So nah und doch so fern - Jeannette Bischkopf - E-Book

So nah und doch so fern E-Book

Jeannette Bischkopf

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Beschreibung

»Ein motivierendes und zur Selbsthilfe anleitendes Werk, welches empathisch auf die belastende Situation von Angehörigen depressiver Patienten und Patientinnen eingeht und viele, vor allem lösungsorientierte Bewältigungsmöglichkeiten anbietet. Darüber hinaus skizziert die Autorin ein umfassendes, auch für Laien verständliches Bild der Diagnose ›Depression‹ und deren Ursache und Wirkfaktoren. Ein Mutmacher und Ratgeber für eine häufig vernachlässigte und therapeutisch wenig fokussierte Zielgruppe.« Aus dem Gutachten der Stiftung Gesundheit Angehörige von depressiv erkrankten Menschen stellen andere Fragen als die Patienten selbst: Bin ich vielleicht Schuld an der Depression meines Partners? Muss ich mir deshalb vieles gefallen lassen? Wie kann ich wirklich helfen? Antworten gibt Jeannette Bischkopf in diesem Ratgeber und nimmt dabei konsequent die Perspektive der Angehörigen ein.

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Die Hoffnung bewahren

»Wenn der depressive Mensch nicht aufsteht, bedeutet es nicht, dass er nicht mit Ihnen zusammen sein möchte. Es fällt ihm momentan immens schwer, überhaupt einen Schritt vor den anderen zu setzen. Liegen zu bleiben ist seine Reaktion auf eine unerträgliche Schwere, die die Depression ihm bereitet. Schließen Sie ihn nicht aus, aber kämpfen Sie nicht um etwas, was Sie in der Depression nicht bekommen können. Wenn Sie allein frühstücken und sich verlassen fühlen, dann denken Sie daran, dass es nicht immer so war und auch nicht so bleiben wird.«

Jeannette Bischkopf

So nah und doch so fern

Mit depressiv erkrankten Menschen leben

B A L A N C E ratgeber

Jeannette Bischkopf:

So nah und doch so fern. Mit depressiv erkrankten Menschen leben.

4., überarbeitete Auflage 2019

ISBN-Print: 978-3-86739-180-1

ISBN-PDF: 978-3-86739-952-4

ISBN-ePub: 978-3-86739-959-3

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Wenn Sie Erfahrungsberichte und fundierte Ratgeber zur Gesundheit suchen, besuchen Sie unsere Homepage: www.balance-verlag.de

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2015, 2019

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlages vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: BALANCE buch + medien verlag, Köln

Umschlagkonzeption: GRAFIKSCHMITZ, Köln,

unter Verwendung eines Fotos von Kay von Aspern, panthermedia.net

Typografiekonzept: Iga Bielejec, Nierstein

Satz: BALANCE buch + medien verlag, Köln

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Informationen, die verstehen helfen

Der lange Weg bis zur Diagnose

Vielleicht ist es Burn-out – Ausgebrannt oder depressiv?

Auf der Suche nach Informationen

Was ist eine Depression?

Wann treten bei wem Depressionen auf?

Häufigkeit und Verlauf

Behandlung

Weniger Sorgen, mehr Sicherheit

Besorgniserregende Symptome der Depression

Der Alltag mit dem Kranken

Die Auswirkungen auf die Kinder

Finanzielle Sorgen

Die eigene Belastbarkeit

Gefordert, nicht überfordert sein

Mit familiären Aufgaben allein sein

Ihr depressiver Angehöriger fordert Sie

Verantwortung für andere Familienmitglieder

Ein soziales Netz knüpfen und behalten

Locken, nicht drängen

Für die Gesundung verantwortlich?

Weniger einsam sein

Verlust des gemeinsamen Alltags

Wie durch eine Wand getrennt

Engstirnig oder depressiv?

Gespräche kreisen um die Krankheit

Umgang mit pessimistischer Grundhaltung

Partnerschaft und Sexualität

Auch mal was allein machen

Vorurteile hinterfragen

Depression als Mangel an Willen?

Depression als Modediagnose?

