So eiskalt der Tod - Robert Bryndza - E-Book
SONDERANGEBOT

So eiskalt der Tod E-Book

Robert Bryndza

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bei einem Tauchgang in einem Stausee stößt die Ex-Polizistin Kate Marshall auf die Leiche eines jungen Mannes. Als sein Tod kurze Zeit später als Unfall zu den Akten gelegt werden soll, ist sie skeptisch. Der junge Mann war ein hervorragender Schwimmer, und sein Leichnam weist unerklärliche Wunden auf. Während Kate diesen rätselhaften Fragen nachspürt, macht sie eine unglaubliche Entdeckung: Der Tote aus dem Stausee scheint das jüngste Opfer eines Serienkillers zu sein, der bereits seit Jahrzehnten unentdeckt tötet ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 429

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungZitatPROLOG12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455565758EPILOGAnmerkungen des AutorsDanksagung

Über dieses Buch

Bei einem Tauchgang in einem Stausee stößt die Ex-Polizistin Kate Marshall auf die Leiche eines jungen Mannes. Als sein Tod kurze Zeit später als Unfall zu den Akten gelegt werden soll, ist sie skeptisch. Der junge Mann war ein hervorragender Schwimmer, und sein Leichnam weist unerklärliche Wunden auf. Während Kate diesen rätselhaften Fragen nachspürt, macht sie eine unglaubliche Entdeckung: Der Tote aus dem Stausee scheint das jüngste Opfer eines Serienkillers zu sein, der bereits seit Jahrzehnten unentdeckt tötet …

Über den Autor

Robert Bryndza wollte schon als kleiner Junge Autor werden. Da er sich aber nicht vorstellen konnte, wie er davon leben solle, hat er den Plan nach der Schule erst einmal auf Eis gelegt, ging zur Schauspielschule und wurde Schauspieler. Heute sind seine Bücher Bestseller und wurden in 29 Sprachen übersetzt. Der Brite lebt mit seinem Ehemann in der Slowakei.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by Raven Street Ltd

Published by Arrangement with RAVEN STREET LTD

Titel der englischen Originalausgabe: »Shadow Sands«

Originalverlag: Thomas & Mercer, Seattle

Dieses Werk wurde im Auftrag der Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ann-Catherine Geuder; Lübeck

Einband-/Umschlagmotive: © Trevillion Images: Magdalena Russocka; © shutterstock: lunamarina | nikkytok

Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0974-3

luebbe.de

lesejury.de

Für Maminko Vierka

Die Höll’ ist ohne Grenzen, nicht beschlossen in einem Raume – wo wir sind, ist Hölle, und wo die Höll’ ist, sind auch ewig wir.

– Christopher Marlowe

PROLOG

28. August 2012

Simon schnappte nach Luft, schluckte brackiges, eiskaltes Wasser. Doch er schwamm weiter, so schnell und kraftvoll er konnte. Es zählte nur noch eins: Überleben. Der Stausee war riesig. Panisch kraulte er durch die Finsternis, weiter in die Dunkelheit, weg vom Dröhnen des Außenbordmotors. Am wolkenverhangenen Nachthimmel leuchtete kein Mond. Das einzige Licht stammte vom drei Kilometer entfernten Ort Ashdean, ein oranger Schein, der kaum den Stausee und das umliegende Moorland erreichte.

Seine Sportschuhe, schwere Nike Air Jordans, die er vor dem Verlassen des Campingplatzes fest zugeschnürt hatte, fühlten sich wie Bleiklumpen an seinen Füßen an. Er spürte, wie sie ihn zusammen mit der nassen Jeans nach unten zogen. Es war Spätsommer. Wo das eisige Wasser auf die laue Nachtluft traf, trieb ein dünner, sich kräuselnder Nebel.

Das Boot war klein und robust. Den Mann daneben hatte er nur als Umriss am Rand des künstlichen Gewässers gesehen. Simons Taschenlampe hatte den Körper erhellt, den der Mann gerade ins Boot gehoben hatte – ein schlaffes Bündel, fest in ein weißes Laken mit Blutflecken und Schlammspritzern gewickelt.

Alles war so schnell gegangen. Der Mann hatte seine Fracht achtlos ins Boot geworfen und war dann auf ihn losgegangen. Simon wusste, dass es sich um einen Mann handelte, obwohl er nur einen Schemen wahrnahm. Als er Simon die Taschenlampe aus der Hand stieß und ihn schlug, stieg ihm ein grässlich beißender Schweißgeruch in die Nase. Simon wehrte sich kurz, rannte dann aber voller Panik ins Wasser. Er hätte in die andere Richtung flüchten sollen, dachte er beschämt, zurück in den dichten Wald um den Stausee herum.

Obwohl Simon Mühe beim Atmen hatte, zwang er sich, schneller zu schwimmen. Seine Muskeln brannten vor Anstrengung. Die Routine von seinem Schwimmtraining hatte eingesetzt. Er zählte mit – eins, zwei, drei –, und beim vierten Zug tauchte sein Kopf zum Luftholen auf. Jedes Mal, wenn er vier erreichte, klang das Dröhnen des Außenbordmotors näher.

Er war ein guter Schwimmer, doch seine Verletzungen verlangsamten ihn. Beim Einatmen spürte er ein Rasseln in der Lunge. Der Mann hatte ihm in die Rippen geschlagen, die jetzt vor Schmerz pochten. Zwar atmete er beim Schwimmen tief ein, aber er hatte Wasser geschluckt, und die Luft gelangte nicht in seine Lungenflügel.

Eine dicht über der Wasseroberfläche treibende Nebelwand näherte sich ihm und umhüllte ihn wie eine kalte Decke. Kurz dachte Simon, der Nebel könnte ihn retten. Plötzlich jedoch raste das Boot direkt hinter ihm heran und traf ihn am Hinterkopf. Jäh wurde er nach vorn geschleudert und unter Wasser getaucht. Schmerz flammte auf, als der Propeller des Außenbordmotors in sein Fleisch schnitt.

Simon fürchtete, jeden Moment die Besinnung zu verlieren. Er hatte Sternchen vor den Augen, und sein Oberkörper fühlte sich von dem heftigen Zusammenstoß taub an, seine Arme hingen leblos herab. Energisch strampelte er mit den Beinen, aber die Hose und die Schuhe hatten sich dermaßen mit Wasser vollgesogen, dass sich seine Beine nur träge bewegten. Als er es irgendwie zurück an die Oberfläche geschafft hatte und ihn wieder Nebel umgab, hörte er in seinem Kopf eine ruhige Stimme.

Wozu kämpfen? Lass dich einfach sinken und ertrink. Dort unten ist es sicher.

Hustend spuckte er das brackige Wasser aus. Das Klingeln in seinen Ohren blockierte jegliche Geräusche. Das Wasser um ihn herum kräuselte sich, und der Bug des Boots tauchte wieder durch den Nebel auf. Als es ihn diesmal unter dem Kinn erwischte, hörte er seinen Kiefer brechen. Er wurde hoch und rückwärts geschleudert, bevor er zurück ins Wasser klatschte und auf der Oberfläche zum Liegen kam. Das Boot pflügte über ihn hinweg – Simon spürte erst den Rumpf auf der Brust, dann die Rotorblätter des Außenbordmotors, die seine Haut an den Rippen zerfetzten.

Er konnte weder die Arme noch die Beine bewegen. Sein Kopf und sein Gesicht fühlten sich taub an, während der Rest seines Körpers in Flammen stand. Solche Schmerzen hatte er noch nie erlebt. Das Wasser an seinen Händen wurde warm. Doch es handelte sich nicht um Wasser, sondern um Blut, sein Blut. Es war warm und ergoss sich in den See.

Er roch Benzin vom Außenbordmotor. Durch das Wasser ging erneut Bewegung, und Simon wusste, das Boot würde zurückkommen.

Er schloss die Augen und ließ die Luft aus der Lunge entweichen. Zuletzt spürte er, wie ihn das kalte, schwarze Wasser verschluckte.

