters Wagen bahnte sich holpernd und rumpelnd den Weg durch die mit Wasser gefüllten Vertiefungen. Sie hielten vor ihrer Eingangstür unter einer durchhängenden Markise neben dem Liefereingang eines chinesischen Restaurants, wo sich Kisten mit leeren Limonadenflaschen stapelten. Das Scheinwerferlicht wurde von der fahlen hinteren Mauer ihres Gebäudes reflektiert und erhellte den Innenraum des Autos.

»Danke fürs Mitnehmen«, sagte sie, öffnete die Tür und stieg mit einem großen Schritt aus, um einer Pfütze auszuweichen. Peter beugte sich herüber und reichte Kate ihre Einkaufstüte.

»Vergessen Sie das nicht. Und Treffpunkt ist morgen um zehn Uhr am Bahnhof.«

»Bis dann.«

Sie nahm die Tüte entgegen und schloss die Beifahrertür. Seine Scheinwerfer erhellten den Parkplatz, während sie in der Tasche nach dem Schlüssel kramte und aufschloss. Dann kehrte Dunkelheit ein. Als sie sich umdrehte, sah sie noch die Heckleuchten verschwinden. Es war ein idiotischer Fehler gewesen, mit ihrem Vorgesetzten zu schlafen. Aber angesichts der toten jungen Frau im Park und des Wissens, dass ein Mörder frei herumlief, schien es zu Bedeutungslosigkeit zu verblassen.

KAPITEL 4

In der Wohnung war es kalt. Eine kleine Küche wies auf den Parkplatz hinaus. Rasch zog Kate die Jalousien zu, bevor sie das Licht einschaltete. Anschließend genehmigte sie sich eine ausgiebige Dusche und blieb unter dem Wasserstrahl, bis die Wärme in ihre Knochen zurückkehrte. Danach schlüpfte sie in einen Bademantel und ging wieder in die Küche. Die Zentralheizung verrichtete ihre Arbeit und pumpte mit gluckernden Lauten heißes Wasser durch die Heizkörper, die den Raum allmählich wärmten. Plötzlich verspürte sie Heißhunger. Als sie die Mikrowellenlasagne aus der Einkaufstüte holen wollte, entdeckte sie auf ihren Einkäufen den Schlüsselbund und die Thermosflasche aus Peters Auto. Sie stellte die Thermosflasche auf die Arbeitsplatte und ging zum Telefon an der Küchenwand, um seinen Pager anzurufen, damit er nicht bereits zu Hause wäre, bevor er feststellte, dass seine Schlüssel fehlten. Als sie seine Nummer wählen wollte, fiel ihr etwas an den Schlüsseln in ihrer Hand auf. Es waren vier, alle groß, schwer und alt.

Peter lebte in einer Neubauwohnung in der Nähe von Peckham. Die Eingangstür hatte ein Sicherheitsschloss. Daran erinnerte sich Kate noch deutlich von dem zweiten Abend, an dem er sie zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen hatte. Vor der Tür hatte sie gezögert, auf das Sicherheitsschloss gestarrt und sich gedacht: Was um alles in der Welt mache ich hier? Beim ersten Mal war ich betrunken. Jetzt bin ich nüchtern und trotzdem zurück für einen Nachschlag.

Bei den Schlüsseln in ihrer Hand handelte es sich um Einsteckschlüssel für schwere Schlösser. Am Schlüsselbund war ein Stück Seil befestigt. Das Seil war dünn und wies ein rot-blaues Flechtmuster auf – Schwerlastmaterial oder Cord, robust und qualitativ hochwertig. Kate drehte die Seilschlaufe in der Hand. Ein Ende war zu einer Affenfaust geknotet. Sie legte den Hörer zurück auf die Gabel und starrte auf die Schlüssel.

Kate überkam das Gefühl, der Boden würde sich unter ihren Füßen neigen. Ihr sträubten sich die Nackenhaare. Als sie die Lider schloss, sah sie vor ihrem geistigen Auge die Fundortfotos der toten jungen Frauen – jede mit einer luftdicht um den Hals verschnürten Plastiktüte über dem verzerrten Gesicht. Abgebunden mit diesem Knoten. Sie öffnete die Augen und blickte hinab auf die Schlüssel und die Affenfaust.

Nein! Sie war bloß erschöpft und ließ ihre Fantasie mit ihr durchgehen.

Kate zog sich einen Stuhl heraus und setzte sich an den Küchentisch. Was wusste sie abgesehen von der Arbeit über Peter? Sein Vater war tot. Sie hatte merkwürdige Gerüchte darüber gehört, dass seine Mutter psychisch krank und in einer Klinik sei. Er hatte eine ziemlich schwierige Jugend hinter sich, aus der er sich mühsam herausgekämpft hatte, und darauf war er stolz. In den höchsten Rängen des Polizeiapparats hielt man große Stücke auf ihn. Der Mann hatte keine feste Freundin oder Ehefrau. Er war mit seiner Arbeit verheiratet.

Vielleicht gehörten die Schlüssel ja einem Freund oder seiner Mutter. Diese Art passte zu einer großen Tür oder einem schweren Vorhängeschloss. Es wurde gemutmaßt, dass der Mörder einen Ort zum Verwahren des Lieferwagens und seiner Opfer brauchte – eine Zelle oder eine Garage. Wenn Peter irgendwo eine solche Zelle hatte, würde er das natürlich nicht erwähnen. Aber Kate erinnerte sich daran, dass er über das Gebäude geklagt hatte, in dem er wohnte. Er sagte, er bezahle ein Vermögen für einen Raum in der Tiefgarage und darin wäre gar kein Abstellplatz für sein Auto enthalten.

