Söhne ohne Väter - Hartmut Radebold - E-Book

Söhne ohne Väter E-Book

Hartmut Radebold

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Beschreibung

Fast ein Drittel aller Männer, die zwischen 1933 und 1945 geboren wurden, wuchsen kriegsbedingt ohne Vater auf. Anhand der sehr persönlichen Berichte in diesem Band werden die Folgen dieses Verlustes sichtbar: die Schwierigkeit, dem eigenen Leben deutliche Konturen zu geben, der Kampf um Selbstvertrauen und Entscheidungssicherheit. Häufig ist der abwesende Vater im Innersten stärker wirksam als ein anwesender. Wie hätte das Leben mit ihm sein können? Diese Frage begleitet die Betroffenen lebenslang. Nicht selten entwickelten sie ein besonders inniges, teilweise jedoch erdrückend enges Verhältnis zur Mutter - mit allen Belastungen für die eigene Partnerschaft. Die Einzelschicksale und Sachbeiträge zeigen in der Zusammenschau das Ausmaß der Probleme. Erst die Beschäftigung mit den tiefer liegenden Ursachen der Auffälligkeiten weist Wege zu autonomen Lebensentwürfen sowie zur Möglichkeit, verlässliche Rollen in zwischenmenschlichen Beziehungen zu finden. Die spezifische Problematik der Kriegssöhne gewährt so auch der jüngeren Generation Verständnis und Hilfe im Umgang mit Vaterlosigkeit.

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Seitenzahl: 282

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Hermann Schulz/Hartmut Radebold/Jürgen Reulecke

Hermann Schulz/Hartmut Radebold Jürgen Reulecke

Söhne ohne Väter

Erfahrungen der Kriegsgeneration

In memoriam Otto Schricker (1934–2003)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 3. Druck-Auflage von August 2009) © Christoph Links Verlag GmbH, 2004 Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Lektorat: Heike Olbrich, Andernach Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Ludwig Schirmer, Ostkreuz

Inhalt

Vorwort zur 3. Auflage

Annäherung an das Thema

Beschädigte Kindheiten – beschädigtes Leben

(Hermann Schulz, gemeinsam mit Hartmut Radebold und Jürgen Reulecke)

Lebensberichte

Letzte Bilder – Verlust ohne Abschied

Lebenslange Suche und Erinnerungen

Bücher und Filme als Orientierung

Leben mit den Müttern

Unsicherheiten und Auffälligkeiten

Unter dem Druck von Versagensängsten

Vorbilder und Kompensationen

Pflichten und Lebensplanungen

Frauen und Ehe

Die eigenen Kinder

Frauen und Kinder der Männer ohne Väter

Abwesende Väter – Fakten und Forschungsergebnisse

(Hartmut Radebold)

Entwicklungspsychologische Aspekte

(Hartmut Radebold)

Die Väter – lebenslange Bedeutung

Die Väter – mögliche Erinnerungen, vermittelte Kenntnisse

Die Mütter – lebenslang zu intensiv an sie gebunden?

Die Folgen: dauerhaft verunsichert und eingeschränkt?

Die Folgen: immer pflichtbewusst und kompetent?

Vaterlose Söhne in einer »vaterlosen Gesellschaft«

(Jürgen Reulecke)

Vom autoritären Vaterbild zu Diagnosen von der »vaterlosen Gesellschaft«

Vaterlosigkeit nach den beiden Weltkriegen

Wie werden sie altern?

(Hartmut Radebold)

Söhne ohne Väter – mögliche transgenerationale Folgen

(Hartmut Radebold)

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Die Gesprächspartner

Danksagung

Die Autoren

Vorwort zur 3. Auflage

Aufgrund unseres erstmals 2004 erschienenen Buches »Söhne ohne Väter« verstanden immer mehr Männer der Jahrgänge 1928/1929 bis 1948/1950, dass und inwieweit ihr Leben als Kinder und Jugendliche entscheidend dadurch geprägt wurde, dass ihre Väter aufgrund des Zweiten Weltkrieges völlig fehlten oder langjährig abwesend waren. Die nach dem Krieg zurückgekehrten Väter lebten häufig innerlich abgekapselt, beschädigt bis traumatisiert weiter. So oder so standen sie für ihre Söhne (und natürlich auch für ihre Töchter) als Väter nicht mehr zur Verfügung. Viele unserer Gespräche mit betroffenen Männern anlässlich von Seminaren, Vorträgen, Tagungen oder Kongressen verdeutlichten uns, wie schmerzlich und kummervoll wir diese damalige Situation erlebt haben. Viel zögernder wurde die Frage gestellt, ob die Erfahrungen mit dem Vater die eigene Entwicklung als Mann lebenslang bis hinein in das eigene Älterwerden bestimmt hat und noch heute bestimmt.

