Sodom und Camorra - Uta Bahlo - E-Book

Sodom und Camorra E-Book

Uta Bahlo

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tottenbüttel 2.0. Eine ungeplante Geiselnahme beschäftigt die Bewohner dieses Mal. Während einer nächtlichen, eigenmächtigen Observation mit ihrer Freundin, der Physiotherapeutin Anke Hoyer-Schmidt, gerät die Beamtenfrau Birgit Schneider in die Fänge der Mazzarelli-Brüder. Neben einer hohen Lösegeldforderung geht es auch wieder einmal um den Sexshop und um Rache an Hauptkommissar Brodersen. In dem nüchternen und versifften Ambiente eines Hotelzimmers macht Birgit Schneider ihren Entführern das Leben zur Hölle. Ein neuer Apotheker mit afroamerikanischen Wurzeln taucht zeitgleich im Dorf auf und sorgt für Unruhe im eigentlich weltoffenen Tottenbüttel.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 157

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Uta Bahlo

Sodom und Camorra

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Einleitung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Nachtrag

Impressum neobooks

Einleitung

Es war einmal …

… ein Dorf im Ausnahmezustand. Man könnte sagen, ganz knapp vor dem Infarkt und dazu noch führungslos – das war Tottenbüttel noch vor einiger Zeit.

Der Ort lag zwischen Nord-Ostsee-Kanal und Stör, mitten in der Wilster Marsch. Ein fast unberührter Flecken Land, idyllisch, abgeschieden und … langweilig. Dieser Gedanke drängte sich schnell auf, wenn man die A23 wahllos zwischen den ›großen Strömen‹ verließ und über die Landstraße in irgendeine beliebige Richtung bretterte. Hier war es so spannend, wie Zeitrafferaufnahmen eines Schleimpilzes. Falls Sie heimlich eine Leiche entsorgen müssen, hier wäre der richtige Ort dafür. In Tottenbüttel regte sich nichts. Hier sagten sich noch nicht mal mehr Fuchs und Hase Gute Nacht. Die waren schon vor vielen Jahren weggezogen.

Wenn am Abend die Tür des Tante-Emma-Ladens ins Schloss fiel und die Rollläden herunterratschten, war es so still, dass man die Nadel hätte hören können, die ins Heu gefallen wäre.

Immer mehr Dorfkneipen in der umliegenden Gegend schlossen und das sollte schon was heißen. Nur die Kneipe ›Bei Kuddel‹ in Tottenbüttel überlebte die schwierigen Zeiten.

Ausgerechnet hier in der Pampa war in den letzten Jahren die Kriminalitätsrate sprunghaft angestiegen. Die Serienverbrechen begannen mit dem versehentlichen Ableben zweier Friseurinnen und somit mit der Auslöschung der gesamten Friseurbranche im Ort.

Danach ging es nahtlos in einen Mord mit Komplizenschaft über. Fast das halbe Dorf war darin verstrickt.

Zu viel Natur und frische Luft tun auch nicht gut. Dazu noch der Schattenschlag der Windkrafträder, Elektrosmog, beißender Güllegeruch und diese fiese Strahlung aus den Atomkraftwerken. Tagelanger Nieselregen gibt einem dann den Rest.

Tja, viele Bewohner im Dorf, die einen jahrelang begleiteten, gab es nicht mehr. Einer saß noch im Knast, andere lagen – im Grab.

Aber das Leben geht bekanntlich weiter, die Regeneration Tottenbüttels war in vollem Gange.

Kapitel 1

Als Bauer Jensen am Abend mit seinem Trecker vom Kneipenbesuch nach Hause kam, wurde er schon von seiner Frau Vera ungeduldig erwartet. »Gut, dass du kommst«, sagte sie aufgeregt und baute sich szenisch vor ihrem Mann auf. »Weißt du, was mir Birgit eben am Telefon erzählt hat«?

»Nee, keine Ahnung. Was denn!?«, knurrte er schlecht gelaunt, zog seine Gummistiefel umständlich aus und warf sie in die Ecke. Dabei lösten sich einige Brocken Erde

und verschmutzten den frisch gewienerten Fliesenboden im Eingang. Doch seine Frau hatte andere Probleme, als ihn deswegen zur Sau zu machen. Ihr Interesse galt im Moment den Neuigkeiten, die sie zu berichten hatte. Deswegen begnügte sie sich auch nur mit einem tiefen Seufzer, legte ihre Stirnfalten noch ein bisschen tiefer und fuhr fort.