1

ZWEITAGESPÄTER

Kate Marshall holte tief Luft und tauchte ins kalte Wasser. Sie brach wieder durch die Oberfläche und trieb einen Moment lang. Die felsige Landschaft von Dartmoor und der graue Himmel zeichneten sich über der Wasserlinie durch ihre Tauchermaske ab. Dann sank sie in den Stausee hinab. Die Sicht unter Wasser war gut. Jake, Kates Sohn im besten Teenageralter, war als Erster getaucht und wartete unter ihr. Luftblasen stiegen aus seinem Atemregler auf. Er winkte und zeigte ihr den Daumen hoch. Kate winkte zurück und schauderte, als die Kälte durch ihren Neoprenanzug sickerte. Sie stellte ihren Regler ein und nahm die ersten, blechern klingenden Züge von dem Sauerstoff aus der Flasche auf ihrem Rücken. Ein metallischer Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus.

Sie tauchten in Shadow Sands in einem künstlich angelegten Stausee, der einige Kilometer von Kates Haus bei Ashdean in Devon entfernt lag. Die algenbewachsenen Felsen, von denen sie ins Wasser gesprungen waren, fielen steil ab, und die Kälte und die Dunkelheit nahmen zu, als sie Jake tiefer folgte. Mittlerweile war er sechzehn, und durch einen unverhofften Wachstumsschub in den letzten Monaten war er beinah so groß wie Kate geworden. Sie strampelte kräftig, um zu ihm aufzuschließen.

In einer Tiefe von dreizehn Metern nahm das Wasser einen düsteren Grünton an. Sie schalteten die Stirnlampen ein und schwenkten Lichtstrahlen, denen es nicht gelang, die Tiefen zu durchdringen. Ein riesiger Süßwasseraal tauchte aus den Schatten auf und schlängelte sich zwischen ihnen hindurch. Der Schein ihrer Lampen erfasste seinen ausdruckslosen, starren Blick. Kate schrak zurück, doch ihr Sohn rührte sich nicht von der Stelle, sondern beobachtete fasziniert, wie der Aal dicht an seinem Kopf vorbeizog, bevor er wieder in den Schatten verschwand. Jake drehte sich ihr zu und zog hinter der Maske die Augenbrauen hoch. Kate schnitt eine Grimasse und zeigte ihm den Daumen runter.

Jake hatte gerade die Abschlussprüfungen für die Mittlere Reife hinter sich und verbrachte den Sommer bei Kate. Im Juni und Juli hatten sie in einer örtlichen Tauchschule Unterricht gehabt. Seither hatten sie mehrere Tauchausflüge draußen im offenen Meer unternommen, hatten einmal auch eine Unterwasserhöhle mit phosphoreszierend leuchtender Wand am Rand von Dartmoor besucht. Der Shadow Sands Stausee war 1953 durch die Flutung eines Tals und des Dorfs Shadow Sands entstanden. Jake hatte im Internet entdeckt, dass man darin tauchen und sich die versunkene Ruine der alten Dorfkirche ansehen konnte.

Sie tauchten anderthalb Kilometer von den Schleusen entfernt, die das Wasser zur Stromerzeugung durch zwei riesige Turbinen leiteten. Dort, am gegenüberliegenden Ende des künstlichen Gewässers, gab es einen kleinen, zum Tauchen vorgesehenen und abgesperrten Bereich. Im Rest des Stausees war es streng verboten. Kate hörte das leise Brummen des weit entfernten Wasserkraftwerks – in der Kälte und Dunkelheit ein gruseliges Geräusch.

Es hatte etwas Unheimliches an sich, über einem ehemaligen Dorf zu schwimmen. Kate fragte sich, wie es dort unten aussehen mochte. Bisher erhellten ihre Stirnlampen nur Schlick und trübes, grünliches Wasser. Sie konnte sich die einst trockenen Straßen und die früher von Menschen bewohnten Häuser vorstellen, die Schule, die Spielplätze.

Als Kate einen leisen Piepton hörte, blickte sie auf ihren Tauchcomputer. Mittlerweile befanden sie sich bei siebzehn Metern, und ein erneuter Piepton warnte sie, den Abstieg zu verlangsamen. Plötzlich packte Jake sie am Arm und zeigte nach unten links. Ein großer, solider Umriss zeichnete sich in der Düsternis ab. Sie schwammen darauf zu. Als sie näher kamen, erkannte Kate die riesige, gekrümmte Kuppel eines Kirchturms. Ein paar Meter davon entfernt hielten sie an. Ihre Lampen erhellten eine durchgehende Masse von Süßwasserkrebsen, die sich an der Kuppel festgesetzt hatten. Unter der Kuppel konnte Kate das von einem grünen Algenteppich pelzartig überzogene Mauerwerk des Kirchturms und die gewölbten Steinfenster ausmachen. Es fühlte sich unheimlich an, dieses von Menschenhand geschaffene, einst so hoch aufragende Bauwerk so tief unter Wasser zu sehen.

Jake löste eine wasserdichte Tasche mit einer Digitalkamera von seinem Gürtel und schoss ein paar Fotos. Dann sah er sich fragend nach Kate um. Sie warf einen Blick auf den Tauchcomputer. Mittlerweile befanden sie sich bei zwanzig Metern. Sie nickte und folgte ihrem Sohn zu einem der Fenster. Einen Moment lang schwebten sie davor. Der Schlick im Wasser verdichtete sich, als sie in den großen, leeren Hohlraum des alten Glockenturms spähten. Krustentiere bedeckten jeden Quadratzentimeter der Innenwände, bildeten an manchen Stellen sogar kleine Hügel. Trotz der dicken Schicht konnte Kate die Konturen der Gewölbedecke ausmachen. Der Turm hatte vier Fenster, eines auf jeder Seite. Am linken wimmelte es von Krustentieren, und auch das rechte war fast vollständig zugewuchert, bis auf einen schmalen Schlitz, der Kate an die Schießscharten einer mittelalterlichen Burg erinnerte. Das Fenster gegenüber hingegen wies offen zum trüben Wasser des Sees.

Kate schwamm durch das Fenster in den Turm. Jake folgte ihr. In der Mitte hielten sie an und ließen sich etwas höher treiben, um sich die gewölbte Decke genauer anzusehen. Einer der Balken, an denen die Kirchenglocken befestigt gewesen sein mussten, verlief quer über eine Seite der Decke. Auch diesen Balken bedeckten Krustentiere, die sich außerdem an den gewölbten Konturen der Decke selbst niedergelassen hatten. Ein riesiger, über dreißig Zentimeter langer Süßwasserkrebs tauchte hinter dem Balken auf und krabbelte über die Decke auf Kate zu. Vor Schreck hätte sie beinah aufgeschrien. Instinktiv wich sie zurück und packte Jake. Ihre Arme fuchtelten in Zeitlupe. Während sich der Flusskrebs über ihnen bewegte, trippelten seine Beine über die Schalen der dicht gedrängten Krustentiere. Über ihnen hielt er inne. Mittlerweile pochte Kates Herz wild. Ihre Atmung beschleunigte sich und erhöhte ihren Sauerstoffverbrauch.

Die Fühler des Krebses zuckten, dann krabbelte er weiter über die gewölbte Decke und verschwand durch das gegenüberliegende Fenster. Kate bemerkte, dass vor der Öffnung, durch die der Flusskrebs das Weite gesucht hatte, irgendetwas trieb. Als sie näher hinschwamm, erfasste ihre Stirnlampe die Absätze eines Paars grellroter Turnschuhe, die am oberen Rand des Fensters hin und her wogten.

Kate spürte Angst in sich aufsteigen, aber auch Neugier. Sie strampelte vorwärts, packte den Rand des Steinbogens und zog sich langsam durch die Fensteröffnung. Die Schuhe befanden sich direkt darüber und gehörten zu den Füßen eines leblosen Körpers, der aufrecht im Wasser schwebte, als stünde er neben der Kuppel der Kirche.

Jake folgte ihr durch das Fenster. Abrupt schrak er zurück und stieß sich den Kopf an der Turmmauer. Kate hörte seinen gedämpften Aufschrei, und ein jähes Gewirr von Blasen aus seinem Atemregler sprudelte in ihre Sicht. Rasch streckte sie die Hand nach ihrem Sohn aus, bekam ihn jedoch wegen seines Sauerstofftanks nicht richtig zu fassen. Irgendwie gelang es ihr trotzdem, ihn vom Turm wegzuziehen. Dann schaute sie zurück zur Leiche.