Zunehmend fühlen sich die betroffenen Männer mit der weiteren Frage konfrontiert und auch von ihr beunruhigt, inwieweit sie selbst überhaupt gute Väter sein konnten und was sie von ihren zeitgeschichtlichen Erfahrungen an ihre Söhne (und ebenso an ihre Töchter) weitergegeben haben. Aus diesem Grund wurde die 3. Auflage um das neue Kapitel »Söhne ohne Väter – mögliche transgenerationale Folgen« ergänzt.

Für viele Männer (und auch ihre Kinder) bietet der aufgrund unseres Buches von dem Dokumentarfilmer Andreas Fischer 2007 gedrehte Film »Söhne ohne Väter« (von Moraki Film im Auftrag von ZDF/3 SAT & SWR produziert) Zugang und auch Hilfe zum Verständnis dieses Themas. In ihm berichten acht über 60-jährige Männer – darunter einige Interviewpartner unseres Buches und wir selbst (Hartmut R., Jürgen R.) – über die Bedeutung ihres Vaterverlustes damals, lebenslang und noch heute.

Unser aktueller Forschungsstand über die damaligen zeitgeschichtlichen Erfahrungen und lebenslangen Auswirkungen ist im Vergleich zu 2004 weitaus umfangreicher. Das Anliegen der von uns (Hartmut R., Jürgen R.) gegründeten interdisziplinären Forschungsgruppe w2k (www.weltkrieg2kindheiten.de) stieß zunächst in der Öffentlichkeit auf wenig Verständnis. Diese Situation hat sich inzwischen deutlich verändert. Als besonders hilfreich erwies sich dafür der im April 2005 durchgeführte Internationale Kriegskinderkongress an der Universität in Frankfurt/Main.

Parallel zu den vielfältigen Publikationen der Forschungsgruppe w2k finden Interessierte weitere Informationen in der Reihe »Kinder des Weltkrieges« (verlegt im Juventa-Verlag Weinheim und München). Zur Unterstützung dieser Forschungen wurde inzwischen auch ein Förderverein »Kriegskinder für den Frieden e.V.« (www.kriegskinder-fuer-den-frieden.de) gegründet. Er strebt zur Zeit insbesondere den Aufbau eines repräsentativen Zeitzeugen-Archivs der Jahrgänge 1928/29 bis 1950 an.

Juli 2009

Hermann Schulz Hartmut Radebold Jürgen Reulecke

Annäherung an das Thema

Um dem bedrohten Vaterland beizustehen, unternahm der Vater 1944 den in seinen Augen konsequenten patriotischen Schritt: Er wurde Mitglied der Waffen-SS. Soviel Begeisterung wurde mit dem aktiven Dienst im Konzentrationslager Auschwitz »belohnt«. Zum Ende lagerte man das KZ nach Neuengamme aus. Dort wurde der Vater mit vielen anderen von den Engländern verhaftet und später den polnischen Behörden übergeben. Der Musterprozess, so berichtet sein Sohn im Jahr 2003, wurde sehr korrekt geführt; der polnische Verteidiger setzte sich sogar mit der Familie im Rheinland in Verbindung.

Was der Sohn weiß, was er gehört hat, was zu vermuten ist, setzt ihn in lebenslange Verwirrung: Gibt es für ihn, so fragte er sich, angesichts der Geschehnisse in Auschwitz und anderswo noch ein Recht zum Überleben? Was hat sein Vater dort konkret getan? Wird ihn, den Sohn, jemals eine Frau als Partner akzeptieren, wenn sie vom Leben seines Vaters erfährt?

Welche Chance hat ein solcher Sohn, das Vaterleben in seiner »Entschiedenheit«, in seinen schrecklichen Widersprüchen zu interpretieren? Wie kommt er selbst darin vor? Als Mitte der fünfziger Jahre der Vater unbeirrt und unbelehrt zurückkehrt, ist das für den Sohn erst recht keine Erlösung; er ergreift aus einem unbestimmten Gefühl heraus, stellvertretend etwas gut machen zu müssen, den Pfarrerberuf.