»Rate.«

Bauer Jensen wurde laut.

»Ich bin nicht in Stimmung für irgendwelche Ratespiele!«

»Mein Gott, welche Laus ist dir denn wieder über die Leber gelaufen! Ist der Herr mal wieder schlecht drauf?« Sie hatte ja keine Ahnung, dass sich ihr Mann immer noch in einer Phase totaler Erregung befand. Schließlich hatte er gerade von Steffen Jordan, einem Bauern aus dem Nachbarort Brunksdorf, erfahren, dass der Anteile an seinem Kälbchen Lucie für sich beanspruchte. Jordans Bulle Big Mäc war damals von Jordans Weide ausgebüxt, hatte sich wohl brunftig auf Gesine geworfen … und sie prompt geschwängert.

Peter Jordan machte damals sogar Werbung für seinen potenten Bullen. Jeder Schuss ein Treffer, war die Überschrift im hiesigen ›Bauernblatt‹. Jensen war empört, niemals wäre es einvernehmlicher Sex gewesen. Er kannte seine Kuh, die hatte nichts übrig für ´nen Quickie. Vergewaltigung würde es seiner Meinung nach präziser treffen.

Während Gesines Trächtigkeit hatte sich Jordan nicht ein einziges Mal bei ihm auf dem Hof blicken lassen. Aber jetzt – jetzt kommt er damit. Niemals würde er diesem Jordan irgendetwas von seinem Kälbchen überlassen – eher würde er ihn über den selbigen schicken.

In diesem aufgeheizten Zustand hätte Jensen eigentlich nicht mehr Trecker fahren dürfen.

»Willst du´s nun wissen oder nicht?«, drängelte seine Frau ungeduldig und trat von einem Bein aufs andere.

»Wenn´s unbedingt sein muss«, seufzte er genervt und ergänzte, »Was gibt’s zu essen?« Seine Emotionslosigkeit machte sie wahnsinnig. Sie war beleidigt.

»Dann eben nicht. Mir doch egal, wenn hier alles den Bach ´runtergeht und irgendwann von Kriminellen unterwandert wird. Essen is heut nicht. Du weißt ja, wo der Kühlschrank steht.« Nörgelnd verschwand sie in der Küche und verging sich laut klappernd am Geschirr.

Er ließ sie kopfschüttelnd stehen und brummelte Unverständliches vor sich hin, während er ins Wohnzimmer schlurfte. Dort angekommen, warf er sich aufs Sofa, das unter der Last seiner Biomasse wieder einmal verdächtig ächzte. Er schaltete den Fernseher ein, kratzte sich ausgiebig am Kopf, dann am Bauch, abschließend am Gemächt. Obwohl ›Gemächt‹ irreführend war. Sein Ding war alles andere, als ein Gemächt. In der Badehose konnte jede Interessierte seinen kleinen Penis nur erahnen. Was ihm als junger Mann peinlich war und er deswegen ausschließlich Boxershorts trug, kümmerte ihn heute nicht mehr. Schließlich sagten die Frauen immer – es kommt nicht auf die Größe an, sondern auf die Technik. An der Technik hatte er zwar immer wieder gefeilt, doch er hatte nie so viele Frauen zum Üben rumgekriegt. Er war damals eher ein schüchterner Junge.

Werner Jensen war erst fünfzig Jahre alt, wirkte aber wesentlich älter.

Schließlich war er tagein, tagaus und jahrein, jahraus, dem sehr wechselhaften Wetter ausgesetzt. Wind und Regen und noch mehr Regen. Das kann eine Haut auch nur begrenzt aufnehmen. Wie aufs Stichwort blitzte es und der Donner folgte relativ zügig. Das Gewitter schien nah zu sein. Starkregen und Sturmböen drückten nun gegen das Mauerwerk. Das Regenwasser rann die Fenster herunter und legte sich wie eine zweite Haut über das Bauernhaus.

Alles wie immer.

Mit noch nassen Händen, nur flüchtig über dem Waschbecken abgeschüttelt, folgte Vera ihrem Mann ins Wohnzimmer. Er würde nicht so einfach mit Ignoranz davonkommen.