Nein. Es war ein langer, stressiger Tag gewesen, und sie brauchte bloß Schlaf.

Kate legte die Schlüssel auf die Arbeitsplatte und holte die Lasagne aus der Tüte. Sie entfernte die Außenverpackung, stellte das kleine Kunststoffbehältnis in den Mikrowellenherd und programmierte zwei Minuten. Ihre Hand schwebte über der Zeitschaltuhr.

Kate dachte daran zurück, wie sie einen Experten ins Revier geholt hatten, einen pensionierten Pfadfindermeister, der den Anwesenden in der Einsatzzentrale die Affenfaust erklärt hatte. Der Knoten stach dadurch aus der Masse anderer hervor, dass er nur von jemandem mit Fachkenntnissen angefertigt werden konnte. Die Affenfaust knüpfte man ans Ende eines Seils, wo sie einerseits als Zierknoten, andererseits als Gewicht diente, um das Seil besser werfen zu können. Der Name rührte daher, dass er einer kleinen geballten Faust oder Pfote ähnelte.

Die Lasagne drehte sich langsam in der Mikrowelle.

Der pensionierte Fachmann hatte damals weiter ausgeführt, dass die meisten Jungen bei den Pfadfindern lernen, wie man Knoten knüpft. Die Affenfaust hatte kaum praktische Verwendung, war eher ein Knoten für Enthusiasten. Alle in der Einsatzzentrale hatten unter der aufmerksamen Anleitung des Experten versucht, den Knoten zu knüpfen. Nur Marsha war es gelungen. Peter war kläglich daran gescheitert und hatte darüber gewitzelt, wie schlecht er darin war.

»Ich konnte mir erst mit acht die Schuhe selbst zubinden«, hatte er gestanden. Alle Beamten in der Einsatzzentrale hatten gelacht, und er hatte vor gespielter Verlegenheit das Gesicht in den Händen vergraben.

Die Schlüssel waren alt und wiesen ein wenig Rost auf. Man konnte erkennen, dass sie geölt worden waren, um sie in gutem Zustand zu halten. Das Seil glänzte an manchen Stellen. Die Affenfaust selbst sah alt aus, war verkrustet von Öl und Dreck.

Kate kaute auf den Nägeln und bemerkte nicht, dass der Mikrowellenherd drei Pieptöne von sich gab, um anzuzeigen, dass er fertig war.

Sie setzte sich an den Küchentisch. Die ersten drei Opfer waren Schulmädchen im Alter zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren gewesen. Alle waren an einem Donnerstag oder Freitag entführt worden, und ihre Leichen waren zu Beginn der folgenden Woche aufgetaucht. Die Opfer waren alle sportlich aktiv gewesen, und bei jedem Fall waren sie auf dem Heimweg vom Training nach der Schule von der Straße geschnappt worden. Die Entführungen wurden so sauber ausgeführt, dass der Mörder gewusst haben musste, wo er sie erwischen würde, und er musste ihnen aufgelauert haben.

Sportlehrer in den Bezirken wurden befragt, mehrere wurden auch zum Verhör ins Revier geholt, unter anderem einige männliche Lehrer, auf deren Namen ein weißer Citroën Dispatch Baujahr 1994 zugelassen war. Aber ihre DNA ergab keine Übereinstimmung. Als Nächstes wandte man sich den Eltern der Opfer und dem Freundeskreis der Eltern zu. Das Netz wurde immer weiter gespannt, und die Theorien darüber, in welcher Verbindung der Mörder zu den Opfern gestanden haben könnte, wurden immer wilder. Kate erinnerte sich an eine Frage, die an der weißen Tafel der Einsatzzentrale gestanden hatte.

Wer hatte in der Schule Zugang zu den Opfern?

Ein Gedanke durchzuckte Kate wie ein Stromstoß. Es hatte eine Liste mit Lehrpersonal, Hilfspersonal, Hauswarten, Schülerlotsinnen, Kantinenpersonal gegeben – aber was war mit der Polizei? Verschiedene Beamte besuchten regelmäßig Schulen, um mit Kindern über Drogen und asoziales Verhalten zu sprechen.

Bei zwei Gelegenheiten hatte Peter sie zu einem Schulbesuch mitgenommen, um mit Kindern in Innenstadtbezirken über Verkehrssicherheit zu reden. Außerdem hatte er an einer Kampagne zur Drogenbekämpfung mitgearbeitet, bei der er an Londoner Schulen Vorträge gehalten hatte. Wie viele Schulen hatte er dabei besucht? Zwanzig? Dreißig? Starrte ihr etwas direkt ins Gesicht, oder war sie bloß müde und überfordert? Nein … Peter hatte selbst erwähnt, dass er die Schule des dritten Opfers, Carla Martin, einen Monat vor ihrem Verschwinden besucht hatte.

Kate stand auf und suchte in ihren Schränken. Sie fand nur eine Flasche trockenen Sherry, den sie gekauft hatte, um ihn ihrer Mutter bei ihrem letzten Besuch anzubieten. Sie schenkte sich eine großzügige Menge ein und trank einen ausgiebigen Schluck.

