Sole - Serafinia Gabrielli - E-Book

Sole E-Book

Serafinia Gabrielli

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Beschreibung

Auf ihrer Suche nach einer neuen Liebe muss die junge, neapolitanische Witwe Sole unfreiwillig lernen, wie es sich mit herabregnenden Zurückweisungen vortrefflich jonglieren lässt. Verschrobene Charaktere tauchen durch ein Meer aus Emotionen, bis sie bei Sole stranden. Serafinia Gabrielli hüllt die Bürde, einen geliebten Menschen zu verlieren, in eine poetische Patchworkdecke aus Liebe, Humor und feiner Ironie. Mit erfrischendem Sprachwitz gestattet sie der Vergangenheit so, behutsam die Zukunft zu umarmen.

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Serafinia Gabrielli

S O L E1

Ein magischtragischer

Liebesroman

1 Sole, wie die italienische Sonne. Nicht wie Sole, die Salzlösung

Sämtliche Personen und Inhalte sind frei erfunden, und jede etwaige Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig.

eISBN 978-3-948987-90-9

Copyright © 2023 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Guido Klütsch, Köln

Folgen Sie der Autorin auf Instagram: Serafinia.Gabrielli

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

In Erinnerung an Dich, mein geliebter John,

ewig geliebt, niemals vergessen.

Verabredet in der Ewigkeit

Inhalt

Charaktere in Soles Universum

Prolog

Sole

Epilog

Charaktere in Soles Universum

Sole Celeste, auch genannt Schleifenbandmädchen oder Solebaby

28 Jahre jung, verwitwet, 181,5 cm groß, 55,5 Kilo leicht, schwarze Locken, schwarzbraune Augen, lustige Segelohren, gebürtige Neapolitanerin, Lieblingshobbys: Märchen schreiben, die ihren Weg in die Wirklichkeit finden und – naturalmente – Fischgedichte, Sterndeuterei, Löwenzahn Bertram, Pirouetten drehen, Chamäleon Robert Redford.

John Morton

Soles geliebter, im Alter von 48 Jahren verstorbener Ehemann, gebürtiger Norweger, Waise, keine Geschwister, kinderlos, Samuels Cousin 3. Grades, ehemaliger erfolgreicher Auktionator für Antiquitäten.

Fürchtegott Dot

63 Jahre alt, 1,74 m groß, Gewicht wird nicht verraten, braune Augen, ¾-Glatze mit Resten von abstehenden, roten Haarbüscheln, gebürtiger Brite, Liverpooler Waisenjunge, Schlafforscher und ehemaliger Nervenarzt eines Militärkrankenhauses. Mr. Dot spricht von sich selbst gern in der dritten Person. Das erlaubt ihm, innerlich auf Distanz zu gehen. Lieblingshobbys: Das Studium von Hypnos, dem Gott des Schlafes, Rollschuhlaufen im Bredstedter Kreisverkehr und Löwenzahn Pluto.

Gertrud Dot, auch genannt Trudchen oder Trudilein

50 Jahre alt, 1,54 m groß, 70 Kilo schwer, grünbraune Augen, kurze, erdbeerrote Haare, gebürtige Sibirierin, Tanzpädagogin, begeisterte Pokerspielerin, Fürchtegotts Eheweib.

Owen und Connor Dot

14 Jahre junge Zwillingssöhne von Fürchtegott und Gertrud, gebürtige Nordfriesen.

Samuel Artamo Oeuf, auch genannt Flobbie, Babysitter oder Solesitter

44 Jahre jung, 1,96 m groß, bald 100 Kilo schwer, glockenblumenblaue Augen, Vollbart, schwarze, drahtige Haare, graumelierte Schläfen, gebürtiger Franzose, himmlisch attraktiver Universitätsprofessor für Verlags-, Vertragsrecht, langzeitverlobt mit Imogen, kinderlos, Johns Cousin 3. Grades. Lieblingshobbys: Paragraphen, sein Segelflugzeug Orville und das Kleben von Hochzeitsanzeigen ins Poesiealbum.

Imogen Frileux

42 Jahre jung, 1,78 m groß, 64 Kilo leicht, hüftlange, weißblonde Haare, katzengrüne Augen, gebürtige Französin, langzeitverlobt mit Flobbie, sportlich durchtrainiertes, bildschönes, ehemaliges Supermodel, Tierärztin, kinderlos, dafür reich an Katzen.

Fiorino Handsome, auch genannt Numero 3 oder der Rochen

53 Jahre alt, 1,84 m groß, 62 Kilo leicht, goldige, blonde Löckchen, braune Augen, selbständiger Florist, gebürtiger Ostfriese, kinderlos.

Mr. Clumsy

1 Jahr jung, eine Handvoll groß, ein Leichtgewicht, gebürtiger Nordfriese, Kriegsveteran, Fiorinos Wellensittich.

Robert Redford

4 Jahre junger, gebürtiger Ostfriese, rheumageplagt, Soles Chamäleon. Robert Redford zeigt sich interessiert an Psychologie und liebt es, den menschlichen Charakter zu studieren. Er ist ein Geschenk von Samuel Oeuf.

***

Wenn ein wenig Träumerei

gefährlich ist, so hilft dagegen

nicht weniger Träumerei,

sondern mehr, der ganze Traum.

Marcel Proust

Prolog

Liebe Mylady,

lieber Sir,

ach du liebe Zeit, was für eine holprige Ouvertüre! Verbale Kommunikation liegt mir offensichtlich nicht besonders. Trotzdem möchte ich mich Ihnen anvertrauen. Meine Lovestory ist nämlich zum Sterben schön. Yes, sehr berührend. Zweifellos wird sie eine Ihrer Herzkammern touchieren, wenn nicht sogar Ihr gesamtes muskuläres Hohlorgan. Oh my God, ich benötige dringend Ihre Hilfe!

Gestatten Sie mir, mich Ihnen vorzustellen (hierzu lüfte ich ehrerbietig meinen Bowler): Mein Familienname lautet Dot. Wie die erste Silbe der vom Eiweiß umgebenen gelben, kugeligen Masse Ihres Frühstückseis. Bekanntlich ist der Dotter ja das Gelbe vom Ei. Das möchte ich von mir nun nicht gerade behaupten. Mein Taufname macht es nicht besser, der lautet Fürchtegott! Mein Undank hierfür verfolgt eine rührselige Nonne; jene aus meinem allerersten Waisenhaus, die sich während der Nachwehen des Zweiten Weltkrieges unbedingt in einen deutschen Soldaten gleichen Vornamens verlieben musste. Yeah! Oops, irgendwo tief in mir bin ich wohl noch der Gassenjunge aus Liverpool geblieben, the real guttersnipe.

Wie dem auch sei. 63 Jahre lang erkundete ich diese merkwürdige Erde, sowohl körperlich als auch seelisch betrachtet in einem recht zufriedenstellenden Erhaltungszustand. Im Kellergeschoss meines Unterbewusstseins unterjochte ich verwesende, philanthropische Charakterzüge, und an den Dienstagen lief ich hingebungsvoll Rollschuh. Zu diesem schonungslosen Geständnis wurde ich mitnichten gezwungen. Haben nicht auch Sie Ihren Hobbykeller?

Verheiratet mit einer Tanzpädagogin, die das Naturell eines von jeder Magie unbehelligten Zauberwürfels besaß: quadratisch, abwischbar, vorhersehbar, war ich enorm stolz auf meine Fähigkeit, Gefühle vorzugsweise zu denken. Dysfunktionalen Gedanken zog ich ohne Umschweife isolierende Regenmäntelchen über. Lästige Träume, die heimtückischerweise ordinäre Sehnsüchte und romantische Hoffnungen im Handgepäck mit sich herumschleppten, deutete ich rigoros um. Mit wohl durchdachten Schritten spazierte ich durch mein Leben, wie es sich für einen rational denkenden Menschen nicht anders empfiehlt.

Mein Vorhaben, mir in Nordfriesland durch eine private Schlafschule – ich verehrte Hypnos, den Gott des Schlafes – ein Taschengeld hinzuzuverdienen, erwies sich als grob fahrlässig. Zu meinem Leidwesen durchkreuzte eine nimmermüde, wie ein Geschenk mit Schleifenbändern umwickelte Pyromanin namens Sole sämtliche bis zu meinem Lebensende detailliert ausgearbeiteten Zielvorstellungen. Sole tarnte sich als Schlafschülerin. Unerschrocken und haftender als jeder Sekundenkleber konfrontierte sie mich mit dem unberechenbaren Abenteuer, das sie Leben nennt und mit meiner allergrößten Furcht, der Liebe.

Well, die mädchenhafte, temperamentvolle, vom Leben arg gebeutelte Sole entführte also uns betagtere Herren (ich spreche jetzt auch für meine Leidensgenossen) durch ihre übersprudelnde Liebe und Verrücktheit in eine Art Parallelwelt. Spontan fällt mir hierzu eine aufgepeppte Melange aus den Bayreuther Festspielen, der Schmierenkomödie „My Fair Lady“ und Frankensteins Gruselkabinett ein. Natürlich fanden wir Nordlichter uns in Soles Welt überhaupt nicht zurecht.

Hofft irgendwer von Herzen, verehrte Leserin, verehrter Leser, dass es diesem langgezogenen Mädchen irgendwie gelingen möge, unser nüchternes, strukturiertes Leben umzukrempeln? Wenn möglich, noch bevor der Sargdeckel fällt? Sollten wir angegraute Herren uns von ihr zu einer bunteren, lebenswerteren Zukunft verführen lassen, mit allen Irrungen und Wirrungen, die die Liebe nun einmal mit sich bringt?

Puh (nicht Winnie-the-Pooh, schlichtergeifend Puh), nicht selten betete ich, Sole hätte dem charming girl mit den ständig leckenden Froschaugen aus meinem ehemaligen Sportunterricht geähnelt. Immer montags hatte little Dot diesem Geschöpf zuvorkommend eine großzügig bemessene Portion Juckpulver in die rosa Turnschühchen geschüttet. Darob pflegte es stets wie ein nordfriesisches Weideferkel aufzuquieken. Vielleicht hätte ich mich dann nicht von sämtlichen grauen Zellen verlassen in diese groschenheftgleiche Romanze gestürzt. Sowohl mir als auch meiner nichts Böses ahnenden Schlafschule widerfuhr auf verstörende Weise etwas wahrhaft Magischtragisches. Yes, Sole wurde zu meinem wunden Punkt.

Verantwortlich für weitere Turbulenzen in Soles und meinem Leben zeichnen ihr traditionsbewusster Babysitter Samuel Oeuf (von mir umgetauft auf Flobbie), ein französischer Intellektueller wie aus dem Professorenkatalog einer Eliteuniversität sowie der ewige Jüngling Fiorino Handsome, ein liebeskranker Florist aus Ostfriesland.