Die Stimme der Moderatorin Inka Bause kündete gerade Werners Lieblingssendung ›Bauer sucht Frau‹ an.

Vera stand direkt vor ihm und tropfte den Teppich voll.

»Na gut, wenn du´s unbedingt wissen willst … die Mafia war heute im Dorf. Zwei unheimliche Typen standen vor Knuths Sex-Laden und schauten durch die Fenster. Richtig unheimlich war das, sagt Birgit.« Wieder donnerte es; das Grollen gab Veras Aussage noch mehr Gewicht.

»Hmm, Mafia, in Tottenbüttel. Das glaubst du doch wohl selber nicht. Wat wollen die denn hier? Hier is ja nix.«

»Vielleicht waren das aber auch … ähm … hier … na sach schnell … Sala … Dingsbums … Salafisten.«

»Ich glaub, ihr guckt zu viel Fernsehen.«

»Na das sagt der Richtige.« Vera zeigte mit dem Finger auf die Flimmerkiste, vor der ihr Mann saß. Erst jetzt bemerkte sie noch etwas ganz anderes.

Sie schnupperte in seine Richtung. »Hast du etwa getrunken? Das riech ich doch bis hier.«

Ziemlich aufgebracht, die immer noch nassen Hände in die Hüften gestemmt, stand Vera vor ihm und versperrte ihm die Sicht auf das Geschehen um Inka Bause. Er musste sich etwas zur Seite lehnen, um an ihr vorbeizuschauen.

»Nur ein Schluck«, versicherte er ihr, »Wegen dem Stress.«

»Aber du weißt schon, dass dann alles für die Katz war? Du hattest das doch bisher so gut im Griff, auch mit Hilfe vom Doc.«

»Ja, ich weiß«, sagte er, ohne das Fernsehbild aus den Augen zu lassen. Es klang reumütig. In diesem Moment forderten die gecasteten Bauern ihre Bewerberinnen beim traditionellen Scheunenfest zum Tanz auf. Die Bäuerinnen in spe waren allesamt ziemlich naiv, fand er. Doch es waren auch ein paar nicht üble Schnitten darunter, und einige hatten ganz schön viel Holz vor der Hüttn, was ihn lächeln ließ.

Aber insgesamt hatte es Ähnlichkeit mit einem Viehmarkt. Fehlte eigentlich nur noch der

Blick ins Maul, dachte Jensen. Er gähnte ausgiebig und seine Augen wurden immer kleiner.

Vera war in ihre Küche zurückgegangen und krakeelte im Hintergrund weiter, doch das hörte Werner nicht mehr – er war eingeschlafen.

Inzwischen war das Gewitter weiter gezogen, nur der Platzregen entschied sich, noch etwas länger zu bleiben.

Noch vor ein paar Jahren war der Alkohol Werners bester Freund. Und genau dieser beste Freund hatte wohl Schuld daran, dass Jensen beim Schützenschießen vor drei Jahren, den Allerwertesten des damaligen Bürgermeisters nur ganz knapp verfehlte.

Man ging damals sogar von einem politisch motivierten Anschlag aus. Natürlich totaler Nonsens, aber das Gerücht hielt sich ziemlich lange.

Danach kam der Entzug. Anfänglich für Werner sehr schwierig, da er sich so an die tägliche

Hopfen-Malz-Mischung gewöhnt hatte, aber letztendlich schaffte er es. Doktor Hagen und Vera – damals noch Bünte mit Nachnamen – halfen ihm in dieser schwierigen Zeit.

Jetzt war er seit drei Jahren trocken.

Am nächsten Morgen wachte Werner mit Rückenschmerzen auf. In seiner anfänglichen Orientierungslosigkeit scannte er langsam die Umgebung ab und bemerkte, dass ihn seine Frau gestern Abend hier auf dem Sofa einfach vergessen hatte. Er wischte sich angetrockneten Speichel aus dem Mundwinkel, rollte sich zur Seite und rappelte sich langsam hoch. Dabei griff er sich mit einer Hand ins Kreutz und jammerte. Wie konnte sie ihn einfach so liegen lassen. Sie wusste doch, dass er wegen der ganzen Hofarbeit sowieso schon Rückenprobleme hatte.

