Söhne des Glücks - Jeffrey Archer - E-Book

Söhne des Glücks E-Book

Jeffrey Archer

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Beschreibung

Sie lieben dieselbe Frau - und haben denselben Feind

Sie sind Zwillinge – und werden bei der Geburt getrennt. Beide Jungen wachsen auf, ohne dass sie voneinander wissen: Nat in einfachen Verhältnissen, sein Bruder Fletcher als Sohn eines der reichsten Männer Connecticuts. Doch Nat will es den Umständen zum Trotz ganz nach oben schaffen. Immer wieder kreuzen sich die Schicksalspfade der beiden Brüder. Nat erkämpft sich eine Karriere als erfolgreicher Bankier, Fletcher geht in die Politik. Beide müssen sich in Machtspielen, Liebschaften und Lebensproben bewähren. Als sie entdecken, dass sie einen gemeinsamen Feind haben, führt das Schicksal sie auf dramatische Weise zusammen ...

Dieses Buch erschien in Deutschland bereits unter dem Titel »Die Kandidaten«.

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Seitenzahl: 776

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DAS BUCH

Beide Elternpaare waren entzückt und kein bisschen überrascht, als sich Susan und Michael verlobten. Seit Susans Abschlussfeier hatten sie sich so gut wie jeden Tag gesehen. Beide hatten innerhalb weniger Tage nach ihrem Abschluss am College eine Anstellung gefunden, Michael als Trainee bei der Hartford-Lebensversicherungsgesellschaft und Susan als Geschichtslehrerin an der Jefferson High School. Sie beschlossen, in den Sommerferien zu heiraten. Es war allerdings nicht geplant, dass Susan schon in den Flitterwochen schwanger wurde. Michael konnte seine Freude angesichts der Vorstellung, Vater zu werden, nicht verhehlen, und als ihnen Dr. Greenwood im sechsten Monat mitteilte, dass es Zwillinge würden, war er doppelt begeistert. »Das löst zumindest ein Problem«, war Michaels erste Reaktion. »Als da wäre?«, wollte Susan wissen. »Einer kann Republikaner werden und der andere Demokrat.«

DER AUTOR

Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Archer schlug zunächst eine bewegte Politikerkarriere ein. Weltberühmt wurde er als Schriftsteller, »Kain und Abel« war sein Durchbruch. Mittlerweile zählt Jeffrey Archer zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Seine historischen Reihen »Die Clifton-Saga« und »Die Warwick-Saga« begeistern eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in London, Cambridge und auf Mallorca.

JEFFREY ARCHER

SÖHNE DES

GLÜCKS

ROMAN

Aus dem Englischen

von Tatjana Kruse

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe SONS OF FORTUNE

erschien erstmals 2002 bei Pan Macmillan, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Überarbeitete Taschenbuchausgabe 02/2021

Copyright © 1984 by Jeffrey Archer

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Barbara Häusler

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung von Motiven von

© Shutterstock (Bildagentur Zoonar GmbH, Aliii)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-21799-0V001

www.heyne.de

Für Alison

Inhalt

ERSTES BUCH

GENESIS

ZWEITES BUCH

EXODUS

DRITTES BUCH

CHRONIKEN

VIERTES BUCH

APOSTELGESCHICHTE

FÜNFTES BUCH

RICHTER

SECHSTES BUCH

OFFENBARUNG

SIEBTES BUCH

NUMERI

ERSTES BUCH

GENESIS

1

Mit Schwung warf Susan die Eiscreme an Michael Cartwrights Kopf. Dies war die erste Begegnung zwischen den beiden – zumindest behauptete das Michaels Trauzeuge, als Susan und Michael einundzwanzig Jahre später heirateten.

Seinerzeit waren Susan und Michael drei Jahre alt, und als Michael in Tränen ausbrach, eilte Susans Mutter herbei, um nachzusehen, was los sei. Susan gab zu dem Vorfall nicht mehr als eine kurze Erklärung von sich, die sie mehrmals wiederholte: »Das hat er doch so gewollt.« Woraufhin Susan eine Tracht Prügel bekam. Nicht gerade der ideale Beginn einer Liebesgeschichte.

Die nächste überlieferte Begegnung fand, laut Aussage des Trauzeugen, mit ihrem Eintritt in die Grundschule statt. Dort erklärte Susan, Michael sei eine Heulsuse und dazu noch eine Petze. Und Michael sagte zu den anderen Jungs, dass er seine Cracker mit jedem teilen würde, der bereit wäre, Susan Illingworth am Pferdeschwanz zu ziehen. Nur wenige Jungen versuchten das ein zweites Mal.

Gegen Ende des ersten Schuljahres wurden Susan und Michael gemeinsam zu den Klassenbesten gekürt. Ihre Lehrerin hielt das für die beste Lösung, um einem weiteren Eiscremevorfall vorzubeugen. Susan erzählte ihren Freundinnen, dass Michaels Mutter seine Hausaufgaben für ihn machen würde, was Michael dahin gehend kommentierte, dass sie wenigstens in seiner eigenen Handschrift verfasst seien.

Ihre Feindschaft bestand ungebrochen die gesamte Schulzeit über, bis sie auf verschiedene Universitäten gingen, Michael an die Connecticut State und Susan nach Georgetown. In den nächsten vier Jahren taten beide alles, um einander nicht zu begegnen. Ihre Wege kreuzten sich ironischerweise erst wieder in Susans Elternhaus, wo die Illingworths für ihre Tochter eine Überraschungsabschlussparty veranstalteten. Die größte Überraschung war, dass Michael die Einladung nicht nur annahm, sondern sogar auf der Party erschien.

Susan erkannte ihren alten Widersacher nicht gleich wieder, unter anderem, weil er zehn Zentimeter gewachsen und somit zum ersten Mal größer war als sie. Erst als sie ihm ein Glas Wein anbot und Michael erwiderte: »Wenigstens hast du diesmal nicht alles über mich geschüttet«, wurde ihr klar, wer der große, gut aussehende Mann war.

»Mein Gott, ich hab mich wirklich grässlich aufgeführt«, sagte Susan in der Erwartung, dass er es abstritt.

»Allerdings«, meinte er. »Aber vermutlich hab ich’s verdient.«

»Allerdings«, gab sie zurück und biss sich auf die Unterlippe.

Sie plauderten wie alte Freunde, und Susan wunderte sich, wie enttäuscht sie war, als sich eine Kommilitonin aus Georgetown zu ihnen gesellte und mit Michael flirtete. An diesem Abend sprachen sie nicht mehr miteinander.

Am nächsten Tag rief Michael an und lud sie ins Kino ein: Ehekrieg mit Spencer Tracy und Katharine Hepburn. Susan kannte den Film bereits, hörte sich aber zusagen und konnte kaum glauben, wie viel Zeit sie damit zubrachte, verschiedene Kleider anzuprobieren, bevor Michael zu ihrer ersten Verabredung eintraf.

Susan gefiel der Film auch noch beim zweiten Mal. Sie fragte sich, ob Michael den Arm um ihre Schultern legen würde, wenn Spencer Tracy Katharine Hepburn küsste. Er tat es nicht. Doch als sie das Kino verließen, nahm er sie beim Überqueren der Straße an der Hand und ließ sie erst los, als sie das Café erreichten. Das war auch der Moment, in dem sie ihren ersten Streit hatten. Nun ja, ihre erste Meinungsverschiedenheit. Michael erklärte, dass er im November für Thomas Dewey stimmen würde, woraufhin Susan klarstellte, dass sie sich weiterhin Harry Truman im Weißen Haus wünschte. Der Kellner stellte eine Eiscreme vor Susan ab. Sie starrte das Eis an.

»Denk nicht mal dran«, warnte Michael.

Susan war nicht überrascht, als er sie am nächsten Tag anrief, obwohl sie über eine Stunde neben dem Telefon gesessen und so getan hatte, als würde sie lesen.

Michael hatte seiner Mutter beim Frühstück gestanden, dass es Liebe auf den ersten Blick sei.

»Du kennst Susan doch schon seit Jahren«, meinte seine Mutter.

»Stimmt nicht, Mom«, erwiderte er. »Ich habe sie gestern zum ersten Mal kennengelernt.«

Beide Elternpaare waren entzückt und kein bisschen überrascht, als sich Susan und Michael ein Jahr später verlobten, nachdem sie sich seit Susans Abschlussfeier so gut wie jeden Tag gesehen hatten. Beide hatten innerhalb weniger Tage nach ihrem Abschluss am College eine Anstellung gefunden, Michael als Trainee bei der Hartford-Lebensversicherungsgesellschaft und Susan als Geschichtslehrerin an der Jefferson High School. Sie beschlossen, in den Sommerferien zu heiraten.

Es war allerdings nicht geplant, dass Susan schon in den Flitterwochen schwanger wurde. Michael konnte seine Freude angesichts der Vorstellung, Vater zu werden, nicht verhehlen, und als ihnen Dr. Greenwood im sechsten Monat mitteilte, dass es Zwillinge würden, war er doppelt begeistert.

»Das löst zumindest ein Problem«, war Michaels erste Reaktion.

»Als da wäre?«, wollte Susan wissen.

»Einer kann Republikaner werden und der andere Demokrat.«

»Nicht, solange ich noch ein Wörtchen mitzureden habe«, erklärte Susan und rieb sich den Bauch.

Sie unterrichtete bis in den achten Monat, der zufällig mit den Osterferien zusammenfiel. Am achtundzwanzigsten Tag ihres neunten Monats ging sie mit einem kleinen Köfferchen ins Krankenhaus. Michael verließ vorzeitig seine Arbeit und stieß wenige Minuten später mit der guten Nachricht zu ihr, dass er zum Policen-Manager befördert worden war.