Vorurteile gegenüber Psychiatrie und Psychotherapie

Auswirkungen von Vorurteilen

Umgang mit Vorurteilen

Trauern

Ohne Abschied kein Neubeginn

Trauer zulassen

Ärger und Aggressivität als Ausdruck von Verzweiflung

Gefühle als Kompass

Gefühle aushalten, Bedürfnisse annehmen

Akzeptieren, was ist

Schuldgefühle von Kindern

Beziehungsprobleme und Depression

Selbstvorwürfe und Schuldgefühle

Wenn Ihr depressiver Angehöriger Ihnen Vorwürfe macht

Wenn Ihr depressiver Angehöriger nicht mehr leben will

Umgang mit Suizidgedanken

Vom »Hätte« und »Sollte« zum Hier und Jetzt

Grenzen setzen

Phasen der Abgrenzung

Umgang mit Forderungen

Beziehungsmuster in der Partnerschaft

Veränderungen in der Partnerschaft

Umgang mit wachsendem Groll

Grenzen kommunizieren

Auf sich achten

Wahrnehmen, wie es einem geht

Daueranspannung stresst

Stresssituationen verändern

Die eigenen Ansprüche und Gewohnheiten hinterfragen

Erholung suchen

Den eigenen Bewältigungsmöglichkeiten vertrauen

Leid teilen

Verändern und Veränderungen beibehalten

Bei Bedarf Hilfe holen

Fachkundige Behandlung

Einbezogen werden

Paartherapie bei Depression

Psychoedukation und Gruppenprogramme für Angehörige

Angehörigenselbsthilfe

Was man nicht erwarten darf

Anhang

Übungen für den Alltag

Zitierte Literatur

Empfohlene Literatur

Internet

Literatur

Über die Autorin

Informationen, die verstehen helfen

Wenn in einer Familie Depression zum Thema wird, ist meistens schon viel passiert. Unter Umständen sind Jahre vergangen mit unklaren Symptomen und immer wieder neuen Behandlungsversuchen. Die Leidensgeschichte eines depressiv erkrankten Menschen und seiner Familie beginnt nicht mit der Diagnose und Behandlung, im Gegenteil: Sie sind der Beginn seines Weges aus der Depression, denn wenn eine Depression erkannt ist, ist sie nach heutigem Wissensstand gut behandelbar.

In Gesprächen mit Angehörigen fällt auf, dass sie oft die Zeit des Zusammenlebens einteilen in eine vor und eine nach der Diagnose Depression. Die Zeit davor ist gekennzeichnet von Unsicherheit darüber, was die Veränderungen bedeuten, die die Angehörigen wahrnehmen. Der Partner zum Beispiel wird einsilbig, zieht sich zurück, will nichts mehr unternehmen, sagt zu allem Nein, ist in seinen Stimmungen unberechenbar, klagt über Kopfschmerzen, Verspannungen, Appetitlosigkeit und wirkt abwesend.

Manchmal vermuten Angehörige, dass der Partner sich jemand anderem zugewandt hat und daher das Interesse am Zuhause verloren hat. Paare berichten, dass sie in ernste Krisen geraten, weil ein Partner den anderen misstrauisch beobachtet. Jedoch kann der an Depression erkrankte Partner selbst seinen veränderten Zustand manchmal gar nicht erkennen und ist in den beschriebenen Symptomen wie gefangen. Wenn Paare durch so eine Krisenzeit hindurchgehen und der an Depression erkrankte Partner behandelt wurde, dann sagen sie im Rückblick oft mit einem großen Bedauern etwas wie: »Wenn wir das gewusst hätten, dass das eine Depression ist, dann wäre uns manches erspart geblieben an Sorgen, Ängsten, Zweifeln und auch Schwierigkeiten miteinander.« Unter Umständen kann das auch heißen: »Wenn wir das gewusst hätten, dass das eine Depression ist, dann hätten wir uns nicht getrennt.«

Angehörige beschreiben Informationen über die Erkrankung als Basis und Grundstein für alles Weitere: den Umgang mit den Kindern, die eigenen Reaktionen, das familiäre Zusammenleben, die Entscheidungen, die die Familie fällt.

Es sind also im Wesentlichen zwei Dinge zu tun, wenn die Diagnose Depression im Raum steht: Erstens erkennen, dass man Informationen braucht, und zweitens relevantes Wissen zusammentragen, das im konkreten Alltag hilft.

Das Bedürfnis nach Aufklärung und mehr Informationen über Depression entsteht einmal, wenn bereits der Verdacht auf eine Depression besteht, sei es durch eigene Vermutungen, durch das Gespräch mit anderen, den Vergleich mit Gelesenem und Gehörtem oder wenn sie schließlich ganz explizit ausgesprochen wird durch fachkundige Personen. Ist dies der Fall, dann sind die ersten Ansprechpartner andere Betroffene, um aus ihren Erfahrungen zu lernen. Angehörige hören sich im Bekannten-, Kollegen-, Familien- und Freundeskreis um nach ähnlichen Erfahrungen, häufig jedoch ohne direkt über Depression zu sprechen. Die eigene Geschichte wird erst viel später öffentlich gemacht, wenn man sich selbst als Angehörigen eines an Depression erkrankten Menschen sieht. Aber auch dann sprechen sie oft nur mit Vorsicht und Zurückhaltung. Zu Beginn geht es eher darum, einen Weg zu finden, an dessen Ende man es wagen wird, von Depression zu sprechen.

