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Hermann-Josef Große Kracht

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Beschreibung

Die Solidarität ist im Vergleich zur Freiheit und zur Gerechtigkeit merkwürdig »theorielos«. Liegt dies an der Dominanz eines politischen Liberalismus aus vorindustriellen Zeiten, der unser Denken bis heute prägt? An die sozialphilosophischen Aufbrüche des französischen Solidarismus von Akteuren wie Léon Bourgeois, Alfred Fouillée und Charles Gide erinnernd, fragt Hermann-Josef Große Kracht, ob es nicht an der Zeit ist, die philosophischen Freiheitslektionen des 18. Jahrhunderts mit den soziologischen Solidaritätslektionen des 19. Jahrhunderts zu einem postliberalen Solidarismus zu verbinden.

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Hermann-Josef Große Kracht (apl. Prof. Dr. phil., theol. habil., M.A.), geb. 1962, ist Akademischer Oberrat am Institut für Theologie und Sozialethik der Technischen Universität Darmstadt.

Hermann-Josef Große Kracht

»Solidarität zuerst«

Zur Neuentdeckung einer politischen Idee

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

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Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld © Hermann-Josef Große Kracht

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5837-8

PDF-ISBN 978-3-8394-5837-2

EPUB-ISBN 978-3-7328-5837-8

https://doi.org/10.14361/9783839458372

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort

1.Solidarität – das unverstandene Lieblingskind der Moderne

Konjunkturen der Solidarität

Ein »kaltes, stahlhartes Wort«

Die Solidarität als »grand fait«

2.Noch immer »Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen«?Der versäumte Abschied von der liberalen Gesellschaftsillusion

Autonome Persönlichkeit und egalitäre Bürgergesellschaft

Bürgerliche Freiheit und privates Produktiveigentum

Jeder seines eigenen Glückes Schmied?

Noch immer Unabhängigkeit? Eine sozialethische Grundsatzdebatte

»Die Arbeiter als lauter Unternehmer«?

Im Glücksspiel der gesellschaftlichen Zusammenhänge

Das Ende der Kategorien von Leistung und Verdienst

Gerechtigkeitsambitionen und die Logik des Marktes

Nur noch Äquivalententausch-Gerechtigkeit?

Fabrikunfälle: Das postliberale Moralprofil des Wohlfahrtsstaates

Der Wohlfahrtsstaat und die Krise des Liberalismus

Das Normativitätsprofil der neuen Sozialversicherungsgesellschaft

Der Wohlfahrtsstaat auf der Suche nach einer postliberalen Moral

3.Normative ErnüchterungenUngeliebte Einsichten postliberaler Solidaritätssoziologie

Soziologie als Naturwissenschaft der Gesellschaft

Auguste Comte und die »Reorganisation der Gesellschaft«

Solidarität und Arbeitsteilung

Ein neues gouvernement spirituel?

An der Schwelle zu einer modernen Solidaritätstheorie

Der frühe Durkheim und die Moralwissenschaften in Deutschland

»Ein dunkles Phänomen«

Von der Ähnlichkeits- zur Abhängigkeitssolidarität

Das Scheitern einer szientistisch überakzentuierten Moralsoziologie

Soziale Evolution oder öffentlicher Diskurs?

4.»Solidarität zuerst«.Programm und Profil des Solidarismus

Léon Bourgeois und der Linksrepublikanismus

Ein sozialpolitischer Siegeszug

Solidarité de fait und solidarité devoir

Alfred Fouillée und die Anfänge solidaristischer Sozialphilosophie

Eine demokratische Moral jenseits von Idealismus und Naturalismus

Charles Gide und die »Schule der Solidarität«

Tuberkulosebazillen, Börsenturbulenzen und die solidarité fatale

Auf dem Weg zur letzten Stufe der Solidarität

5.Relative und progressive Autonomie. Solidaristische Solidarität und individuelle Freiheit