Hochachtungsvoll,

Ihr

Fürchtegott Dot

Öhrchen aufgesperrt! Dies ist Soles und unsere Geschichte …

S o l e

Fatalerweise traf mich neulich wie aus heiterem Himmel der Blitz. Potz Blitz, sozusagen. Erklärend sollte ich wohl hinzufügen, dass es sich hierbei nicht um eine simple Funkenentladung handelte, wie sie etwa bei einem kräftigen Gewitter erwartet werden darf. No (das übrigens ist ein italienisches Nein), es handelte sich um einen Blitz, der ein gänzlich unbekömmliches Gefühl in meiner Seele zurückließ und mein engelsreines Herz in Flammen setzte. Von nun an würde mein geordnetes Leben auf den Kopf gestellt werden. Ein Blitz demzufolge mit der Wirkung einer visionären Retardkapsel, wie ich sie in agileren Jahren zu gerne gegen nächtliches Herumgeistern erfunden hätte. Well, auch das hatte, wie so vieles andere in meinem Leben, nicht sollen sein. Hätte ein berückendes, Wünsche erfüllendes Wesen mich vor diesem schicksalhaften Ereignis doch bloß vor die Wahl gestellt. Ich hätte mich für den ordinären Blitzschlag entschieden und mein Ende als natürlichen Nachhall einer Naturgewalt hingenommen. Ohne viel Federlesens hätte ich mich diskret von dieser Welt verkrümelt. Aber leider hatte das Universum solch eine Abberufung für mich nicht vorgesehen.

Mein persönliches Waterloo machte mir seine Aufwartung an einem nur scheinbar gewöhnlichen Samstag. Des Wochentags heimtückische Tarnung sollte mir alsbald ganz gehörig um meine Lauscher fliegen. Nur einen Monat zuvor hätte ich diese Absurdität noch als Hokuspokus verspottet. Da leitete ich als Chefarzt die Nervenheilanstalt eines nordfriesischen Militärkrankenhauses. Dieses befand sich auf einer von französischen Barockgärten inspirierten Parkanlage. Bei deren Pflege war die Beherrschung der Natur oberstes Gebot. Sämtliche Ziersträucher und Magnolienbäumchen wurden geometrisch beschnitten in die Knie gezwungen. Hier durfte das medizinische Fachpersonal vorübergehend seinem strapaziösen Alltagstrott entfliehen und für ein halbes Stündlein Ludwig XIV. spielen. Nebenbei bemerkt, galt bereits damals meine Leidenschaft allein Hypnos und bedeutend weniger den Nervenleiden meiner Patienten. Allesamt leicht plemplem.

Sei es drum. In diesem Park also verbrachte ich in den vergangenen dreißig Jahren mein Mittagspäuschen, in welchem ich mich regelmäßig tapfer mit den Relikten der Natur konfrontierte. Hier ließ ich mich im Sommer von Admiralsfaltern bestaunen und verzehrte um Punkt 12:00 Uhr unter lebenserfahrenen Mammutbäumen liegend mein Lunchpaket. Dieses bestand aus zwei mit Stilton belegten, feuchtigkeitsarmen Schwarzbrotscheiben, die mit jeweils drei drollig beschnittenen Radieschen, zwei sterilisierten Petersilienröschen (ich verspürte enormen Respekt vor Keimen) und zwei gekochten Eiern belegt waren. Ei der Daus, weshalb nur verzichtete ich auf Butter? Routine jedenfalls liebte ich über alles, genau wie Eier. Begleitet wurde dieses zumeist bekömmliche Mahl von einer verschämt lächelnden Birne, die erbärmlich blasswangig auf ihrer faulenden Haut lag. Dieser friedliche Tagesverlauf sollte von nun an der goldenen Vergangenheit angehören.

Fortan marschierte ich als Frührentner meinem in Bälde erwarteten Lebensende entgegen. Der oberste General des Militärkrankenhauses, eine nervöse Type, hatte mich nach einigen, nicht weiter erwähnenswerten Vorfällen überhastet in den Ruhestand geschickt. Ein prüfender Blick auf meine vorsintflutliche Taschenuhr verfeinerte diese Feststellung: seit genau 240 Stunden! Null problemo, kein besorgniserregender Umstand, aber einer, der mir vorläufig jede Menge Müßiggang schenkte, den es zu strukturieren galt. Eine Woche lang hatte ich couragiert erprobt, jeden Tag, den mein kräftiges Herz mir gewährte, mit meiner Gemahlin und meinen unappetitlich vor sich hin pubertierenden Zwillingen Connor und Owen zuzubringen. Leider hatte ich mir eingestehen müssen, meiner Gattin selbst im an die Katakomben von London erinnernden Keller Schwierigkeiten zu bereiten. Im Dunkeln verfärbte ich ihre Wäsche rosarot und schrumpfte sämtliche ihrer zeltartigen blau-weiß-rot-gestreiften BHs im 90 Grad-Waschgang auf die gefälligere Körbchengröße 75 B zusammen.

Wohlan, nicht nur deshalb beschloss ich, mein breit gefächertes Wissen dem nach Erholung dürstenden Volk nicht länger vorzuenthalten. Unverzüglich stieg ich zum Direktor meines mittelständischen Ein-Mann-Unternehmens empor. Fortan würde ich mich bereit erklären, schlaflosen Menschen zu einer streng durchgetakteten Nachtruhe zu verhelfen. Endlich war ich Schlafforscher. Yippee!

Als Schlafforscher war Mr. Dot die zumeist schlichte Natur des Homo sapiens vertrauter als ihm lieb war. Übrigens mochte ich es, gelegentlich von mir in der dritten Person zu sprechen. Dies wirkte so kleidsam distinguiert. Meine Gattin hingegen vergoss bei solch einer geschliffenen Sprechweise schadenfroh die Aura der Überkandidelten über mein Haupt: „Du klingst wie des Kaisers Perle2“. Die Quelle ihres Naturells war von nassforscher Manier.

Auf gelegentliche Nachfrage, warum ich denn keine Unterhaltungsliteratur läse, pflegte ich höhnisch zu antworten, dass meine Patienten mir Dramen jedweder Couleur mit deutlich mehr Engagement präsentierten, als sich diese in trivialen Romanen ereignen mochten. Hierzu fielen mir etliche griechische Tragödien ein. Dear me, oje, wie war ich mir sicher, dass mich nichts mehr schockieren könne. Mr. Dot und ich hatten nicht den blassesten Schimmer! Wir tapsten unbedarfter durchs Leben als um den Maibaum herumtollende nordfriesische Salzlämmchen!

Ich richtete mich also im Dachstübchen des Tanzstudios meiner Frau Gemahlin spartanisch ein, genauer gesagt in Rainbüll. Wo dieser hübsche Ort liegt? Na, im vom Regen verwöhnten Nordfriesland. Ich hegte die optimistische Vorstellung, ihr hier nun wirklich nicht auf die Nerven treten zu können. Über mir gab es nichts als gurrende Täubchen, die im Gebälk seit Jahrhunderten vor sich hinbrüteten. Anfangs pflegte mich vor Dienstantritt ein sich aufplusternder Ringeltäuberich hochmütig seiner Musterung zu unterziehen. Alsbald schon pflichtete er mir allerdings herablassend bei, das Taubengrau meines Pullunders harmoniere ausgezeichnet mit der Raffinesse seines Gefieders. Zwischen all dem längst vergessenen Sperrmüll störte ich niemanden. Mich hingegen konsternierte erheblich der penetrante Geruch geschmorter Schweinebäckchen. Das Fleischereifachgeschäft im Tiefparterre passte meinem ästhetischen Empfinden nach weder zu einem Tanzstudio noch zu einer Schlafschule. Meine Gemahlin dagegen schwärmte mit glänzenden Augen von der Heiligen Dreifaltigkeit, die sie offensichtlich fehlinterpretierte. Sie huldigte dem schnöden Mammon.

Schließlich war es soweit! Die Premiere humpelte zur Tür herein. Patientin number one, ein greisenhaftes Mütterlein mit prosperierendem Oberlippenbärtchen bedurfte meiner vollen Aufmerksamkeit. Da sich zwischen mir und ihrer wie das Meer wogenden Oberweite mein honoriger Schreibtisch befand, fühlte ich mich ausreichend geschützt und diagnostizierte recht wortgewandt drauflos. Nach der dritten Konsultation dösten das vom Übungspensum überwältigte Mütterlein und meine Wenigkeit wie die Flamingos im Stehen. Zusätzlich war ich um ein geringes Salär sowie die Erkenntnis reicher, dass ich auch im reiferen Alter durchaus noch einem Verwendungszweck zuzuführen war.

Der Samstag meldete sich bereit zum Dienst. Ich ernannte ihn zu meinem unverrückbaren Arbeitstag. Flexibilität hielt ich für überbewertet. Am Freitag huschte ich über den Glücksburger Wochenmarkt. Ich erfeilschte mir Knollensellerie, Erdäpfel, Hühnchenknochen und Plums. Pflaumen waren einfach unerlässlich für meine reibungslose Verdauung. Aus Rücksicht auf Ihr Schamgefühl möchte ich nicht zu den Details vordringen. Tatsächlich waren sämtliche Zutaten unverzichtbar für meine ureigene Kreation eines nahrhaften nordfriesischen Hühnersüppchens. Am Sonntag erholte ich mich vom Samstag und den Rest der Woche vertiefte ich meine spitze Gelehrtennase in Fachliteratur über den Schlaf, bis zum nächsten Samstag. Alternativ ließ ich den Mittelpunkt meines Gesichtszentrums (Sir, ich moppelte unheimlich gerne doppelt) die Luft am Waldesrand genießen, wo zumeist zwei hochmütige Höckerschwäne meine mitgebrachten trockenen Rundstücke animalisch begrüßten. Ugh, sie würgten meine milden Gaben herunter, ohne mir selbst Beachtung zu schenken. Diese undankbaren Piepmätze hätten mir, mit Verlaub, piepegal sein sollen.

Am 14. August ereilte mich um Punkt 09:00 Uhr das Hilfegesuch eines verzweifelten Berufsgenossen, der mir eine Bittstellerin an den Herzmuskel legte, die bereits seit mehr als einem Jahrzehnt schlaflos herumwandelte. Seine Worte rührten mich zum Gähnen. Trotzdem kam ich der Petition meines grünschnäbligen Kollegen nach und betrachtete die neue Schlafschülerin als eine weitere samstägliche Herausforderung, die ich entschlossen annahm.