Es handelte sich um einen jungen Mann. Er hatte kurzes dunkles Haar und trug eine blaue Jeans samt Gürtel mit silbriger Schnalle. Am Handgelenk bemerkte sie eine schicke Uhr. Die Reste eines zerrissenen weißen T-Shirts trieben in Fetzen um seinen Hals. Er hatte eine athletische Figur. Der Kopf baumelte nach vorn geneigt im Wasser. Schnitte und tiefe Fleischwunden übersäten den Kopf, die Brust und den aufgedunsenen Bauch. Am schrecklichsten fand Kate den Anblick des Gesichts. Aus den weit aufgerissenen Augen sprach nackte Angst.

Plötzlich bewegte sich der Hals, pulsierte. Sie spürte, wie diesmal Jake sie packte, und einen grausigen Moment lang dachte Kate, der unbekannte junge Bursche über ihnen wäre noch am Leben. Der Kopf zuckte, und der Unterkiefer klappte auf, als ein schwarzer, glänzender Aal zwischen zerbrochenen Zähnen aus dem offenen Mund hervorquoll.

2

»Warum waren Sie heute tauchen?«, fragte Detective Chief Inspector Henry Ko.

»Mein Sohn Jake wollte es hier mal ausprobieren. Durch die Hitze ist der Wasserspiegel gesunken. Wir dachten, wir könnten vielleicht das geflutete Dorf sehen«, erklärte Kate.

Sie schwitzte unter dem Neoprenanzug. Ihr klebriges Haar juckte vom Wasser. Jake lehnte zusammengesunken am Vorderrad von Kates blauem Ford und starrte in die Ferne. Den Neoprenanzug hatte er bis zur Taille heruntergerollt. Er sah schrecklich blass aus. Kates Auto parkte auf einer Rasenfläche neben dem Stausee. Henrys Streifenwagen stand nur wenige Meter weiter. Die Grasfläche endete zehn Meter vor den Autos am ursprünglichen Wasserstand des Stausees. Durch die Dürre erstreckten sich zusätzliche zwanzig Meter freiliegender Steine zum Rand des Gewässers. Ein grüner, von der heißen Sonne ausgedörrter Algenteppich überzog die Steine.

»Können Sie beschreiben, wo die Leiche treibt?«, fragte Henry und kritzelte etwas in sein Notizbuch. Er war Anfang dreißig, wirkte sportlich und bediente sich einer gewählten Ausdrucksweise. Der Mann sah aus, als würde er besser auf einen Laufsteg in Mailand als an den Fundort einer Leiche passen. Durch seine Jeans zeichneten sich muskulöse Beine ab, das Hemd trug er mit den ersten drei Knöpfen offen. Zwischen den gebräunten Brustmuskeln hing eine silberne Halskette.

Neben ihm stand eine junge Polizistin in Uniform mit ihrer Dienstmütze unter dem Arm. Die Frau hatte langes, pechschwarzes, hinter die Ohren geklemmtes Haar. Die Hitze hatte ihre blasse Haut gerötet.

»Die Leiche ist unter Wasser. Wir waren in einer Tiefe von zwanzig Metern«, sagte Kate.

»Sie wissen die genaue Tiefe?«, fragte Henry nach, hielt beim Schreiben inne und schaute zu ihr auf.

»Ja«, bestätigte Kate. Sie hob das Handgelenk mit dem Tauchcomputer an. »Es handelt sich um einen jungen Burschen. Nike Air Jordan Sportschuhe, blaue Jeans mit Gürtel. T-Shirt in Fetzen gerissen. Er hat kaum älter ausgesehen als Jake, achtzehn, vielleicht neunzehn. Im Gesicht und am Oberkörper sind Schnitte und tiefe Fleischwunden erkennbar.« Ihre Stimme wurde belegt, und sie schloss die Augen. Ob wohl noch irgendwo die Mutter dieses toten Jungen lebt?, dachte Kate. Macht sie sich gerade Sorgen um ihn? Fragt sie sich, wo er ist?

Kate war ehemalige Polizistin. Sie dachte daran zurück, wie oft sie Angehörige über den Tod eines Familienmitglieds informieren musste. Am schlimmsten war es immer gewesen, wenn es um Kinder und Jugendliche ging: an die Tür klopfen, warten, bis geöffnet wurde. Dann der Ausdruck in den Gesichtern der Eltern, wenn die Erkenntnis einsetzte, dass ihr Sohn oder ihre Tochter nie wieder nach Hause kommen würde.

»Konnten Sie erkennen, ob der Junge nur vorn oder auch am Rücken Verletzungen hat?«, fragte Henry.

Kate öffnete die Augen. »Seinen Rücken habe ich nicht gesehen. Sein Körper hat uns zugewandt am Kirchturm getrieben.«

»Ist Ihnen irgendjemand begegnet? Boote? Andere Taucher?«

»Nein.«

Henry hockte sich neben Jake.

»Hi, Kumpel. Wie geht’s dir?«, fragte er mit besorgter Miene. Jake starrte nur geradeaus. »Willst du eine Dose Cola? Das würde gegen den Schock helfen.«

»Ja, will er. Danke«, schaltete sich Kate ein. Henry nickte der Polizistin zu, die zurück zum Streifenwagen ging. Kate sank neben Henry in die Hocke.

»Dieser Junge. Er hatte keine Tauchausrüstung«, sagte Jake mit brüchiger Stimme. »Was hat er ohne Ausrüstung so tief unten gemacht? Er war übel zugerichtet. Sein Körper war ganz blau und schwarz.« Jakes Finger zitterten, als er sich eine Träne von der Wange wischte.

Die Polizistin kehrte mit einer Dose Cola und einer karierten Decke zurück. Die Dose erwies sich als warm, trotzdem riss Kate sie auf und hielt sie Jake hin. Er schüttelte den Kopf. »Nimm einen kleinen Schluck. Der Zucker hilft gegen den Schock …«

Jake nippte, und die Polizistin legte ihm die karierte Decke über die nackten Schultern.

»Danke. Wie heißen Sie?«, erkundigte sich Kate.

»Donna Harris«, antwortete die Frau. »Reiben Sie seine Hände. Bringen Sie das Blut zum Zirkulieren.«

»Donna, fordere ein Team von Polizeitauchern an. Und sag Bescheid, dass ein Tieftauchgang nötig sein könnte«, ordnete Henry an. Die Polizistin nickte und entfernte sich, um die Anforderung über ihr Funkgerät durchzugeben.

Die Luft fühlte sich schwer und feucht an, und tief am Himmel bildeten sich dunkelgraue Wolken. Am anderen Ende des Stausees befand sich das Wasserkraftwerk, ein länglicher, niedriger Betonklotz. Von hinten ertönte leises Donnergrollen. Henry tippte mit dem Stift auf seinen Block.

»Sind Sie beide zum Tauchen qualifiziert? Ich weiß, dass man hier streng darauf achtet. Wegen der Tiefe und weil das Wasser den Staudamm speist.«

»Ja. Wir haben Anfang August die Tauchprüfung bestanden«, erwiderte Kate. »Wir können bis auf zwanzig Meter tauchen und haben dreißig protokollierte Stunden unter Wasser verbracht, seit Jake über den Sommer bei mir ist …«

Henry blätterte durch die Seiten des Notizbuchs zurück und legte die glatte Stirn in Falten.

»Moment. Jake ist über den Sommer bei Ihnen?«, hakte er nach.

Kates Stimmung sank. Nun würde sie Jakes Lebensumstände erklären müssen.

»Ja«, antwortete sie.

»Wer wohnt an der Adresse, die Sie bei der Meldung an die Notrufzentrale angegeben haben … Armitage Road 12, Thurlow Bay?«

»Ich«, erwiderte Kate. »Jake lebt bei meinen Eltern in Whitstable.«

»Aber Sie sind Jakes richtige … äh, biologische Mutter?«

»Ja.«

»Und sein gesetzlicher Vormund?«

»Er ist sechzehn. Er lebt bei meinen Eltern. Sie hatten bis zu seinem sechzehnten Geburtstag die gesetzliche Vormundschaft. Er fängt demnächst mit der Oberstufe in Whitstable an, deshalb wohnt er weiterhin bei ihnen.«

Henry musterte Kate und Jake.