Was, wenn es keine Spuren gab, weil der Nine Elms Cannibal zugleich Peter Conway war? Die mit ihm verbrachten Nächte schoben sich in den Vordergrund ihrer Gedanken, und Kate drängte sie zurück, wollte nicht dorthin zurückkehren. Zitternd saß sie da. Besaß sie wirklich den Schneid, ihrem Boss vorzuwerfen, ein Serienmörder zu sein? Dann fiel ihr Blick auf Peters Thermosflasche, die neben dem Mikrowellenherd stand. Im Auto hatte er daraus getrunken. Er würde seine DNA daran hinterlassen haben.

Mit wackeligen Beinen stand Kate auf. Ihre Tasche lag auf dem Boden an der Hintertür. Es kostete sie einige Mühe, die Schnalle aufzubekommen. In einem der Innenfächer fand sie einen frischen Beweismittelbeutel aus Plastik.

An der Flasche ist Peters DNA. Die DNA des Nine Elms Cannibal haben wir. Ich kann unauffällig einen Antrag stellen.

Sie zog ein sauberes Paar Latexhandschuhe an und näherte sich der Thermosflasche wie einem wilden Tier, das es zu fangen galt. Kate holte tief Luft, griff sich die Flasche von der Arbeitsplatte, steckte sie in den Beweismittelbeutel und versiegelte ihn. Dann legte sie ihn auf den winzigen Küchentisch. Es fühlte sich an wie ein Verrat an allem, woran sie glaubte. Minutenlang stand sie schweigend da und lauschte dem aufs Dach prasselnden Regen. Schließlich trank sie einen weiteren Schluck Sherry und spürte, wie er sie von innen wärmte und ihre ärgste Panik linderte.

Niemand muss davon erfahren. Wen konnte sie fragen, der das nicht weitertragen würde? Akbar in der Kriminaltechnik. Einmal war sie ihm über den Weg gelaufen, als er aus einer Schwulenbar in Soho gekommen war. Das war damals ein peinlicher Moment. Sie war in männlicher Begleitung gewesen, er ebenfalls. Am nächsten Abend nach der Arbeit hatte er sie auf einen Drink eingeladen, und sie hatte ihm versichert, dass sein Geheimnis – sofern er es denn geheim hielt – bei ihr sicher war.

Gleich am Morgen würde sie ihn anrufen, früh hinüberfahren und die Flasche untersuchen lassen. Oder vielleicht würde ihr das alles beim Aufwachen, nachdem sie ein wenig geschlafen hätte, wie eine verrückte Theorie vorkommen.

Als es an der Tür klopfte, ließ sie das Glas fallen. Klirrend zerbrach es. Scherben und braune Flüssigkeit spritzten über den Linoleumboden. Nach einer kurzen Pause ertönte eine Stimme: »Kate. Ich bin’s, Peter. Ist alles in Ordnung?« Sie schaute zur Uhr auf. Fast zwei Uhr morgens. Das Klopfen wiederholte sich. »Kate? Ich habe Glas zerbrechen gehört. Geht es Ihnen gut?« Er hämmerte eindringlicher an die Tür.

»Ja! Es geht mir gut!«, antwortete sie mit schriller Stimme, während sie die Sauerei auf dem Boden betrachtete.

»Klingt aber nicht so. Könnten Sie wohl aufmachen?«

»Mir ist bloß an der Tür ein Glas runtergefallen. Was machen Sie hier?«

»Haben Sie meine Schlüssel?«, fragte er. »Ich glaube, sie könnten mir in Ihre Tüte gefallen sein.«

Ausgedehnte Stille folgte. Kate stieg über die Glasscherben und brachte leise die Kette an, bevor sie die Tür öffnete. Durch den Spalt erblickte sie Peter, der triefnass und mit hochgeklapptem Mantelkragen draußen stand. Er stellte ein breites, strahlendes Lächeln zur Schau. Kate fiel auf, wie gerade und weiß seine Zähne wirkten.

»Ah, gut. Ich dachte schon, Sie könnten zu Bett gegangen sein. Haben Sie meine Schlüssel?«

KAPITEL 5

Kate sah Peter an. Auf dem Parkplatz hinter ihm herrschte Dunkelheit. Sie konnte sein Auto nicht erkennen.

»Kate. Es schüttet. Kann ich kurz reinkommen?«

»Es ist spät. Einen Moment«, sagte sie und beugte sich über die Scherben, um die Schlüssel von der Arbeitsplatte zu ergreifen. »Hier.« Ihre Blicke begegneten sich, als Kate ihm die Schlüssel auf ihrer Handfläche entgegenstreckte. Er betrachtete die kleine Schlaufe mit der Affenfaust, dann schaute er grinsend wieder zu ihr auf.

Später sollte Kate darüber nachdenken, was sie hätte anders machen können. Wenn sie darüber gescherzt hätte, dass er denselben Knoten wie der Mörder benutzte, hätte er die Schlüssel dann einfach genommen und wäre nach Hause gegangen?

»Mein Auto hat ein Problem. Ich hab ein Stück die Straße rauf eine Reifenpanne. Dabei habe ich gemerkt, dass die Schlüssel nicht im Handschuhfach waren«, erklärte er, als er letztlich das Schweigen brach und sich Regenwasser aus dem Gesicht wischte. Allerdings nahm er die Schlüssel nicht entgegen, und Kate stand weiter mit ausgestreckter Hand da.