Häufig werden die Schwierigkeiten, überhaupt von Depression zu sprechen, im Rückblick als sehr schamhaft erlebt, als hätte es so nicht sein dürfen, als hätte man die lange Zeit nicht »verschwenden« dürfen. Seien Sie also nachsichtig mit sich selbst, es ist normal und geht anderen auch so, dass es eine Weile braucht, um diese neue Situation überhaupt als solche zu erkennen.

Eine Depression entwickelt sich häufig schleichend mit vielen unterschiedlichen Symptomen, sodass es leicht ist, sie zu übersehen. Außerdem kann der typische Phasenverlauf dazu führen, dass punktuell Besserungen erlebt werden und dadurch wieder infrage gestellt wird, ob es sich um eine ernst zu nehmende Problematik handelt oder um eine vorübergehende Belastung. Der Begriff wird außerdem so häufig im Alltag benutzt, dass man selten weiß, wofür er steht, wenn es um die Krankheit geht. Und auch das weiß am Ende nur der oder die Betroffene selbst. Als Angehöriger haben Sie eine andere Geschichte, die andere Seite der Medaille: Depression ist für Sie etwas anderes als für den erkrankten Menschen, Sie erleben sie mit Ihren eigenen Emotionen und Ihren eigenen Fragen.

In dieser ungewissen Zeit kann es hilfreich sein, zu beobachten, wach zu sein und die Möglichkeit einer Depression in Betracht zu ziehen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn unklare körperliche Symptome über einen langen Zeitraum bestehen, Ängste, Sorgen, Schlafstörungen und Konzentrationsmangel vorliegen und der »Kranke« das Interesse an allem verliert, was ihm einmal gefallen hat, oder sich daran nicht mehr freuen kann.

Ein wichtiges Warnzeichen sind nach Angaben von Betroffenen Schlafstörungen, Verspannungen, Kopf- und Magenschmerzen und eine allgemeine Niedergeschlagenheit. Der ganze Körper wird als schwer erlebt, eher wie in einer Grippe als in einer psychischen Krise. Dieser Aspekt von Depressionen führt auch dazu, dass Hausärzte oft andere Diagnosen stellen und körperliche Symptome langwierig behandeln. Manchmal wird erst in einer Behandlung chronischer Rückenschmerzen oder in der Rehabilitation nach mehreren Bandscheibenvorfällen der Verdacht geäußert, diese könnten Anzeichen einer Depression sein.

Der lange Weg bis zur Diagnose

Auf dem langen Weg der Hilfesuche werden unter Umständen zahlreiche Untersuchungen durchgeführt, die letztlich alle ohne Befund sein können. Hausärzte übersehen in 30 bis 50 % aller Fälle eine Depression. Jeder zehnte behandelte Patient in einer Hausarztpraxis leidet eigentlich an einer Depression. Wenn also selbst die, die es sehen und wissen müssten, es manchmal nicht sehen, wie sollten Sie als Angehöriger die Symptome richtig deuten können?

Depressionen haben viele Gesichter und können sich hinter vielem verbergen. Kein Wunder also, dass depressive Symptome von Laien kaum angemessen wahrgenommen werden. Leichte und subklinische Depressionen sind kaum zu erkennen im Gegensatz zu ausgeprägten und schweren Depressionen, deren Anzeichen leichter eingeordnet werden können. Legt man Laien Falldarstellungen gesunder und depressiver Menschen vor, so kann ca. die Hälfte die depressiven Fälle nicht identifizieren. Damit ist ihre Quote zwar nur unwesentlich schlechter als die der Hausärzte, die man inzwischen immerhin weltweit mit Informationskampagnen für die Krankheit Depression zu sensibilisieren versucht. Es ist also nicht verwunderlich, dass Sie eine Zeit lang blind gewesen sind für die depressiven Symptome Ihres Partners, Ihrer Eltern oder Ihres Kindes.

Im Rückblick ist diese Zeit, in der die Depression schon da ist, aber von allen unerkannt, die schwierigste, da Sie keine Handlungsmöglichkeiten sehen. Die Depression des Angehörigen ist oft unerwartet und scheint kaum beeinflussbar. Zudem erschweren einige typische Symptome wie Stimmungsschwankungen und Reizbarkeit die Vorhersagbarkeit von Verhalten und Ereignissen. Partner müssen Termine absagen, weil der depressive Partner sich nicht wohl fühlt. Oder er lehnt Dinge ab, die er zuvor mochte, und wirkt dadurch in seinem Wesen verändert. Seine Reaktionen sind nicht mehr verstehbar, weil sie aus dem Muster des Gewohnten herausfallen.