»Sie haben dieselben Augen«, stellte er fest, als wäre es die Bestätigung, nach der er suchte. Kate und Jake teilten tatsächlich dieselbe seltene Augenfarbe: Blau mit aus den Pupillen fließenden orangen Einsprengseln.

»Das nennt sich sektorielle Heterochromie. Ein Befund, bei dem die Augen mehr als eine Farbe haben«, erklärte Kate.

Donna beendete den Funkspruch und kehrte zu ihnen zurück.

»Wie buchstabiert man sektorielle Heterochromie?«, fragte Henry und schaute vom Notizbuch zu Kate auf.

»Spielt das eine Rolle? Da draußen unter Wasser ist die Leiche eines Jungen, und sein Tod sieht für mich verdächtig aus«, entgegnete Kate, der allmählich die Geduld ausging. »Er ist übersät von Schnitten und Prellungen, und er muss erst unlängst gestorben sein, weil eine Leiche mehrere Tage nach dem Sinken wieder aufsteigt. Der Druck in dieser Tiefe und das kalte Wasser verlangsamen die Verwesung, aber wie Sie wissen, treibt ein Toter letztlich immer nach oben.«

Kate hatte die ganze Zeit Jakes Hände gerieben. Jetzt begutachtete sie seine Finger und stellte erleichtert fest, dass etwas Farbe in sie zurückkehrte. Sie ermutigte ihn, noch mehr Cola zu trinken, und diesmal nahm er einen großen Schluck.

»Sie scheinen sich gut auszukennen.« Henry verengte die Augen. Wunderschöne Augen der Farbe von Karamell. Für einen Detective Chief Inspector war er unheimlich jung, fand Kate.

»Ich war früher Detective Constable bei der Londoner Polizei«, erklärte sie.

Er schien sich vage zu erinnern. »Kate Marshall«, murmelte er. »Richtig. Sie waren in den Fall vor ein paar Jahren verwickelt. Sie haben den Kerl geschnappt, der die Morde vom Nine Elms Cannibal nachgestellt hat … Ich habe darüber gelesen … aber Moment. Haben Sie da nicht als Privatdetektivin gearbeitet?«

»Ja. Den ursprünglichen Nine Elms Cannibal habe ich gefasst, als ich 1995 noch Polizistin war, den Nachahmungstäter vor zwei Jahren als Privatdetektivin.«

Mit verwirrter Miene blätterte Henry erneut in seinem Notizbuch zurück.

»Vorhin haben sie zu Protokoll gegeben, dass Sie als Dozentin für Kriminologie an der Universität Ashdean arbeiten. Jetzt sagen Sie, dass Sie früher Polizistin waren und sich nebenbei als Privatdetektivin verdingen. Welchen Beruf soll ich denn nun in meinem Bericht angeben?«

»Ich wurde vor zwei Jahren um Hilfe bei der Lösung eines alten, ungeklärten Falls gebeten. Die Sache als Privatdetektivin war etwas Einmaliges. Ich bin Vollzeitdozentin an der Uni«, erwiderte Kate.

»Und Sie leben allein, während Jake bei Ihren Eltern in Whitstable wohnt …« Mit über der Seite schwebendem Stift schaute Henry wieder zu ihr auf. Seine Augenbrauen hatten sich beinah bis über den Haaransatz gehoben. »Oha. Der Vater Ihres Sohns ist der Serienmörder Peter Conway …«

»Richtig«, bestätigte Kate. Sie hasste diesen Moment, hatte ihn schon so viele Male erlebt.

Henry blähte die Wangen, bückte sich und musterte Jake mit neuerlichem Interesse. »Mein Gott. Das muss hart sein.«

»Ja. Familienfeiern sind schwer zu organisieren«, merkte Kate an.

»Ich meinte, es muss hart für Jake sein.«

»Ich weiß. Das war ein Scherz.«

Einen Moment lang sah Henry sie verwirrt an. Du bist zwar hübsch anzusehen, aber wohl nicht die hellste Birne im Leuchter, dachte sie. Henry richtete sich auf und klopfte mit dem Stift auf sein Notizbuch.

»Ich habe eine faszinierende Studie über die Kinder von Serienmördern gelesen. Die meisten führen ein ziemlich normales Leben. In Amerika lebt eine Frau, deren Vater sechzig Prostituierte vergewaltigt und ermordet hat. Sechzig! Sie arbeitet bei Target … Das ist eine Einzelhandelskette in Amerika.«

»Ich weiß, was Target ist«, erwiderte Kate barsch. Ihm schien nicht bewusst zu sein, wie unsensibel er sich gerade aufführte. Donna besaß genug Anstand, verlegen den Blick abzuwenden.

»Muss hart für Jake sein«, meinte er erneut und kritzelte wieder in sein Notizbuch. Kate verspürte plötzlich den beinahe unwiderstehlichen Drang, sich den Stift zu schnappen und ihn in der Mitte durchzubrechen.

»Jake ist ein völlig normaler, glücklicher und ausgeglichener Teenager«, sagte sie. An der Stelle ließ Jake ein Stöhnen vernehmen, beugte sich vor und übergab sich ins Gras. Henry sprang zwar schnell zurück, trotzdem geriet einer seiner teuer aussehenden hellbraunen Lederschuhe in die Schusslinie.

»Verdammt! Die sind neu!«, rief er verärgert und stapfte zum Streifenwagen davon. »Donna, wo sind die Feuchttücher?«

»Alles gut«, sagte Kate und kauerte sich neben Jake. Er wischte sich den Mund ab. Kate schaute zurück auf den Stausee hinaus. Eine niedrige, dunkle Wolkenbank trieb über das Moor hinweg auf sie zu, begleitet von Donnergrollen und Blitzen.

Wie ist dieser Junge gestorben?

3

Nachdem Kate ihre polizeiliche Aussage unterschrieben hatte, durften Jake und sie gehen. Auf dem Weg vom Parkplatz des Stausees fuhren zwei große Polizeiwagen und der Van des Gerichtsmediziners an ihnen vorbei.

Über den Rückspiegel beobachtete Kate, wie die Fahrzeuge am Ufer anhielten. Das Bild des im Wasser treibenden Jungen kehrte ungebeten zurück, und sie wischte sich eine Träne aus dem Auge. Ein Teil von ihr wünschte, sie könnte bleiben und zusehen, wie sein Leichnam geborgen wurde. Sie streckte den Arm aus und ergriff Jakes Hand. Er drückte ihre Finger.

»Wir brauchen Benzin«, verkündete sie, als sie sah, dass der Tank fast leer war. Sie hielt an der Tankstelle in der Nähe ihres Hauses, rollte an den Zapfsäulen vorbei und parkte an der Rückseite. »Du solltest dir was Trockenes anziehen, Schatz. Hier gibt’s Toiletten, und die Betreiber achten darauf, dass sie sauber sind.«

Jake nickte. Er war immer noch sehr blass. Kate wünschte, er würde etwas sagen. Die Stille war beinahe unerträglich. Er wischte sich das nasse Haar zurück, das er mittlerweile schulterlang trug, und band es mit einem Gummiband von seinem Handgelenk zusammen. Kate öffnete den Mund, um ihn zu warnen, wie schlecht Gummibänder für sein Haar waren, schloss ihn aber wieder. Wenn sie an ihm herumnörgelte, würde er sich nur noch mehr verschließen. Ihr Sohn stieg aus und schnappte sich seine trockene Kleidung vom Rücksitz. Sie beobachtete, wie er mit hängendem Kopf zu den Toiletten stapfte. Der Junge hatte so viel durchgemacht, mehr als die meisten Sechzehnjährigen.

Kate klappte die Sonnenblende mit dem Spiegel herunter und betrachtete sich darin. Mittlerweile durchzogen graue Strähnen ihr langes Haar, und sie konnte kein einziges ihrer zweiundvierzig Lebensjahre verleugnen – mal abgesehen davon, dass sie gerade fast genauso blass war wie Jake. Rasch klappte sie den Spiegel wieder hoch. Es war Jakes letzter Tag bei ihr vor der Rückkehr zu seinen Großeltern. Eigentlich wollten sie sich nach dem Ausflug zum Tauchen eine Pizza holen und anschließend runter zum Strand unter Kates Haus gehen, um dort ein Lagerfeuer anzuzünden und Marshmallows zu rösten.