Rainer John, ein anderer Gesprächspartner dieses Buches, wurde als Kleinkind von russischen Soldaten an der Landstraße zwischen Küstrin und Frankfurt/Oder gefunden. Sie nahmen den Jungen auf ihren Panzer und übergaben ihn, da er offensichtlich von Deutschen abstammte, einem ostpreußischen Flüchtlingswagen. In Kiel kam er in die Obhut des Roten Kreuzes, später zu verschiedenen Pflegefamilien. Nach dem erfolgreichen Studium leitete er eine Schule. Die Straße, auf der ihn die russischen Soldaten aufgelesen haben, hat er wieder gefunden, Namen und Schicksale seiner Eltern und möglicher Geschwister nicht. Die Hoffnung, während stundenlanger Wanderungen auf dieser Straße würde Erinnern einsetzen, hat sich nicht erfüllt. Nur eines glaubt John heute sicher zu wissen: »Als ich meine Familie verlor, war mein Vater schon nicht mehr dabei.« Hier, wie bei fast allen vaterlos aufgewachsenen Söhnen: tief sitzende, heimliche oder offen geäußerte Spekulationen, Hoffnungen oder trotzige Gewissheit: Er, mein Papa, hätte mich, wäre er dabei gewesen, nicht am Straßenrand allein gelassen! Mit ihm wäre alles anders geworden.

Die meisten der im ersten Teil dieses Buches veröffentlichten Schicksale lesen sich weniger dramatisch als die beiden hier vorangestellten. Für ein Kind macht es aber keinen Unterschied, ob der Vater gefallen ist für Volk und Vaterland, vermisst, verhungert, in Gefangenschaft oder irgendwo seinen Verletzungen erlegen ... Der Verlust des Vaters ist ein brutaler Einschnitt, der den Sohn, das Kind, lebenslang begleitet – und beschädigt! Das Nicht-fragen-können bleibt das Drama, die Falle für Selbstquälerei, für Selbsttäuschung, für verwirrende Phantasien. Lebensgefühl und Selbstverständnis stehen, wenn nicht heilende Kräfte helfen, für immer auf wackligem Boden und prägen das Leben der Betroffenen entscheidend.

Kernstück dieses Buches bilden die Aussagen von Männern, die zwischen 1933 und 1945 (bis auf zwei Ausnahmen aus den Jahren 1930 und 1931) geboren wurden und durch Kriegseinwirkung vaterlos aufwuchsen. Es macht Sinn, kriegsbedingte Vaterlosigkeit gesondert zu betrachten; sie ist nicht auf allen Ebenen vergleichbar mit anderen Trennungsumständen. Die Gesprächspartner des Buches erzählen Geschichten – von sich, von vielen Vätern, von Gefühlen und Träumen. Die Vaterbilder und Erinnerungen der zurückgelassenen Söhne unterscheiden sich; jeder Vater, jeder Sohn, jede Familienkonstellation ist anders. Das Gemeinsame aller Erfahrungen aber ist die oft nicht eingestandene lebenslange Trauer, mehr noch die meist erst spät einsetzende Wahrnehmung von Leere, von fehlendem Halt, vom Fehlen ordnender Prinzipien – und des ständigen Zwanges, diese Defizite zu überwinden.

Häufig ist der abwesende Vater allerdings so mächtig sichtbar und bestimmend wie ein anwesender; manchmal sogar noch stärker. Wie lebende Väter stiften sie Verwirrung, fordern Leistungen, werden zum Maßstab – und hinterlassen, weil es für »alle Fragen zu spät« ist (Peter Härtling), bedrückende Hilflosigkeit – aber auch couragierte (stellvertretende, zum Teil erzwungene) Entscheidungsfreude. Der verlorene Vater ist als eine verdrängte Realität im Innersten wirksam; eine unsichtbare Größe, ein Irrlicht, eine Fata Morgana in Uniform oder Werkskittel, Auslöser von Sehnsüchten mit allen Folgen erzwungener Vereinsamung. Er ist da, aber seine Liebe lebt nur in der heimlichen Vorstellung des Sohnes.