Gleichzeitiges Wachstum des individuellen und des sozialen Lebens

Soziale Evolution und individuelle Persönlichkeit

»Zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer«

Die Dreyfus-Affäre und der Kult des Individuums

Uneingelöste Hoffnungen und ein »Wind der Traurigkeit«

Moralische Autonomie als Produkt der Gesellschaft

Relative und progressive Autonomie zugleich

6.Soziale Hypotheken und rückwirkender Quasi-Vertrag. Solidaristische Solidarität und soziale Gerechtigkeit

Quasi-Vertrag und reparierende Gerechtigkeit

Nicht individuelle Tugend, sondern soziales Recht

»Als Schuldner der menschlichen Assoziation geboren«

Der rückwirkende Quasi-Vertrag der sozialen Gerechtigkeit

Ziel der Natur und Ziel der Gesellschaft

Soziale Schuldner und soziale Gläubiger

Ein Restbereich privater Verfügungsfreiheit?

Auf dem Weg zur Sozialversicherungs-Gesellschaft

7.Ein Neustart solidaristischer Vernunft?

Historisches Ende und merkwürdiges Überleben des Liberalismus

Anywheres, somewheres und ihre verschiedenen Solidaritäten

Soziale Dankespflichten jenseits von Glück und Pech

Die Vielfalt solidaristischer de facto-Solidaritäten

Globale Ansteckungs-Solidaritäten

Die notwendige Ent-Emotionalisierung der Solidarität

Solidarität und die öffentliche Moral der Gesellschaft

Öffentliche Selbstverständigungen im Rahmen eines sozialen Quasi-Vertrags

Literaturverzeichnis

Vorwort

›Solidarität zuerst!‹ – Mit der Covid 19-Pandemie ist dieser Imperativ omnipräsent geworden. Er wird von den Regierenden immer wieder eingeschärft, um Ausgangsbeschränkungen, Quarantänemaßnahmen und Lockdowns unterschiedlicher Intensität zu legitimieren. Zunächst traf er auf eine breite Folgebereitschaft, nicht zuletzt aus Angst vor der unbekannten Gefahr, die man durch eine gemeinsame Kraftanstrengung schnell zu überwinden hoffte. Mittlerweile aber wachsen Unmut und Vorbehalte, Zweifel und Unsicherheiten. Die Tragfähigkeit der immer wieder emphatisch angerufenen Solidarität scheint langsam aufgebraucht zu sein. Viele können das Wort schlicht nicht mehr hören. Und doch scheint der Rekurs auf die Solidarität in den Zeiten der Pandemie unvermeidlich zu sein.

›Solidarität zuerst!‹ – das ist aber nicht erst heute ein sozialer Imperativ. Schon im Paris der Jahrhundertwende (19./20. Jhdt.) erklang überall die Parole ›solidarité d’abord‹. Und schon damals bewegte sie sich – nicht nur, aber auch – im Rahmen einer bedrohlichen Epidemie. Denn in dem Moment, in dem die immer wieder ausbrechende Tuberkulose als gefährliche Infektionskrankheit erkannt worden war, wurde den Zeitgenossen schlagartig klar, dass ihre persönliche Gesundheit in massiver Weise von ihrer gesellschaftlichen Umwelt, von der zunehmenden sozialen Dichte ihrer Lebensverhältnisse und der Leistungskraft einer nachhaltigen Hygiene- und Gesundheitspolitik des Staates abhing. Aber nicht nur das: Längst war deutlich geworden, dass sich die moderne Industrie- und Massengesellschaft insgesamt – weit über Fragen der Bekämpfung von Epidemien hinaus – mit dem sozialphilosophischen Design des politischen Liberalismus nicht mehr angemessen erfassen lässt. Sie benötigte für ihr normatives Selbstverständnis grundlegend neue Antworten auf grundlegend neue Herausforderungen. Sie stand vor der dringenden Aufgabe, den liberalen Rechtsstaat zu einem postliberalen Wohlfahrtsstaat auszubauen; und sie brauchte dazu nicht weniger als eine neue Sozialtheorie von Person und Gesellschaft, von individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.