Stattdessen würde Kate ihre Mutter anrufen und ihr mitteilen müssen, was sich ereignet hatte. Es war ein nahezu perfekter Sommer gewesen. Sie waren fast wieder eine normale Familie geworden. Und nun funkte eine Leiche dazwischen.

Kate legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ein Durchschnittsmensch stolperte während seines gesamten Lebens nicht ein einziges Mal über eine Leiche, Kate hingegen passierte es wieder und … wieder. Wollte das Universum ihr damit etwas sagen? Sie öffnete die Augen.

»Ja, es will dir sagen, dass du dir schönere Plätzchen für Ausflüge mit deinem Sohn aussuchen sollst«, sprach sie laut aus.

Sie nahm ihr Telefon aus dem Handschuhfach und schaltete es ein, rief die Nummer ihrer Mutter auf, um sie anzurufen. Doch dann folgte sie einer spontanen Eingebung, öffnete stattdessen den Internetbrowser und googelte »vermisster Teenager, Devon, Großbritannien«. Das Datensignal an der Tankstelle erwies sich durch die umliegenden Hügel von Dartmoor als schwach. Ihr Handy brauchte eine geschlagene Minute, bis die Ergebnisse geladen wurden. Es gab keine aktuellen Meldungen über einen vermissten Teenager aus der Gegend. Auf der Website von Devon Live stieß sie auf einen Bericht über einen Siebenjährigen. Er war einen Nachmittag lang im Zentrum von Exeter verschwunden gewesen und konnte nach ein paar angespannten Stunden mit seiner Familie wiedervereint werden.

Dann googelte sie: »DCI Henry Ko, Devon, Großbritannien.« Das erste Ergebnis stammte aus der Lokalzeitung.

HOCHDEKORIERTER CHIEF SUPERINTENDENT IM BEZIRK DEVON UND CORNWALL GIBT AMT WEITER

Der Artikel stammte aus der Vorwoche und berichtete vom Ruhestand eines gewissen Chief Constable Arron Ko. Darin stand, dass er 1978 als erster asiatischer Beamter im Verwaltungsbezirk Devon und Cornwall in den Dienst bei der Polizei eingetreten war.

Darunter befand sich ein Foto mit der Beschriftung: »Chief Constable Arron Ko wurde sein Geschenk zum Ruhestand – gravierte silberne Handschellen und die Police Long Service & Good Conduct Medal – von seinem Sohn überreicht, Detective Chief Inspector Henry Ko.«

Das Bild zeigte Henry mit seinem Vater vor dem Revier in Exeter mit der gerahmten Auszeichnung. Im Vergleich zu seinem gutaussehenden Sohn erwies sich Arron Ko als korpulent und übergewichtig, dennoch sah Kate die Ähnlichkeit der beiden. »Aha. Deshalb bist du so jung Detective Chief Inspector geworden. Vitamin B«, murmelte Kate. Die neidische Stimme in ihrem Kopf gefiel ihr gar nicht, doch sie konnte nicht umhin, sich mit Henry zu vergleichen. Kate hatte vier Jahre lang hart gearbeitet und alles geopfert, um mit fünfundzwanzig Jahren zum Detective Constable in Zivilkleidung befördert zu werden. Henry Ko war erst Anfang dreißig und bereits DCI, zwei Ränge über einem Detective Constable. Kate dachte zurück an ihre Zeit bei der Polizei und ihr Leben in London.

Detective Chief Inspector Peter Conway war Kates Vorgesetzter bei der Met Police gewesen, als sie am Fall des Nine Elms Cannibal gearbeitet hatten. Eines Nachts nach einem Besuch des Fundorts des vierten Opfers hatte Kate den Fall geknackt und herausgefunden, dass Peter selbst der Nine Elms Cannibal war. Als sie ihn damit konfrontiert hatte, wäre sie beinah von ihm umgebracht worden.

In den Monaten vor dieser schicksalhaften Nacht hatten Kate und Peter eine Affäre, und Kate war mit Jake im vierten Monat schwanger gewesen, ohne es bemerkt zu haben. Als man es ihr im Krankenhaus mitteilte, wo sie sich von Peters Angriff erholte, war es für eine Abtreibung zu spät gewesen.

Die Geschichte wurde von den Zeitungen genüsslich ausgeschlachtet. Sie hatte Kates Glaubwürdigkeit bei der Polizei zerstört und ihrer Karriere ein jähes Ende gesetzt. Nach Jakes Geburt hatte sie schwer zu kämpfen. Das Trauma des Falls und die ungeplante Mutterschaft, verbunden mit einer postnatalen Depression, lasteten schwer auf ihr, und sie begann, ausschweifend zu trinken.

Im Verlauf der Jahre sprangen ihre Eltern mehrmals ein, um sich um Jake zu kümmern. Aber Kates Alkoholproblem wurde nur immer schlimmer, und schließlich landete sie im Entzug. Kate wurde zwar trocken, jedoch zu spät. Als Jake sechs Jahre alt war, bekamen ihre Eltern das Sorgerecht für ihn zugesprochen, und die letzten zehn Jahre waren sie seine gesetzlichen Vormünder geblieben.

Der Weg zur Abstinenz war hart gewesen. Inzwischen hatte Kate ihr Leben wiederaufgebaut und konnte Jake in den Ferien und an den Wochenenden sehen, aber seine Kindheit war bereits fast vorbei. Den Verlust spürte sie immer noch wie scharfe Glasscherben im Herzen. Sie hatte nicht nur Jake verloren, sondern auch ihre Karriere bei der Polizei, die sie geliebt hatte.

Als es an der Scheibe ihres Fensters klopfte, fuhr Kate erschrocken zusammen. Mittlerweile trug Jake seine schwarze Skinnyjeans und einen blauen Kapuzenpulli. In seine Wangen war etwas Farbe zurückgekehrt. Sie ließ das Fenster herunter.

»Ma, hast du ein paar Pfund für eine Pasty und eine Tafel Schokolade? Ich bin am Verhungern.«

»Sicher«, antwortete sie. »Geht’s dir besser?«

Er nickte und lächelte sie an. Kate lächelte zurück. Sie griff sich ihre Handtasche, und sie gingen zusammen in die Tankstelle.

So sehr sie sich bemühte, sie bekam das Bild des unter Wasser treibenden Jungen nicht aus dem Kopf. Es war frustrierend, dass sie abwarten musste, ob sie in den Nachrichten etwas über ihn erfahren würde.

4

SECHSWOCHENSPÄTER

Kate trat durch die knarrenden Holztüren des Gemeindezentrums von Ashdean nach draußen und blieb stehen, um den Blick über die Dächer zu den aufgewühlten, gegen die Ufermauer brandenden Wellen wandern zu lassen. Heulender Wind peitschte ihr die Haare um den Kopf. Sie holte eine Schachtel Zigaretten aus der Handtasche, zupfte eine Kippe heraus und trat zurück unter das Vordach, um sie anzuzünden.

An diesem kalten Oktoberabend hatten zwischen zwanzig und dreißig Leute das Treffen der Anonymen Alkoholiker besucht. Sie nickten Kate zum Abschied zu, und Kate beobachtete, wie sie zu ihren Autos eilten, die Köpfe eingezogen, um sich gegen den eisigen Wind zu schützen.

Bald wurde auch Kate die Kälte zu viel. Sie nahm einen letzten, hastigen Zug von der Zigarette, ließ die halb gerauchte Kippe auf den Boden fallen und trat sie mit dem Absatz aus. Dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Auto. Die Straße war mittlerweile dunkel und verwaist. Ihr Auto parkte in einer Lücke zwischen den Reihenhäusern. Als sie den Wagen erreichte, hatte sich ein weißer BMW neben ihren alten blauen Ford gezwängt. Die Tür des BMW öffnete sich. Eine dünne Frau mit blassen Zügen stieg aus.

»Kate?«, fragte sie mit Londoner Akzent. Sie trug das braune Haar von der hohen, knochigen Stirn zurückgekämmt, und ihre tiefliegenden Augen mit dunklen Ringen darunter sahen aus wie die eines Waschbären. Die Frau war zum ersten Mal beim Treffen der Anonymen Alkoholiker gewesen, daran erinnerte sich Kate.