Was bringt es, davon zu sprechen oder zu schreiben? Jeder Schriftsteller, jeder Seelsorger, jeder Psychotherapeut weiß von der befreienden Wirkung des Wortes und der Begegnung zwischen Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben und im Austausch miteinander die Einsamkeit überwinden. Einige der hier beteiligten Männer berichten von den schmerzhaften, aber letztlich bereichernden Versuchen, die Vaterlosigkeit endlich in Worte zu fassen. Oder Schicksalsgenossen zu begegnen. Solche Begegnungen haben auf Tagungen zum Thema stattgefunden; viele Kontakte zu Betroffenen, die an diesem Buch mitgewirkt haben, gehen auf diese Begegnungen zurück.

Es geht in diesen Texten um vorsichtige Annäherungen an die eigenen Gefühle, durch Erinnern und Erzählen. Und um Fragen, die alle angehen: In welchen Erfahrungsräumen, durch welche Kräfte erhielt der vaterlose Sohn Orientierung? Wer half ihm (stellvertretend) die notwendigen Grenzsetzungen zu erkennen, die Leere zu füllen; wer hat ihn den Ordnungssinn gelehrt, ohne den männlicher Mut zu Übermut wird? Auf diese und andere Fragen antworten vierzig betroffene Männer. Sie versuchen die vorsichtige Annäherung an Kindheitsgefühle, die Auslotung der Kräfte, die schlecht oder recht zum Überleben halfen. Sie schrieben auf der Grundlage eines Fragebogens, der von Hartmut Radebold formuliert und von Jürgen Reulecke und Hermann Schulz ergänzt wurde.

Die Autoren einigten sich auf zehn Fragenkomplexe (mit einigen weiterführenden Fragen), die mehr oder weniger wörtlich den Kapiteln des Buches vorangestellt sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass weder die Fragen noch die Antworten in allen Fällen scharf abgegrenzt formuliert wurden. In zehn Kapiteln haben die Autoren diese Erinnerungsgeschichten geordnet – soweit Erinnerungen vorhanden sind. In allen diesen Schicksalen wurde die Familiennormalität durch den Tod des Vaters im Krieg gewaltsam beendet oder durch Kriegsgefangenschaft für lange Zeit unterbrochen. Die Beschäftigung mit den kindlichen Lebensabschnitten, oft Jahrzehnte lang verdrängt und von der Gesellschaft ausgeklammert als bedeutungslose Altlast, ist eine notwendige Auseinandersetzung mit einem Teil unserer Geschichte: mit der Zeit des Krieges und der Nachkriegszeit, mit der Persönlichkeit des Vaters, wie sie dem Sohn vermittelt wurde, wie er ihn sich wünschte, wie dieser Mann vielleicht gar nicht gewesen ist. Die Lebensstrategien, dem vaterlosen und damit amputierten Leben endlich deutlichere Konturen zu geben, und vielleicht tiefer liegende Schichten der Existenz zu erkennen, sind zahlreich.

Die Väter, von denen hier die Rede ist, wurden nicht zu solchen Vätern, denen die Söhne im Laufe des Lebens eine Absage erteilen können, an denen sie sich reiben oder denen sie begeistert folgen. Solchen Söhnen hat es das Schicksal verweigert, in der Auseinandersetzung, im Messen der Kräfte und der Charaktere, mit ihrer Persönlichkeit vor den Augen und vor der Seele solch eine Entscheidung zu treffen: Niemals will ich so werden wie er; oder: Ja, so ähnlich möchte ich werden! Oft ist von übrig gebliebenen Fotos die Rede, häufig letzte Aufnahmen in Soldatenuniform. Sie helfen zwar weiter, provozieren aber auch unausgesprochene Grübeleien und hilflose Spekulationen: Nein, so war er nicht! Er war so wie ich! So hat er nicht ausgesehen! So erkenne ich ihn nicht!