In diesem Rahmen entstand die um die Jahrhundertwende sehr erfolgreiche sozialpolitische Reformbewegung des solidarisme, die nach einem Dritten Weg jenseits von Individualismus und Kollektivismus suchte und unter dem Programmwort der solidarité sozialethische Grundlagen für den gerade erst entstehenden Wohlfahrtsstaat entwickeln wollte. Statt an den geschichts- und gesellschaftslosen Prinzipien der Aufklärungsphilosophie orientierte sie sich an den Einsichten der französischen Solidaritätssoziologie und verband damit die ambitionierte Hoffnung, der aus den Kinderschuhen des Liberalismus herausgewachsenen Gesellschaft auf diese Weise eine neue soziale Idee, eine neue Vision gesellschaftlicher Freiheit und Gerechtigkeit zur Verfügung stellen zu können.

Dieser Essay will in pointierter Form an die Aufbrüche des französischen solidarisme erinnern und dessen bis heute nicht ausgeschöpfte Potenziale für die sozialmoralischen Debatten um das normative Selbstverständnis der westeuropäischen Gegenwartsgesellschaften freilegen. Er will dabei nicht zuletzt die noch immer bestehende Dominanz der liberalen Wahrnehmungsmuster und Theoriearsenale sozialphilosophisch irritieren. Und er sucht durchaus den öffentlichen Streit. Dazu greift er in vielfacher Form auf Anliegen, Themen und Motive zurück, die sich bereits in meiner in diesem Verlag erschienenen Studie zur Begriffs- und Theoriegeschichte der Solidarität aus dem Jahr 2017 finden (Solidarität und Solidarismus. Postliberale Suchbewegungen zur normativen Selbstverständigung moderner Gesellschaften; Große Kracht 2017). Schon hier nahm der französische Solidarismus einen breiten Raum ein. Von daher sind zahlreiche Originalzitate und viele weitere Inhalte und Ausführungen dieses Buches – oft auch in wörtlichen Übernahmen – in diesen Essay eingegangen. Sie finden sich über den gesamten Text verstreut. Vor allem die Kapitel 3, 4 und 6 gehen inhaltlich kaum über die entsprechenden Abschnitte dieses Bandes hinaus. Breite Teile dieses Essays lesen sich deshalb wie eine Wiederholung bzw. ›Neuabmischung‹ des Textes von 2017 und können keine Originalität beanspruchen. Die vielen Übernahmen und Selbstzitationen sind in der Sache aber nicht zu vermeiden, wenn es darum geht, den französischen Solidarismus hinreichend ausführlich vorzustellen, um eine sozialethische Grundsatzdebatte zwischen liberalen und solidaristischen Perspektiven der Gesellschaftstheorie anzuregen. Dennoch hoffe ich, dass der hier vorgelegte Text auch denjenigen Leserinnen und Lesern, die das Buch von 2017 kennen, neue Anregungen und Impulse vermitteln kann.

Danken möchte ich an dieser Stelle wieder einmal Jonas Hagedorn für seine wertvolle und verlässliche Hilfe, dem transcript-Verlag für die bewährte Zusammenarbeit und dem Bistum Mainz für die finanzielle Unterstützung. Die Übersetzungen aus dem Französischen stammen von mir. Für Mithilfe danke ich, wie schon 2017, dem native speaker Pierre Schweitzer. Offensichtliche Fehler in den Zitaten wurden stillschweigend korrigiert. Aus Gründen der Lesbarkeit verwendet der Text das generische Maskulinum; wo es Sinn ergibt, ist die weibliche Form aber immer mit gemeint.