Derweil pirschte sich auf Zehenspitzen der 28. August an mich heran. Jener 28. August, der mein Leben gehörig durcheinanderwirbeln sollte. Für mich begann dieser Tag in der örtlichen Badeanstalt. „Moin, Moin“, begrüßte ich ihn arglos. Sodann widmete ich mich konzentriert meinen erfrischenden Leibesübungen. Deren Höhepunkt bildeten vier Bahnen im aufsehenerregenden Kraulstil zuzüglich der allseits gefürchteten Rollwende. Als Vorspiel rollte ich mich hierbei heimlich wie ein Rollmops zusammen. Keine zwei Sekündchen später stieß ich mich kraftvoll vom Beckenrand ab, indes ich mit meinen Gehwerkzeugen energisch vom selbigen abrutschte. Autsch! Wissbegierigen Applaudierenden erklärte ich nachsichtig, das humorige Wort Rollmops sei bis in die Biedermeierzeit stalkbar. Zur Biedermeierzeit war den feinen Pinkeln die frappierende Ähnlichkeit zum vermutlich aus dem Kaiserreich China herbeigereisten Mops erstmalig verbrieft aufgefallen.

Jedoch, ich schweife ab. Trotz oder gerade wegen meiner ausgeprägten O-Beine galt ich als ein beachtlicher Schwimmer. Ich befürwortete diese belebende Ertüchtigung als notwendiges Übel, um biegsam wie eine Trauerweide zu bleiben. Den anderen, ohne Niveau herum planschenden Badegästen war ich aufgrund meines knöpfchenhaften Köpfchens, der langen Gliedmaßen und der alles gründlich ins Visier nehmenden Äuglein als britischer Vogelstrauß vertraut. Selbst wenn ich offiziell von diesem Kosenamen gewusst hätte, wäre mein ruhiges Blut dadurch nicht weiter in Wallung versetzt worden. Ich ließ selbst die Ostfriesen in Ruhe, wenn sie mir die meine nicht raubten.

Am jungen Nachmittag sprang ich in geradezu aufgeräumter Stimmung die weiß lackierten Treppen zum Dachgeschoss hinauf. Hopphopp. In meinem neuen Refugium setzte ich mich auf einen wenig vertrauenerweckenden, von Mrs. Dot zusammengebastelten Stuhl hinter meinen Schreibtisch. Ich wartete auf die angekündigte young lady, welche um Punkt 14:00 Uhr zu erscheinen hatte. 15 ½ Minuten fasste ich mich in Geduld. Ich klopfte mit meinem linken Zeigefinger taktlos auf meinem eigenhändig aus Treibholz und den Planken eines havarierten Schiffes gezimmerten Schreibtisch herum. Dieses Holz hatte total unmotiviert am Nordseestrand vor sich hingedämmert, bis ich es errettet hatte. Um mir selbst die Wartezeit ein wenig angenehmer zu gestalten, schaltete ich mein gebrechliches Radio ein. Entnervt suchte ich nach klassischer Musik. Irgendetwas schien mit dem Gerät jedoch nicht mehr in Ordnung zu sein. Stur beharrte es auf einem Sender, der fremdländische Klänge von sich gab, die bei mir eine Gänsehaut hervorriefen, auf die jeder Ganter neidisch würde. Pausenlos verkündete eine teuflisch klingende Stimme „Attenzione, attenzione, fulmine e tuono3“.

Unterdessen verdunkelte es sich schlagartig vor meinem mit Sprossen verzierten Holzfenster. Ein Wetterumschwung schien sich ankündigen zu wollen. Der grobschlächtige Donner blaffte mich zähnefletschend an wie der böse Wolf das hilflose Rapunzel. No Sir, nicht der Feldsalat, die flachsfarbene Maid aus dem Märchen. Gleichzeitig wurde ich Ohrenzeuge eines lebhaften Wortwechsels, welcher unmöglich von den tatterigen, tanzenden Zöglingen meiner Frau herrühren konnte. Und richtig, wenig später klopfte es an die Tür zum Dachkämmerchen. Die einbestellte Maid samt ihrem Vater betraten mein Reich. Der Vater stellte sich souverän als ihr Ehemann John Morton vor und ließ mich sodann mit seiner mädchenhaften Frau alleine. Immerhin nicht ohne das Versprechen, diese pünktlich um 15:00 Uhr wieder in Gewahrsam zu nehmen. Seine Zusage ließ mich einen Silberstreif am Horizont nur erahnen.

„Ahoi! Och, was für eine gediegene Puppenstube! Bellissima4!“, platzte meine Patientin mit erstaunlich durchdringendem Stimmchen in die angespannte Stille hinein. Ausgiebig bewunderte sie mein eigenwillig möbliertes Sprechzimmer. Ich räusperte mich und feilte an einer brillierenden Ouvertüre. Penibel kostete ich die Wörter vor: „Shush! Nicht so laut! Ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, dass meine Gemahlin unter uns F-ü-ß-e tanzen lässt!“ Mit diesem in besorgtem Tonfall hervorgewürgten Tadel hieß ich SIE willkommen. Ich hörte mich so aufgeweckt an wie ein Mausoleum, das zu lamentieren anfängt. „Wie aufmerksam! Grazie mille, danke. Ich bin mit meinen Füßen eigentlich recht zufrieden!“ Diese wohlwollende Erwiderung trällerte meine Patientin wie ein übergeschnappter Singvogel vor sich hin. Zeitgleich drehte sie, versonnen ihre Füßlein betrachtend, eine Pirouette. Damit machte sie mich vorübergehend sprachlos.

Mit aufgeklapptem Mund staunte ich wenig schmeichelhaft vor mich hin. Ich spürte, wie sich meine Gesichtszüge verhärteten. Das mädchenhafte Ding nahm anmutig Platz und fing wie ein Wasserfall zu plappern an. Mir plätscherte der verschämt tropfende Wasserhahn aus dem Bad in den Sinn. Hätte sie doch nur dessen Gemütsart besessen. Sie trug einen mich an Stiefmütterchen gemahnenden, violetten Albtraum aus mehrlagigem Tüll! Nie zuvor in meinem Leben war mir solch ein nervtötendes, verkümmertes Geschöpf zugemutet worden. Vorlage und Inspiration für ihre Kriegsbemalung war ziemlich offensichtlich Otfried Preußlers kleines Gespenst. Solch eine Gesichtsfarbe stellt Mutter Natur ohne Zauberei niemals auf die Beine. Bei genauerer Inspektion bemerkte ich, dass das Geschöpf entgegen meinem ersten Eindruck weder besonders blühend noch außergewöhnlich kleinwüchsig war. Es maß gute 181,5 cm, wie es mir im Laufe der Stunden glaubhaft versicherte.

Mr. Dot – die dritte Person Singular ermöglichte es mir, innerlich etwas auf Distanz zu gehen – fühlte sich schwindelig, so als reite er auf einem übermütigen Karussellpferdchen. Das magere Nervenbündel vermochte einfach nicht still dazusitzen.

Mein schlafloser Neuzugang gehorchte auf den überirdischen Namen Sole. Ich brauchte mir gar nicht erst die Mühe zu machen, ihr beschwichtigend zu versichern, ich wisse durchaus, was dieser zu bedeuten habe. No Mylady, schon erklärte sie mir, die Hände durch die Luft wirbelnd, ihr Name käme aus Neapel und verspräche Sonne. Spätestens dieses Omen hätte mich alarmieren müssen. Sonne hatte ich noch nie gut vertragen. Stets bevorzugte ich ein schattiges Plätzchen. Ich schaltete auf Durchzug. Wie ein Ertrinkender den Rettungsreifen, behielt ich meine Taschenuhr fest im Blick. Um nichts auf der Welt durfte ich Soles Übergabezeitpunkt verpassen.

Selbst während einer Narkoseeinleitung unter Propofol hätte Sole mehr Temperament versprüht als meine pubertierenden Söhne bei ihren Rettungsschwimmerlehrgängen auf dem Adriatischen Meer. Dies schien so sicher wie das Amen in der Alten Pellwormer Kirche. In den erschöpfendsten siebenundsechzig Minuten meines Lebens musste ich mich mit dem Lebenslauf dieser lästigen Person bis ins verborgenste Detail auseinandersetzen. Ihr Mann John litt an Kehlkopfkrebs, sie nicht. Dafür vermochte dieser den Umständen entsprechend ausreichend zu schlafen, sie nicht. Ihr rührseliges Geschichtlein ließ mich unberührt. Ich selbst tat mir leid. So vereinbarte ich aufgrund einer frei erflunkerten Geschäftsreise nach Neufundland, welche hilfsbereit versprach, wie Tante Albertas Hinterteil auszuufern, kein weiteres Rendezvous. Diese Abfuhr ließ Sole andächtig innehalten, von den Stoffstreifen, die sie wohl mangels eines Haarreifs um ihr Köpfchen gewickelt hatte, bis hin zu ihren Fußspitzen, die mit der nächsten Pirouette liebäugelten. „Och nö, jammerschade, tesorino5, da gibt es nicht die kleinste Eisenbahn. Mir gefallen Eisenbahnen, töff, töff!“, lauteten ihre mich aufwühlenden, geografiekundigen Abschiedsworte. 181,5 cm groß und mindestens doppelt so nervig? Das ist Sole!

*

Hintennach fühlte ich mich seltsam: überdreht und erschöpft zugleich. Ich war erleichtert, dass meine Gemahlin mich weitestgehend in Ruhe ließ. Gertrud erschien mir zu diesem speziellen Zeitpunkt überraschend angenehm. Sie war zuverlässig, vernünftig und zudem regelrecht tüchtig, wenn es um Steuererklärungen oder Reparaturen im Haushalt ging. Besonders das Hantieren mit gefährlichen, elektrischen Geräten krönte ihre Fähigkeiten. Gelegentlich fiel mir ein, wie ich bei unserer ersten Begegnung im Sanitärbereich des hiesigen Baumarktes fasziniert an einen misslungenen Zauberwürfel, unbefleckt von jeder Magie, gedacht hatte: quadratisch, abwischbar und irgendwie … vorhersehbar. Völlig ohne Überraschungsmoment. Mr. Dot und ich verabscheuten Überraschungen.

Als Schlafforscher verbrachte ich die nachfolgende Neumondnacht konsequent wachliegend. Mein Herz sprang auf und ab, wie ein tollwütiger Tischtennisball: Ping, Pong, Ping … die Fortsetzung können Sie sich wohl denken. Wieder und wieder schlug dieser brutal auf einem mir unbekannten Gefühl auf. Vermutlich zeichnete der Milchkaffee vom Vormittag dafür verantwortlich. In den frühen Morgenstunden fantasierte ich. Allenthalben blickte ich in schwarze, Unheil verkündende Augen. Und als wäre dies nicht überspannt genug, erklang vom Watt her Dean Martin, der mir anzüglich, in einer schaurig kieksenden Tonlage, sein Liedchen über Neapel ins Ohr schrie. Ich fühlte mich indisponiert und war felsenfest überzeugt, an Fieber zu leiden.