Suche auf Bildern, bis sie vor den Augen verschwimmen. Suche nach den eigenen Verankerungen in den Familiengeschichten, aus denen er sich verabschiedet hat; unausgesprochene hilflose Wut auf ihn, die Trauer überdeckend. Warum ist er nicht geblieben? Wie hätte das Leben mit ihm sein können? Dann aber auch Zweifel, ob ein Leben mit ihm wirklich besser gewesen wäre. Die Berichte enthalten ja auch Drohbilder, vermittelt von der Familie oder durch Hochrechnungen aus seinen Funktionen im Naziregime. Aber darum geht es nicht: Sicher ist, dass das Leben anders gewesen wäre. Auf die meisten Fragen gibt es keine schlüssigen Antworten, allenfalls mühsame Versuche, sie doch noch zu finden. Vielleicht fallen sie auch deshalb so schwer (und kommen so spät), weil diese Väter Beteiligte des von Nazi-Deutschland begonnenen Krieges waren. Kann aber ein Kind, das den Verlust tragen musste, das begreifen?

Durch den frühen Tod des Vaters und die mageren Erinnerungen bleiben nicht nur Fragen unbeantwortet, sondern sind auch Möglichkeiten grundlegender Lebenserfahrungen verbaut. Das Bewusstsein davon wird von den Familien in einem Reflex von Selbstschutz oft verweigert.

Die Gesprächspartner dieses Buches, ausnahmslos Betroffene, finden für ihr dramatisches Schicksal meist sachliche und undramatische Worte. Ihr Schicksal haben sie mit vielen ihrer Altersgruppe, der »Kriegskindergeneration« des Zweiten Weltkrieges, gemeinsam. Es ist auffallend, wie spät erst sich diese Generation als Betroffene, als Opfer des Dritten Reiches, des Krieges, der deutschen Geschichte, zu Wort meldet. Sie tut dies meist ohne spektakuläre Emotionen oder sentimentale Schwafelei. Allerdings sind Zweifel angebracht, ob die Sachlichkeit, mit der die meisten ihre Lebensgeschichten in diesem Buch zu Papier bringen (oder in Gesprächen äußerten), nicht täuscht, ob sich dahinter nicht ängstlich das streng gehütete Leid ihrer Kindheit verbirgt. Nicht überall kann es sich lautstark und deutlich zu Wort melden, manche stocken bei dem Versuch, es zu formulieren. Acht von den Angesprochenen haben schriftlich oder mündlich die Teilnahme an diesem Buch mit der Begründung abgelehnt, die Beschäftigung mit ihrer Vaterlosigkeit sei ihnen zu schmerzhaft. Der gleiche Schmerz steht unausgesprochen zwischen den sachlichen und manchmal auch leidenschaftlichen Zeilen der Lebensberichte. Das kann man kaum übersehen. Es sind halbierte Erinnerungen, halbierte Lebenskonzepte. Hinter jedem Bericht verbirgt sich ein eigenes Drama.

Die drei Autoren des vorliegenden Buches haben sich bewusst auf die »Kriegsgeneration« beschränkt, um das schwierige Thema Vaterlosigkeit einzugrenzen und damit besser erkennbar zu machen. Sie trafen diese Entscheidung mit Blick auf ihre eigenen Schicksale und die vieler Männer, die in den ersten zwei Lebensdritteln schwiegen und für deren Vaterlosigkeit sich auch niemand interessierte. Es gab noch weitere Gründe für die Beschränkung: Hier wird trotz einiger neuerer Veröffentlichungen (siehe Literaturverzeichnis) Neuland betreten; die Betroffenen sind häufig heute erst bereit und in der Lage, über ihre Befindlichkeit, ihr Schicksal zu reden oder zu schreiben. Dass die meisten Autoren dieser Lebensberichte aus akademischen Berufen kommen, ist ja nicht zufällig; sie verfügen leichter über das sprachliche und analytische Handwerkszeug, sich dem Thema zu nähern.

Die Autoren haben in den Jahren 2001 bis 2003 drei Tagungen in Iserlohn und Schwerte gemeinsam mit der »Männerarbeit im Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen« zum Thema Kriegskindheit und Vaterlosigkeit initiiert und durchgeführt und wissen daher von den Problemen und Auffälligkeiten, die diese Generation (und sie selbst als Betroffene) umtreibt. Frühe Verlusterfahrung des Vaters verursacht dauerhafte Verhaltensstile, die von den Betroffenen oft nicht wahrgenommen werden – wohl aber von Ehepartnern, Lebensgefährtinnen und Kindern. Einige dieser Angehörigen kommen in diesem Buch im elften Kapitel zu Wort; ihre anonym wiedergegebenen Erfahrungen von »Auffälligkeiten« zeigen, dass die Beziehungen oft extrem belastet gewesen sind durch die frühen Traumatisierungen. Für die Betroffenen ist es vielleicht manchmal bitter, diese Beobachtungen der nächsten Angehörigen zur Kenntnis nehmen zu müssen. Die Aussage von der »inneren Abwesenheit« dieser Väter und Ehemänner überwiegt in einem erschreckenden Maße. Die verblüffend häufig genannte »frühe Selbstständigkeit« der Befragten kann letztlich über die eigentlichen Probleme nicht hinwegtäuschen: die Einsamkeit, den Zweifel an eigener Liebesfähigkeit, das hilflose Retuschieren des Vaterbildes, die unablässige Suche nach der eigenen Identität.