Darmstadt, im Januar 2021

Hermann-J. Große Kracht

1.Solidarität – das unverstandene Lieblingskind der Moderne

Es ist eines der großen Sehnsuchtswörter unserer Zeit: die Solidarität. Sie kann es mit den anderen großen Wörtern der Gegenwart locker aufnehmen, mit Freiheit und Gleichheit, mit Demokratie und Gerechtigkeit, vielleicht auch mit Respekt, Achtung und Anerkennung, ganz sicher aber mit Nächstenliebe, Mitleid und Barmherzigkeit. Die alten christlichen Tugenden der Hilfe und der Mildtätigkeit haben in der säkularen Moderne noch nie einen guten Klang gehabt. Sie dürfen sich in der politischen Öffentlichkeit heute kaum noch sehen lassen. Der Ruf nach Achtung und Respekt ist dagegen in aller Munde. Er fokussiert aber auf die Würde der Einzelnen in ihrer jeweiligen Eigenart und schafft kaum sozialen Zusammenhalt. Ähnlich gelten auch Freiheit und Gleichheit vielen Zeitgenossen als allzu abstrakte, allzu kalte Rechtsprinzipien, die keine Gefühle moralischer Verbundenheit wachzurufen vermögen. Auch die Gerechtigkeit scheint in eine semantische Krise geraten zu sein. Schließlich gibt es auf dem Markt der politischen Philosophie heute eine Vielfalt von mehr oder weniger elaborierten Theorien der Tausch-, Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit, d.h. für jede Interessenlage und jeden Geldbeutel ein passendes Gerechtigkeitsangebot. Und so ist kaum zu erwarten, dass der Rekurs auf Gerechtigkeit das soziale Band der Gesellschaft festigen kann. Auch das Wort von der Demokratie scheint kaum noch in der Lage zu sein, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern. Jedenfalls sind die Phänomene von Politik- und Demokratieverdrossenheit unübersehbar; und die Rede von der ›Krise der Demokratie‹ ist längst ein fester Bestandteil unserer Zeitdiagnose.

Die Solidarität dagegen scheint krisenfest zu sein. An ihr entzünden sich immer wieder Wünsche nach sozialer Verbundenheit, nach wechselseitiger Verantwortung, nach intensiven Gefühlen von Zusammenhalt und Zugehörigkeit über unsere Familien und Freundeskreise hinweg. An ihr entzünden sich aber auch Hoffnungen auf eine moralische Kultur wechselseitiger Achtsamkeit und Anteilnahme, sozialer Sensibilität und gemeinschaftlichen Handelns in Politik und Gesellschaft weltweit, ohne die wir nicht leben können und nicht leben wollen. In der Bundesrepublik gehört die Solidarität zu den zentralen Grundwerten. In den Programmen der großen politischen Parteien ist sie fest verankert; und gerade in Krisenzeiten darf sie in keiner erbaulichen Sonntagsrede, in keiner staatstragenden Ansprache, in keinem Beitrag zur politisch-moralischen Selbstverständigung der Gesellschaft fehlen. Wir alle scheinen sie mehr oder weniger schmerzlich zu vermissen. Die Klage über Solidaritätserosionen ist dementsprechend allgegenwärtig. Und es gibt schlicht niemanden, der auf die Idee käme, sich irgendwie abfällig über die Solidarität zu äußern. Streit gibt es höchstens in der Frage, was denn nun die ›richtige‹ Form der Solidarität ist und wie wir sie am besten schützen und sichern, fördern und ausbauen können.

Konjunkturen der Solidarität

Darüber wird leicht vergessen, dass im 20. Jahrhundert im Namen der Solidarität grausamste Massenverbrechen begangen wurden, dass Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinismus den Wert und die Würde des Einzelnen auf dem Altar der vermeintlich übergeordneten Kollektivinteressen der Solidargemeinschaft – des Volkes oder der Nation, der Rasse oder der Klasse – opfern konnten, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Solidarität hat offensichtlich keine interne Sperrklinke, die sie daran hindert, wieder hinter die in der europäischen Moderne erreichten Standards individueller Freiheit und moralischer Selbstbestimmung zurückzufallen. Offensichtlich ändert dies aber nichts daran, dass kein anderer Begriff der politischen Moderne heute einen ähnlich intensiven emotionalen Wärmestrom auszulösen vermag wie eben die Solidarität.