»Kate. Ich werde allmählich ziemlich nass. Darf ich reinkommen?«

Sie zögerte und schluckte, aber ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an.

Kurzerhand rammte er die Schulter gegen die Tür, und die Kette gab ohne großen Widerstand nach. Als er über die Schwelle trat, zwang er sie, in die Küche zurückzuweichen. Er schob die Tür hinter sich zu und stand triefnass da.

»Was ist?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Entschuldigung«, sagte sie. Ihre Stimme erklang als dünnes Krächzen.

»Ich brauche ein Handtuch … Ich bin klatschnass.«

Alles an dieser Situation mutete surreal an. Kate verließ die Küche, ging zu dem kleinen Trocknerschrank und entnahm ihm ein Handtuch. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie musste sich normal verhalten. Hastig sah sie sich nach etwas um, womit sie sich verteidigen könnte. Sie griff sich einen kleinen, glatten Briefbeschwerer aus Glas, das Einzige, was einer Waffe zumindest annähernd nahekam.

Der Atem stockte ihr in der Brust, als sie in die Küche zurückkehrte. Peter stand mitten im Raum und starrte auf die Thermosflasche im Beweismittelbeutel auf dem Küchentisch. Als er sich Kate zudrehte, hatten sich seine Züge nicht verändert, aber seine Haltung drückte Wut aus. Er wirkte wie ein angriffsbereites Tier. Die Pupillen seiner großen Augen hatten sich geweitet, die zurückgezogenen Lippen entblößten die Zähne.

Unternimm etwas!, kreischte eine Stimme in ihrem Kopf. Aber sie konnte sich nicht rühren. Ein dumpfer Knall ertönte, als ihr der Briefbeschwerer aus der Hand glitt und auf dem Boden landete.

»Ach herrje, Kate. Kate, Kate, Kate …«, sagte er leise. Die Glasscherben knirschten unter seinen Schuhen, als er zur Hintertür ging und sie abschloss.

»Peter. Sir. Ich glaube nicht eine Sekunde, dass Sie … Es ist nun mal mein Job, Spuren nachzugehen …«

Er zitterte, aber seine Bewegungen wirkten ruhig, als er zum Telefon ging. Mit einem schnellen Ruck riss er den Apparat samt Metallhalterung von der Wand. Kate zuckte zusammen, als die winzigen Nägel, die das Kabel fixierten, heraussprangen und über den Linoleumboden schlitterten. Mit einem weiteren Ruck zog Peter das Kabel aus der Anschlussdose und legte das Telefon auf die Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank.

»Schon komisch. Sie haben gerade noch gemeint, dem Mörder würde irgendwann ein Fehler unterlaufen … Die Schlüssel, diese verfluchten Schlüssel.« Er trat einen Schritt auf sie zu.

»Nein. Nein. Es sind bloß Schlüssel«, sagte Kate. Mit einem weiteren Schritt würde er ihr den Weg aus der Küche versperren.

»Die Thermosflasche …« Er schüttelte den Kopf und lachte. Ein kalter, beinah metallischer Laut, in dem keinerlei Humor lag.

Kate preschte in Richtung des Wohnzimmers los, wo ihr Handy in der Ladestation steckte, doch Peter erwies sich als zu schnell. Er packte sie von hinten an den Haaren, schwang sie herum und rammte sie gegen die hohe Kühlschranktür. Schmerz explodierte in ihrem Gesicht. Sofort setzte er nach, drehte sie an den Schultern zu sich herum und umklammerte mit einer Hand ihren Hals.

»Ist eine raue Gegend, in der Sie wohnen«, meinte er ruhig, während er sie mit der Schulter und dem linken Bein gegen die Kühlschranktür drückte. Die rechte Hand lag um ihre Kehle. Kate trat aus, traf ihn seitlich am Bein und versuchte, ihm das Gesicht und den Hals zu zerkratzen, doch er benutzte die Ellbogen, um ihre Arme nach unten zu drücken. »Ein Einbruch. Sie haben den Eindringling erschreckt. Er ist in Panik geraten und hat Sie umgebracht.«

Seine Finger umklammerten ihre Kehle fester. Kate konnte nicht mehr atmen. Sein vor ihr schwebendes Gesicht verschwamm allmählich. Kate fuchtelte herum. Ihre Finger tasteten den Rand der Arbeitsplatte entlang. Peter lehnte sich gegen ihre Brust, und sie spürte, wie seine Kraft die restliche Luft aus ihrer Lunge presste. Sie schrie auf, als sie spürte, wie eine ihrer Rippen knackste.

»Ich werde dafür sorgen, dass ich den Mordfall leite. Der tragische Tod eines aufgehenden Sterns bei der Polizei.«

Kate wand sich hin und her. Sie wehrte sich verbissen und schaffte es, den linken Arm ein wenig zu befreien. Ihre Hand tastete weiter die Arbeitsplatte entlang und stieß auf das Telefon, das Peter dort platziert hatte. Es lag nicht viel Kraft dahinter, als sie es schwang, aber die scharfe Kante des Metallbügels prallte von seiner Stirn ab und schnitt durch die Haut über seinem Auge.