»Was bedeutet das?«, fragte Susan.

»Das ist ein hochtrabender Titel für einen Versicherungsvertreter«, erklärte Michael. »Aber es gibt eine kleine Gehaltserhöhung, und das kommt gerade recht, wo wir doch jetzt zwei Mäuler mehr zu stopfen haben.«

Sobald Susan auf ihrem Zimmer lag, schlug Dr. Greenwood Michael vor, während der Geburt draußen zu warten, da es bei Zwillingen leicht zu Komplikationen kommen könne.

Michael lief den langen Flur auf und ab. Vor dem Porträt von Josiah Preston, das an dessen anderem Ende hing, drehte er sich jedes Mal um und ging wieder zurück. Während der ersten Runden dieser Gewaltmärsche blieb Michael nicht stehen, um die ausführliche Biografie zu lesen, die unter dem Porträt des Krankenhausgründers angebracht war. Doch als der Arzt schließlich durch die Doppeltüren trat, kannte Michael Prestons gesamte Lebensgeschichte auswendig.

Die grün gekleidete Gestalt kam langsam auf ihn zu, bevor sie ihre Maske vom Gesicht nahm. Michael versuchte, den Gesichtsausdruck zu deuten. In seinem Beruf war es von Vorteil, wenn man Gesichtsausdrücke entschlüsseln und mögliche Vorbehalte erkennen konnte, denn beim Verkauf von Lebensversicherungen musste man sämtliche Ängste eines potenziellen Kunde voraussehen. Doch die Miene des Arztes verriet absolut nichts. Als sie einander gegenüberstanden, lächelte er plötzlich und sagte: »Ich gratuliere, Mr. Cartwright, Sie haben zwei gesunde Söhne.«

Susan war mit zwei Jungen niedergekommen – um 16.37 Uhr mit Nathaniel und um 16.43 Uhr mit Peter. In der folgenden Stunde herzten die Eltern ihre Söhne abwechselnd, bis Dr. Greenwood vorschlug, Mutter und Kinder sollten sich etwas ausruhen. »Zwei Kinder stillen zu müssen wird mehr als anstrengend für Sie. Ich gebe die beiden Kleinen über Nacht auf unsere Säuglingsstation«, fügte er hinzu. »Sie müssen sich keine Sorgen machen. Das tun wir bei Zwillingen immer.«

Michael begleitete seine Söhne auf die Säuglingsstation, wo man ihn erneut bat, auf dem Flur zu warten. Der stolze Vater presste die Nase gegen die Glasscheibe, die den Flur von den aufgereihten Kinderbettchen trennte. Er starrte die schlummernden Jungen an und wollte jedem, der vorüberging, zurufen: »Das sind meine zwei!« Er lächelte die Krankenschwester an, die neben den Bettchen der Neuankömmlinge stand und ein wachsames Auge auf sie hatte. Sie band Namensschilder um ihre winzigen Handgelenke.

Michael konnte sich nicht erinnern, wie lange er dort stand, bis er schließlich wieder an das Bett seiner Frau zurückkehrte. Als er die Türen öffnete, stellte er zu seiner großen Freude fest, dass Susan tief schlief. Er küsste sie sanft auf die Stirn. »Ich sehe dich dann morgen früh, mein Schatz, bevor ich zur Arbeit gehe«, flüsterte er, die Tatsache ignorierend, dass sie kein Wort hörte. Er verließ das Zimmer, marschierte den Flur entlang und trat in den Aufzug, wo er auf Dr. Greenwood traf, der seinen grünen OP-Kittel gegen eine Freizeitjacke und eine graue Flanellhosen getauscht hatte.

»Ich wünschte, es wäre immer so einfach«, sagte er zu dem stolzen Vater, als der Aufzug im Erdgeschoss hielt. »Trotzdem komme ich heute Abend noch einmal vorbei, Mr. Cartwright, um nach Ihrer Frau und Ihren Zwillingen zu schauen. Obwohl ich nicht mit Problemen rechne.«

»Danke, Doktor«, sagte Michael. »Vielen Dank.«

Dr. Greenwood lächelte. Er hätte das Krankenhaus verlassen, um nach Hause zu fahren, hätte er nicht in diesem Augenblick eine elegante Dame entdeckt, die durch die Schwingtüren trat. Rasch ging er zu Ruth Davenport hinüber.

Michael Cartwright sah sich noch einmal um. Der Arzt hielt gerade die Aufzugstüren für zwei Frauen auf, von denen eine hochschwanger war. Ein ängstlicher Gesichtsausdruck hatte das warme Lächeln von Dr. Greenwood abgelöst. Michael hoffte, dass der Neuzugang eine ebenso unkomplizierte Geburt haben würde, wie Susan sie zuwege gebracht hatte. Er schlenderte zu seinem Wagen und versuchte sich klarzumachen, was als Nächstes zu tun war, immer noch unfähig, das breite Grinsen aus seinem Gesicht zu bekommen.

Als Erstes musste er seine Eltern anrufen … die Großeltern.

2

Ruth Davenport hatte sich bereits damit abgefunden, dass dies ihre letzte Chance sein würde. Dr. Greenwood hätte dies aus professionellen Gründen nicht in dieser Deutlichkeit gesagt, obwohl er nach zwei Fehlgeburten innerhalb von zwei Jahren seiner Patientin nicht raten konnte, noch einmal schwanger zu werden.

Robert Davenport kannte eine solche Berufsetikette dagegen nicht, und als er erfuhr, dass seine Frau zum dritten Mal schwanger war, äußerte er sich auf seine typisch ungehobelte Art dazu. Er stellte ihr schlicht und einfach ein Ultimatum: »Dieses Mal gehst du es gefälligst locker an« – eine beschönigende Umschreibung für den Befehl: Tu nichts, was der Geburt unseres Sohnes schaden könnte. Robert Davenport ging selbstredend davon aus, dass sein Erstgeborenes ein Junge sein würde. Er wusste allerdings, dass es seiner Frau schwerfallen würde, wenn nicht gar unmöglich war, es locker anzugehen. Schließlich war sie die Tochter von Josiah Preston, und man hörte oft, dass Ruth und nicht ihr Ehemann Präsident von Preston Pharmaceuticals geworden wäre, wäre sie als Junge zur Welt gekommen. So jedoch musste sich Ruth mit dem Trostpreis begnügen und konnte ihrem Vater lediglich als Vorsitzende der St.-Patrick-Krankenhausstiftung nachfolgen, der die Familie Preston seit vier Generationen eng verbunden war.

Obwohl einige der älteren Ärzte von St. Patrick erst davon überzeugt werden mussten, dass Ruth Davenport aus demselben Holz geschnitzt war wie ihr Vater, dauerte es nur wenige Wochen, bis sie zugeben mussten, dass Ruth nicht nur die Energie und den Elan des alten Mannes geerbt hatte, sondern dass er auch sein beträchtliches Wissen und seine Weisheit an sie weitergegeben hatte, wie es bei einem Einzelkind häufig der Fall ist.

Ruth hatte erst mit dreiunddreißig Jahren geheiratet. Das lag keineswegs an einem Mangel an Verehrern, von denen sich viele buchstäblich überschlugen, um die Erbin der Preston-Millionen von ihrer unsterblichen Hingabe zu überzeugen. Josiah Preston hatte seiner Tochter nicht erst erklären müssen, was Glücksritter sind, denn sie verliebte sich in keinen von ihnen. Ruth zweifelte sogar schon daran, ob sie sich überhaupt jemals verlieben würde. Bis sie Robert traf.

Robert Davenport war über die Johns-Hopkins-Universität und die Harvard Business School zum Preston-Pharmakonzern gekommen, was Ruths Vater als eine »Karriere auf der Überholspur« bezeichnete. Soweit Ruth sich erinnerte, war dies das einzige Mal, dass der alte Herr einen modernen Ausdruck verwendet hatte. Schon mit siebenundzwanzig Jahren wurde Robert zum Vizepräsidenten und mit dreiunddreißig zum jüngsten stellvertretenden Vorsitzenden in der Geschichte des Unternehmens, womit er einen Rekord brach, den Josiah selbst aufgestellt hatte. Diesmal verliebte sich Ruth – und das in einen Mann, der weder vom Namen Preston noch von den Preston-Millionen beeindruckt oder gar eingeschüchtert war. Als Ruth vorschlug, sie könne doch möglicherweise Mrs. Preston-Davenport werden, hatte sich Robert nur erkundigt: »Und wann treffe ich diesen Kerl namens Preston-Davenport, der glaubt, mich davon abhalten zu können, dein Ehemann zu werden?«

Wenige Wochen nach ihrer Hochzeit verkündete Ruth, dass sie schwanger sei, und die Fehlgeburt war beinahe der einzige Schönheitsfehler in einem ansonsten glücklichen und geborgenen Leben. Doch selbst dieser wirkte schnell wie eine vorüberziehende Wolke an einem blauen und klaren Himmel, als Ruth elf Monate später erneut schwanger wurde.

Sie führte gerade den Vorsitz einer Sitzung des Stiftungskuratoriums, als Wehen einsetzten, weshalb sie mit dem Aufzug lediglich zwei Stockwerke höher fahren musste, damit Dr. Greenwood die notwendigen Untersuchungen durchführen konnte. Doch nicht einmal sein Fachwissen, die Hingabe seines Personals oder die neueste medizinische Ausrüstung konnten die Frühgeburt retten. Kenneth Greenwood erinnerte sich, wie er als junger Arzt einem ähnlichen Problem gegenübergestanden war, als er Ruth auf die Welt geholfen hatte. Eine Woche lang hatte die Krankenhausbelegschaft nicht geglaubt, dass das kleine Mädchen überleben würde. Und nun erlitt die Familie fünfunddreißig Jahre später das gleiche Trauma noch einmal.