Drei Wochen später erklärte eine grausame Himmelsmacht mit morbidem Sinn für Humor Sole Celeste zu meiner mir anvertrauten Schlafschülerin. Diesen Umstand, den ich bei jedem anderen Mediziner als einen Akt der Nächstenliebe …, no Sir, als einen Akt geistiger Umnachtung bezeichnet hätte, erklärte ich mir wie folgt: Mein ambitionierter Schlafunterricht stieß auf verwirrend geringe Nachfrage. Lediglich wenige in Trachten gekleidete Nordfriesinnen vereinbarten gelegentlich einen Termin. Nach diesem roch es dann rundherum nach verblühenden Maiglöckchen. Ich misstraute dieser Giftpflanze. Als rational denkender Brite kam ich nicht umhin, mir einzugestehen, dass Sole die einzige lernwillige Schülerin weit und breit war. Zweifelsohne war sie geistig unterbelichtet und entsetzlich durch den Wind. Dennoch wussten sowohl sie als auch ihr Ehemann John meinen Support zu schätzen. Ich war kein Unmensch, darum ließ ich mich herab, sie zu behandeln. An eine Heilung war vorerst nicht zu denken. Den antiken Schwur des Hippokrates nicht zu brechen, erschwerte sie mir mit ihren durch nichts zu beschönigenden Kostümierungen. An unseren Samstagen brachten mich diese stets aufs Neue aus der Fassung.

Sir, von Beginn an erschien sie mit Geschenkbändern im schwarzgelockten Haar. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst nicht hinblicken sollte. Ließ ich meinen Blick südwärts schweifen, streiften meine Augen eine helle Wollstrumpfhose. Diese guckte neugierig unter einem Chiffonrock hervor. Richtete ich meinen Blick auf ihre nördliche Körperhälfte, flatterten da diese seltsamen Schleifenbänder auf und ab. Alles sehr beunruhigend. Vor allem, da es für September noch ungewöhnlich mild war. Für die Wollstrumpfhose mochte ja noch die chronische Blasenentzündung verantwortlich sein, aber für die Schleifenbänder gab es kein Pardon. Irgendwer hätte der Verrückten längst einmal begreiflich machen müssen, dass man Geschenkbänder um Gegenstände wickelte, die man vorzugsweise loszuwerden gedachte. Ein solches Präsent wurde der erwartungsfrohen Gastgeberin in die Hände gedrückt. Unter keinen Umständen jedoch sollte man Geschenkbänder im Haar verwahren.

Die 28-jährige Sole roch deutlich jünger als unser Kuhmilchweichkäse aus Cornwall. Vergeblich versuchte sie, mit schwarzen, nachgiebigen, leicht gelockten Haaren zu punkten. Dank ihrer unmöglichen Frisur lief sie wie ein nachlässig frisiertes Eichhörnchen herum, dem die Schlafhaube abhandengekommen war. Eingehender betrachtet, erweckte sie den Eindruck, sie sei einem Gemälde aus dem 19. Jahrhundert entklettert. Vermutlich hätte sie damals statt der Wollstrumpfhose sittsame Unterhosen aus naturweißem Leinen mit Rüschen tragen müssen. Ach Gottchen, an diesen Anblick mochte ich gar nicht erst denken. Lieber nichts unvorsichtig heraufbeschwören.

Nicht zuletzt therapierte ich Sole aus Edelmut. Ihr Mann brauchte ab und an eine Verschnaufpause. Männer sollten sich untereinander solidarisch verhalten.

Im Übrigen fand der Schlafunterricht ausschließlich in den Morgenstunden statt, sodass Mr. Dots Arbeitspensum sehr überschaubar bleiben würde. In den Unterrichtsstunden lehrte ich Sole, ein Schlaftagebüchlein zu führen. In diesem notierte sie sich ihre Zubettgehzeiten und ihre Aufstehzeiten sowie die Stunden, in denen sie nutzlos, springlebendig im Bett herumtobte. Beim Studieren ihrer Einträge wurde mir richtiggehend schummrig: Ein Ur-Vampir – seit meiner oralen Phase imponierte mir Dracula – hätte nicht aufgeweckter, in seinem Sarg liegend, mit einem Kruzifix die Stunden totschlagen können. Dafür, dass sie so übernächtigt war und es ihr so schlecht erging, hielt sie sich recht tapfer.

Sie kümmerte sich aufopferungsvoll um ihren Gatten und schniefte, thank God, niemals dramatisch in ein Taschentuch. Sie bemühte höchstens ihre zumeist überlangen Ärmel, was ich für unschicklich hielt. Zeitraubendes Geschluchze hätte mir da gerade noch gefehlt. Den theoretischen Teil ergänzten versuchsweise hypnotische Entspannungsübungen, während derer sie sich undankbarerweise wie ein schwächliches Erdbeben aufführte. Ich selbst gab mich in der Rolle des Schulmeisters gar nicht erst der Illusion hin, dass vor mir etwas anderes als ein steiniger Weg lag. An dieser Tatsache war nicht zu rütteln. Punkt. Mr. Dot sagte häufig und überaus gerne Punkt, weshalb ich eigentlich doch recht zufrieden mit meinem Nachnamen sein durfte. Prägnant und bündig, ein englischer Punkt!

Nach dem fünften von Sole überschatteten Samstag stellte ich verdutzt fest: Das Tanzstudio meiner Frau wurde an den Vormittagen regelrecht überflutet von betagten Herrschaften. Aus übertriebener Eile vergaßen diese mitunter ihr Gebiss im heimischen Wasserglas. Die nunmehr überpünktliche Sole hielt auf der Tanzfläche Funken versprühend Hof, bis ich sie, kurz nach ihr eintreffend, dort einsammelte. Sie glich einer Wunderkerze. Auf dem Stundenplan stand Fremdschämen. Die kauzigen Schwadroneure überschlugen sich vor Schmeicheleien. Sie machten ihr Avancen, dass sogar mir der Frack sauste. Sir, tut Ihr Frack so etwas? Stets blieb Sole zugewandt und hochlöblich freundlich. Sie vermochte überraschend ausdauernd zuzuhören. Die vermodernden Haudegen prahlten mit beinahe Jahrhunderte zurückliegenden Abenteuern. Wohl glaubten sie, sich damals als Helden hervorgetan zu haben. Beschämend. Herrschaftszeiten, vermutlich hatte sie ihren väterlichen Ehemann auf ganz ähnliche Weise aufgelesen. John jedoch liebte sie über alles.

Ihre Tätigkeit als Freskenmalerin, daher diese künstlerisch wertlose Kriegsbemalung, hatte sie John zuliebe aufgegeben. Nun wollte sie sich, ich mochte dies kaum glauben, mit den Sternlein beschäftigen. Sole absolvierte ein Fernstudium der Sternenkunde, um während der Wartezeiten in der Notaufnahme nicht vor Kummer den Verstand zu verlieren. So durfte sie sich zwischendurch mit etwas Erquicklicherem als der lebensgefährlichen Erkrankung ihres Mannes beschäftigen. Ob das Untersuchen der Milchstraße für die Gesunderhaltung ihrer Gehirnwindungen wohl so von Vorteil war? Mhmmm, ich wagte das stark anzuzweifeln. Allerdings konnte sie ihr Lehrmaterial problemlos überall mit hinschleppen. Sir, weshalb nur hatte sie nicht Volkswirtschaftslehre oder etwas anderes Handfestes ausgewählt? Vielleicht, weil Sole als Sonne so wundervoll zum Mond und zu den Sternen passte? Stopp! Ich durfte jetzt nicht abdriften und schon gar nicht poetisch werden.

*

Spornstreichs stiefelte der Winter herbei und Väterchen Frost gleich mit ihm. Was für eine infantile Verniedlichung (Mylady, schon moppele ich doppelt), um den Einbruch einer verzichtbaren Jahreszeit zu veranschaulichen. Da sie mich an meine trostlose Kindheit in den Liverpooler Weisenheimen für schwer erziehbare Gassenjungen erinnerte, hatte sie sich mir unseligerweise tief eingeprägt und kam mir häufiger über meine schmalen Lippen. Great Britain, yes. Damals war little Dot jährlich aufs Neue, pünktlich zum Weihnachtsfest, von der jeweils aktuellen Heimleitung als wahrhaft untragbar erachtet, weitergereicht worden.

Doch zurück zur eigentlichen Lovestory. Im Dachstübchen war es ungemütlich, frisch und zugig zugleich. Leider widersetzte sich Mrs. Dot stur meinem zaghaft vorgetragenen Ersuchen, doch rechtzeitig vor meinem Schlafunterricht den antiken Stockholmer Kachelofen zu beheizen. Auf diese Weise kam es zu einer kompromittierenden Situation, die mit etwas gutem Willen spielend hätte vermieden werden können. An jenem Samstag, Mr. Dot notierte sich den 8. Dezember, war Sole die einzige Schlafschülerin. Ich selbst eilte erst wenige Minuten vor ihrer Darbietung die weiß lackierten Treppen zum Dachstübchen hinauf, um festzustellen: Verflucht, es war unzumutbar eisig.

Sogleich flehte ich, hektisch Holzscheite nachlegend, den Gott des Feuers um Unterstützung an. Schließlich bat ich, der Not gehorchend, die inzwischen still wie ein Papagei eingetroffene Sole, neben mir, vor dem nur zögerlich Wärme ausstrahlenden Kachelofen ihren Platz einzunehmen. Da kauerten wir nun wie Hähnchen und Hühnchen auf der Stange. Selbstverständlich betonte ich mehrmals „Distance! We have to keep the distance“, das gestaltete sich in dieser vertraulichen Haltung etwas schwierig. Überflüssigerweise kam ich nicht umhin zu erschnuppern, wie sehr ihre Haut nach Vanilleplätzchen duftete. Ein flaues Gefühl enterte sämtliche meiner Verdauungsorgane.

*

Zur Weihnachtszeit erschien Sole letztmalig in diesem Jahr zum Unterricht. In ihren angewinkelten Ärmchen barg sie eine Geschenktüte voller nachlässig eingewickelter Päckchen nebst Mostaccioli (diesem rautenförmigen Gebäck aus Neapel) und einem selbst verfassten winterlichen Fischgedicht. Sole schrieb für ihr Leben gerne. Sie besaß mehr Fantasie als mein neapolitanischer Fischhändler Bartstoppeln. Die Päckchen waren allesamt ungeniert mit bonbonfarbenen Schleifenbändern umwickelt. Die Geschenkbänder würde ich vorsichtig aufrollen und aufbewahren, um sie ihr im Januar zurückzugeben. Eines schimmerte violett, betupft mit schmächtigen Schneeflocken. Das besaß sie meines Wissens nach noch nicht. Es sollte keinen allzu großen Schaden unter ihren schwarzen Locken anrichten. Ich selbst überreichte Sole nicht das winzigste Geschenk. Gnädigerweise widmete ich ihr für ein närrisch niedriges Entgelt meine limitierte Zeit. Das war mehr, als sie erwarten durfte. Zu meinen charakterlichen Schwächen gehörte, Sie ahnen es, die Barmherzigkeit.