Sein Griff lockerte sich für einen Moment, und es gelang ihr, ihn von sich zu stoßen. Verdutzt taumelte er rückwärts. Blut schoss aus der Platzwunde an seiner Stirn.

Kate hielt das Telefon an der Halterung hoch und rückte gegen ihn vor. Die Glasscherben unter ihren nackten Füßen spürte sie nicht. Peter taumelte weiter zurück und spuckte Blut. Dann stürmte er zum Messerblock neben dem Spülbecken und zog ein Messer heraus.

Die Messer! Warum bin ich nicht zu den Messern?, raste Kate durch den Kopf.

Sie drehte sich um und rannte ins Wohnzimmer los, stolperte aber und fiel auf das Telefon, das ihr die Luft aus der Lunge presste. Sie rollte sich auf den Rücken und versuchte, sich aufzurappeln, aber Peter holte sie ein und stürzte sich auf sie. Er schlug ihr hart ins Gesicht.

Sie trat um sich, wand sich hin und her, als er sie ins Schlafzimmer schleifte und aufs Bett warf. Ihr Schädel knallte gegen das Kopfteil, und sie sah Sternchen vor den Augen tänzeln. Kates Bademantel war aufgeklappt. Darunter war sie nackt. Peter kletterte auf sie. Blut verschmierte sein Gesicht, hatte das Weiß in seinen Augen rot gefärbt und verlieh seinem Grinsen einen rosa Anstrich von Wahnsinn. Er kniete sich auf ihre Hüftknochen, drückte ihre Handgelenke nach unten und fixierte sie unter seinen Knien.

Dann hob er das Messer und strich mit der Spitze der Klinge über ihre Brustwarzen bis hinunter zum Bauchnabel, wo er den Stahl in ihre Haut stach. Die scharfe Klinge glitt mühelos durch das Gewebe und in die Muskeln ihres Bauchs. Kate schrie vor Qualen auf und konnte sich nicht rühren. Es war beängstigend, wie schnell sich das Blut auf ihrem Bauch sammelte. Seelenruhig drehte Peter das Messer herum und zog es durch die Bauchdecke nach oben in Richtung des Herzens. Die Klinge verfing sich an einer ihrer Rippen.

Peter lehnte sich nah zu ihr, zog die Lippen über rosa verfärbte Zähne zurück. Die Schmerzen waren schier unerträglich. Dennoch gelang es Kate irgendwie, letzte Kraftreserven zu mobilisieren. Zappelnd krümmte sie sich hin und her, wehrte sich, befreite ein Knie und riss es wuchtig in seinen Schritt hoch. Stöhnend fiel er rücklings vom Bett und landete auf dem Boden.

Kate blickte auf das Messer, das aus ihrem Bauch ragte. Blut sättigte den weißen Bademantel und das Bettzeug. Lass das Messer drin, riet eine Stimme in ihrem Kopf. Wenn du es herausziehst, verblutest du. Peter begann, sich aufzurappeln. Ein vor blanker Wut irrer Ausdruck lag in seinen Augen. Kate dachte an all die Opfer, all die jungen Frauen, die gefoltert worden waren. Der Zorn, der in ihr aufstieg, verlieh ihr einen Adrenalinschub und neue Energie. Sie griff sich die Lavalampe neben ihrem Bett und ließ die schwere Glasflasche mit Paraffin und Wachs auf seinen Schädel niedersausen, erst einmal, dann noch einmal. In verrenkter Haltung lag er still, die Beine gespreizt von sich gestreckt.

Kate ließ die Lampe fallen. Unter den Schmerzen im Bauch verlor sie fast die Besinnung. Es kostete sie alle Willenskraft, das Messer nicht herauszuziehen, als sie sich ins Wohnzimmer schleppte. Unterwegs bewegte sich die Klinge. Kaum hatte Kate ihr Mobiltelefon erreicht, wählte sie die Notrufnummer. Sie gab Namen und Adresse bekannt, bevor sie meldete, dass Detective Chief Inspector Peter Conway der Nine Elms Cannibal war und soeben versucht hatte, sie in ihrer Wohnung zu ermorden.

Danach ließ sie das Telefon fallen und verlor das Bewusstsein.

FÜNFZEHN JAHRE SPÄTER

September 2010

KAPITEL 1

An einem grauen Morgen Ende September bahnte sich Kate den Weg durch die Sanddünen. Sie trug einen schwarzen Badeanzug. Die Schwimmbrille hatte sie sich über die Ellenbeuge des rechten Arms gehängt. Der Sand war trocken, als sie über die hügeligen Dünen schlenderte, wo hellgelbes Helmgras wuchs. Ihre nackten Füße brachen durch die dünne, von der salzigen Gischt aus dem Meer gebildete Kruste.

An diesem Morgen lag der Strand menschenleer da. Die weit ins Meer zurückweichende Brandung legte Streifen schwarzen Felsgesteins frei, bevor die Wellen darüber brachen. Der perlgraue Himmel verdichtete sich zum Horizont hin zu einem schwarzen Knoten. Kate hatte das Schwimmen im Meer vor sechs Jahren für sich entdeckt. Damals war sie nach Thurlow Bay an der Südküste Englands gezogen, acht Kilometer von der Universitätsstadt Ashdean entfernt, wo sie mittlerweile Kriminologie unterrichtete.