BEISPIEL Inge Jens erzählt über ihren Mann: »Jetzt gab es plötzlich eine merkwürdige Abhängigkeit von Gunstbeweisen, von Liebesbezeugungen, von Zuneigung, von Anerkennung, von Bestätigung. Natürlich freut sich jeder Mensch darüber. Aber dass du (an ihren Mann gewandt) in irgendeiner Form von vornherein dachtest, dass das, was du sagst, eventuell keinen interessieren könnte, das war nicht deine Art. ›Das interessiert ja keinen‹ wäre dir vorher nie als Gedanke gekommen. Plötzlich zerfledderte alles; die Depression zeichnete sich ab, aber wir wussten es nicht.« (SCHWEITZER u. STREECK 2001) 

Häufig werden daher alternative Erklärungen gesucht, bevor überhaupt die Diagnose einer Depression in Erwägung gezogen werden kann bzw. durch Ärzte, Psychologen oder Freunde ins familiäre System eingebracht wird. Zieht sich beispielsweise der depressive Partner zurück, wird einsilbig und schweigsam, dann befürchten viele Angehörige zunächst eher eine Beziehungskrise als eine Krankheit. Hat der Partner viele berufliche Anforderungen zu bestehen, wird oftmals von einer vorübergehenden Stresssituation gesprochen; Sorgen und Schlafstörungen, Mattigkeit und Magendrücken werden dann als Stressreaktion verstanden und können unter Umständen lange Zeit toleriert und zu einem Teil des Alltags werden. Auch Unterforderung oder eine ausweglos erscheinende Lage wie zum Beispiel lange Arbeitslosigkeit kann die depressiven Symptome normalisieren. Der Kranke wird dann als zu Recht verzweifelt und niedergeschlagen wahrgenommen und es erscheint kaum vorstellbar, dass an dieser depressiven Stimmung durch eine Behandlung etwas verändert werden könnte. Bedingungen der Arbeitswelt, zum Beispiel Mobbing, Über- oder Unterforderung, Leistungsdruck, befristete Anstellungen, unsichere Auftragslage, prekäre Beschäftigungsverhältnisse etc. werden zunehmend als Ursache wahrgenommen für eine depressive Reaktion, die dann ihrerseits häufig als ganz normal und also nicht behandlungsbedürftig gesehen wird. In diesen Fällen hofft die ganze Familie auf eine Änderung der äußeren Lage, zum Beispiel auf eine Vermittlung in Arbeit und damit das Ende ständiger Geldsorgen.

Einige depressive Symptome werden folglich durch den Kontext normalisiert und sind daher kaum als solche wahrnehmbar. Andere wiederum werden kaum mit Depression in Verbindung gebracht, weil sie nicht dem herkömmlichen Bild des niedergedrückten, verlangsamten, entmutigten Menschen entsprechen. Gereiztheit und Aggressivität zum Beispiel werden selten mit Depression assoziiert, eher mit Charaktereigenschaften, für die dann ebenfalls selten Besserung möglich oder Behandlung notwendig erscheint.

Diese erste Phase der Auseinandersetzung mit der veränderten Situation ist gekennzeichnet von einer umfassenden Verunsicherung. Veränderungen sind wahrnehmbar, aber nicht einzuordnen bzw. die Einordnungen stellen sich als nicht ausreichend heraus. Zum Beispiel können das Hoffen auf Arbeit und die Mühen der Arbeitsplatzsuche zermürben, die Verzweiflung verselbstständigt sich, und der Kranke ist nicht mehr in der Lage, sich zu konzentrieren und aktiv zu sein. Erst wenn sich die Anzeichen für eine »Krankheit« verdichten, werden zuvor schwer verständliche Verhaltensweisen als »depressiv« eingeordnet und schließlich auch diagnostiziert.

Vielleicht ist es Burn-out – Ausgebrannt oder depressiv?

In einigen Fällen wird dann auch von Burn-out gesprochen und Betroffene und ihre Familien fragen sich, was Burn-out im Vergleich zu Depression ist und ob diese Unterscheidung für den weiteren Umgang mit den Problemen wichtig sein wird. Der Begriff Burn-out wird im Deutschen weit häufiger verwendet als in anderen Sprachen und in der Fachdiskussion tauchte bereits der Verdacht auf, Burn-out sei vor allem ein deutsches Phänomen (ANGERMEYER u. a. 2013). In einer vergleichenden Studie von vier Bevölkerungsumfragen in Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich zwischen 2009 und 2011 sahen 10 % der Befragten in einer depressiven Fallgeschichte ein Burn-out. Das bedeutet auch, dass die typischen depressiven Symptome hierzulande weit häufiger mit arbeitsbedingter Erschöpfung und Überarbeitung in Verbindung gebracht werden als beispielsweise in Frankreich, wo nur 2 % der Befragten den Begriff wählten.