Zeit fürs Frühstück. Doch nichts deutete auf die wichtigste Mahlzeit des Tages hin.

Kein Kaffeegeruch lag in der Luft – nichts.

Tja, früher als Junggeselle war einiges besser. Da hatte sich Vera darum gerissen, ihm am Abend, wenn er vom Feld kam, warmes Essen zu kochen. Und jetzt? Jetzt war er mit dieser Frau verheiratet und alles schien anders. Sie konnte regelrecht zickig werden, wenn man eine andere Meinung hatte, als sie.

Das war der erste kleine Streit, seitdem sie verheiratet waren.

Jensen hatte nicht so viel Erfahrung mit Frauen. Von seiner Kuh Gesine mal abgesehen, war Vera seit vielen Jahren das erste weibliche Wesen, das auf seinem Hof über Nacht bleiben durfte – und das gleich mehrere Nächte hintereinander. Deswegen überfordert es ihn, als Vera ihm gestern so zusetzte. Aber sie hatte ja recht. Er hatte gestern um ein Haar wieder angefangen zu trinken.

Leicht verkrampft, etwas gebückt, eine Hand unterstützend in den Rücken gedrückt, schlurfte er ins Bad. Hätte Vera ihn so gesehen, hätte sie vermutlich gesagt, er solle sich mal nicht so anstellen und sich zusammenreißen. Andere in seinem Alter wären viel fitter als er es sei.

Dann hätte er geantwortet, dass andere auch nicht so schwer arbeiten müssten wie er, und dabei hätte er seine Frau aus dem Augenwinkel gemustert und sie wäre wieder einmal beleidigt abgezogen.

Er konnte nichts mehr sagen, alles wurde sofort in die Waagschale geworfen … oder wie das heißt.

Doktor Hagen wollte ihm wegen seines Rückens schon mal Physiotherapie aufschreiben, aber für so einen neumodischen Kram, so wie er es nannte, hatte er keine Zeit.

Gut, dass sie ihn jetzt nicht sehen konnte.

Denn der Badezimmerspiegel warf die volle Realität zurück und ließ ihn vor sich selbst erschaudern. Er sah aber auch schrecklich aus: Die letzten roten Haare auf dem Kopf, weigerten sich vehement, seinen Kopf zu verlassen. Dafür kamen in der Nase und den Ohren neue dazu.

Sein Bart, ebenfalls rot, hob sich kaum von der roten Gesichtsfarbe ab. Die rote Haut war dem Bluthochdruck geschuldet, der ihm manchmal zu schaffen machte. Das war auch der Grund, warum seine Vera ihn davon überzeugen wollte, weniger Fleisch zu essen.

Er, der er das Fleisch sozusagen züchtete, sollte persönlich weniger davon essen?

Dieser ›Vorschlag‹ wurde von ihm weggelacht.

Er drehte seinen Kopf von links nach rechts, ohne die Augen vom Spiegelbild zu lösen und strich sich über die Bartstoppel. Dann fletschte er die Zähne und entschied mit den Worten: »nützt ja nix«, sie mal wieder zu putzen.

Nun brauchte er erstmal einen Kaffee … war natürlich keiner mehr da. Nach einem großen Schluck aus der Milchtüte beschloss er, im Stall nach Gesine und ihrem Kalb zu sehen.

»Na, ihr. Wie geht’ s?« Die ersten freundlichen Worte des Tages.

Beide kamen sofort angelaufen und stupsten ihn mit der Schnauze an.

»Ihr seid einfach die Besten. Auf euch kann ich mich verlassen.«

Jensen wischte sich eine Träne aus dem Auge und das Kälbchen muhte ihn an. Gesine ließ simultan einen mächtigen Fladen auf den Boden klatschen.

Er lächelte und flüsterte: »Ich liebe euch auch.«

Kapitel 2

Vera war mit dem Fahrrad schon sehr früh in ihren Krämerladen gefahren.

Das machte den Kopf frei und sie hatte Zeit zum Nachdenken. Sie hoffte, dass Werner nicht rückfällig werden würde und überlegte, ob sie ihn bei Doktor Hagen verpetzen sollte.

In diesem Interessenskonflikt entschied sie, erstmal abzuwarten.