Dr. Greenwood beschloss, mit Mr. Davenport unter vier Augen zu reden. Er schlug ihm vor, dass womöglich die Zeit gekommen war, über eine Adoption nachzudenken. Widerstrebend stimmte Robert zu und meinte, er würde das Thema bei seiner Frau anschneiden, sobald sie seiner Meinung nach stark genug dafür war.

Es verging ein Jahr, bevor sich Ruth damit einverstanden erklärte, eine Adoptionsagentur aufzusuchen. Prompt trat einer jener Zufälle ein, mit denen das Schicksal gern spielt, über die Romanschreiber aber nicht einmal nachdenken dürfen: Ruth wurde just an dem Tag schwanger, als der Besuch im örtlichen Waisenhaus anstand. Dieses Mal war Robert fest entschlossen, dass sein Kind nicht aufgrund menschlichen Versagens daran gehindert würde, diese Welt zu betreten.

Ruth folgte dem Rat ihres Gatten und legte ihr Amt als Vorsitzende der Krankenhausstiftung nieder. Sie war sogar damit einverstanden, dass eine Vollzeitkrankenschwester eingestellt wurde, die – so drückte Robert es aus – ein wachsames Auge auf sie haben sollte. Mr. Davenport sprach mit mehreren Bewerberinnen und traf eine Vorauswahl von Frauen, die seiner Ansicht nach die nötige Qualifikation mitbrachten. Seine endgültige Entscheidung würde letztlich davon abhängen, ob er davon überzeugt war, dass die Anwärterin willensstark genug war, um sicherzustellen, dass Ruth ihr Versprechen, es locker anzugehen, auch hielt, und die dafür sorgte, dass Ruth nicht in alte Gewohnheiten verfiel und alles organisieren wollte, worüber sie zufällig stolperte.

Nach der dritten Runde an Vorstellungsgesprächen entschied sich Robert für eine Miss Heather Nichol, leitende Krankenschwester der Entbindungsstation von St. Patrick. Ihm gefielen ihre nüchterne Art und die Tatsache, dass sie weder verheiratet noch mit einem Aussehen gesegnet war, durch das sich dieser Umstand in absehbarer Zukunft ändern würde. Den endgültigen Ausschlag gab jedoch die Tatsache, dass Miss Nichol bereits über eintausend Kindern in diese Welt geholfen hatte.

Robert war begeistert, wie schnell sich Miss Nichol in den Haushalt einfügte, und mit jedem Monat, der verstrich, wurde er zuversichtlicher, dass sie nicht zum dritten Mal das gleiche Problem haben würden. Als Ruth die ersten fünf, sechs und dann sieben Monate ohne Vorfälle überstand, kam Robert sogar auf mögliche Vornamen zu sprechen: Fletcher Andrew, wenn es ein Junge wurde, Victoria Grace bei einem Mädchen. Ruth hatte nur einen Wunsch: Wenn es ein Junge würde, sollte er Andrew gerufen werden, aber im Grunde erhoffte sie nichts mehr als die Geburt eines gesunden Kindes.

Robert nahm in New York an einem Ärztekongress teil, als ihn Miss Nichol telefonisch aus einem Seminar rief, um ihm mitzuteilen, dass bei seiner Frau die Wehen eingesetzt hätten. Er versicherte ihr, unverzüglich mit dem Zug zurückzufahren und mit dem Taxi direkt ins St. Patrick zu kommen.

Dr. Greenwood verließ gerade das Gebäude, nachdem er erfolgreich die Cartwright-Zwillinge zur Welt gebracht hatte, als er Ruth Davenport erkannte, die in Begleitung von Miss Nichol durch die Schwingtüren trat. Er drehte sich um und holte die beiden Damen ein, bevor sich die Aufzugstüren schlossen.

Sobald er seine Patientin in einem Privatzimmer untergebracht hatte, trommelte Dr. Greenwood eilig die besten Gynäkologen zusammen, die das Krankenhaus zu bieten hatte. Wäre Mrs. Davenport eine gewöhnliche Patientin gewesen, hätten er und Miss Nichol die Entbindung ohne zusätzliche Hilfe vornehmen können. Doch nach seiner Untersuchung wurde ihm klar, dass Ruth einen Kaiserschnitt benötigen würde, wenn das Kind zur Welt kommen sollte. Er sah zur Decke und sprach ein stummes Gebet, denn ihm war absolut bewusst, dass dies ihre letzte Chance sein würde.

Die Entbindung dauerte nur etwas über vierzig Minuten. Beim ersten Blick auf den Kopf des Babys seufzte Miss Nichol erlöst auf, aber erst als der Arzt die Nabelschnur durchtrennte, fügte sie auch noch ein Halleluja hinzu. Ruth, die immer noch narkotisiert war, konnte das erleichterte Lächeln auf Dr. Greenwoods Gesicht natürlich nicht sehen. Rasch verließ er den Operationssaal, um dem erwartungsvollen Vater mitzuteilen: »Es ist ein Junge.«

Während Ruth friedlich schlummerte, blieb es Miss Nichol überlassen, Fletcher Andrew auf die Säuglingsstation zu bringen, wo er seine ersten Lebensstunden in Gesellschaft mehrerer anderer Neugeborener verbringen würde. Sobald sie das Kind in sein kleines Bettchen gelegt hatte, überließ sie seine Überwachung der Krankenschwester und kehrte in Ruths Zimmer zurück. Miss Nichol setzte sich in den bequemen Sessel in der Ecke und versuchte wach zu bleiben.

Gerade als die Nacht sich anschickte, in den Morgen überzugehen, schreckte Miss Nichol aus dem Schlaf auf. Sie hörte die Worte: »Kann ich meinen Sohn sehen?«

»Natürlich, Mrs. Davenport«, erwiderte Miss Nichol und erhob sich schnell aus dem Sessel. »Ich gehe und hole den kleinen Andrew.« Bevor sie die Tür hinter sich schloss, fügte sie noch hinzu: »Ich bin sofort zurück.«

Ruth richtete sich auf, schüttelte ihr Kissen aus, schaltete die Lampe auf dem Nachttisch ein und wartete voller Vorfreude.

Im Flur sah Miss Nichol auf ihre Armbanduhr. Es war 4.31 Uhr Sie ging die Treppe in den fünften Stock hinunter und eilte zur Säuglingsstation. Leise öffnete Miss Nichol die Tür, um keines der schlafenden Babys aufzuwecken. Sie trat in einen Raum, der von einer schwachen Neonröhre an der Decke beleuchtet wurde, und ihr Blick fiel auf die Nachtschwester, die in der Ecke ein Nickerchen machte. Sie störte die junge Frau nicht, da dies wahrscheinlich die einzigen paar Minuten während ihrer achtstündigen Schicht waren, in denen sie sich einen Moment ausruhen konnte.

Auf Zehenspitzen schlich Miss Nichol durch die beiden Bettenreihen, blieb nur kurz stehen, um auf die Zwillinge in dem Doppelbettchen zu schauen, die neben Fletcher Andrew Davenport lagen.

Dann sah sie auf das Kind hinunter, das den Rest seines Lebens jeden Wunsch erfüllt bekommen würde. Doch als sie sich über den kleinen Jungen beugte, erstarrte sie. Nach eintausend Geburten ist man befähigt, den Tod zu erkennen. Die Blässe der Haut und die Reglosigkeit der Augen machten es überflüssig, nach dem Puls zu fühlen.

Es sind oft Entscheidungen, die im Bruchteil einer Sekunde gefällt werden – manchmal von anderen, nicht von uns selbst –, die den Verlauf unseres ganzen Lebens verändern können.

3

Als Dr. Greenwood mitten in der Nacht geweckt wurde und man ihm mitteilte, dass einer seiner neuen Schützlinge gestorben war, wusste er genau, um welches Neugeborene es sich handelte. Ihm war auch klar, dass er umgehend ins Krankenhaus musste.

Kenneth Greenwood hatte immer schon Arzt werden wollen. Bereits nach wenigen Wochen an der medizinischen Fakultät hatte er auch gewusst, auf welches Fachgebiet er sich spezialisieren würde. Er dankte Gott jeden Tag, dass er ihm erlaubte, seiner Berufung zu folgen. Doch von Zeit zu Zeit musste er einer Mutter eröffnen, dass sie ihr Kind verloren hatte, als hielte der Allmächtige es irgendwie für notwendig, für einen Ausgleich zu sorgen. Es war niemals einfach, aber es Ruth Davenport zum nunmehr dritten Mal sagen zu müssen …

Um fünf Uhr morgens waren so wenige Autos unterwegs, dass Dr. Greenwood schon nach zwanzig Minuten auf den für ihn reservierten Krankenhausparkplatz bog. Er stieß die Schwingtüren auf, schritt an der Anmeldetheke vorbei und trat in den Aufzug, noch bevor ihn einer seiner Mitarbeiter ansprechen konnte.

»Wer soll es ihr sagen?«, fragte die Schwester, die im fünften Stock schon auf ihn wartete, als sich die Türen des Aufzugs öffneten.

»Das werde ich selbst erledigen«, sagte Dr. Greenwood. »Ich bin mit der Familie seit Jahren befreundet.«

Die Schwester wirkte überrascht. »Vermutlich müssen wir dankbar sein, dass das zweite Baby überlebt hat«, unterbrach sie seinen Gedankengang.