»Ja. Alles in Ordnung?«, fragte sie und musste lauter sprechen, um das Tosen des Winds zu übertönen.

»Kate Marshall?« Die Augen der Frau tränten durch die schneidende, eisige Luft. Sie trug einen langen lilafarbenen Mantel, der beinah wie ein Schlafsack aussah, und grellweiße Turnschuhe.

Kate überraschte, dass die Frau ihren vollständigen Namen kannte. Bei der Sitzung hatten sie zwar miteinander gesprochen, aber wie bei den Anonymen Alkoholikern üblich nur die Vornamen benutzt und sich geduzt. Die Frau ist eine scheiß Journalistin, schoss es Kate durch den Kopf.

»Kein Kommentar«, sagte Kate, öffnete die Tür ihres Autos und wollte schleunigst weg.

»Hey, ich bin keine Journalistin! Du hast die Leiche meines Sohns gefunden …«, sagte die Frau. Kate hielt abrupt inne, die Hand bereits an der Autotür. »Sein Name war Simon Kendal«, fügte die Frau hinzu und sah Kate direkt ins Gesicht. Traurigkeit sprach aus ihren stechend grünen Augen.

»Oh. Tut mir leid«, erwiderte Kate.

»Man hat mir gesagt, er wäre ertrunken.«

»Ja. Ich hab den Bericht in den Lokalnachrichten gesehen.«

»Das war Blödsinn.« Die Frau schluchzte.

Kate hatte die Geschichte verfolgt, obwohl sich die Lokalnachrichten nicht lange damit aufgehalten hatten. Sie hatten berichtet, der Fall wäre abgeschlossen. Simon Kendal war mit einem Freund zelten gewesen, hieß es. Er wäre ins Wasser gegangen und ertrunken. Danach wäre sein Leichnam von einem der Wartungsboote zerfleischt worden, die regelmäßig auf dem Stausee patrouillierten. In den Lokalnachrichten wurde auch erwähnt, dass Kate die Leiche gefunden hatte. Deshalb hatte Kate zuerst gedacht, die Frau müsste Reporterin sein.

»Sein Körper war übel zugerichtet. Man wollte ihn mir im Leichenschauhaus nicht zeigen … Sieh dir das an!«, rief die Frau und zog ein kleines Fotoalbum aus Kunststoff aus der Jackentasche. Sie blätterte darin zu einem Foto eines gutaussehenden Jungen, der in einer Badehose triefnass an einem Swimmingpool stand. Um seinen Hals hingen zwei Medaillen. »Das ist mein Simon. Er war britischer Regionalmeister. Im Schwimmen. Er wollte Leistungssportler werden. Die Qualifikation für das olympische Schwimmteam in London 2012 hat er nur wegen einer Verletzung verpasst … Wegen einer dummen Verletzung …« Sie blätterte weiter durch das Album und redete schnell, als müsste sie sich Kates Aufmerksamkeit sichern. »Simon wäre nie nachts vollständig bekleidet ins Wasser gegangen!«

»Wie heißt du?«, fragte Kate.

»Lyn. Lyn Kendal …« Die Frau kam näher und schaute mit flehendem Blick zu Kate auf. »Was glaubst du, was passiert ist? Ich weiß, dass du früher bei der Polizei warst. Und ich habe gelesen, dass du Privatdetektivin bist.«

»Ich weiß nicht, was mit Simon passiert ist«, erwiderte Kate. In Wirklichkeit war die Geschichte in den vergangenen Wochen weit in Kates Hinterkopf gedrängt worden. Ihre Gedanken wurden beherrscht von der Arbeit und von Jake, der sich seit seiner Rückkehr nach Whitstable äußerst distanziert verhielt.

»Bist du nicht neugierig?« Lyn zitterte. Mit einer zornigen Handbewegung wischte sie ihre Tränen weg. »Du unterrichtest Kriminologie. Du warst Ermittlerin. Ist es der Tod meines Sohns nicht wert, untersucht zu werden?«

»Natürlich ist er das«, gab Kate zurück.

»Können wir irgendwo reden? Bitte?«, fragte Lyn und strich sich ein paar windgepeitschte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Kate fragte sich, ob Lyn wirklich nüchtern war. Die Frau schien mit den Nerven am Ende zu sein – was auch kein Wunder war.

»Ja. In der Roma Terrace über der Promenade ist ein kleines Café, das Crawford’s. Dort treffen wir uns.«

5

Crawford’s war das älteste Café in Ashdean und Kates Lieblingslokal. Die schwarz gestrichenen Wände zierten Fotos von Joan Crawford und Bette Davis, und hinter der Theke aus Resopal hing ein riesiger getönter Spiegel, der die große Kaffeemaschine, die ausgebleichten roten Ledersitze und die Aussicht auf die dunkle Promenade reflektierte. An diesem kalten, windigen Mittwochabend erwies sich das Café als verwaist. Kate traf als Erste ein und entschied sich für einen Tisch am Ende des Gastraums.

Auf der anderen Straßenseite brandete das Wasser durch die Flut bis zur Ufermauer. Von ihrem Aussichtspunkt aus konnte Kate die gesamte Promenade überblicken. Die Wellen brachen sich an der Mauer und verspritzten Gischt und Kies über die abgestellten Autos. Ein weißer BMW brauste die Straße herauf und parkte sauber in die Lücke hinter Kates verbeultem Ford ein. Lyn stieg aus, öffnete die Beifahrertür und griff sich einen hellgrünen Plastikordner vom Sitz.

»Hast du schon bestellt?«, fragte Lyn, als sie sich am Tisch gegenüber Kate niederließ.

»Nein.«

Lyn legte den grünen Ordner auf den Tisch, dann holte sie ihr Handy, eine Packung Marlboro 100 und ein goldenes Feuerzeug aus der Manteltasche. Sie zog den Mantel aus, faltete ihn zusammen und setzte sich darauf. Lyn war eine kleine Frau, und Kate fragte sich, ob sie es tat, um sich an Kates Körpergröße anzugleichen, damit sie nicht zu ihr aufschauen musste.

Roy Crawford, der ältere Mann, dem das Crawford’s seit den 1970er Jahren gehörte, kam zu ihrem Tisch herüber. Er war ein großer Mann mit langem, weißem, zu einem Pferdeschwanz zurückgebundenem Haar und rosigem, glattrasiertem Gesicht.

»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte er lächelnd und setzte die Halbmondbrille auf, die an einer Kette um seinen Hals baumelte.

Sie bestellten jeweils einen Cappuccino, was er schwungvoll auf einem kleinen Notizblock notierte.

»Ich weiß, es ist eine einfache Bestellung«, kommentierte er. »Aber ich würde glatt den eigenen Kopf vergessen, wenn er nicht angewachsen wäre. Und so leid es mir tut, wir haben Rauchverbot. Kaum zu fassen, dass das ausgerechnet die Labour Party durchgesetzt hat.« Er verdrehte theatralisch die Augen, bevor er sie allein ließ.

Lyn strich sich nervös einige Strähnen aus der hohen Stirn.

»Erzähl mir von Simon«, forderte Kate sie auf.

Lyn wirkte erleichtert, dass sie direkt zur Sache kommen durfte. »Er war mit seinem Freund Geraint von der Uni unterwegs. Sie waren zum Zelten auf dem Campingplatz in der Nähe des Shadow Sands Stausees«, sagte sie.

»Bist du aus der Gegend?«

»In London geboren. Mein verstorbener Mann war aus der Gegend, und ich lebe hier seit zwanzig Jahren. Er ist an einem Herzinfarkt gestorben.« Kate setzte dazu an, ihr Beileid auszudrücken, aber Lyn hob die Hand. »Nicht nötig. Er war ein tyrannisches Arschloch.«

»Was sagt Geraint über Simon?«

»Sie haben den Tag damals am Strand verbracht. Deshalb sind sie erst spät am Campingplatz eingetroffen. Sie haben das Zelt aufgebaut und sich dann schlafen gelegt. Als er am nächsten Morgen aufgewacht ist, war Simons Schlafsack leer. Geraint dachte, Simon wäre bloß pinkeln gegangen, aber er ist nicht wieder aufgetaucht.«

»Hatten sie einen Streit oder so?«

Lyn schüttelte den Kopf. Die Kaffeemaschine in der Ecke begann zu zischen, das Klirren von Löffeln und Porzellantassen ertönte.