Der amerikanische Psychiater Freudenberger benutzte 1974 als Erster den Begriff Burn-out und meinte damit insbesondere die gesundheitlichen und psychischen Risiken helfender Berufe. Aus Beobachtungen und Behandlungserfahrungen schloss er, dass Menschen in helfenden Berufen oft ihre eigenen Grenzen zu wenig wahren und sich weit über das engagieren, was ihrer eigenen seelischen Gesundheit zuträglich wäre. In der Folge würden Symptome einer emotionalen Erschöpfung eintreten, die sich nicht nur an körperlichen Symptomen zeige, sondern auch an einem veränderten Verhalten. Dazu zählte Freudenberger Zynismus, Pessimismus und eine Sprache, die Menschen verdinglicht und auf Symptome reduziert (»die Leber auf Zimmer 5«). Weiterhin beschrieb er abweisendes, vorwurfsvolles und feindseliges Verhalten bis hin zu Wutausbrüchen Kolleginnen und Kollegen gegenüber.

Die erlebte Unwirksamkeit des eigenen professionellen Handelns wird zunächst durch besondere Betriebsamkeit kompensiert, die aber nur die Ausweglosigkeit der Situation und die Vergeblichkeit der eigenen Bemühungen deutlich macht. Man engagiert sich immer mehr mit immer weniger Erfolg – ein Zustand, der mit dem Durchdrehen eines Rades im Morast verglichen werden kann. Nimmt man Abstand von der Situation, z. B. durch eine Reise oder einen Urlaub, bessern sich die Symptome kurzzeitig, was bei einer Depression meist nicht der Fall ist. Urlaub und die Unterbrechung des Alltäglichen verstärkt typischerweise Depressionen, stoppt aber kurzzeitig eine Burn-out-Entwicklung und wird in diesem Fall als erleichternd erlebt.

Christina Maslach hat in einem Fragebogen drei Bereiche des Burn-out abgebildet: eine emotionale Erschöpfung, die sogenannte Depersonalisation und eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit. Liegen diese drei Kernbereiche vor, kann von Burn-out gesprochen werden. Allerdings ist Burn-out in der Klassifikation psychischer Störungen nicht aufgeführt, es ist nur eine zusätzliche Beschreibungsmöglichkeit für Anlässe ärztlicher Konsultationen. In diesem Sinne ist Burn-out keine Krankheit, sondern ein charakteristischer Zustand, der eine Reihe anderer Krankheiten beinhalten kann. Meist gehen typische Burn-out-Verläufe mit stressbedingten Organschädigungen einher, die z. T. durch eine andere Alltagsgestaltung wieder ausheilen können. Die meisten Veröffentlichungen Burn-out-Betroffener berichten von Sinnkrisen und einer radikalen Abkehr von ihren früheren Lebensentwürfen.

Ungeachtet der Klassifikation gibt es jedoch nach wie vor unterschiedliche fachliche Standpunkte, die im Wesentlichen aus zwei Lagern bestehen: diejenigen, die Burn-out als eigene Diagnosekategorie anerkennen und diejenigen, die darin eine leichter erträgliche und sozial akzeptiertere Bezeichnung für Depression sehen. Depression beinhaltet vom Wortstamm her etwas Niederdrückendes, z. B. lebensbedrohliche Krankheiten, unerträgliche Arbeitsbedingungen, belastende Partnerschaften, die eigene Vergangenheit und anderes, was jemanden niederdrücken kann. Im Gegensatz dazu gibt der Begriff des Burn-out den Betreffenden ihre Handlungsfähigkeit zurück. Er suggeriert, dass sie überengagiert waren und deshalb ausbrannten, diesen Zustand also selbst herbeigeführt haben und somit auch wieder verlassen könnten. Diese Betonung der eigenen Handlungsfähigkeit und die soziale Akzeptanz dieser Art »Selbstausbeutung« machen den Begriff Burn-out leichter annehmbar als den der Depression. Daher kann ein Burn-out auch eine Eintrittskarte in psychosomatische Behandlungen für Menschen sein, die sich für eine »Depression« keine Hilfe holen würden.