Dr. Greenwood blieb abrupt stehen. »Das zweite Baby?«

»Aber ja, Nathaniel geht es prächtig. Nur Peter ist gestorben.«

Dr. Greenwood schwieg einen Augenblick und versuchte, diese Information zu verdauen. »Was ist mit dem Jungen der Davenports?«, erkundigte er sich.

»Dem geht es gut, soweit ich weiß«, erwiderte die Schwester. »Warum fragen Sie?«

»Ich habe ihn zur Welt gebracht, bevor ich nach Hause fuhr.« Hoffentlich bemerkte die Schwester das Zögern in seiner Stimme nicht.

Langsam schritt Dr. Greenwood durch die Reihen der Kinderbettchen, vorbei an Neugeborenen, die tief und fest schliefen, und anderen, die brüllten, als ob sie beweisen wollten, dass sie über Lungen verfügten. Am Doppelbettchen, in dem er vor wenigen Stunden die Zwillinge verlassen hatte, blieb er stehen. Nathaniel schlief friedlich, während sein Bruder reglos dalag. Dr. Greenwood sah zur Namenstafel des benachbarten Kinderbetts, um sich zu vergewissern: Davenport, Fletcher Andrew. Der kleine Junge schlief ebenfalls tief und fest, sein Atem ging regelmäßig.

»Natürlich konnte ich das Kind nicht wegbringen, bevor nicht der Arzt, der bei der Geburt zugegen war …«

»Sie müssen mich nicht an das Krankenhausprozedere erinnern«, fuhr Dr. Greenwood sie ungewohnt barsch an. »Wann hat Ihr Dienst begonnen?«, erkundigte er sich.

»Kurz nach Mitternacht.«

»Und seitdem sind Sie hier?«

»Ja, Sir.«

»Hat in dieser Zeit noch jemand die Säuglingsstation betreten?«

»Nein, Herr Doktor«, erwiderte die Schwester. Sie beschloss, nicht zu erwähnen, dass sie vor ungefähr einer Stunde zu hören geglaubt hatte, wie sich eine Tür schloss. Wenigstens nicht, solange er so schlecht gelaunt war. Dr. Greenwood starrte auf die beiden Kinderbettchen mit der Aufschrift Cartwright, Nathaniel und Peter Er wusste, was jetzt seine Pflicht war.

»Bringen Sie das Baby in die Leichenkammer«, erklärte er mit ruhiger Stimme. »Ich schreibe sofort einen Bericht, aber ich werde die Mutter erst später am Morgen informieren. Es hat keinen Sinn, sie um diese Uhrzeit zu wecken.«

»Ja, Sir«, entgegnete die Schwester beflissen.

Dr. Greenwood verließ die Säuglingsstation, ging langsam den Flur entlang und blieb vor Mrs. Cartwrights Tür stehen. Lautlos öffnete er sie und war erleichtert, als er sah, dass seine Patientin in tiefem Schlummer lag. Nachdem er die Treppe in den sechsten Stock hinaufgestiegen war, wiederholte er den Vorgang an der Tür zu Mrs. Davenports Privatzimmer. Ruth schlief ebenfalls. Er sah sich im Zimmer um und entdeckte Miss Nichol, die zusammengesackt in ihrem Sessel ruhte. Er hätte schwören können, dass sie kurz die Augen öffnete, beschloss aber, sie nicht zu stören. Er zog die Tür zu, ging zum anderen Ende des Flurs und trat auf die Feuertreppe, die zum Parkplatz führte. Er wollte nicht, dass die Diensthabenden an der Empfangstheke ihn gehen sahen. Er brauchte etwas Zeit zum Nachdenken.

Zwanzig Minuten später lag Dr. Greenwood wieder in seinem Bett, aber an Schlaf war nicht zu denken.

Als sein Wecker um sieben Uhr losging, war er immer noch wach. Er wusste genau, was er als Erstes zu tun hatte, obwohl er fürchtete, dass die Auswirkungen noch viele Jahre nachhallen würden.

Dr. Greenwood brauchte beträchtlich länger, als er zum zweiten Mal an diesem Morgen ins St. Patrick fuhr, und das lag nicht nur am zunehmenden Verkehr. Es graute ihm davor, Ruth Davenport mitteilen zu müssen, dass ihr Kind in der Nacht gestorben war, und er hoffte nur, dass es ohne Skandal über die Bühne ging. Er wusste, dass er sich unverzüglich auf Ruths Zimmer begeben und ihr erklären musste, was geschehen war, ansonsten wäre er niemals fähig, es durchzuziehen.

»Guten Morgen, Dr. Greenwood«, sagte die Schwester am Empfang, aber er erwiderte ihren Gruß nicht.

Als er in den sechsten Stock trat und auf Mrs. Davenports Zimmer zuschritt, merkte er, wie er immer langsamer wurde. Vor der Tür blieb er stehen, hoffte, sie würde immer noch schlafen. Leise machte er sie auf und wurde von dem Anblick Robert Davenports begrüßt, der neben seiner Frau saß. Ruth hielt ein Baby in ihren Armen. Miss Nichol war nirgends zu sehen.

Robert sprang von seiner Seite des Bettes auf.

»Kenneth«, rief er und schüttelte Greenwood die Hand. »Wir stehen auf ewig in deiner Schuld.«

»Ihr schuldet mir gar nichts«, erwiderte der Arzt leise.

»Natürlich tun wir das«, widersprach Robert und drehte sich zu seiner Frau. »Sollen wir ihm sagen, welchen Entschluss wir gefasst haben, Ruth?«

»Warum nicht, dann haben wir alle etwas zu feiern.« Sie küsste die Stirn des Jungen.

»Aber zuerst muss ich euch etwas mitteilen …«, fing der Arzt an.

»Kein Aber«, erklärte Robert, »ich will, dass du der Erste bist, der erfährt, dass ich beschlossen habe, den Vorstand von Preston zu bitten, die neue Entbindungsstation zu finanzieren. Du hast ja immer gehofft, dass sie vor deinem Ruhestand noch fertig wird.«

»Aber …«, setzte Dr. Greenwood erneut an.

»Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass es kein Aber gibt. Schließlich stehen die Pläne schon seit Jahren.« Robert blickte auf seinen Sohn hinunter. »Ich wüsste keinen Grund, warum wir nicht sofort mit dem Bau beginnen sollten.« Er sah den leitenden Gynäkologen der Klinik an. »Es sei denn, dir fiele einer ein?«

Dr. Greenwood schwieg.

Als Miss Nichol sah, wie Dr. Greenwood Mrs. Davenports Privatzimmer verließ, sank ihr der Mut. Er trug den kleinen Jungen im Arm und ging auf den Aufzug zu, der ihn zur Säuglingsstation bringen würde. Als sie im Flur aneinander vorbeikamen, trafen sich ihre Blicke, und obwohl Dr. Greenwood nichts sagte, zweifelte sie nicht daran, dass er genau wusste, was sie getan hatte.

Miss Nichol war klar, wenn sie weglaufen wollte, dann musste es jetzt sein. Nachdem sie in der Nacht von der Säuglingsstation zurückgekommen war, hatte sie bis zum Morgen schlaflos in der Ecke von Mrs. Davenports Zimmer ausgeharrt und sich gefragt, ob man ihr wohl auf die Schliche kommen würde. Sie hatte versucht, sich nicht zu rühren, als Dr. Greenwood kurz vorbeischaute. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie spät es war, denn sie hatte nicht gewagt, auf ihre Uhr zu schauen. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er sie aus dem Zimmer rufen und ihr sagen würde, dass er die Wahrheit kannte, er war jedoch ebenso leise gegangen, wie er gekommen war. Darum war sie jetzt so klug wie zuvor.

Heather Nichol ging weiter auf das Privatzimmer zu, den Blick fest auf die Feuertreppe am anderen Ende des Flurs gerichtet. Nachdem sie Mrs. Davenports Tür passiert hatte, versuchte sie ihren Schritt nicht zu beschleunigen. Sie hatte nur noch wenige Meter vor sich, als sie eine Stimme hörte, die sie sofort erkannte. »Miss Nichol?« Sie erstarrte, den Blick immer noch auf die Feuertreppe gerichtet, und ging ihre Optionen durch. Dann drehte sie sich zu Mr. Davenport um.

»Ich glaube, wir sollten uns unter vier Augen unterhalten.« Er trat in eine Nische auf der anderen Seite des Flurs in der Annahme, dass sie ihm folgen würde. Miss Nichol dachte, ihre Beine würden versagen, lange bevor sie ihm gegenüber auf einen Stuhl sank. Aus seiner Miene war nicht abzulesen, ob ihm klar war, dass sie die Schuldige war. Aber Mr. Davenports Gesichtszüge ließen sich ja nie entschlüsseln. Es lag nicht in seiner Natur, etwas preiszugeben, und das vermochte er auch im Privaten nicht zu ändern. Miss Nichol konnte ihm nicht in die Augen sehen, also starrte sie über seine linke Schulter und beobachtete Dr. Greenwood, hinter dem sich in diesem Moment die Aufzugstüren schlossen.

»Vermutlich wissen Sie, was ich Sie fragen will«, sagte Mr. Davenport.

»Ja, das tue ich«, gab Miss Nichol zu und fragte sich, ob sie je wieder eine Anstellung finden und vielleicht sogar im Gefängnis landen würde.

Als Dr. Greenwood zehn Minuten später wieder auftauchte, wusste Miss Nichol genau, was mit ihr geschehen und wohin es sie verschlagen würde.