»Waren nur die beiden zelten?«, hakte Kate nach.

»Ja. Sie waren beste Freunde und haben sich nie gestritten. Geraint hatte keinen Kratzer. Alle seine Sachen waren trocken.«

»Hatten sie getrunken?«

Lyn hob die Hand.

»Ich bin alle offensichtlichen Möglichkeiten schon zigmal durchgegangen. Bei der Obduktion wurde Unfalltod durch Ertrinken festgestellt. Simon hatte keinen Alkohol im Blut …«

Roy brachte mit beschwingten Schritten ihren Kaffee.

»Bitte sehr, die Damen«, sagte er. »Genießen Sie den Kaffee, aber in einer halben Stunde schließe ich.«

»Danke«, erwiderte Kate. Lyn wartete ungeduldig, bis er ihre Cappuccinos abgestellt hatte und sich wieder außer Hörweite befand.

»Unfalltod durch Ertrinken«, wiederholte Kate. Sie dachte zurück an den geschundenen, im Wasser treibenden Leichnam.

»Simon war nüchtern. Und ein sehr guter Schwimmer. Selbst wenn er zum Schwimmen in den Stausee gegangen wäre, dann nicht leichtsinnig. Er hätte nie die Kleidung und die Schuhe anbehalten. Der Campingplatz liegt einen knappen Kilometer flussaufwärts vom Kraftwerk, und bis zu der Stelle, wo du ihn gefunden hast, ist es ein weiterer knapper Kilometer. Er hat fast jeden Tag trainiert, hundert Längen in einem Olympiabecken. Das sind fast fünf Kilometer. Er ist auch regelmäßig im Meer geschwommen.«

Kate stellte ihre Tasse ab und seufzte.

»War sich der Gerichtsmediziner hundertprozentig sicher, dass Simon ertrunken ist?«

Lyns Gesichtszüge fielen in sich zusammen. »Ja.«

»Und man glaubt, die Verletzungen an seinem Körper wurden von einem Boot verursacht, das regelmäßig auf dem Stausee patrouilliert?«

»Ich sehe das in Gedanken immer wieder vor mir. Sein wunderschöner Körper im Wasser, wie er überfahren wird.«

Kate hätte sich gern vorgebeugt und Lyns Hand ergriffen, aber sie sah der Frau an, dass sie zugleich wütend und stolz war.

»Wann wurde Simon als vermisst gemeldet?«, fragte Kate.

»Geraint hat mich am 28. August am Nachmittag angerufen und mir gesagt, dass er Simon nicht finden kann. Ich habe sofort die Polizei verständigt. Dort hat man mir mitgeteilt, dass er erst nach vierundzwanzig Stunden offiziell als vermisst geführt werden kann. Als offiziell vermisst hat er also seit dem Morgen des 29. August gegolten.«

»Ich habe Simons Leiche am nächsten Nachmittag gefunden.«

»Die Polizei hat entschieden, dass Simon in der Nacht aufgestanden ist, neben dem Wasserkraftwerk schwimmen wollte und dabei ertrunken ist … Aber das hätte er nie getan!« Zur Betonung ließ Lyn die Faust auf die Tischplatte niedersausen. »Er weiß – wusste – über Strömungen Bescheid. Über die Wasserbedingungen. Der Staudamm saugt das Wasser aus dem See an. Deshalb gilt dort ein Schwimmverbot. Überall auf dem Campingplatz sind entsprechende Schilder angebracht. Nachdem Simon monatelang wegen einer Verletzung pausieren musste, sollte er bald wieder ins Training einsteigen. Er war nüchtern! Er hätte seine Zukunft nicht aufs Spiel gesetzt.«

»Tut mir leid, das fragen zu müssen, aber war er depressiv?«

»Nein. Nein. Nein. Er war nicht depressiv. Verdammt, er war mit seinem besten Freund im Urlaub! Die beiden haben zusammengehalten wie Pech und Schwefel. Er hatte sich den ganzen Sommer darauf gefreut …« Lyn war den Tränen sichtlich nahe. Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und putzte sich die Nase. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich.

»Nein, muss es nicht. Du hast jedes Recht, dich zu fühlen … wie du dich eben fühlst.«

»Kennst du das, wenn du von jedem abgetan wirst und dir keiner zuhört?«

»Geht mir schon mein Leben lang so«, erwiderte Kate bedauernd.

Lyn ließ die Schultern hängen. Sie schien sich zu beruhigen.

»Genau so fühle ich mich gerade. Mir ist klar, dass Simon im Wasser war und ihn ein Boot überfahren haben könnte. Nur scheint die Polizei nicht zu interessieren, warum oder wie er überhaupt im Wasser gelandet ist.«

»Wie bist du auf mich gekommen?«, fragte Kate.

»Ich hab dich gegoogelt.« Lyn öffnete den Ordner und nahm einen Ausdruck eines Artikels aus dem National Geographic heraus. Es stammte von vor zwei Jahren und enthielt ein Foto von Kate und ihrem wissenschaftlichen Assistenten Tristan Harper. Sie standen vor dem gotischen Universitätsgebäude von Ashdean, das hinter ihnen aufragte wie eine Miniaturausgabe von Schloss Hogwarts. Damals hatte man sie interviewt, nachdem sie den Fall der Nine Elms Nachahmungsmorde gelöst hatten. Es war eine aufregende Zeit gewesen, und Kate hatte gedacht, Tristan und sie könnten eine Laufbahn als Privatdetektive einschlagen. »Ich habe online nach euch gesucht, ob ihr eine Detektei habt.«

»Leider nein«, erwiderte Kate.

»Ich will nur herausfinden, was mit Simon passiert ist. Du hast selbst einen Sohn. Und musstest ihn vor all dem Mist schützen, mit dem man dich über die Jahre beworfen hat … Es gibt haufenweise Privatdetekteien, aber du … Ich möchte, dass du mir hilfst. Tust du es?«

Kate hatte zu viel Schlechtes in Menschen gesehen. Selbst beste Freunde konnten sich plötzlich gegeneinander wenden, dachte sie. Als Detektiv musste man immer logisch vorgehen. Wenn Simon und Geraint allein gewesen waren, lautete die erste logische Schlussfolgerung, dass Geraint die Tat begangen hatte.

Lyn schloss die Augen. »Es ist schlimm genug, dass mir mein Sohn genommen wurde. Ich will wissen, warum er mitten in der Nacht dort im Wasser war. Normalerweise bin ich keine Frau, die bettelt … aber bitte.« Tränen traten ihr in die Augen. »Bitte. Hilfst du mir?«

Kate stellte sich vor, wie sie sich fühlen würde, wenn die Rollen vertauscht wären – wenn man Jake im Wasser gefunden hätte, übersät von Schnitten und Blutergüssen.

»Ja«, willigte Kate ein. »Ich helfe dir.«

6

Früh am nächsten Morgen rannte Tristan Harper die Stufen vom Strand hinauf. Auf der Promenade blieb er stehen und beugte sich vornüber, um zu verschnaufen. Die Morgendämmerung brach gerade über Ashdean herein. Der Himmel war mittlerweile hellblau, und in der langen Abfolge von Reihenhäusern entlang der Küste gingen nach und nach Lichter an.

Ein schwarzer Labrador hopste unten am Strand vorbei und platschte ins ruhige Meer, um einem Stock nachzujagen. Es herrschte Ebbe, wodurch zerklüftete, von Seegras überwucherte Felsen freilagen. Der Besitzer des Hunds, ein großer Typ in enger Jeans und gelber, wasserfester Jacke, bemerkte Tristan in seiner Joggingaufmachung, sah genauer herüber und lächelte. Tristan lächelte zurück, bevor er die Straße überquerte und die kleine Wohnung betrat, die er sich mit seiner Schwester Sarah teilte.