In der Weihnachtszeit verbreitete sich überall im Hause Dot ein Hauch von Vanille. Why not Zimt? Dieses liebliche Aroma hatte die Nebenwirkung, dass ich mich jeden Morgen nach dessen Grauen außerordentlich anstrengen musste, nicht an meine ausgefallenste Schlafschülerin zu denken. Sicherlich gelang es dieser mühelos, selbst als Pfingstochse nach verführerischem Gebäck zu duften. Wirklich, ich war heilfroh, diese Nervensäge einige Wochen lang nicht zu Gesicht bekommen zu müssen. Außerdem würden die Weihnachtsfeiertage schnell wie ein Bummelzug vorüberrattern, sodass wir viel zu bald wieder einträchtig nebeneinander sitzend vor uns hin frieren würden.

Sir, den Feiertagen gegenüber hatte ich seit jeher eine fatalistische Einstellung besessen: Mann musste sie abarbeiten wie einen Berg Krankenakten. Merkwürdigerweise schienen sie dieses Jahr überhaupt kein Ende finden zu wollen. Meine rücksichtslose Vorliebe, um Punkt 6:00 Uhr früh den überrumpelten Schnee auf die Schippe zu nehmen, gefiel meinen zu Besuch weilenden Schwiegereltern gar nicht. Sie versuchten, mir ein Streitgespräch aufzudrängen. Zeitgleich thronte meine Frau auf ihrem Königsstuhl und ließ uns strammstehen. Wir Untertanen erhielten die Anweisung, voll falscher Hingabe im Chor „Hüüt is Wiehnacht …“ zu krakeelen, während sie uns auf dem Schlagzeug erbarmungslos antrieb. Oh, nun habe ich Sie an Ihre Wehrpflicht erinnert? Sorry!

Erfreulicherweise wurden aus gegebenem Anlass die Schonbezüge von den nordseeblauen Ohrensesseln und dem mehrsitzigen, gepolsterten Sitzmöbel in der Wohnstube entfernt. Dieser Anblick versetzte nicht wenige unter uns in ausgelassene Festtagsstimmung: Ein Gefühl, als sei man gerade frisch eingezogen. Ich hingegen fühlte mich ohne die vertrauten Schonbezüge aus Plastik mit den verdrucksten Gänseblümchenmotiven ein bisschen fremd. Ich mochte Daisies. Während der Vorspeise wiederholte sich das traditionelle Herunterbeten einfallsloser Symptome. Begierig auf eine klangvolle Diagnose, rückten die anwesenden Gäste Mr. Dot auf den Leib.

Als Hauptgericht verzehrten wir gestopfte Gänseleberpastetchen mit Klößen an Holundersoße. Zum Nachtisch gab es Bratzwetschgen mit, wie konnte es anders sein, Vanillesoße. Sowohl mein Schwiegervater als auch mein ostfriesischer Vetter lieferten sich beim Mahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Sie verleibten sich so viele Pastetchen ein und tranken so ungebremst Glögg, dass an meiner Diagnose nicht zu rütteln war: Morbide Adipositas, begleitet von Diabetes mellitus, Bluthochdruck und in Bälde ein oder zwei leicht verfrühte Trauerfeiern. Selbst als Schlafforscher war mir dies sonnenklar. Mein schwarzer Smoking wappnete sich für die Grabreden.

Trotz allem atmete ich erleichtert auf. Ausnahmsweise wurde mir dieses Jahr mal kein Truthahn serviert. Mit Truthähnen hatte ich ganz miserable Erfahrungen gemacht. Meine Gemahlin trug den bodenständigen Vornamen Gertrud. Leider erinnerte mich ihre schlaffe Haut am Hals, ganz besonders wenn sie diese unerwartet in Schwingung versetzte, im Laufe unseres Zusammenlebens zunehmend an eben erwähntes Vogelvieh, bevor dieses seinem abrupt endenden Dasein ein „Tschüss“ zurufend im Bratrohr verschwand. Diese Gegebenheit zu ignorieren, war mir nicht vergönnt. Wann immer es einen Truthahn im Originalzustand gab und dieser am Esstisch aus Mahagoni zerlegt wurde, vermochte ich hinterher unter keinerlei Umständen meinen selten gewährten ehelichen Pflichten nachzukommen. Während ich so darüber nachdachte, überraschte es mich, wie häufig mir solch ein Hühnervogel das Jahr über gedankenlos aufgetischt wurde. Mir persönlich war ein nordfriesisches Salzwiesenlamm bedeutend lieber.

Uhh, nun galt es, ein paar Stunden lang wirres Geschwafel zu überstehen, bevor ich mich endlich dem Auswickeln von Soles Geschenken zuwenden durfte. Vermutlich befanden sich in den Päckchen weitere staubtrockene Kekse, die ich den gefräßigen Silbermöwen als Provokation mitbringen konnte. Das Geschenkpapier selbst erschien mir wie aus einer Märchenwelt: außergewöhnlich maritim, aber auf verrückte Weise. Es beeindruckte mit Sonnen und Monden in schillernden Bikinis, neben denen Heringe, Sprotten und Makrelen übermütig herumplanschten. Und dann dieser Spruch, der wie Sternenstaub verschwenderisch über das ganze Papier verstreut war: Sunlight kisses and Moonlight wishes! Beim Auswickeln stellte ich verblüfft fest: „Verflixt, es gibt nicht noch mehr Kekse!“, dafür, das musste ich mir eingestehen, erstaunlich hübsch anzusehende Präsente.

Unter ihnen glänzte ein kanariengelber, lebenstüchtig vor sich hin tickender Reisewecker, den ich mir doch tatsächlich als erprobter Weltenbummler selbst hatte zulegen wollen. Das konnte Sonnenschein Sole auf keinen Fall in den Sternen gelesen haben, oder? Außerdem gab es da noch einen Buchkalender mit überwältigenden Aufnahmen von Mönchskranichen. Diese Vögel waren so wunderbar majestätisch und mir durchaus ebenbürtig. Obendrein bekam ich die Langspielplatte einer mir unbekannten neapolitanischen Sängerin geschenkt, die vermutlich wie ein Küstenschützer (ein Schaf, Sir) vor sich hin blökte, wenn ich ihr dies gestattete. Doch kam ich nicht umhin anzuerkennen, dass dem nicht so war. Wundersamerweise war ihr Gesang durchaus erträglich. Diese Musik war zwar dornenreicher für meine verwöhnten Ohren als Brahms, aber dennoch einem winzigen Genuss nicht unähnlich.

Yes Mylady, ich musste mir eingestehen, ich war sprachlos Vermutlich hatte Sole all diese Geschenke selbst vom vorjährigen Weihnachtsmann unter den Tannenbaum gelegt bekommen und lediglich platzsparend an mich weitergereicht. Gleichwohl, Donnerwetter. Die beiliegende Weihnachtskarte, auf der sie sich recht wohlerzogen für meine Lebenshilfe bedankte, war mit Sternchen bemalt; der Text hätte die Halbtoten aus dem Tanzstudio meiner Frau (Gertrud hatte Verträge mit etlichen Seniorenresidenzen aus der Nachbarschaft abgeschlossen) vermutlich zu hysterischen Weinkrämpfen ermuntert. Allesamt Narren. Einer der Sterne hatte die Form eines schwächlichen Herzens. Vermutlich ein Malfehler. Sterne winkte ich an Weihnachten durch, Herzen selbstredend nicht. Der Karte lag auch noch ein selbstverfasstes Gedicht bei. Mühselig begann ich, es zu entziffern:

FfW: Fische feiern Weihnachten

(nicht sonderlich ausgeschlafen, wie Mr. Dot befand)

Per Bummelbahn durch Puderschnee

reist ein Engel an die See,

freut sich über den Advent

und das Kerzenlicht, das brennt.

Stimmungsvoll ist hier das Treiben:

Schellfisch Karl wird Kärtchen schreiben;

Peer backt Plätzchen con spumante,

kunterbunte und pikante,

bei denen nach Backfischart

er an Schleifenband nicht spart

Absurd! Sogar in Soles Verslein tauchten diese unglückseligen Schleifenbänder auf. Weshalb nur besuchte Sole nicht eine Schreib- und Literaturwerkstatt, bevor sie Füllfederhalter und Papier belästigte? Wie wunderbar, wie sonderbar, wie ermüdend! Gedichte hatte ich noch nie leiden können. Somit verbannte ich auch dieses strikt aus meinem Gesichtsfeld. Ich würde wohl damit leben müssen, nie zu erfahren, was den verblödeten Fischen sonst noch so am Heiligen Abend widerfuhr. Wofür hielt Sole mich? Für ihren Lektor?

Einen gefühlsduseligen Wimpernschlag lang überlegte ich, wie Sole wohl das Weihnachtsfest verbrachte. Ihr Mann lag ja, geschwächt durch die zweite Chemotherapie, im Bett, und ihre Eltern hatten versprochen, auf einen Ostfriesentee vorbeizuschauen. Hoffentlich knusperte sie wenigstens ein bisschen an mit reichlich guter Butter gebackenen Husumer Plätzchen herum. Es durfte nicht angehen, dass jedermann bei ihrem Anblick an Gretel aus dem Märchen dachte. Wer spielte die böse Hexe? Ich zumindest weigerte mich, ihr Hänsel zu sein.

*

Das belanglose Bleigießen an Silvester ertrug ich zusammen mit meiner Familie und einem befreundeten lesbischen Pärchen. Die beinahe euphorische und durch Bananenlikör aufgelockerte Stimmung erlitt eine halbe Stunde vor Mitternacht einen geringfügigen Dämpfer: Nach 23:00 Uhr gelang es mir einfach nicht mehr, die drei Weibsbilder auseinanderzuhalten. Mein Schwächeln durften mir diese, wollte man der Gerechtigkeit Genüge tun, an und für sich nicht vorwerfen. Ausstaffiert wie Drillinge, versperrten sie mir allesamt meinen Weg zum Büffet. Eine semielegante, steinkohlenschwarze Hemdhose, die belehrend „Hochwasseralarm“ flüsterte, versuchte vergeblich ihre Tristesse aus Polyester zu kaschieren. Sir, ist Ihnen eine Hemdhose geläufig? Stellen Sie sich jetzt bitte ein Wäschestück vor, bei dem Hemd und Hose durchgehend aneinandergenäht sind! Und? Frollein Polyester wiederum wurde unsittlich von einer steinpilzbraunen Krawatte bedrängt, die sich über siruppfützenfarbenen Ballerinas hängen ließ. Dieses klassische, flache Schlupfschuhmodell durfte tatsächlich nur Sole tragen. Für ihre zarten Füßlein schien es entworfen worden zu sein. Meine Drillinge hingegen wirkten darin wie überfütterte Dickhäuter. Sie sollten gefälligst dankbar sein, dass ich sie nicht mit dem ganz ähnlich gekleideten Schornsteinfeger Wladimir verwechselte. Bei ihrer Ausstaffierung wäre dies überhaupt nicht verwunderlich. Dem überfüttertsten Drilling schien mein abfälliges Screening stark zu missfallen. Vermutlich bot sich Gloria deshalb gereizt an, Ragout fin aus mir zu machen. Verbindlich dankend lehnte ich ab.