Sie schwamm jeden Morgen im Meer, bei jedem Wetter. Dadurch fühlte sie sich lebendig. Es hob ihre Stimmung und wirkte wie ein Gegenmittel für die Dunkelheit, die sie im Herzen trug. Peter Conway als den Nine Elms Cannibal zu entlarven hätte sie beinah das Leben gekostet. Noch verheerender jedoch waren die Nachwehen gewesen. Die Presse hatte ihre sexuelle Beziehung zu Peter Conway aufgedeckt, die auch bei seinem anschließenden Prozess eine große Rolle gespielt hatte. Fünfzehn Jahre später hatte sie immer noch das Gefühl, die Scherben aufzuklauben.

Kate spürte, wie der Sand nass und fest wurde, als sie die Dünen auf dem Weg zum Rand des Wassers hinter sich ließ. Die erste Welle brach sich nur wenige Meter von ihr entfernt, als sie stehenblieb, um die Schwimmbrille aufzusetzen, und die Brandung spülte um ihre Knie. An den kältesten Tagen fuhr ihr das Wasser wie ein Messer in die Haut, dennoch biss sie jedes Mal die Zähne zusammen. Ein gesunder Körper sorgte wirklich für einen gesunden Geist. Es ist nur Wasser. Sie wusste, wie sich ein Messer anfühlte. Die erste Stelle, an der Kate die Kälte spürte, war immer die fünfzehn Zentimeter lange Narbe.

Sie steckte die Hände in die Brandung und spürte den Sog, als sich das Wasser zurückzog und sie auf dem nassen Sand mit einigen grünen Algensträngen zwischen den Fingern zurückließ. Kate schüttelte die Pflanzen ab und band die Haare zusammen, in denen sich bereits ein wenig Grau zeigte. Dann zog sie sich das Gummiband der Schwimmbrille über den Kopf. Eine weitere Welle brandete heran, zerrte an ihren Beinen und schwappte bis zu ihren Hüften hoch. Der Himmel verdunkelte sich, und Kate spürte warme Regentropfen im Gesicht. Sie stürzte sich mit dem Kopf voraus in eine brechende Welle. Das Wasser umfing sie, und sie schwamm mit kraftvollen Zügen los. Sie fühlte sich schnittig und schnell wie ein Pfeil, der unter den Wellen durch die Dünung pflügt. Kate konnte sehen, wo der Sand abrupt in felsige Düsternis abfiel.

Das Tosen des Wassers kam und ging, als sie auf dem Weg in Richtung des Sturms alle vier Schwimmzüge zum Luftholen auftauchte. Mittlerweile befand sie sich weit draußen, bewegte sich im Einklang mit der Dünung, die Richtung Ufer wogte. Sie wurde langsamer, ließ sich auf dem Rücken treiben, stieg mit den Wellen auf und ab. Lautes Donnergrollen drang zu ihr. Kate schaute zurück zu ihrem Haus auf der Felsklippe. Baufällig, aber gemütlich lag es am Ende einer weitläufigen Reihe von weit auseinanderstehend errichteten Häusern neben einem Surfshop und einer während des Winters geschlossenen Snackbar.

In der Luft knisterte statische Elektrizität – das Gewitter näherte sich, aber noch war das Wasser ruhig. Kate hielt die Luft an und tauchte unter. Die oberflächennahen Strömungen ließen nach, als sie den Körper langsam zum sandigen Grund absinken ließ. Kalte Strömungen zogen zu beiden Seiten an ihr vorbei. Der Druck erhöhte sich.

Peter Conway ging ihr nie völlig aus dem Sinn. An manchen Morgen, wenn sie das Aufstehen als Herkulesaufgabe empfand, fragte sie sich, ob es ihm schwerfiel, sich jedem neuen Tag zu stellen. Peter würde den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen. Er galt als hochkarätiger Gefangener, als Monster, das der Staat ernährte und versorgte, obwohl er seine Taten nie geleugnet hatte. Kate hingegen war die Gute. Dennoch hatte sie durch seine Verhaftung ihre Karriere und ihren Ruf verloren. Und sie kämpfte noch immer darum, aus den Trümmern der Nachwehen ein normales Leben zu bergen. Sie fragte sich, wer von ihnen wirklich die lebenslange Strafe verbüßte. An diesem Tag fühlte sie sich ihm noch näher. An diesem Tag würde er das Thema ihrer ersten Vorlesung sein.

Als ihre Lunge zu platzen drohte, strampelte Kate mit zwei Beinschlägen kraftvoll nach oben, brach durch die Oberfläche und begann, zurückzuschwimmen. Wieder grollte der Donner, und als sich Kate dem Ufer näherte, ließ sie sich von der anschwellenden Dünung tragen. Sie spürte, wie ihr Herz pumpte und ihre Haut vom Salzwasser kribbelte. Hinter ihr türmte sich eine Welle auf, und Kate erwischte sie, als sie brach. Ihre Beine wurden nach vorn geschoben, schrammten über den sandigen Untergrund, und sie verspürte den erregenden Kick des Ritts mit der Welle, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Der Hörsaal der Universität war groß, staubig und trist, ausgefüllt von abgestuften Sitzreihen bis hinauf zur Decke. Kate beobachtete von der kleinen, runden Bühne unten gern, wie die Studenten nacheinander eintrudelten. Dabei entsetzte es sie, wie wenig sie von ihrer Umgebung mitbekamen, weil alle gebannt auf ihre Handys glotzten und kaum davon aufschauten, als sie Platz nahmen.