Burn-out verläuft in charakteristischen Phasen, die eng an den Verlauf der Stressreaktion des Körpers gebunden sind und am Ende zu einem körperlichen und seelischen Zusammenbruch führen. Damit ist ein typischer Burn-out-Verlauf häufig mit körperlichen Stressreaktionen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magenbeschwerden oder Rückenleiden verbunden. Ernste gesundheitliche Probleme verstärken dann das Gefühl der Sinnlosigkeit der eigenen Anstrengungen (»Ist es das wert?«). Diese Gefühle verbunden mit einer emotionalen und körperlichen Erschöpfung können auch zu suizidalen Krisen führen und zu einer ausgeprägten Depression. Der Verlauf eines Burn-out kann also in einer Depression enden oder einem körperlichen Zusammenbruch. Burn-out wird auch als Folge eines Suchtverhaltens im Sinne des Workaholic beschrieben, was wiederum in Zusammenhang gebracht werden kann mit einer narzistischen Illusion der eigenen Unersetzbarkeit und einem selbstzerstörerischen Perfektionismus.

Die Hintergründe für die Entwicklung von Burn-out sind immer vielschichtig, der Einstieg in diese Spirale liegt jedoch häufig in krank machenden Arbeitsbedingungen. Burn-out kann daher wie ein Scharnier betrachtet werden, das gesellschaftliche Bedingungen und persönliche Faktoren auf zerstörerische Weise verbindet. Die Verantwortung für eine Gesundung liegt daher auch in beiden Bereichen – was häufig daran abzulesen ist, dass Betroffene gesellschaftliche Veränderungen einfordern, sich gesellschaftsverändernd engagieren oder ihrem früheren von gesellschaftlichen Zwängen wie Anerkennung und materiellem Wohlstand geprägten Leben den Rücken kehren.

Depression und Burn-out haben demnach Ähnlichkeiten, aber auch charakteristische Unterschiede. Für Burn-out gilt noch stärker als für Depression, dass zunächst körperliche Beschwerden und Erkrankungen therapiert werden, bevor eine seelische Komponente in Betracht gezogen wird. Hier muss man auf eine Verbesserung der medizinischen Ausbildung hoffen, damit der Mensch in seinem Leiden wieder stärker als Ganzes und in seinen sozialen Bezügen gesehen wird. Weiterhin wird ein Burn-out häufig als Wegmarke gesehen, die zu Neuorientierung und radikalen Brüchen führt, indem subjektiv das gesunde und bessere Leben einem falsch verstandenen oder falsch gelebten folgt. Nach der Diagnose Depression hingegen beschäftigen sich Betroffene und ihre Familien damit, wie ein Leben mit der Erkrankung gelingen kann und wie diese sich entwickeln wird.

Auf der Suche nach Informationen

Mit der Diagnose Depression treten Sie in die nächste Phase ein, in die der Auseinandersetzung mit der Erkrankung. Wenn Sie also erkennen, dass eine neue Situation eingetreten ist, dann werden sie den zweiten Schritt tun können und gezielt Informationen genau für diese Situation suchen und finden.

Hierbei ist das Internet oft die erste Wahl, weil es einen bequemen, zeit- und ortsunabhängigen, anonymen Zugang zu Informationen bietet, und wie wir aus Untersuchungen wissen, die erste Quelle für Gesundheitsinformationen ist. Nutzerinnen und Nutzer sehen sich jedoch mit einer unüberschaubaren Menge an Angeboten konfrontiert, die keiner redaktionellen Kontrolle unterliegen. Die gezielte Suche nach Informationen zum Thema Depression kann sich als überwältigendes und überforderndes Unternehmen gestalten: Bei einer Suche im Internet finden sich Millionen von Einträgen zum Stichwort »Depression«. Orientierung lässt sich schwer finden, vor allem wenn sich Informationen widersprechen. Es besteht ein vielfältiges Angebot sowohl vonseiten Professioneller als auch von Betroffenen, die auch psychologischen Laien verständliches Basiswissen über psychische Störungen, diverse Therapieansätze, soziale Hilfsangebote und Kontaktadressen vermitteln.

Neben den Informationen kann man Erfahrungen von Betroffenen finden in Interviews, Erfahrungsberichten, Fallbeispielen, Essays und Gedichten oder man kann selbst eigene Fragen oder Beiträge in Foren und eigenen Blogs einbringen. Sie können Online-Tests machen, Informationsmedien bestellen oder Büchertipps lesen. Manchmal finden Sie auch eine virtuelle Selbsthilfegruppe. Besonders beliebt sind Foren, die wie reale Selbsthilfegruppen funktionieren: Man kann sich aussprechen, einander zuhören, Trost spenden, Tipps geben und Beratung erhalten, Hinweise auf Informationsmaterialien oder auf Kongresse bekommen usw. Seit 2011 wird in Deutschland ein großer Kongress zum Thema Depression für Patienten und Angehörige organisiert, der sich zu einem Forum der Fortbildung und des gegenseitigen Austausches entwickelt hat und ein eigenes virtuelles Netz vertritt mit vielen Angeboten (www.deutschedepressionshilfe.de).