»Wenn Sie darüber nachgedacht haben, Miss Nichol, dann rufen Sie mich doch in meinem Büro an. Falls Ihre Antwort Ja lautet, muss ich mit meinen Anwälten reden.«

»Ich habe bereits darüber nachgedacht«, erwiderte Miss Nichol. Diesmal sah sie Mr. Davenport direkt in die Augen. »Die Antwort lautet Ja. Ich wäre entzückt, wenn ich für Ihre Familie als Kindermädchen arbeiten dürfte.«

4

Susan hielt Nat im Arm, unfähig ihren Schmerz auszublenden. Sie war es leid, dass sämtliche Freunde und Verwandten ihr rieten, Gott dankbar zu sein, dass wenigstens ein Kind überlebt hatte. Konnten sie denn nicht verstehen, dass Peter tot war und sie einen Sohn verloren hatte? Michael hoffte, seine Frau würde den Verlust überwinden, sobald sie das Krankenhaus verlassen hatte und nach Hause zurückgekehrt war. Aber so kam es nicht. Susan sprach unaufhörlich von ihrem anderen Sohn und bewahrte ein Foto von den beiden Jungen neben dem Bett auf.

Miss Nichol besah sich das Foto sehr genau, als es im Hartford Courant veröffentlicht wurde. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass zwar beide Jungs den eckigen Unterkiefer ihres Vaters geerbt hatten, Andrews Haar aber lockig und blond war, Nats hingegen glatt und bereits dunkler werdend. Josiah Preston rettete die Situation, indem er ständig erklärte, sein Enkel habe in der großen Tradition der Prestons seine Nase und seine ausgeprägte Stirn geerbt. Miss Nichol wiederholte diese Bemerkung unablässig vor kriecherischen Verwandten und unterwürfigen Angestellten, eingeleitet von den Worten: »Wie Mr. Preston stets zu sagen pflegt …«

Schon zwei Wochen nach ihrer Rückkehr übte Ruth Davenport wieder ihr Amt als Vorsitzende der Krankenhausstiftung aus und machte sich sofort daran, das Versprechen ihres Ehemannes einzulösen und eine neue Entbindungsstation für St. Patrick zu bauen.

In der Zwischenzeit übernahm Miss Nichol jede Arbeit, wie nieder auch immer, solange es Ruth nur erlaubte, ihren Aktivitäten außerhalb des Hauses nachzugehen, während sie selbst sich um Andrew kümmerte. Miss Nichol wurde die Kinderschwester des Jungen, seine Ratgeberin, Beschützerin und Erzieherin. Doch es verging kein Tag, an dem sie nicht fürchtete, dass die Wahrheit am Ende doch noch ans Licht kam.

Richtig mit der Angst bekam es Miss Nichol zum ersten Mal, als Mrs. Cartwright anrief und mitteilte, dass sie eine Geburtstagsfeier für ihren Sohn veranstaltete und sie Andrew, da er doch am selben Tag auf die Welt gekommen war, gerne dabeihätte.

»Wie freundlich von Ihnen«, erwiderte Miss Nichol, ohne mit der Wimper zu zucken, »aber Andrew feiert seine eigene Geburtstagsparty, und ich bedauere sehr, dass Nat nicht zu uns kommen kann.«

»Nun, dann grüßen Sie Mrs. Davenport bitte herzlich von mir, und richten Sie ihr aus, wie sehr wir es zu schätzen wissen, dass wir zur Eröffnung der neuen Entbindungsstation im nächsten Monat eingeladen wurden.« Eine Einladung, die Miss Nichol nicht hatte rückgängig machen können. Als Susan auflegte, war ihr einziger Gedanke, woher Miss Nichol den Namen ihres Sohnes kannte.

Als Mrs. Davenport an diesem Abend nach Hause kam, schlug Miss Nichol sofort vor, eine Party zu Andrews erstem Geburtstag zu organisieren. Ruth hielt das für eine hervorragende Idee und überließ alle Vorkehrungen, einschließlich der Gästeliste, nur zu gern der Kinderschwester. Eine Geburtstagsparty zu veranstalten, bei der man kontrollieren konnte, wer eingeladen wurde und wer nicht, war eine Sache; zu verhindern, dass sich ihre Arbeitgeberin und Mrs. Cartwright auf der Eröffnung der neuen Preston-Entbindungsstation über den Weg liefen, hingegen etwas völlig anderes.

Tatsächlich war es dann Dr. Greenwood, der die beiden Frauen während seiner Führung durch die neue Station einander vorstellte. Er konnte nicht fassen, dass keinem auffiel, wie ähnlich sich die zwei kleinen Jungen sahen. Miss Nichol wandte sich ab, als er in ihre Richtung blickte. Sie zog Andrew rasch eine Mütze über den Kopf, wodurch er wie ein kleines Mädchen aussah. Bevor Ruth etwas dazu sagen konnte, meinte sie: »Es wird doch recht kalt, und ich will nicht, dass Andrew sich erkältet.«

»Bleiben Sie auch nach Ihrer Pensionierung in Hartford, Dr. Greenwood?«, erkundigte sich Mrs. Cartwright.

»Nein. Meine Frau und ich wollen uns auf unseren Familiensitz in Ohio zurückziehen«, erwiderte der Arzt. »Aber bestimmt statten wir Hartford gelegentlich einen Besuch ab.«

Miss Nichol hätte am liebsten vor Erleichterung aufgeseufzt, hätte der Arzt sie nicht scharf angesehen. Doch sobald Dr. Greenwood erst einmal aus dem Weg war, konnte Miss Nichol schon zuversichtlicher sein, dass ihr Geheimnis unentdeckt bliebe.

Wann immer Andrew zu irgendeiner Unternehmung eingeladen wurde – einem Verein beizutreten, an einer Sportveranstaltung teilzunehmen oder sich für die Sommerparade einzutragen –, achtete Miss Nichol stets peinlich genau darauf, dass ihr Schützling nicht in Kontakt mit einem Mitglied der Familie Cartwright kam. Das bewerkstelligte sie in den prägenden Jahren des Kindes mit beträchtlichem Erfolg, ohne dabei den Verdacht von Mr. oder Mrs. Davenport zu erregen.

Zwei Briefe, die mit der Morgenpost kamen, überzeugten Miss Nichol schließlich davon, dass sie sich keine Sorgen mehr machen musste. Der erste Brief war an Andrews Vater adressiert und bestätigte, dass der Junge in Hotchkiss, der ältesten Privatschule Connecticuts, angenommen worden war. Der zweite Brief trug einen Poststempel von Ohio und wurde von Ruth geöffnet.

»Wie traurig«, sagte sie und legte den handschriftlichen Brief zur Seite. »Er war so ein großartiger Mann.«

»Wer?«, fragte Robert und sah von seinem New England Journal of Medicine auf.

»Dr. Greenwood. Seine Frau hat mir geschrieben. Er ist letzten Freitag gestorben. Mit vierundsiebzig Jahren.«

»Er war wirklich ein großartiger Mann«, wiederholte Robert. »Vielleicht solltest du zu seiner Beerdigung gehen.«

»Ja, natürlich«, meinte Ruth. »Und Heather möchte mich sicher begleiten. Schließlich hat sie einmal für ihn gearbeitet.«

»Aber natürlich«, sagte Miss Nichol und hoffte nur, dass sie angemessen betroffen aussah.

Susan las den Brief ein zweites Mal. Die Nachricht betrübte sie. Sie würde nie vergessen, wie nahe Peters Tod Dr. Greenwood gegangen war, beinahe, als fühlte er sich persönlich dafür verantwortlich. Vielleicht sollte sie an seiner Beerdigung teilnehmen. Sie wollte die Nachricht von seinem Tod gerade Michael mitteilen, als ihr Mann plötzlich aufsprang und rief: »Sehr gut, Nat!«

»Was ist denn?«, wollte Susan wissen. Dieser untypische Überschwang überraschte sie.

»Nat hat ein Stipendium für Taft bekommen.« Ihr Ehemann wedelte mit dem Brief.

Susan teilte die Begeisterung ihres Mannes nicht. Nat würde in sehr jungem Alter in ein Internat mit Kindern geschickt, deren Eltern aus einer ganz anderen Welt stammten. Wie sollte ein Junge von vierzehn Jahren begreifen, dass sie sich viele der Dinge, die seine Schulfreunde für selbstverständlich hielten, nicht leisten konnten? Sie war schon lange der Ansicht, dass Nathaniel in Michaels Fußstapfen treten und an die Jefferson High School gehen sollte. Wenn die Schule gut genug war, dass sie dort unterrichtete, warum war sie dann nicht gut genug, dass ihr Kind dort unterrichtet wurde?

Nat saß auf seinem Bett und las in seinem Lieblingsbuch, als er den Ausbruch seines Vaters hörte. Er war gerade bei dem Kapitel, wo der Wal neuerlich entkam. Widerwillig sprang er vom Bett und streckte den Kopf aus der Tür, um die Ursache für den Aufruhr in Erfahrung zu bringen. Seine Eltern stritten sich heftig – dabei stritten sie sich sonst nie, trotz des häufig kolportierten Eiscremevorfalls. Es ging darum, an welche Schule er sollte. Sein Vater sagte gerade: »… Chance seines Lebens. Nat wird mit Kindern zusammenkommen, aus denen irgendwann Führungspersönlichkeiten in allen Bereichen werden. Das wird den Rest seines Lebens beeinflussen.«

»Anstatt an die Jefferson High zu gehen und auf Kinder zu treffen, die er führen und für den Rest ihres Lebens beeinflussen kann?«

»Aber er hat ein Stipendium bekommen. Wir werden keinen Penny dafür zahlen müssen.«

»Wir müssen auch keinen Penny zahlen, wenn er an die Jefferson High geht.«

»Aber wir müssen an Nats Zukunft denken. Wenn er Taft besucht, könnte er eines Tages in Harvard oder Yale studieren …«

»Jefferson hat mehrere Schüler hervorgebracht, die später Harvard oder Yale besuchten.«

»Wenn ich eine Versicherung darüber abschließen müsste, auf welcher der beiden Schulen es wahrscheinlicher ist …«

»Das ist ein Risiko, das ich gern eingehe.«

»Tja, ich aber nicht«, erklärte Michael. »Und ich habe jeden einzelnen Tag meines Lebens damit verbracht, Risiken wie diese abzuschätzen.« Nat hörte aufmerksam zu, während seine Mutter und sein Vater ihren Streit fortsetzten, ohne dabei ihre Stimmen zu heben oder die Geduld zu verlieren.