Zu Kate auf die Bühne gesellte sich ihr Assistent Tristan Harper, ein großer, gut gebauter Bursche Anfang zwanzig. Er hatte dunkles, kurz gestutztes Haar und aufwändige Tätowierungen an den muskulösen Unterarmen. Tristan trug die typische Uniform eines männlichen Akademikers – beige Chinohose und ein kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Der einzige Unterschied bestand darin, dass er die üblichen hellen Slipper oder dunklen Budapester verschmähte. An diesem Tag trug er ein paar grellroter Adidas High-Top-Sneakers.

Er bückte sich und überprüfte das Dia-Karussell, das er neben dem Rednerpult vorbereitet hatte.

»Auf die Vorlesung hab ich mich schon gefreut«, sagte er, als er Kate die Fernbedienung reichte. Mit einem Lächeln verließ er die Bühne. Wenige Sekunden später gingen die Lichter aus, und der Hörsaal wurde in Dunkelheit getaucht. Ein aufgeregt klingendes Raunen ging durch die Ränge. Kate konnte die Gesichter der Studenten erhellt von den Displays der Mobiltelefone sehen. Sie wartete, bis Ruhe einkehrte, dann drückte sie einen Knopf der Fernbedienung des Projektors.

DERNINEELMSCANNIBAL erschien auf der riesigen Leinwand.

Als dem Titel ein Fundortfoto folgte, erscholl ein kollektives Schnappen nach Luft. Die Aufnahme stammte von einem Autofriedhof. Der nackte Körper einer jungen Frau lag auf der Seite im aufgewühlten Matsch neben einem Haufen rostender und halb verschrotteter Fahrzeuge. Die Reihen der Altautos erstreckten sich weit in die Ferne. Den Hintergrund bildeten die dunstige Skyline von London und die vier Schornsteine des Kraftwerks Battersea. Eine einsame Krähe hockte auf einem Autostapel und blickte auf den Leichnam der jungen Frau herab. Der Schlamm und die Witterungseinflüsse verliehen ihrer Haut eine Rostfarbe, die an Metall erinnerte, als wäre sie ein kleiner grotesker Gegenstand, den der frühere Besitzer entsorgt hatte.

»Der Kurs, für den Sie sich angemeldet haben, heißt ›Verbrecherikonen‹. Und er befasst sich damit, wie besessen wir als Gesellschaft von Mord und Serienmördern sind. Es erschien mir passend, mit einem Serienmörder zu beginnen, den ich persönlich kenne. Peter Conway, ehemaliger Detective Chief Inspector der Polizei von London, mittlerweile bekannt als der Nine Elms Cannibal. Die junge Frau auf dem Foto war sein erstes Opfer, Shelley Norris.« Kate trat aus dem grellen Licht des Projektors und stellte sich seitlich daneben. »Falls Sie dieses Bild verstörend finden – gut. Das ist eine normale Reaktion. Wenn Sie Kriminologie studieren wollen, müssen Sie sich mit den schlimmsten Seiten der Menschheit auseinandersetzen. Das Foto wurde auf dem Schrottplatz in der Nine Elms Lane im März 1993 aufgenommen«, erklärte Kate. Sie schaltete das Dia-Karussell weiter. Das nächste Bild zeigte eine Weitwinkelaufnahme des Körpers einer in hohem Gras liegenden jungen Frau von hinten. Niedriger Nebel trieb zwischen umliegenden Bäumen dahin.

»Das zweite Opfer war die fünfzehnjährige Dawn Brockhurst. Ihre Leiche wurde im Beckenham Place Park in Kent entsorgt.«

Beim nächsten Dia handelte es sich um eine Nahaufnahme des Leichnams von vorn. Das Gesicht fehlte. Geblieben waren nur ein blutiger Brei, ein Teil des Unterkiefers und eine Zahnreihe.

»In Kent am Stadtrand von London gibt es eine der größten Populationen von Füchsen in Großbritannien. Dawns Leiche wurde erst nach mehreren Tagen entdeckt. Bis dahin hatten aasfressende Füchse die über ihrem Kopf festgebundene Plastiktüte zerrissen und einen Teil ihres Gesichts gefressen.« Kate schaltete weiter zum nächsten Dia, einer Nahaufnahme von Bissspuren. »Der Nine Elms Cannibal hat seine Opfer gern gebissen. Weil Dawns Leiche durch den Einfluss der Elemente teilweise verwest war, hat man diese Bisse zunächst irrtümlich den Füchsen zugeschrieben. Deshalb wurde der Zusammenhang zwischen den ersten beiden Morden nicht sofort hergestellt.«

Mit einem dumpfen Pochen kippte ein Holzstuhl um, als eine Studentin, eine junge Frau, in der Mitte des Hörsaals aufsprang und mit der Hand über dem Mund hinausstürmte.