Allerdings sprechen alle diese Angebote nach wie vor eher Betroffene an als Angehörige. Für Angehörige findet man leider kaum eine solche Auswahl – weder online noch real. Das bedeutet, wenn Sie beginnen, unter dem Stichwort »Depression« nach Informationen zu suchen, dann werden Sie zwar sehr viel finden, aber kaum etwas, was Ihrer eigenen Situation entspricht.

Da wird dann über die männlichen Wechseljahre »aufgeklärt«, die mit einer Depression einhergehen können, oder über Schwermetallbelastungen, die depressiv machen könnten. Gehen Sie kurz in den Dschungel der Begriffe zu Depression und Sie gewinnen den Eindruck, dass scheinbar zu allen Lebenslagen Depressionen gehören können: Postpartum oder postpartale Depression, Wochenbettdepression, klimakterische Depression, Involutionsdepression, double Depression, saisonale Depression, atypische Depression, primäre Depression, sekundäre Depression, reaktive Depression, psychogene Depression, endogene Depression, exogene Depression, pharmakogene Depression, somatische Depression, organische Depression, neurotische Depression, psychotische Depression, wahnhafte Depression, Affektpsychose, Melancholie, Erschöpfungsdepression, Entwurzelungsdepression, somatogene Depression, symptomatische Depression, chronische Depression, therapieresistente Depression, Entfremdungsdepression, agitierte Depression, gehemmte Depression, anankastische Depression, larvierte Depression, ängstliche Depression, Sissi-Syndrom, narzisstische Depression, männliche Depression.

Einige dieser Begriffe entsprechen nicht dem fachlichen Austausch zu dem Thema und sind eher journalistisch geprägt. Andere wiederum geben eine historische Begrifflichkeit wieder, wie sie in der Geschichte der Psychiatrie verwendet wurde, aber nicht mehr unserem heutigen Wissensstand und Sprachgebrauch entspricht. Die Menge und Widersprüchlichkeit an Informationen in unterschiedlichen Medien erschweren Ihnen den Zugang und die Auseinandersetzung mit dem für Sie relevanten Wissen. Sie schwanken folglich zwischen Zuversicht, Erleichterung und Hoffnung auf der einen Seite und Angst, Verunsicherung und Sorge auf der anderen Seite. So wurde eine Ehefrau dadurch verunsichert und in Sorge versetzt, dass der Psychiater ihres Mannes den Begriff »Affektpsychose« benutzte. Sie suchte dann nach Informationen zu Psychosen und wurde von Ängsten überwältigt, dass ihr Mann Halluzinationen und Wahnvorstellungen entwickeln würde. In diesem Fall hatte die veraltete Fachsprache die Suche nach Informationen noch verstärkt und dabei in die Irre geführt. Geholfen hätte ihr wahrscheinlich eher eine Beschreibung des wahrscheinlichen Verlaufs der Krankheit, ihrer Behandlung und was sie unterstützend tun kann und was nicht. Mit dem Fortschreiten des Behandlungsprozesses treten Fragen nach dem Alltag, der gemeinsamen Zukunft, und nach dem Handeln in konkreten Situationen in den Vordergrund.

Für die ersten Schritte ist es hilfreich, sich Basiswissen über die Erkrankung anzueignen, für die folgenden, sich mit anderen Angehörigen zu vernetzen (siehe auch das Kapitel »Bei Bedarf Hilfe holen«).

Was ist eine Depression?

Die Depressionsdiagnostik, also das Erkennen und Einordnen von Symptomen als depressiv, ist auch in Fachkreisen ein umstrittenes und sich beständig weiterentwickelndes Thema. So hat man vor 30 Jahren Depressionen ganz anders definiert und diagnostiziert als heute. Damals wurde unterschieden zwischen einer eher lebensgeschichtlich bedingten Depression, die als Reaktion auf eine Situation auftrat, und einer eher biologisch bedingten Depression, für die kein auslösendes Ereignis gefunden werden konnte. Heute geht man stärker von einer Kombination verschiedener Auslöser aus, das heißt, jede Depression hat innere (biologische) und äußere (reaktive) Elemente. Folglich wird für die Behandlung von Depressionen vorzugsweise eine Kombination mehrerer Behandlungsformen, z. B. Medikamente und Psychotherapie, gewählt. In einem biopsychosozialen Verständnis von Depressionen geht man von einem Zusammenwirken verschiedener Faktoren auf allen drei Ebenen aus. Hinzu kommt, dass wir aktuell bei allen psychischen Störungen eine besondere Verletzlichkeit, die Vulnerablilität für die Entwicklung der entsprechenden Störung annehmen, die dann bei besonderem Stress und ungünstigen Lebensereignissen zur Entwicklung von Symptomen führen.