»Mir ist es lieber, mein Sohn macht seinen Abschluss als Vertreter des Egalitarismus, als dass er zum Patrizier wird«, erwiderte Susan leidenschaftlich.

»Warum sollte das unvereinbar sein?«, erkundigte sich Michael.

Nat zog sich in sein Zimmer zurück, ohne die Antwort seiner Mutter abzuwarten. Sie hatte ihm beigebracht, sofort jedes Wort nachzuschlagen, das er noch nie gehört hatte. Und schließlich war es ein Mann aus Connecticut gewesen, der das größte Wörterbuch der Welt zusammengetragen hatte. Nachdem er alle Begriffe in Webster’s Dictionary nachgeschlagen hatte, entschied Nat, dass seine Mutter als eine Verfechterin der Freiheit und der Gleichheit egalitärer war als sein Vater, aber dass keiner von beiden ein Patrizier war. Er war sich nicht sicher, ob er Patrizier werden wollte.

Als Nat das Kapitel in seinem Lieblingsbuch zu Ende gelesen hatte, schlüpfte er ein zweites Mal aus seinem Zimmer. Die Atmosphäre schien sich jetzt etwas beruhigt zu haben, und so beschloss er, nach unten zu seinen Eltern zu gehen.

»Vielleicht sollten wir Nat die Entscheidung überlassen«, meinte seine Mutter.

»Ich habe mich schon entschieden.« Nat setzte sich zwischen die beiden. »Schließlich hast du mir immer beigebracht, mir beide Seiten anzuhören, bevor ich eine Schlussfolgerung ziehe.«

Seine Eltern waren sprachlos, während Nat lässig die Abendzeitung aufschlug. Plötzlich wurde ihnen bewusst, dass er ihre Unterhaltung gehört haben musste.

»Und zu welchem Entschluss bist du gelangt?«, erkundigte sich seine Mutter ruhig.

»Ich möchte lieber an die Taft als an die Jefferson High«, erwiderte Nat ohne zu zögern.

»Und dürfen wir erfahren, wie du zu dieser Entscheidung gelangt bist?«, wollte sein Vater wissen.

Nat wusste, dass ihm sein Publikum an den Lippen hing, daher beeilte er sich nicht mit seiner Antwort. »Moby Dick«, verkündete er schließlich, bevor er zur Sportseite weiterblätterte.

Er wartete, wer von beiden als Erstes seine Worte wiederholen würde.

»Moby Dick?«, fragten sie im Chor.

»Ja«, meinte Nat. »Die guten Leute von Connecticut hielten den großen Wal schließlich für den Patrizier des Meers.«

5

»Ein Hotchkiss-Mann vom Scheitel bis zur Sohle«, freute sich Miss Nichol, während sie gleichzeitig Andrews Erscheinungsbild im Flurspiegel prüfte. Weißes Hemd, blauer Blazer und braune Cordhosen. Sie rückte ihm die blau-weiß gestreifte Krawatte gerade und entfernte einen Staubfussel von seinem Hemd. »Vom Scheitel bis zur Sohle«, wiederholte sie. Das wären dann ja nur ein Meter siebenundfünfzig, wollte Andrew gerade entgegnen, doch da trat sein Vater in den Flur. Andrew sah auf die Uhr, ein Geschenk seines Großvaters mütterlicherseits – ein Mann, der immer noch Leute entließ, wenn sie zu spät kamen.

»Ich habe deine Koffer in den Wagen gestellt.« Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. Andrew wurde eiskalt, als er die Worte seines Vaters hörte. Die beiläufige Bemerkung erinnerte ihn daran, dass er tatsächlich sein Zuhause verließ. »Weniger als drei Monate bis Thanksgiving«, fügte sein Vater noch hinzu. Drei Monate, ein Viertel eines Jahres – kein unbeträchtlicher Prozentsatz der eigenen Lebenszeit, wenn man erst vierzehn Jahre alt ist.

Andrew schritt forsch zur Eingangstür hinaus und dann auf die Kiesauffahrt, entschlossen, nicht zu dem Haus zurückzuschauen, das er liebte und in dem er jetzt ein Vierteljahr lang nicht sein würde. Als er zum Wagen kam, hielt er seiner Mutter die hintere Tür auf. Dann schüttelte er Miss Nichol die Hand, als wäre sie eine alte Freundin, und sagte, er freue sich schon, sie an Thanksgiving wiederzusehen. Andrew war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte, dass sie geweint hatte. Er wandte den Blick ab und winkte der Haushälterin und der Köchin zu, bevor er in den Wagen stieg.

Als sie durch die Straßen von Farmington fuhren, starrte Andrew auf die vertrauten Gebäude, die er bis zu diesem Augenblick für den Mittelpunkt der Welt gehalten hatte.

»Dass du auch ja jede Woche schreibst«, mahnte seine Mutter. Er ignorierte diese überflüssige Bemerkung, zumal auch Miss Nichol ihm die letzten vier Wochen mindestens zweimal täglich genau dieselbe Anweisung erteilt hatte.

»Und wenn du ein bisschen Extrageld brauchst, dann ruf mich an«, fügte sein Vater hinzu.

Noch jemand, der die Regeln nicht gelesen hatte. Andrew erinnerte seinen Vater nicht daran, dass den Jungen im ersten Jahr in Hotchkiss nur zehn Dollar pro Quartal gestattet waren. Das stand auf Seite sieben und war von Miss Nichol rot unterstrichen worden.

Während der kurzen Fahrt zum Bahnhof sprach keiner, jeder auf seine je eigene Art beklommen. Sein Vater parkte den Wagen neben dem Bahnhof und stieg aus. Andrew blieb sitzen, wollte die Sicherheit des Wagens nicht verlassen, bis seine Mutter die Tür auf seiner Seite öffnete. Rasch kletterte Andrew zu ihr hinaus, wild entschlossen, niemanden merken zu lassen, wie nervös er war. Sie wollte seine Hand nehmen, er rannte jedoch rasch zum Kofferraum, um seinem Vater mit den Koffern zu helfen.

Ein Gepäckträger mit einem Handkarren tauchte neben ihnen auf. Sobald die Koffer aufgeladen waren, führte er sie zum Bahnsteig und blieb vor Wagen acht stehen. Während der Träger die Koffer einlud, wandte sich Andrew an seinen Vater, um sich zu verabschieden. Er hatte darauf bestanden, nur von einem Elternteil auf der Zugfahrt nach Lakeville begleitet zu werden, und da sein Vater Taft besucht hatte, schien seine Mutter die logische Wahl. Andrew bedauerte seine Entscheidung bereits.

»Gute Reise«, wünschte sein Vater und schüttelte die ausgestreckte Hand seines Sohnes. Was für dumme Dinge Eltern an Bahnhöfen von sich geben, dachte Andrew. Es war doch sicher wichtiger, dass er fleißig lernte, sobald er an der Schule war. »Und vergiss nicht zu schreiben.«

Andrew bestieg mit seiner Mutter den Zug, und als die Lok aus dem Bahnhof fuhr, schaute er kein einziges Mal zu seinem Vater zurück. Er hoffte, das ließ ihn erwachsener wirken.

»Möchtest du frühstücken?«, fragte seine Mutter, während ein Schaffner Andrews Koffer im Gepäcknetz verstaute.

»Ja, bitte«, erwiderte Andrew und wurde zum ersten Mal an diesem Morgen etwas fröhlicher.

Ein weiterer Uniformierter führte sie zu einem Tisch im Speisewagen. Andrew studierte die Speisekarte und fragte sich, ob ihm seine Mutter ein großes Frühstück genehmigen würde.

»Du darfst dir aussuchen, was du möchtest«, erklärte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

Andrew lächelte, als der Kellner erschien. »Eine doppelte Portion Würstchen, zwei Spiegeleier mit Schinken und Toast.« Die Pilze ließ er weg, weil der Kellner nicht denken sollte, seine Mutter würde ihn zu Hause hungern lassen.

»Und Sie, Madam?«, erkundigte sich der Kellner und wandte seine Aufmerksamkeit der anderen Tischseite zu.

»Nur Kaffee und Toast, vielen Dank.«

»Der erste Tag für den Jungen?«, erkundigte sich der Kellner.

Mrs. Davenport lächelte und nickte.

Woher weiß der das?, fragte sich Andrew.

Nervös schlang Andrew sein Frühstück hinunter. Er war sich nicht sicher, ob er an diesem Tag noch einmal etwas zu essen bekommen würde. In dem Handbuch wurden Mahlzeiten nicht erwähnt, und sein Opa hatte ihm erzählt, zu seiner Zeit habe es in Hotchkiss nur einmal am Tag etwas zu essen gegeben. Seine Mutter bat ihn mehrmals, Messer und Gabel beim Essen abzulegen. »Messer und Gabeln sind keine Flugzeuge und sollten nie länger als notwendig in der Luft bleiben«, ermahnte sie ihn. Er hatte keine Ahnung, dass sie fast genauso nervös wie er war.