Beansprucht hier eine scheinbar marginale Gruppe (die Statistik nennt 2,5 Millionen deutsche Kriegswaisen) sechzig Jahre nach Ende des Krieges »Opferstatus«? Darum kann es nicht gehen. Die frühen Erfahrungen entfalten ihre Wirksamkeit bis in die Gegenwart und können nicht durch Delegationsprozesse aufgehoben werden, auch wenn das Geschehen und die Folgen rational nicht leicht erfassbar sind. Deshalb ist es gut, dass in diesem Buch erzählt wird; nur so wird die Vielschichtigkeit deutlicher, nur so kann Erleben fruchtbar vermittelt werden. Im Kapitel »Lebenslange Suche und Erinnerungen« finden sich zwei Texte (von Otto Schricker und Lutz Niethammer), die weiter ausgreifen und in Gestalt von Geschichten Vergangenheit und Gegenwart lebendig machen. Im Kapitel »Vorbilder und Kompensationen« haben wir eine Geschichte von Diethart Kerbs aufgenommen, die anrührend und erschreckend zugleich die Folgen soldatisch-deutscher Erziehung in einem Kinderleben zeigt. Wir haben diese Texte aufgenommen, weil auch sie von der »lebenslangen Suche« zeugen und im direkten Kontext zum Thema dieses Buches stehen.

Einige der Gesprächspartner lieferten für das Buch kurze Stichworte, andere lange Lebensberichte. Die Autoren mussten sich für eine Konzeption entscheiden und bieten die rund 250 Textbausteine thematisch geordnet an. Es ist bedauerlich, dass nicht alle Texte in voller Länge aufgenommen werden konnten (allein der Umfang hätte den Rahmen eines Buches gesprengt). Den Autoren schien es für Leserinnen und Leser hilfreicher zu sein, die Kernaussagen nach Themen geordnet lesen zu können, auch wenn dadurch die Lebensgeschichten in ihren Zusammenhängen meist verloren gehen. Jeder Benutzer des Buches hat aber die Möglichkeit, in den einzelnen Kapiteln die Spuren der Betroffenen zu verfolgen. Aus persönlichen Gründen haben sich einige von ihnen entschieden, ihre Aussagen anonym mitzuteilen. Solche Texte sind jeweils am Schluss mit einem Vornamen oder einem Kürzel versehen.

Die drei Autoren haben sich über ihre im Jahr 2000 erschienenen, sehr unterschiedlichen Bücher zu Vätern und Vaterlosigkeit kennen gelernt (siehe Literaturverzeichnis). Das vorliegende Buch entstand mit dem gemeinsamen Ziel, das Thema in möglichst vielen Aspekten und durch Informationen über den Stand der Forschung für ein breites Publikum, für direkt Betroffene und sensibilisierte Zeitgenossen ein Stück sichtbarer zu machen.

Dezember 2003

Hermann Schulz Hartmut Radebold Jürgen Reulecke

Beschädigte Kindheiten – beschädigtes Leben

Hermann Schulz

Gemeinsam mit Hartmut Radebold und Jürgen Reulecke

Der türkische Autor Orhan Pamuk überschrieb einen Essay über seinen Vater mit der provozierenden Zeile: »Der Tod jedes Mannes beginnt mit dem Tode seines Erzeugers.« Er hängt in seinem Text Träumen und Enttäuschungen nach. So heftig er seinen Vater auch kritisiert (bis zur Verächtlichmachung, mühsam die Scham verbergend), so deutlich sieht er in ihm zugleich die Quelle für seine eigene Sicherheit, mit der er (zum Beispiel) Schriftsteller wurde.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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