Die heutige aktuelle Depressionsdiagnostik orientiert sich jedoch weniger an den möglichen Ursachen als an dem, was sichtbar ist. Diese sichtbaren Merkmale beziehen sich auf den Verlauf der Depression (einmalig, wiederkehrend oder anhaltend), auf Schweregrade (leicht, mittel oder schwer) und auf das Vorliegen zusätzlicher Unterscheidungskriterien (psychotische oder somatische Symptome). Von einer depressiven Episode spricht man, wenn Symptome über mindestens zwei Wochen jeden Tag die meiste Zeit über vorliegen. Von rezidivierenden, also wiederkehrenden Verläufen spricht man, wenn sich solche Episoden wiederholen und zwischen ihnen ein gesunder Zeitraum von mindestens sechs Monaten liegt. Wenn kein »gesunder Zeitraum« auszumachen ist, dann handelt es sich um eine anhaltende Störung. In der Klassifikation findet man diese Depressionsformen unter der Überschrift der affektiven Störungen, zu denen auch die Manie, die bipolaren Störungen und weitere Unterkategorien zählen. Manien treten jedoch weit seltener auf und bipolare Störungen haben aufgrund der manischen Phasen – also des zweiten Poles neben der depressiven Phase – einen anderen Verlauf, der für Angehörige auch andere Themen mit sich bringt. In manischen Phasen gefährden Betroffene häufig sich selbst, aber auch ihre Familien durch exzessives Geldausgeben, sexuelle Promiskuität und soziale Verhaltensweisen, die im Nachhinein als sehr schambesetzt erlebt werden. In einer Befragung gaben Angehörige bipolar erkrankter Menschen andere Belastungen an als diejenigen depressiv erkrankter Menschen. Sie konnten mit den extrem wechselnden Phasen sogar besser umgehen, da sie jeweils einen deutlichen Beginn und auch ein Ende der Erkrankungsphase wahrnahmen. Für eine Vertiefung zum Thema bipolare Störungen sei auf BOCK (2018) verwiesen.

Die Schweregrade einer depressiven Episode werden anhand des Vorliegens einer Anzahl von Symptomen bestimmt, wobei gilt: je mehr Symptome, desto schwerer ist die Depression.

Man unterscheidet die drei Hauptsymptome der Depression – depressive Stimmung, Interessen- und Freudlosigkeit sowie Antriebsstörung – und eine Reihe von zusätzlichen Symptomen wie: Verlust von Selbstvertrauen, Selbstvorwürfe, Schuldgefühle, Gedanken an den Tod, Suizidalität, Konzentrationsstörungen und Entscheidungsunfähigkeit. Für die Betroffenen besonders beunruhigend sind die Konzentrationsstörungen, die Verlangsamung im Denken und die Schwierigkeiten, sich zu erinnern. Zu den körperlichen Symptomen zählen Schlafstörungen, vor allem frühmorgendliches Erwachen zwei Stunden oder noch früher als üblich, deutlicher Appetitverlust und Gewichtsveränderungen sowie ein Rückgang oder gänzlicher Verlust des Interesses an körperlicher Nähe und Sexualität.

Da keines der Symptome nur bei depressiven Störungen vorkommt und Patienten ein unterschiedlich zusammengesetztes Muster von Symptomen in unterschiedlicher Ausprägung haben können, ist das Diagnostizieren von Depressionen schwierig und braucht Kenntnis und Sorgfalt. Das Erkennen der Depression an sich ist dabei wichtiger als die Zuordnung zu einem bestimmten Typus, da aus der Unterscheidung nicht unbedingt unterschiedliche Behandlungen und Prognosen abzuleiten sind. Ergiebiger ist der Blick auf die potenziellen Auslöser und Hintergründe einer Depression.

Wann treten bei wem Depressionen auf?

Die Ursachen einer Depression sind so vielschichtig wie die Menschen, die sie entwickeln. Man kann jedoch Muster ausfindig machen, die eine Depression eher fördern; klare Verursachungen sind jedoch meist nicht zuzuschreiben.

Kritische Lebensereignisse