Wann immer ein anderer Junge in der gleichen adretten Uniform an ihrem Tisch vorbeikam, sah Andrew aus dem Fenster und hoffte, der Junge würde ihn nicht bemerken, denn keine dieser Uniformen war so neu wie seine. Seine Mutter trank bereits die dritte Tasse Kaffee, als der Zug im Bahnhof hielt.

»Wir sind da«, verkündete sie überflüssigerweise.

Andrew blieb sitzen und starrte das Bahnhofsschild von Lakeville an, während mehrere Jungen aus dem Zug sprangen und einander begrüßten. »Hallo, wie waren deine Ferien? Schön, dich wiederzusehen«, gefolgt von reichlich Händeschütteln. Andrew sah zu seiner Mutter hinüber und wünschte, sie würde in einer Rauchwolke verschwinden. Mütter waren einfach nur ein weiteres Indiz dafür, dass man seinen ersten Tag hier verbrachte.

Zwei große Jungen mit zweireihigen blauen Blazern und grauen Hosen trieben die Neuankömmlinge zu einem bereitstehenden Bus. Andrew betete, dass Eltern im Bus tabu waren, ansonsten würden alle mitbekommen, dass er ein Neuer war.

»Name?«, fragte einer der jungen Männer in blauem Blazer, als Andrew aus dem Zug stieg.

»Davenport, Sir.« Andrew starrte zu ihm auf. Ob er jemals so groß werden würde?

Der junge Mann lächelte, fast war es ein Grinsen. »Du musst mich nicht Sir nennen, ich bin kein Lehrer, nur einer der älteren Schüler, die die Aufsicht haben.« Andrew senkte den Kopf. Seine allerersten Worte, und schon hatte er sich blamiert. »Ist dein Gepäck schon im Bus, Fletcher?«

Fletcher?, dachte Andrew. Aber natürlich, Fletcher Andrew Davenport. Er korrigierte den riesigen, jungen Mann nicht, aus Angst, damit noch einen Fehler zu machen.

»Ja«, erwiderte Andrew.

Der Gott wandte seine Aufmerksamkeit Andrews Mutter zu. »Danke, Mrs. Davenport«, sagte er und sah auf seine Liste. »Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Heimreise nach Farmington. Fletcher wird es hier gut gehen«, fügte er freundlich hinzu.

Andrew streckte die Hand aus, fest entschlossen zu verhindern, dass seine Mutter ihn umarmte. Wenn Mütter doch nur auch im entscheidenden Moment Gedanken lesen könnten! Er schauderte, als sie ihn in ihre Arme schloss. Aber er konnte nicht annähernd verstehen, was sie durchmachte. Als sie ihn endlich losließ, schloss er sich rasch dem Strom von Jungen an, die in den wartenden Bus sprangen. Er entdeckte einen Jungen, der noch kleiner war als er selbst und allein am Fenster saß. Rasch setzte er sich neben ihn.

»Ich bin Fletcher«, sagte er und verwendete den Namen, den der Gott ihm verliehen hatte. »Wie heißt du?«

»James«, erwiderte der andere, »aber meine Freunde nennen mich Jimmy.«

»Bist du neu hier?«, fragte Fletcher.

»Ja«, erwiderte Jimmy leise, sah ihn aber immer noch nicht an.

»Ich auch«, meinte Fletcher.

Jimmy zog ein Taschentuch heraus und tat so, als würde er sich die Nase schnäuzen, bevor er sich schließlich doch seinem neuen Kameraden zuwandte.

»Woher kommst du?«, fragte er.

»Farmington.«

»Wo ist das?«

»Nicht weit von West Hartford.«

»Mein Dad arbeitet in Hartford«, sagte Jimmy. »Er ist bei der Regierung. Und was macht dein Dad?«

»Er verkauft Medikamente«, antwortete Fletcher.

»Magst du Football?«, wollte Jimmy wissen.

»Ja«, sagte Fletcher, aber nur, weil er wusste, dass das Team von Hotchkiss seit vier Jahren unbesiegt war. Noch so eine Sache, die Miss Nichol im Handbuch unterstrichen hatte.

Der Rest der Unterhaltung bestand aus einer Reihe unzusammenhängender Fragen, auf die sie beide kaum je die Antwort wussten. Es war ein recht seltsamer Anfang einer lebenslangen Freundschaft.

6

»Perfekt!« Sein Vater betrachtete die Uniform des Jungen im Garderobenspiegel. Michael Cartwright rückte die blaue Krawatte seines Sohnes zurecht und entfernte ein Haar von seinem Blazer. »Perfekt!«, wiederholte er.

Fünf Dollar für eine Cordhose – an etwas anderes konnte Nathaniel nicht denken, obwohl sein Vater erklärt hatte, die Hose sei jeden Cent wert.

»Beeil dich, Susan, sonst kommen wir zu spät«, rief sein Vater und sah die Treppe hinauf. Trotzdem blieb Michael Cartwright noch reichlich Zeit, das Gepäck im Kofferraum zu verstauen und den Wagen auf die Straße zu fahren, bevor Susan endlich erschien, um ihrem Sohn für seinen ersten Tag alles Gute zu wünschen. Sie umarmte Nathaniel innig und er war nur dankbar, dass kein anderer Taft-Junge in der Nähe war und diesen Vorgang beobachtete. Er hoffte, dass seine Mutter ihre Enttäuschung über seine Entscheidung gegen die Jefferson High verwunden hatte, denn ihm kamen bereits erste Zweifel. Hätte er die Jefferson High gewählt, würde er wenigstens jeden Abend nach Hause gehen können.

Nathaniel setzte sich auf den Beifahrersitz neben seinen Vater und sah auf die Uhr im Armaturenbrett. Es war beinahe sieben. »Lass uns losfahren, Dad.« Er wollte auf keinen Fall an seinem ersten Tag zu spät kommen und deswegen gleich zu Beginn in Verruf geraten.

Sobald sie auf dem Highway waren, wechselte sein Vater auf die Überholspur und ließ den Tacho auf fünfundsechzig Meilen pro Stunde hochschnellen, fünf Meilen schneller als erlaubt. Er ging davon aus, dass die Chance, zu so früher Stunde in eine Polizeikontrolle zu geraten, gering war. Obwohl Nathaniel Taft bereits beim Bewerbungsgespräch kennengelernt hatte, war es dennoch ein schrecklicher Augenblick, als sein Vater den alten Studebaker durch die gewaltigen Eisentore lenkte und langsam die eine Meile lange Auffahrt hinauffuhr. Nathaniel war erleichtert, als er sah, dass ihnen zwei oder drei Autos hinterherkamen, obwohl er bezweifelte, dass Neulinge darin saßen. Sein Vater folgte einer Schlange aus Cadillacs und Buicks zu einem Parkplatz. Er war nicht ganz sicher, wo er parken sollte, schließlich war er ein neuer Vater. Nathaniel sprang schon aus dem Wagen, noch bevor sein Vater die Handbremse angezogen hatte. Doch dann zögerte er. Sollte er dem Strom von Jungs folgen, die zur Taft Hall eilten, oder mussten sich Neue anderswo melden?

Sein Vater zögerte nicht, sich der Masse anzuschließen, und blieb erst stehen, als ein großer, selbstsicherer junger Mann mit einem Klemmbrett auf Nathaniel heruntersah und fragte: »Bist du ein Neuer?«

Nathaniel brachte kein Wort heraus, darum antwortete sein Vater. »Ja.«

Der Blick des jungen Mannes blieb fest auf Nathaniel gerichtet. »Name?«, fragte er.

»Cartwright, Sir«, erwiderte Nathaniel.

»Ah ja, untere Mittelstufe. Man hat dich Mr. Haskins zugeteilt, also musst du ziemlich schlau sein. Alle Schlauen fangen bei Mr. Haskins an.« Nathaniel senkte den Kopf, während sein Vater lächelte. »Wenn du die Taft Hall betrittst«, fuhr der junge Mann fort, »kannst du dich in eine der ersten drei Reihen auf der linken Seite setzen. Sobald du neun Glockenschläge hörst, schweigst du und redest erst wieder, wenn der Direktor und der Rest der Lehrerschaft die Halle verlassen haben.«

»Und was mache ich dann?« Nathaniel versuchte die Tatsache zu verbergen, dass er zitterte.

»Dann wirst du von deinem Klassenlehrer instruiert.« Der junge Mann wandte seine Aufmerksamkeit dem neuen Vater zu. »Nat wird es hier gut gehen, Mr. Cartwright. Ich hoffe, Sie haben eine gute Heimreise, Sir.«

Das war der Augenblick, in dem Nathaniel klar wurde, dass er in Zukunft nur noch Nat heißen würde, auch wenn das seiner Mutter zweifelsohne nicht gefallen würde.

Nat betrat die Taft Hall, senkte den Kopf und lief rasch den Gang entlang. Er hoffte, dass niemand ihn bemerkte. Am Ende der zweiten Reihe entdeckte er einen freien Platz. Nathaniel sah zu dem Jungen zu seiner Linken, der den Kopf in den Händen verborgen hielt. Betete er, oder hatte er womöglich noch mehr Angst als er selbst? »Ich heiße Nat«, stellte er sich mutig vor.

»Und ich Tom«, sagte der Junge, ohne den Kopf zu heben.

»Was passiert als Nächstes?«

»Keine Ahnung. Ich wünschte, ich wüsste es«, erwiderte Tom. Da schlug die Uhr neun Mal, und alle schwiegen.

Ein Lindwurm aus Lehrern schlängelte sich daraufhin den Gang hinunter – keine Lehrerinnen, wie Nat auffiel. Seine Mutter hätte das nicht gutgeheißen. Sie schritten zur Bühne und nahmen ihre Plätze ein. Nur zwei Stühle blieben unbesetzt. Die Lehrerschaft unterhielt sich leise, während die Jungen unten in der Halle weiterhin schwiegen.