Noch zwanzig stille, unheilvolle Nächte, dann würde ich Sole endlich ihr dämliches Schleifenband zurückgeben können. Es machte sich auf meinem Nachttisch breit und nahm dem Fachbuch über Schlafwandler dessen Platz am Stammtisch weg.

*

Gottlob! Mehrere Kalender vermochten sich unmöglich zu irren. Sie verkündeten Samstag, den 19. Januar, und somit synchron das Ende meiner unter einem Festtagsgewand versteckten Kerkerhaft. Erstmals in diesem Jahr schneite es. Eine mollige Schneeflockenmischpoke schwebte gemütlich auf mich herab, um nach Berührung mit meinem unbeugsamen Körper sogleich deutlich weniger entspannt zu spitzen Eiszapfen gefrierend klirrend von mir abzufallen. Gemeinhin hätte ich solch einen Unfug nicht geduldet und meinem Unmut deutlich Luft verschafft. Heute jedoch fühlte ich mich, das Schleifenband für Sole in meiner Westentasche verwahrend, duldsamer als je zuvor. Vorfreudig verfrüht träumte ich von herumbummelnden Hummeln und närrischen Narzissen. Jede Schneeflocke, die versehentlich mein Gesicht berührte, erschien mir wie der verheißungsvolle Kuss einer geheimnisumwitterten Schneeprinzessin. Als Gassenjunge in Liverpool hatte ich mir streng verbeten, Märchen vorgelesen zu bekommen, vielleicht wären mir sonst Kay und dessen Leiden seltsam vertraut gewesen.

Eines der Geschenkbänder, bestickt mit silbrig sonnigen Sternlein, war auf meinem Paradekissen liegengeblieben. Ich hatte versäumt, es mitzunehmen und die vage Vorahnung, auch in Zukunft nicht daran zu denken. In Mr. Dots Alter war das mit der Vergesslichkeit so eine Sache.

Im Dachstübchen angekommen, verblieben mir noch exakt zehn Minuten bis zu Soles Unterrichtsbeginn. Ich nutzte die Zeit, sah nach meinen E-Mails und stürzte in ein pechschwarzes Loch. Ich fiel und fiel und hatte das Gefühl, das Martyrium der Weihnachtsfeiertage stünde mir erneut bevor. Sole bat um eine Verschiebung ihres Termins. In der E-Mail vom Vortag teilte sie mir mit, sie sei leider erkrankt und zudem gehe es ihrem Mann schlechter. Sie würde sich sobald wie möglich wieder bei Mr. Dot melden. Ich war entsetzt ob ihres rücksichtslosen Verhaltens. Sicherlich war sie spärlich bekleidet, leichtsinnig wie ein Fohlen durch den Schnee gestakst oder hatte sich im Krankenhaus mutwillig mit widerlichem, grünem Schnupfen angesteckt. Mylady, sollten Sie sich mal unpässlich fühlen: Diese Farbgebung deutet stets darauf hin, dass Bakterien involviert sind. Hmmm, nun konnte ich sehen, wie ich mit der Enttäuschung fertig würde. Wutentbrannt beförderte ich das hässliche Geschenkband in den Abfalleimer.

Ugh! Ich dachte, wie erfreulich es doch sei, schon wieder the whole day mit meiner Familie verbringen zu dürfen. Meine schlechte Laune hielt bis zum Abendbrot vor. Achtlos bereitete ich mir ein geschmackloses Eierbrot zu. Dieses stopfte ich, im Geiste wütend vor mich hin schimpfend, in mich hinein. Meine Gemahlin und meine Sprösslinge gaben sich dem Genuss der mit Schlagsahne bemützten Nordseekrabbensuppe hin, hoch erfreut darüber, dass für sie mehr übrigblieb. Über meinen Zorn vergaß ich restlos, dass mir Sole in der E-Mail gestanden hatte, sie freue sich sehr auf unser nächstes Treffen. Das war mir gerade schnurz und piep und egal. Absage blieb Absage! Punkt!

*

40.320 Minuten später – das Zählen der Sekunden hätte mich zu sehr echauffiert – weilten Sole und ich erneut Seite an Seite vor meinem betulichen Lieblingskachelofen, der dank meiner Mannhaftigkeit heute eine behagliche Wärme verbreitete, entgegen Gertruds Anordnung. Sole berichtete von den Neuigkeiten, die allesamt erschreckend klangen. Ihr Ehemann hatte, dieser verdammte Kehlkopfkrebs, Metastasen entwickelt, die sein Rückgrat zum Einstürzen brachten. Die Sternlein ahnten, zahlreiche weitere Operationen würden folgen. Soles Vorrat an Zuversicht schien gleich mit eingestürzt zu sein. Entsprechend erschöpft kauerte sie neben mir. Wohl zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich nichts Kluges von mir zu geben. Etwas Tröstliches hätte vorläufig ja gereicht, aber auch da fiel mir nichts Passendes ein. Wie verflucht gerne hätte ich meine rechte Hand ausgestreckt, um vermutlich äußerst unbeholfen ihr verrutschtes Schleifenband zurechtzurücken. Meine Hände aber steckten zu Fäusten geballt in meinen Hosentaschen. Soles Gesicht, wie üblich gewissenhaft quietschbunt bemalt, ließ mich die durchscheinende Blässe darunter nur erahnen. Ihre ausdrucksstarken Augenringe hingegen ließen sich von der reichhaltigen Abdeckcreme nicht die Show stehlen und schon gar nicht die trübsinnige Laune verderben. Es war ein Trauerspiel. Diesem zum Trotz trug sie ein schmales, löwenzahngrünes Geschenkband über den Ohren und kombinierte dazu einen Frack mit Schwalbenschwänzen, dessen Farbgebung mir vor noch nicht allzu langer Zeit Schmerzen bereitet hätte. Auf dem schwarzen Frack aus Satin tummelten sich aneinandergeschmiegt blassblaue Vergissmeinnichtblüten, als würden sie hoffnungsbeseelt einen Walzer vorführen, komponiert von einem Geisteskranken. Well, der Ausstaffierung nach zu urteilen, hatte sie sich noch nicht ganz aufgegeben.

Überraschenderweise verlief unser Gespräch überaus angenehm. Nach einer Stunde huschte der Hauch eines Lächelns über ihr schmales Gesichtchen. Für einen kostbaren Augenblick legte mir Sole dankend ihre rechte Hand auf meinen linken Arm. Dabei wurde mir viel zu heiß.

Erstmalig seit der häuslichen Weihnachtsfeier, die sich atmosphärisch ja wie in einer Seniorenresidenz zugetragen hatte, fühlte ich mich beinahe wieder lebendig und erteilte nun doch recht brauchbare Ratschläge. Ich hörte mit lebhafter Anteilnahme zu und ertappte mich mehrmals dabei, wie ich mit dem Kopf nickte. Der Schlafunterricht verstrich so schnell wie mein Optimismus. Viel zu früh standen wir auf der Straße, verabschiedeten uns und trödelten dann zögerlich in unterschiedliche Himmelsrichtungen auseinander. Warum musste es so übertrieben viele hiervon geben? Während ich mich mehrmals umdrehte, um meinem verspäteten Weihnachtswunder nachzublicken, stolperte ich ausgiebig über drei sich heimtückisch am Straßenrand aufbauende halbstarke Mülltonnen. Dabei beschmutzte ich mir den linken Ärmel meines hochwertigen Herrenmantels mit Kartoffelpüree. Yes Sir, ich zögerte nicht, darum zu betteln, dass es nur Kartoffelpüree sein möge. Hoffentlich hatte Sole diesen beschämenden Vorfall nicht mitangesehen. Hätte ich früher schon einmal irgendwelche Peinlichkeiten durchlebt, so wäre ich in der Lage gewesen, das Gelernte aus diesen Ereignissen zur Vermeidung weiterer Slapstickeinlagen nutzen zu können. Aber mein Leben war bislang stets korrekt und etwas freudlos (neee, nicht ohne Freud, nur ohne Freude) abgearbeitet worden. Und nun führte ich mich schlichtweg unentschuldbar auf.

Seit dem Vorfall mit den Raufbolden von Mülltonnen lagen von nun an mehrere Wochen zwischen unseren Terminen. Dies war nicht allein Mr. Dots Verschulden, no Sir. Ich musste mich nach jedem Wiedersehen mit Sole gründlich erholen und war wie aus dem Tritt gebracht. Zu Hause durfte ich jeden Absatz im Sleep well-Journal mehrmals lesen, um überhaupt vage einen versteckten Sinn darin aufzuspüren, und auf unserem Husumer Wochenmarkt buhlte ich nicht etwa um soliden Knollensellerie, nein, ich umschmeichelte sonnengereifte Mangos aus Barbados. So etwas Exotisches hatte ich mir noch nie gegönnt. Erstaunlicherweise schmeckten mir die eigenwilligen Früchtchen.

Ich dachte daran zurück, wie Sole mich um einen früheren Termin geradezu angefleht hatte. Aufgebracht hatte ich ihr geantwortet, sie solle bloß nicht glauben, ich stiefele nach dem Gespräch mit ihr beschwingt einen Gassenhauer pfeifend nach Hause. No, sie gehe mir zu sehr unter die Haut, als dass ich ihre Anwesenheit häufiger ertragen könne. Zudem sei ich weder eine Kommode noch ein Leuchter. Neuerdings litt ich unter unbekannten Gefühlsaufwallungen. Daraufhin hatte sie mich lediglich bekümmert angeblickt. Am späteren Abend hatte ich mich abgemahnt: „Hey you, lass dich nicht so gehen!“ Womöglich gab es ja nach den eigentlichen Wechseljahren noch ein Paar weiterer Wechseljahre, welches, weitaus heimtückischer, im Hinterhof lauerte. Ich faltete die Hände zum Gebet. „Dear God, bitte bewahre meine moralisch einwandfreie Seele davor, vernascht zu werden, ich bin doch keine Panna cotta, obwohl …“ Ei, ei, wie unvergleichlich entwürdigend, Fürchtegott!