Vera war eine eher hagere Person mit kurzen aschblonden Haaren. Keinen Arsch in der Hose, nix in der Bluse – selbst ihr Mann hatte mehr Busen als sie.

Ihre fahle Haut zeigte schon einige tiefere Falten auf der Stirn und rund um die Augen.

Auch sie sah älter aus, als sie war. Vielleicht lag das in ihrem Fall nicht nur am Wetter oder an minderwertigen Genen, sondern daran, dass sie viele Jahre geraucht hatte. Bei den Giften in einer Zigarette war es kein Wunder, dass die Haut welk wurde.

Veras kleiner Laden, mitten im Ortskern gelegen, war eine logistische Herausforderung. Trotz der stark reduzierten Grundfläche gab es eine bunte Palette sämtlicher gängiger Produkte.

Brot und Brötchen gleich im Eingangsbereich, gleich daneben Zeitungen und Zeitschriften. Drehte sich der Kunde um, stand er auch schon in der Obst- und Gemüseabteilung. Danach kam die Frischetheke mit Milchprodukten, Wurst und Käse. Weiter hinten Spirituosen und ganz am Ende alles für die Hygiene. Auch Hunde- und Katzenfutter führte sie im Programm.

Neuerdings hatte sie ihr umfangreiches Laden-Sortiment um einen kleinen Kaffeeausschank erweitert. Das wurde vor allem von den Dorfbewohnerinnen sehr positiv angenommen. Ein kleines, selbst kreiertes Schild an der Glastür wies auf Coffee to go hin.

Selbstverständlich hätte sie auch Kaffee zum Mitnehmen schreiben können, doch ein wenig internationaler Flair stand dem Laden ganz gut zu Gesicht. Sie musste eben mit der Zeit gehen. Vera überlegte sogar schon, einen großen Flachbildschirm über dem Wursttresen installieren zu lassen. Ihre Kundschaft könnte mittags schon ›Rote Rosen‹ und nachmittags dann ›Shopping Queen‹sehen. Die Serie ›Rote Rosen‹ war ihre Lieblingsserie. Seit der ersten Folge schwärmte sie für Lüneburg und teilte allen mit, dass das die – sie betonte das Wörtchen immer – Alternative zu Tottenbüttel wäre. Dort könnte sie sich vorstellen, irgendwann mal hinzuziehen. Böse Zungen behaupteten, jeder Ort wäre eine ernst zu nehmende Alternative zu Tottenbüttel. Nur ihr Mann Werner konnte mit der ›Großstadt‹ überhaupt nichts anfangen.

Der Duft von frischen Brötchen, Croissants und Milchhörnchen legte sich über frisches Obst und Gemüse. Dieser leckere Geruch waberte bis nach draußen auf den Bürgersteig und lockte so manchen Frühaufsteher auf dem Weg zur Arbeit oder beim Gassi-Gehen in ihren Laden.

Angeliefert wurde von einer Bäckerei in der Nähe, die auch alle Nachbarorte versorgte.

Schnell entstand hier eine illustre Frauenrunde, die sich bei einem Käffchen und einem Schwätzchen traf. Manchmal war auch ein Sektchen dabei. Zwar hatte Vera keine Lizenz für einen Alkoholausschank, aber wo kein Kläger, da kein Richter … oder so.

Hier gab es immer viel zu schwatzen, zu lästern und zu schludern.

Der Morgen verlief relativ ruhig. Erst gegen Mittag füllte sich der Verkaufsraum, und der kleine Stehtisch wurde sozusagen nach dem Rotationsprinzip von einigen Frauen besetzt.