Kate ging die Dias von Conways nächstem Opfer durch und zeigte zuletzt das Fundortfoto des vierten Opfers, Catherine Cahill. Unwillkürlich fühlte sich Kate in jene kalte, verregnete Nacht im Crystal Palace Park zurückversetzt: die heißen, grellen Lichter im Spurensicherungszelt, in dem sich der Geruch von verwesendem Fleisch verdichtete, man zugleich jedoch das Gras wie an einem Sommertag riechen konnte; Catherines blicklose Augen, die durch das fest um ihren Kopf gewickelte Plastik starrten. Und dann ein Bild von Peter, wie er penibel die Handtücher über seinen Autositzen festgeklemmt hatte, damit sie nicht schmutzig wurden.

Kate drückte die Taste der Fernbedienung, und die Anzeige wechselte zu einem Foto von Peter Conway, das 1993 für seinen Dienstausweis aufgenommen worden war. Er lächelte in seiner Polizeiuniform und Dienstmütze ins Objektiv. Attraktiv und charismatisch.

»Peter Conway. Tagsüber angesehener Polizeibeamter, nachts Serienmörder.«

Kate erzählte, wie sie als Polizistin mit Peter Conway zusammengearbeitet hatte und wie ihr der Verdacht gekommen war, er könnte der Nine Elms Cannibal sein. Schließlich berichtete sie vom Ablauf ihrer Konfrontation, bei der sie nur knapp mit dem Leben davongekommen war.

Die nächsten Dias zeigten Kates Wohnung nach Peters Angriff: die Thermosflasche und der Schlüsselbund auf dem Küchentisch, beides als nummeriertes Beweismittel gekennzeichnet; die Wohnzimmermöbel, alt und schäbig; ihr Schlafzimmer mit der feuchten, abblätternden, an den Rändern gekräuselten Tapete mit dem Muster aus gelben, orangen und grünen Blumen; das Doppelbett mit einem Klumpen blutgetränkter Laken; Brocken von gehärtetem orangem Wachs und Glasscherben von der zerbrochenen Lavalampe, die sie auf seinem Kopf zertrümmert hatte.

»Ich wäre um ein Haar zum fünften Opfer des Nine Elms Cannibal geworden, aber ich habe mich gewehrt. Geistesgegenwärtige Ärzte haben mir das Leben gerettet, nachdem er mir in den Bauch gestochen hatte. Außerdem hat man Peter den Magen ausgepumpt und teilweise verdaute Fleischbrocken aus Catherine Cahills Rücken darin gefunden.«

Im Hörsaal herrschte Stille. Alle Studenten lauschten gebannt. Unter den Anwesenden befand sich auch Tristan.

Kate fuhr fort: »Im September 1996 wurde Peter Conway vor Gericht gestellt, im Januar 1997 wurde er zu einer lebenslangen Haftstrafe im Gefängnis Blundeston in Suffolk verurteilt. Nachdem sich sein Geisteszustand verschlechtert hatte und er von einem Mithäftling angegriffen worden war, wurde er später für unbestimmte Zeit nach dem Mental Health Act in der psychiatrischen Anstalt Great Barwell inhaftiert. Es ist ein Fall, der immer noch durch die öffentliche Wahrnehmung spukt, und ein Fall, mit dem ich für immer untrennbar verbunden sein werde. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, ihn als Ersten zu präsentieren.«

Nachdem die Lampen wieder angegangen waren, entstand eine ausgedehnte Pause. Die Studenten im Hörsaal blinzelten im grellen Licht.

»Also. Wer hat Fragen?«

Nach einer weiteren langen Pause hob eine junge Frau mit kurzen rosa Haaren und gepiercter Lippe die Hand.

»Sie haben den Fall praktisch im Alleingang gelöst, trotzdem hat die Polizei Sie als Sündenbock vorgeschoben und im Regen stehengelassen. Hat das Ihrer Meinung nach daran gelegen, dass Sie eine Frau sind?«

»Der Polizei war peinlich, dass einer ihrer Spitzenbeamten der Mörder in ihrem brisantesten Fall war. Immerhin hatten die Morde für Jahre die Schlagzeilen beherrscht. Sie haben vielleicht gelesen, dass ich den Fehler begangen hatte, mich auf eine sexuelle Beziehung mit Peter Conway einzulassen. Als das öffentlich bekannt wurde, ging die Presse davon aus, ich hätte die Fakten irgendwie gekannt, was nicht der Fall war.«

Diesmal fiel die Stille kürzer aus.

»Würden Sie je zur Polizei zurückgehen?«, fragte ein junger Bursche, der allein auf einem der Seitenplätze saß.

»Erst einmal nicht. Ich wollte immer Polizistin sein und habe das Gefühl, dass ich um meine Karriere gebracht wurde. Den Nine Elms Cannibal zu fassen, war mein größter Triumph. Zugleich hat es aber verhindert, dass ich meine Laufbahn bei der Polizei fortsetzen konnte.«

Er nickte und schenkte ihr ein nervöses Lächeln.

»Was ist mit Ihren Kollegen? Finden Sie es unfair, dass viele anonym bleiben und ihre Karrieren fortsetzen konnten?«, fragte eine andere junge Frau.

Kate überlegte. Am liebsten hätte sie geantwortet: Natürlich war es verdammt unfair! Ich habe meinen Job geliebt und hätte so viel zu geben gehabt! Stattdessen holte sie tief Luft und fuhr fort: »Ich habe damals mit einem großartigen Team von Polizeibeamten zusammengearbeitet. Ich bin froh, dass meine Kollegen immer noch ihrer Tätigkeit nachgehen und für unsere Sicherheit sorgen können.«