*

So verschlichen die Montage, die Dienstage, die Mittwoche, Sir, machen Sie ruhig mit, die Donnerstage, genau, die Freitage, die Samstage und die Sonntage, an denen nur selten die Sonne schien. Zu Hause in Rainbüll verstrich die Zeit seltsam ereignislos. Ogni giorno, jeder Tag (huch, ich machte enorme Fortschritte, was die italienische Sprache betraf) war irgendwie … nicht weiter erwähnenswert. Zwischendurch flog ich mit meinem Sprössling Owen nach Sandhammaren, mit unvorhergesehener Notlandung. Das Cockpit fing Feuer und versprühte Funken. Selbst das fand ich zum Gähnen! Dort im Sand stellte ich fest, dass der Strand überwiegend von Knäckebrödverkäufern bevölkert war. Dazu gesellten sich Naturisten, die notgedrungen mit einem klitzekleinen Bikini eventuell Interesse weckende Körperteile verhüllten. Beträchtlich unangenehm stieß mir auf, hicks, dass die Schwedinnen nicht das schmalste Bändchen trugen, hicks, nicht einmal an den Handgelenken! Ich vermisste Soles Schleifenbänder. All dies versetzte mich nicht gerade in vitale Erregung. Heimlich, um Owen seinen Spaß nicht zu verderben, führte ich eine Strichliste auf dem abfotografierten Mönchskranichkalender. Ich wollte nach Hause.

*

Zurück in heimatlichen Gefilden, geriet der Ablauf meiner spärlichen Termine durch die Zeitverschiebung – was ein Quatsch, ich war in Schweden gewesen! – und den Schlafmangel vollkommen außer Rand und Band. Dies führte dazu, dass Sole in meinem Dachstübchen melodisch an die Türe klopfte; dieses Mal wortwörtlich, nicht nur in Gedanken. Gerade übte ich mit einer schlichten Schlumpfine Autogenes Training, wobei ich ihr tatsächlich gähnend auseinanderklamüserte, dieses Training müsse nicht zwangsläufig in einem Fahrzeug stattfinden.

Soles Erscheinung raubte mir schier den Atem. Trug sie anstelle ihres Schleifenbandes etwa einen Heiligenschein? Es war ja nicht so, dass ich nicht an sie gedacht hätte. Ich dachte an nichts anderes. Nur hatte ich versehentlich über jeden Samstag eine schelmische Sonne in den Kalender gemalt, sodass ich mich für einen von ihnen entscheiden musste und am wahrscheinlichsten erschien mir letztlich der in der darauffolgenden Woche. Von nun ab würde ich mit Argusaugen über meinen Verstand wachen. Die magere Sole musste sich ohne meinen Beistand wieder nach Hause schleppen, was sie höchst entgegenkommend tat. Weshalb nur guckte sie so verständnisvoll? Hielt sie mich etwa für einen senilen Professore, bei dem man stündlich mit solchen Ausfällen zu rechnen hatte? Dabei trug ich schwer an dem Sachverhalt, nicht den bescheidensten Doktortitel zu tragen, dafür aber einen ordentlich gebügelten Arztkittel. Während ich Sole fortschickte, wirkte sie noch schutzbedürftiger als sonst. Das dralle Schlumpfinchen, das verständnislos gegenüber dem sich gerade abspielenden Drama kuhäugig an seinen Fingernägeln knabberte, hätte ich liebend gerne am Schlumpfmützchen zur Tür hinausgezerrt, aber das ging ja nun auch nicht. Da stand mir irgendwer, aber bestimmt nicht die gute Kinderstube im Wege herum.

Am späteren Nachmittag verfasste ich fahrig eine E-Mail an Sole. Ich entschuldigte mich für mein Versehen. Ich legte ihr jeden Wochentag zu ihren empfindsamen Fesseln. Hauptsache, ich würde sie baldmöglichst wiederhaben. Sie gewährte mir den Sonntag. Sole und Sonntag passten genauso miserabel zueinander wie Makrele und Sonntag. Samstag war nicht nur der Dot’sche Makrelentag, nein, Samstag war auch ihr Tag. Jede neue Reihenfolge brachte Mr. Dot und mich nur unnötig aus der Fassung. Punkt!

Am Sonntagmittag wartete Sole im Tanzstudio auf mich, indes ich am Telefon versuchte, meinem betagten Schwager das Schlafwandeln abzugewöhnen. In ironischem Tonfall riet ich ihm dazu, in der Nacht über die Dächer Flensburgs zu spazieren, da wäre der Blick auf die Sternlein hübscher. Oh weiowei, ich sollte mich davor hüten, überdreht zu wirken. Verspürte ich doch keineswegs den Ehrgeiz, zum Serientäter zu verkommen, was das Thema Verdrehtheit anbelangte. Unter mir kam es dank Sole zu einem sonnigen Tumult. Ein Tanzschüler meiner Frau (auf seiner Tanzkarte war HUF vermerkt – Hammerzeh unter Fußpilz im fortgeschrittenen Stadium; zu tanzen vermochte er nur noch vor Schmerzen) hatte herausgefunden: Heute war ausnahmsweise ein Sole-Tag. Deshalb erschien er mit einer langstieligen gelben Rose, die er ihr vor Publikum in die Hand drückte, nachdem er ihr einen Handkuss verabreicht hatte (Überlieferungen zufolge mit vorher eingesetzter Kauleiste). Very funny! Dieser Schafskopf hatte nicht an ihr empfindliches Häutchen gedacht. Die Dornen stachen ihr hinterrücks in die Fingerkuppen und Blutstropfen fielen zu Boden. Natürlich eilte ich, mich aufführend wie der Prinz aus Dornröschen, herbei, um ihr als einziger galant mein mit Initialen besticktes Taschentuch zu reichen. Gekonnt versorgte ich die feinen Stiche mit einem Prinzessinnen-Pflaster. Mögen Sie Dornröschen? Der tölpelhafte Fußpilzträger schlich sich tief betrübt mit herabhängendem kahlem Schädel davon.

Mylady, die folgende Tragödie hätte im Kino Höllischer Marathon heißen müssen. Soles Mann John lag aufgrund seines durch die Metastasen verletzten Rückens noch immer im Krankenhaus und war nach der Operation trauriger Träger eines einem Stabilbaukasten ähnlichen Gerüstes, das seinem Rücken Halt verleihen sollte. Zwischendurch hatte er multiple Lungenembolien erlitten, an denen er fast verstorben wäre. Die ihren John über alles liebende Sole ertrug dies mit bemerkenswerter Selbstdisziplin. Meine Achtung vor ihrer Haltung wuchs. Zwischendurch strahlte mein Sonnenschein mich sogar an und versicherte mir lispelnd (temporär litt sie unter einer Lautbildungsstörung, die nicht nur die Zischlaute inniglich umärmelte, da sie gerade ein Zitronen-Bonbon lutschte): „Grazie, danke fön, Zie zind für mich wie ein Licht in (oh, nun hatte sie versehentlich den Drops verschluckt) – ürggg – schummeriger Nacht.“ Das adäquatere Wort dunkel hatte sie in der Finsternis wohl nicht gefunden. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich sah vier meiner Sinne sich wie funkelnde Sternschnuppen verabschieden. „Bye-bye.“ Meine Medikamente gegen den zu hohen Blutdruck würde ich wohl einem gründlichen Wechselwirkungs-Check unterziehen müssen.

Um meinen Fauxpas bezüglich des ausgefallenen Schlafunterrichts wettzumachen, schenkte ich ihr eine durchsichtige Packung mit grün-weiß-gestreiften Pfefferminzsahnebonbons. „Delicious.“ Diese waren überraschenderweise noch eineinhalb Jahre genießbar und stammten aus einer eigenwilligen Teestube in der Rainbüller Innenstadt. Auf der Verpackung aus Zellophanpapier begegnete mir unter schlohweißem Haar das Double meines bereits verstorbenen bebrillten Urgroßvaters. „Tagchen.“ Wie bedenklich! Verstörenderweise zierte dessen Haarschopf ein Bowler. Darüber stand in Schönschrift geschrieben: Life-awakening-sweets. Meinen Vorschlag zum Ende der Stunde, Sole könne ein Bonbon ja bereits auf dem Nachhauseweg anlutschen, damit ihr der Heimweg nicht so weit vorkam, nahmen sowohl mein Urgroßvater als auch Sole nachdenklich blickend entgegen. Solch ein hübsches Geschenk erhielt Sole wohl selten.

Am Abend, bereits im Bett ruhend, schreckte ich aus dem Kissen empor. Ich quälte mich mit der Quizfrage, ob ich denn endgültig von allen guten Geistern verlassen worden sei. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, ihr diese Süßigkeit zu spendieren? Life-awakening-sweets! Oh my goodness! Sie musste mich für beispiellos taktlos halten. Betrachtete ich diese Wörter eingehender, fiel mir nun selbstverständlich auf: Ein Wecker war vermutlich das Letzte, was sie im Leben gebrauchen konnte, da sie ja ohnehin kaum schlief. Und wen um Himmels willen sollten diese Bonbons wieder zum Leben erwecken? Ihren sterbenskranken Ehemann etwa? Und dann auch noch Pfefferminze. Pfeffer hatte sie nun wahrlich mehr als genug. Das gesamte blödsinnige Geschenk wirkte nun schlichtweg zynisch. Im Schenken war ich ungeübt. Künftig würde ich es lieber bleibenlassen. Punkt.

*

Eines Morgens schlug ich meine kurzsichtigen Äuglein auf, um beim Blick auf meinen Nachttisch bestürzt aufzujaulen: Ein besonders prächtiger Kranich flog über dem 27. Juli feierlich eine vornehme Schleife. Der 27. Juli war Soles Geburtstag. Ihren Ehrentag hatte sie mehrmals aufdringlich wie Goethes Erlkönig aufgesagt. Seither war es mir leider nicht vergönnt gewesen, diese Verkündigung ins Reich des Vergessens zu verbannen. Den gesamten Tag über nahm ich mir fest vor, ihr nicht zu gratulieren. Ein Telefonanruf war unter allen Umständen zu vermeiden, er wäre grauenvoll vertraulich gewesen. Sie besaß meine Telefonnummer selbstredend nicht. Eine Geburtstagskarte hielt ich für absolut unangemessen und selbst eine E-Mail erschien mir unter keinerlei Umständen entschuldbar. Eine SMS, Sir? Ist das Ihr Ernst? No!

Stets erfüllte mich ein Hochgefühl, wenn ich über meine britische Standhaftigkeit nachsann. Ich erfreute mich daran, wie mühelos es mir gelang, unerwünschte Gefühlsregungen resolut im Keim zu ersticken. Ich tat alles mir zur Verfügung stehende, um Sole unverblümt zu verdeutlichen, dass sie für mich lediglich ein Ungemach war, mit dem ich mich mittlerweile zu arrangieren wusste. Mit der Zeit gewöhnte ich mich nahezu an alles, von Geschmack verschontes Labskaus aus der Dose inbegriffen.