Im Moment anwesend: Die Yoga-affine Frauke Puttfarken in einem knallroten, undefinierbaren Irgendwas mit bunten Knöpfen auf der Brust. Es sah aus wie ein Overall, unterschied sich aber darin, dass er hinten zweigeteilt war. Man wusste nicht so recht, ob die hintere Öffnung so gewollt war. Über dem Clowns-Ding trug sie eine blaue Stola im Batik-Look. Colour-Blocking nannte sie das. Niemand hatte auch nur ansatzweise eine Idee, wo man solche Geschmacklosigkeiten kaufen konnte. Wurde auch nirgendwo gekauft – war selbst genäht, wie sie immer wieder stolz betonte. Die grauen Haare waren echt grau, nicht gefärbt, wie es momentan hip war. Halblang, struppig und widerspenstig wucherte es auf ihrem Kopf. Auch ihre Augenbrauen wucherten, und zwar buschig. Aus den Borsten hätte man zum Beispiel ein Haarteil für schuldlos an Haarausfall leidende Frettchen knüpfen können. Zupfen kam für sie nicht in Frage. Auch die Haare an Beinen und unter den Achseln wucherten augenscheinlich unkontrolliert. Ihrer Meinung nach hatte sich die Natur etwas dabei gedacht, nämlich die Haut mit Haaren zu schützen. Aber wovor? Vor freien Radikalen?

Vor einiger Zeit hatte sich Fraukes gesamte Lebenseinstellung geändert. Sie war zum Veganismus übergetreten. Nicht etwa, weil es modern war, sondern aus voller Überzeugung. Von einem Tag auf den anderen verweigerte sie sich den Tieren. Aber auch die Tiere wollten mit ihr nichts mehr zu tun haben. Immer mehr Hunde auf der Straße bellten sie an.

Manchmal war es so krass, dass sie sogar von wildfremden Hunden angepinkelt wurde, wenn sie irgendwo zu lange stehen blieb und die Vierbeiner ihren Weg kreuzten.

Vor einiger Zeit musste sie sich sogar vor Gericht verantwortlichen, weil sie sich lebensmüde vor einen Schweinetransporter geworfen und den Fahrer zum Anhalten genötigt hatte. Sie kettete sich mit Handschellen an die hintere Tür des LKW und schrie Anti-Massentierhaltungs-Parolen.

Nicht nur der Fahrer, auch die Schweine waren damals erleichtert, als man sie endlich von der bunten Frau befreite.

Dann war noch Birgit Schneider anwesend, Beamtenfrau und Mutter, die aber gleich wieder losmusste, um ihre Gören von der Schule abzuholen. Die zehnjährigen ›Terroristen-Zwillinge‹ Tim und Tom hatten mal wieder früher schulfrei als ihre Klassenkameraden.

Das Terror-Duo hatte sich an der Wand der Sporthalle künstlerisch betätigt und die Graffiti-Malerei für sich entdeckt. Ein riesiges Hinterteil in Knallrot und die Weltkugel in Blau-grün, irgend so etwas ließ sich ausmachen. Dieses Bilderrätsel wurde von der Kunstlehrerin Frau Anneliese Hoppe als eigenwillig, aber kreativ umgesetzt bewertet.

In letzter Zeit wurde Doppelmutter Schneider ziemlich häufig von der Klassenlehrerin vorgeladen. Einen Schulwechsel hatten die beiden Jungs schon hinter sich. Birgit Schneider hätte die Erziehungsberechtigung nur zu gerne abgegeben, an Gandalf, Gollum oder Lord Voldemort beispielsweise. Auch gegen Freddy Krüger hätte sie nichts einzuwenden gehabt.

Bevor sie zwecks Wiederaufnahme der Erziehungsverantwortung verschwand, ließ sie noch ihre perfekt manikürten Fingernägel bewundern.

»Das ist der letzte Schrei aus London«, sagte sie und hielt den Frauen ihre Krallen vor die Nase, »Rubinrot mit Strass. Passt eigentlich zu allem.«

Die dritte im Bunde war Physiotherapeutin Anke Hoyer-Schmidt, eine junge, hübsche Zugereiste mit Rehaugen. Ihr langes blondes Haar trug sie fast immer zu einem Zopf gebunden. Eigentlich war sie `n büschen zu attraktiv für hier. Die Männer im Dorf liebten ihre roten High-Heels, die sie häufig zum Schützenfest trug und damit den Rasen vertikutierte. Sie gönnte sich bei Vera erst einmal eine Erholungspause. Ihr letzter Patient hatte sie ziemlich in Anspruch genommen. Herr Tegen klagte schon länger über Rückenprobleme und war von Doktor Hagen an Ankes Praxis überwiesen worden. Herr Tegen, zirka einhundert Kilo schwer, war eine Belastung für ihren eigenen Rücken gewesen. Darum begnügte sie sich auch nicht nur mit Kaffee, sondern orderte ein Piccolöchen.