Er war gutaussehend, hatte kurzes braunes Haar, braune Augen und eine große, athletische Statur. Als er sein T-Shirt auszog, kamen ein Waschbrettbauch und definierte Brustmuskeln zum Vorschein. Seinen Rücken zierte eine wunderschöne Tätowierung in Form eines Adlers von hinten, der die Flügel über seine Schultern ausbreitete. Seine Brust zeigte denselben Adler von vorn, mit gesenktem Kopf. Die gelblichen Augen schienen auf Tristans Brustbein zu leuchten. Die Flügelspannweite reichte von einer Schulter zur anderen. Weitere Tätowierungen prangten am Bizeps und am Rest der Arme. Tristan ging zum Spiegel und betrachtete einen Wickel aus Frischhaltefolie oben am linken Trizeps. Die Folie löste sich von der Haut. Kurz zögerte er, dann zog er sie vorsichtig ab und enthüllte seine neueste Tätowierung, ein schlichtes schwarzes Band, das gut verheilte.

»Cool«, sagte er bewundernd zu sich selbst. »Nicht übel.«

Er duschte, zog sich an und ging den kurzen Weg die Küste entlang zum Universitätsgebäude zu Fuß. Bis nach der letzten Vorlesung des Vormittags – Geschichte der Forensik – ergab sich keine Gelegenheit, mit Kate zu reden. Doch als die Studenten den Hörsaal verließen und er den Diaprojektor wegpackte, kam sie zu ihm herüber.

»Ich hab da was, worüber ich mit dir reden möchte. Lust auf einen Kaffee?«, fragte sie.

Tristan war aufgefallen, dass Kate in den letzten Wochen distanziert und übernächtigt gewirkt hatte. Erfreut stellte er fest, dass sie an diesem Tag deutlich besserer Laune und ausgeruhter zu sein schien.

»Gern. Ich komme nach, sobald ich den Projektor im Lager verstaut habe«, sagte er. »Ich nehme einen Karamell-Macchiato.«

»Igitt«, erwiderte sie. »Ich wette, du machst auch noch Zucker rein.«

»Ich weiß, ich bin eigentlich schon süß genug, aber ja«, bestätigte er lächelnd.

Tristan gesellte sich wenige Minuten später in der Starbucks-Filiale im Erdgeschoss zu Kate. Sie saß an einem der Tische unter dem langen Fenster, das hinaus aufs Meer wies. Kate reichte ihm einen Becher.

»Danke.« Er ließ sich ihr gegenüber nieder. Als er den Deckel vom Becher abnahm, beobachtete Kate belustigt, wie er vier Stück Zucker hinzufügte. Er probierte einen Schluck, nickte zufrieden und holte den Terminkalender aus seiner Tasche. Darin trug er alle Angaben zu Kates dienstlichen Pflichten ein: Daten der Besuche von Gastdozenten, zu mietende Ausrüstung, Prüfungstermine der Studenten.

»Es geht nicht um etwas offiziell Dienstliches«, verriet Kate.

»Oh.«

Kate erzählte ihm von dem Treffen am vergangenen Abend mit Lyn Kendal, und Tristan hörte aufmerksam zu.

»Sie hat mir diesen Ordner gegeben. Ist nicht viel als Ausgangsbasis«, meinte Kate zum Schluss. »Außerdem hat sie fünftausend Pfund in bar reingelegt. Weitere fünftausend zahlt sie uns, wenn wir herausfinden, was mit Simon passiert ist.«

»Das ist eine Menge Schotter. Glaubst du, es sind ihre Ersparnisse?«, fragte er mit hochgezogener Augenbraue.

»Ich weiß nicht. Sie scheint mir recht gut situiert zu sein.«

Tristan öffnete den Ordner und holte die Unterlagen heraus. Darunter befanden sich ein ausgeschnittener Bericht aus der Lokalzeitung und Fotos von Simon Kendal. Hauptsächlich von seinen Schwimmmeisterschaften. Tristan las den Artikel durch.

TEENAGER AUS DER GEGEND ERTRINKT IN STAUSEE

Simon Kendal, 18, geriet allem Anschein nach in Not, als er unerlaubt im Shadow Sands Stausee nahe Ashdean schwimmen wollte.

Die Polizei wurde am Donnerstag zu dem schönen Fleckchen im Moorgebiet gerufen. Ein Team von Tauchern suchte den Stausee ab und konnte die Leiche des jungen Mannes bergen.

Die Polizei betrachtet seinen Tod nicht als verdächtig.

Detective Chief Inspector Henry Ko sagt dazu: »Mein aufrichtiges Beileid bei dieser herzzerreißenden Tragödie gilt Simons Familie.«

Mike Althorpe, Sicherheitsleiter für Freizeiteinrichtungen und Erholungsgebiete der Unfallverhütungsorganisation Royal Society for the Prevention of Accidents, warnt: »Wir können nachvollziehen, wie verlockend es ist, schwimmen zu gehen, vor allem bei heißem Wetter. Aber offene Gewässer können durch starke Strömungen und Unterwassergeröll, die man vom Ufer aus nicht sehen kann, sehr gefährlich sein.«

»Kommt mir das nur so vor, oder untermauert die Lokalzeitung wirklich, dass Simon einfach ertrunken ist?«, fragte Tristan.

»Die blasen ins selbe Horn wie die Behörden«, erwiderte Kate. »Aber ja. Es wird mit keinem Wort erwähnt, dass er Leistungsschwimmer war.«

Tristan sah die Fotos von Simon mit seiner Schwimmmannschaft durch. Die Aussicht darauf, an einer weiteren realen Ermittlung zu arbeiten, fand er aufregend. Noch dazu könnte er das zusätzliche Einkommen gut gebrauchen. Seine Schwester würde demnächst heiraten und nach der Hochzeit im Dezember aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen. Wenn sie weg wäre, würde er allein für die Miete und die Rechnungen aufkommen müssen.

»Wir haben eine Menge im Terminkalender«, sagte er. »Die Studenten von ›Geschichte der Forensik‹ reichen in zwei Wochen ihre Dissertationen ein. Die von ›Amerikanische Serienmörder der 1970er Jahre‹ auch. Wir haben die Exkursion nach London für den Kurs ›Ikonen des Verbrechens‹. Ebenfalls in zwei Wochen …« Er wollte noch hinzufügen, dass Sarahs Hochzeit in sechs Wochen anstand. Damit würde allerlei Dramatik einhergehen, davon war er überzeugt.

»Ich habe das Gefühl, wir werden feststellen, dass es ein Unfall war«, meinte Kate. »Wenn Alan Hexham die Obduktion durchgeführt hat, wie ich vermute, dann zweifle ich nicht an den Ergebnissen.«

»Trotzdem könnte es interessant sein, mit diesem Freund zu reden, mit Geraint«, erwiderte Tristan.

»Richtig«, pflichtete Kate ihm bei. »Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen und gefragt, ob wir uns am Samstag mit ihm unterhalten können. Hoffentlich ruft er mich zurück. Morgen früh statte ich Alan im Leichenschauhaus einen Besuch ab. Er lässt mich einen Blick in den Obduktionsbericht über Simon Kendal werfen.«

»Wann?«

»Er hat gleich als Erstes für mich Zeit, noch vor neun.«

»Ich muss morgen früh Ausrüstung besorgen, außerdem ist das Leichenschauhaus ohnehin nicht mein Ding, schon gar nicht so kurz nach dem Frühstück.«

Lächelnd nickte Kate.

»Okay, dann mache ich das allein«, sagte sie.

»Am Samstag kannst du auf mich zählen. Hoffentlich redet dieser Geraint mit uns.«

»Ja. Ich will versuchen, Alan den Polizeibericht zu entlocken. Wenn wir wissen, was Geraint ausgesagt hat, haben wir die Möglichkeit, seine Geschichte zu hinterfragen und zu sehen, ob er nach ein paar Wochen immer noch daran festhält.«

7

Kurz vor acht Uhr am nächsten Morgen traf Kate im Leichenschauhaus von Exeter ein. Sie meldete sich im kleinen Büro an und wurde in den Untersuchungsraum geführt. Jemma, eine von Alan Hexhams Assistentinnen, arbeitete an der Leiche eines jungen Mädchens auf einem der Tische aus Edelstahl.

»Morgen, Kate«, grüßte Jemma und schaute von der Arbeit auf. Kate kannte Alan seit seinem ersten Auftritt als Gastdozent bei einem ihrer Kriminologiemodule. Mittlerweile kam er regelmäßig und stellte oft Akten ungeklärter Fälle für Kates Studenten zur Verfügung.



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.