Am Abend fühlte ich mich so erschöpft, als hätte ich alles nur Erdenkliche getan, um auf einer imaginären Wanderung das Gipfelkreuz links liegen zu lassen. Und dies, obwohl dessen Erstürmen eigentlich mein innigster, gar nicht so tief verbuddelter Wunsch war. Ich verschluckte mich an einer fliederfarbenen Beruhigungstablette. Kurz darauf träumte ich von einer grauen frechen Bergziege. Diese machte sich über mich lustig, während sie, listig schielend, sabbernd auf Soles Schleifenband in Vergissmein-nicht-Farben herumkaute.

So verstrichen die Wochen. Allesamt erschienen sie mir um einiges abwechslungsreicher als ihre Vorgängerinnen. Das verfrühte Rentnerdasein bekam mir vorzüglich.

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Für Anfang September war es noch herrlich warm. Ich erwischte mich dabei, wie ich auf meinem Nachhauseweg vom Scones-Bäcker makellose Lufthopser absolvierte und „… Sunshine, Baby, Sunshine …“ trällerte. Was für ein vielversprechender Morgen! Meine Gattin beschäftigte sich bereits ausgiebig mit problembehafteten Tanzschritten und mein Filius Connor versuchte um diese Uhrzeit, in der Schule aus reiner Gewohnheit nicht negativ aufzufallen, um nicht durchzufallen und nicht als komplette Fehlinvestition sitzenzubleiben. Und Owen? Wo war eigentlich Owen abgeblieben? Well, alles lief wie am Schnürchen und gleich würde es ein neues Sch(l)äferstündchen für Sole geben.

Punkt 09:30 Uhr traf ich in meinem blau-gelben Oberhemd reichlich vor der Zeit im Dachstübchen ein. Yes Mylady, ich trug das Federkleid eines Blaumeisenmännchens. Aufgeregt ordnete ich meine Bleistifte. Im Spätsommer gönnte diese Oberbekleidung dem in der Winterpause befindlichen schiefergrauen Pullover, der gekonnt die Armdecken samt Daumenfittichen eines Ringeltäuberichs imitierte, eine Verschnaufpause. Ich sah den Tauben beim Brüten oder was auch immer zu (so genau wollte ich es gar nicht wissen) und blickte alle zwei Minuten besorgt auf meine neue todschicke Armbanduhr und dann zur Tür. Nach einer halben Stunde präsentierte ich unübersehbar Symptome eines Schleudertraumas und schloss, enttäuscht von mir selbst, meine Äuglein. Da klopfte es am Türrahmen und Sole schien herein. Hui, die Sonne ging auf. Sole war noch eigentümlicher gekleidet, als Karl Lagerfeld es wohl je für möglich gehalten hätte. Sie trug ihren geliebten, wie ein Glöckchen schwingenden, lakritzgrauen Chiffonrock, mittlerweile ein liebgewonnener Vertrauter, dazu waldmeistergrüne, geschnürte Ballerinas, ja, richtig Sir, auch die Wollstrumpfhose durfte nicht fehlen, aber dann attenzione: Im oberen Drittel bezirzte mich Skeptiker eine zarte, sahnigcremefarbene Seidenbluse mit Trompetenärmeln, die sich sanftmütig um ihre schmalen Handgelenke schmiegten, und ihr Haar liebkoste ein austernschalenweißes Geschenkband der Spitzenklasse, das am Verrutschen durch eine silbrige Haarspange mit einem stolzen Schwan gehindert wurde. Dessen Kopf saß über Soles linkem Auge. Mein lieber Schwan! So etwas Bizarres hatte ich noch nie gesehen. Wie originell; ich war hingerissen.

Beiläufig stellte ich fest: Selbst in den Sommermonaten verweilten wir recht nahe beieinander auf demselben Platz wie im Winter. Ich versäumte aber nicht, stets darauf hinzuweisen: „We have to keep the distance.“ Yes, der Abstand war wichtig! Ihre diestägige, besonders berückende Inszenierung vermochte mich nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es ihr außerordentlich schlecht ging. Mittlerweile litt ihre große Liebe durch die Metastasen an stärksten Schmerzen. Überall im Körper richteten diese immense Schäden an. Mein persönlicher Held erlitt nahezu bei jeder Mahlzeit Erstickungsanfälle, während derer Sole behutsam seine Schultern beklopfte, um ihn fürs Erste vor dem Tod zu bewahren. Mittlerweile wog Sole bei 181 Zentimetern (plus einem halben) nur noch 52 Kilogramm. Eindringlich riet ihr Mr. Dot, die Mahlzeiten unabhängig von ihrem Ehemann einzunehmen. Vermutlich war es einfacher, Nahrung bei sich zu behalten, wenn der Tischnachbar nicht gerade den Löffel abgab. Mylady, ich weiß, das ist eine ganz entsetzliche Metapher! Auch kam ich nicht umhin, sie darin zu unterstützen, ihre Schlafmittel ein wenig höher zu dosieren. Das konnte ich zwar an und für sich keinesfalls gutheißen, aber es schien unumgänglich, wollte sie dieses Drama überleben.

Heute offenbarte Sole, John habe sie sich zur Brust genommen, um ihr vorzuschlagen, noch zu Lebzeiten gemeinsam seinen Nachfolger auszusuchen. Vor der Krebserkrankung war John Inhaber eines riiiesigen (Sole neigte zu einem prahlerischen Umgang mit dem eher schüchternen Buchstaben i) Auktionshauses gewesen und somit gewohnt, sich nicht so mir nichts, dir nichts die Führung aus der schwächelnden Hand nehmen zu lassen. So etwas Verrück… Nein, so etwas Rührendes, wenn auch auf eine seltsame, unvertraute Weise rührend, war mir noch nie zu Ohren gekommen. Was für ein Mann, was für ein Gedanke, was für eine schreckliche Situation. Womit hatten Menschen solch eine schwere Bürde verdient? Sah der Liebe Gott auf John herab, hielt er sich, wie die berühmten drei Affen, sprachlos vor Entsetzen, Augen, Ohren und Mund zu?

Während unserer Verabschiedung behielt Sole meine Hände eine gefühlte Ewigkeit in den ihren. Sie schien mich gar nicht gehen lassen zu wollen. Geknickt schleppte ich mich nach Hause. Allerdings nicht, ohne mich im Gehen nach dieser elfengleichen Gestalt umzublicken. Bei dieser waghalsigen Verrenkung kam es zum erneuten Kontakt mit den mir feindlich gesonnenen Mülltonnen, die sich ins Fäustchen lachten und für mich und mein Jackett so etwas wie Fleischgelee im Angebot hielten. „Dear God, bitte lass es bloß Fleischgelee sein.“ Wieder konnte ich in der Nacht nicht einschlafen. Wenn dies so weiterginge, würde ich meinen grünschnäbligen Kollegen konsultieren müssen. Wie skurril! Mr. Dot mutierte zu seinem eigenen Patienten!

Zwischendurch erhielt ich eine ausführliche E-Mail von Sole. Überaus edelmütig hatte ich ihr gestattet, mich in Notfällen per elektronischer Post zu kontaktieren. Sie teilte mir mit, John habe versucht, sie sowohl einem Neurologen als auch einem Onkologen als nicht mehr ganz unschuldige Braut in Weiß schmackhaft zu machen. Soles Gesichtsblässe verlieh ihr nach wie vor eine erschreckende Zerbrechlichkeit und ließ Schneewittchen im Vergleich zu ihr kerngesund aus dem Sarg grüßen. „Hello.“ Der Heiratsmarkt im Krankenhaus bestürzte, ja verwirrte sie verständlicherweise, zumal sie von beiden Chefärzten, ähnlich wie auf einem Pferdemarkt, ausgiebig, nicht ohne Entdeckerfreude begutachtet worden war. Wenn ich die E-Mail richtig verstand, hatte sie sich geweigert, ihr Gebiss vorzuzeigen. Mir kam das derbe, in diesem Zusammenhang mehr als unpassende Sprichwort Einem geschenkten Gaul schaut Mann nicht ins Maul in den Sinn. Einfach war ihre Lage zweifelsohne nicht. Soviel stand fest.

In ihrer E-Mail berichtete sie außerdem von einem neuerlichen Aufenthalt in der Notaufnahme, nachdem John plötzlich über Lähmungserscheinungen in seinen Beinen und Füßen geklagt hatte. Nach gründlicher Untersuchung stellte sich heraus, dass ein erneuter Operationstermin für die erste von zwei weiteren Rückenoperationen anberaumt werden musste, da sonst eine Querschnittslähmung drohe. Mr. Dot würde Sole in zwei Wochen wiedersehen und so antwortete ich ihr knapp, der Situation angemessen.

Während Gertrud beim Abendbrot pingelig die Gräten aus einem klapprigen Heilbutt klaubte, platzte ich unvermittelt mit folgendem fesselnden Satz in die distanzierte Stille hinein: „Don’t worry, angeschlagene Tässelchen leben länger!“ Mrs. Dot betrachtete mich, als sei ich ein Hering, der seinen Verstand eingelegt hatte, allerdings, das musste ich mir zugestehen, mit einem geringfügigen Anflug von Neugierde. Sogar ihre Hornbrille setzte sie ab. Nachdenklich bekaute sie deren rechten Bügel. Ich tat, als habe es meinen Zwischenruf nicht gegeben und fabulierte über neue Amputationsmethoden von Hammerzehen. Genial, schon war sie abgelenkt und widmete sich eifrig ihrem Thema Nummer 1, den tanzenden Füßen.

Unterdessen trieb sich unsere hochentwickelte Leibesfrucht Connor im enganliegenden Muskelshirt streunend auf der Straße herum. Ganz offensichtlich schien er sein Augenmerk auf den strammen Neuzugang in der Nachbarschaft gerichtet zu haben. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm? Aber Sir, ich bitte Sie!

In der Nacht träumte ich von schillernden Sonnen, die mir sonnige Luftküsschen auf meine eingefallenen Wangen schmatzten, und von gutmütigen Sternschnuppen, die mir wimpernklimpernd versprachen, meine Wünsche wahr werden zu lassen. Welche Wünsche? Wenn jemand wunschlos glücklich war, dann ja wohl Mr. Dot!

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Der Sommer verabschiedete sich mit ausgiebigen Gewittern und der Herbst übernahm, anfangs noch verschlafen, die Regie mit einem überraschend vergnügten November. Nun kannte ich dieses bizarre Geschöpf, für dessen Vorname ein Himmelskörper Taufpate stand, seit über einem Jahr. Es fiel mir schwer, mich an die Ära vor Sole zu erinnern. Rückblickend erschienen mir diese Tage, Monate und Jahre wie eine Zeitschleife, deren Geisel ich gewesen war.