»Worauf warten wir?«, flüsterte Nat, und einen Augenblick später wurde seine Frage beantwortet. Alle erhoben sich, einschließlich der Männer auf der Bühne. Nat wagte nicht, sich umzuschauen, als er die Schritte von zwei Männern hörte, die den Gang entlangschritten. Einen Moment später kamen der Kaplan und der Direktor der Schule auf ihrem Weg zu den beiden leeren Stühlen auf der Bühne an Nat vorbei. Alles blieb stehen, während der Kaplan einen Schritt vortrat und eine kurze Andacht hielt, zu der auch das Vaterunser gehörte und die damit endete, dass alle Anwesenden Glory, Glory, Hallelujah! sangen.

Dann ging der Kaplan zu seinem Stuhl, und der Direktor nahm seinen Platz am Rednerpult ein. Alexander Inglefield stand einen Augenblick stumm da, bevor er auf die versammelten Jungs blickte. Dann hob er die Hände mit den Handflächen nach unten, und alle setzten sich. Dreihundertundachtzig Augenpaare starrten auf einen Mann von einem Meter fünfundachtzig mit dicken, buschigen Augenbrauen und einem kantigen Kiefer, dessen Gestalt so eindrucksvoll war, dass Nat hoffte, er würde ihm nie begegnen.

Der Direktor packte das Revers seines langen, schwarzen Talars und setzte zu seiner fünfzehnminütigen Rede an. Er begann damit, dass er seine Schützlinge durch die lange Geschichte der Schule führte und Tafts frühere akademische und sportliche Leistungen rühmte. Dann richtete er seinen Blick auf die Neulinge und erinnerte sie an das Motto der Schule: Non ut sibi ministretur sed ut ministret.

»Was heißt das?«, flüsterte Tom.

»Nicht um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen«, murmelte Nat.

Der Direktor schloss mit der Ansage, dass es zwei Dinge gab, die ein echter Taft-Mann niemals verpassen dürfe: eine Prüfung und ein Spiel gegen Hotchkiss. Und als ob er die Prioritäten gleich richtig zuordnen wolle, versprach er allen einen schulfreien Nachmittag, wenn Taft beim jährlichen Footballspiel das Team von Hotchkiss besiegte. Das wurde sofort mit frenetischem Jubel begrüßt, obwohl jeder Junge jenseits der dritten Reihe wusste, dass dies in den vergangenen vier Jahren nie gelungen war.

Als der Jubel verstummte, verließ der Direktor die Bühne, gefolgt vom Kaplan und dem Rest der Lehrerschaft. Sobald die Männer gegangen waren, setzte der Lärm wieder ein. Die älteren Klassen verließen die Halle. Nur die Jungen in den ersten drei Reihen blieben sitzen, weil sie nicht wussten, wohin sie gehen sollten.

Fünfundneunzig Jungen warteten ab, was als Nächstes passieren würde. Sie mussten sich nicht lange gedulden, denn ein ältlicher Lehrer – eigentlich war er erst einundfünfzig, aber Nat fand, dass er viel älter aussah als sein Dad – baute sich kurz darauf vor ihnen auf. Er war klein und untersetzt, mit einem Halbkreis aus grauen Haaren um einen ansonsten kahlen Schädel. Als er sprach, packte er das Revers seiner Tweedjacke und imitierte damit die Pose des Direktors.

»Mein Name ist Haskins«, erklärte er ihnen. »Ich bin der Lehrer der unteren Mittelstufe«, fügte er mit trockenem Lächeln hinzu. »Wir beginnen den Tag mit einer Einweisung, die Sie zur ersten Pause um halb elf beendet haben. Um elf begeben Sie sich in die Ihnen zugewiesenen Klassenräume. Ihre erste Stunde ist amerikanische Geschichte.« Nat runzelte die Stirn, da Geschichte noch nie sein Lieblingsfach gewesen war. »Danach gibt es Mittagessen. Freuen Sie sich nicht darauf«, warnte Mr. Haskins mit einem neuerlich trockenen Lächeln. Ein paar der Jungs lachten. »Aber das ist nur eine weitere Taft-Tradition«, versicherte Mr. Haskins, »vor der diejenigen von Ihnen, die den Fußstapfen ihres Vaters folgen, sicherlich schon gewarnt worden sind.« Einige Jungs, darunter auch Tom, lächelten.

Sobald sie mit der Billigführung, wie Mr. Haskins es nannte, begonnen hatten, blieb Nat an Toms Seite. Er schien schon alles zu wissen, was Haskins zu sagen hatte. Nat fand schnell heraus, dass nicht nur Toms Vater ein ehemaliger Absolvent der Schule war, sondern auch sein Großvater.

Als die Führung endete und sie vom See bis zur Krankenstation alles gesehen hatten, waren er und Tom bereits gute Freunde, und als sie sich zwanzig Minuten später in ihrem Klassenzimmer einfanden, setzten sie sich automatisch nebeneinander.

Schlag elf Uhr kam Mr. Haskins in den Raum marschiert. Ein Junge folgte ihm dicht auf den Fersen. Dieser strahlte eine Selbstsicherheit aus, fast eine Überheblichkeit, die alle anderen Jungen aufsehen ließ. Die Augen des Lehrers folgten dem neuen Schüler, als dieser auf den einzigen noch freien Stuhl glitt.

»Name?«

»Ralph Elliot.«

»Das ist das letzte Mal, dass Sie sich zu meinem Unterricht verspäten, solange Sie an der Taft sind«, erklärte Mr. Haskins. Er machte eine Pause. »Habe ich mich klar ausgedrückt, Elliot?«

»Auf jeden Fall.« Der Junge zögerte, bevor er hinzufügte: »Sir.«

Mr. Haskins ließ seinen Blick über den Rest der Klasse schweifen. »Unsere erste Unterrichtsstunde dreht sich um die amerikanische Geschichte, wie ich Sie bereits vorwarnte. Und das ist auch nur angemessen, wenn man bedenkt, dass diese Schule vom Bruder eines ehemaligen Präsidenten gegründet wurde.« Angesichts des Porträts von William H. Taft in der Eingangshalle und einer Statue seines Bruders im Innenhof wäre es selbst dem uninteressiertesten Schüler schwergefallen, nicht darauf zu kommen.

»Wer war der erste Präsident der Vereinigten Staaten?«, fragte Mr. Haskins. Alle Hände schossen hoch. Mr. Haskins nickte einem Jungen in der ersten Reihe zu.

»George Washington, Sir.«

»Und der zweite?«, wollte Haskins wissen. Weniger Hände gingen hoch, und dieses Mal wurde Tom ausgewählt.

»John Adams, Sir.«

»Richtig. Und der dritte?«

Nur zwei Hände blieben oben, die von Nat und von dem Jungen, der zu spät gekommen war. Haskins wies auf Nat.

»Thomas Jefferson, von 1800 bis 1808.«

Mr. Haskins nickte anerkennend, da er auch noch die korrekten Daten gewusst hatte. »Und der vierte?«

»James Madison, von 1809 bis 1817«, antwortete Elliot.

»Und der fünfte, Cartwright?«

»James Monroe, von 1817 bis 1825.«

»Und der sechste, Elliot?«

»John Quincy Adams, von 1825 bis 1829.«

»Und der siebte, Cartwright?«

Nat zermarterte sich das Hirn. »Ich kann mich nicht erinnern, Sir.«

»Können Sie sich nicht erinnern, Cartwright, oder wissen Sie es einfach nicht?« Haskins schwieg kurz. »Das ist ein himmelweiter Unterschied«, fügte er hinzu. Er wandte sich wieder an Elliot.

»William Henry Harrison, glaube ich, Sir.«

»Nein, das war der neunte Präsident, Elliot. 1841. Aber er starb nur einen Monat nach seiner Amtseinführung an Lungenentzündung, daher werden wir uns mit ihm auch nicht lange beschäftigen. Sorgen Sie dafür, dass mir morgen jeder von Ihnen den Namen des neunten Präsidenten nennen kann. Und jetzt zurück zu den Gründervätern. Sie sollten sich Notizen machen, da ich bis zur nächsten Geschichtsstunde einen dreiseitigen Aufsatz über das Thema von Ihnen erwarte.«

Noch vor Ablauf der Stunde hatte Nat drei Seiten dicht beschrieben, während Tom kaum auf eine einzige kam. Als sie das Klassenzimmer verließen, stieß Elliot sie beim Hinausgehen zur Seite.

»Der scheint mir ein würdiger Gegner zu sein«, bemerkte Tom.

Nat sagte nichts dazu.

Er konnte nicht wissen, dass Ralph Elliot und er für den Rest ihres Lebens Widersacher sein würden.

7

Das jährliche Footballspiel zwischen Hotchkiss und Taft war der sportliche Höhepunkt des Quartals. Da beide Teams in dieser Saison noch ungeschlagen waren, wurde über kaum etwas anderes gesprochen, sobald die Zwischenprüfungen vorüber waren – und bei den Sportbegeisterten auch schon lange vor diesen.

Fletcher ließ sich von der Begeisterung anstecken und führte in seinem wöchentlichen Brief an seine Mutter jedes einzelne Mitglied des Teams namentlich auf, obwohl er wusste, dass sie keine Ahnung hatte, wer diese Jungs waren.

Das Spiel sollte am letzten Samstag im Oktober stattfinden, und sofort nach dem Schlusspfiff würden alle Internatsschüler den Rest des Wochenendes freibekommen sowie einen zusätzlichen Tag, falls sie gewinnen sollten.