Nur während der neoliberalen Welle, die vor allem in den 2000er-Jahren über uns hinwegflutete, erlebte die Solidarität einen nennenswerten Sympathieeinbruch. Hier wurde nun plötzlich – mit einem erstaunlichen öffentlichen Erfolg – die Eigenverantwortung zum moralischen hot spot, während die Solidarität unter den Verdacht geriet, dem liberalen Tugendkatalog von Selbstbestimmung, Flexibilität und Effizienz, von individueller Tatkraft und Tüchtigkeit in falscher Sozialromantik in den Rücken zu fallen. Seit der Finanzmarktkrise 2008/09 ist die Solidarität dagegen wieder auf dem Vormarsch. Nun beobachtete man nämlich kollektiv, dass nicht die anonymen Kräfte des Marktes, sondern nur eine planvolle, mit enormen Finanzmitteln aufwartende Rettungspolitik des Staates in enger Abstimmung mit den großen gesellschaftlichen Interessengruppen, den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, in der Lage war, das Land durch die Krise zu steuern und Wohlstand, Sicherheit und Zusammenhalt der Gesellschaft einigermaßen zu gewährleisten. Seitdem ist der Staat wieder zurück; und die Gesellschaft scheint heilfroh zu sein, dass sie ihn hat, dass er vorangeht und wieder die Initiative ergreift – eine Entwicklung freilich, die auch Gefahren birgt. Denn gerade in den Zeiten der Krise scheint sich der Staat im Gestus einer souveränen Selbstermächtigung nur allzu gerne und allzu selbstverständlich Herrschaftskompetenzen anzumaßen, die die politischen Errungenschaften der europäischen Freiheits- und Demokratiegeschichte nicht wenig bedrohen. Hier entstehen jedenfalls neue Herausforderungen für eine den Prinzipien von Demokratie und Gewaltenteilung verpflichtete Rechtsprechung, für eine sensible politische Öffentlichkeit und vor allem für eine lebendige – und als solche allemal staatskritisch formierte, gegen leichtfertige Rufe nach dem ›starken Staat‹ hinreichend gefeite – demokratische Zivilgesellschaft. Sehr wahrscheinlich brauchen wir einen starken Staat; wir dürfen ihn aber nicht einfach laufen lassen. Gerade ein starker Staat braucht um der Demokratie willen eine noch stärkere Zivilgesellschaft.

Zu Beginn der im Frühjahr 2020 ausgebrochenen Corona-Krise erfuhr die Rede von der Solidarität erneut einen massiven Aufschwung. Dabei wurde aber nicht immer klar, worin denn nun eigentlich das Solidarische dieser Krise besteht und bestehen soll. Besteht das Solidarische darin, dass wir abrupt lernen mussten, wie notwendig es ist, dass wirklich die gesamte Bevölkerung ›mitzieht‹, dass wirklich alle bereit sind, schwerwiegende Einschränkungen ihrer elementaren Freiheitsrechte, ihrer Rechte auf Bewegungs- und Begegnungsfreiheit hinzunehmen und tiefgreifende, mit staatlichen Zwangsmaßnahmen sanktionierte Beschränkungen mitzutragen? Besteht das Solidarische darin, dass etwa Solo-Selbständige auf ihr Recht, ungehindert zu arbeiten, Geld zu verdienen und ihr Glück zu machen, auf unbestimmte Zeit klaglos verzichten, ohne zu wissen, ob dies nicht schon bald existenzgefährdende Ausmaße annimmt; und ohne zu wissen, ob staatliche Hilfen, Darlehen und Kreditabsicherungen ausreichen, um über die Runden zu kommen? Meint Solidarität hier ›nur‹ die Bereitschaft, für die Gesundheit aller eine hohe Verantwortung zu übernehmen und erhebliche Belastungen bis hin zu wirtschaftlicher Verarmung mehr oder weniger klaglos in Kauf zu nehmen? Oder meint Solidarität hier auch, dass wir froh und dankbar sind, in einem staatlich organisierten Solidarverband zu leben, in dem nicht alles nur von der Eigenverantwortung und Selbstinitiative der Menschen abhängt; dass wir froh und dankbar sind, dass der Staat – wenn man so will: die Staatssolidarität, allen Ambivalenzen staatlicher Herrschaftsansprüche zum Trotz – hier mit Zwangsmitteln aufwartet, damit wirklich eine flächendeckende Solidarität des Stay at home zustande kommt; eine Solidarität, die mit noch so flammenden politischen Appellen allein nicht realisierbar ist? Oder liegt die Solidarität, die hier so massiv auf die Agenda tritt, am Ende nicht auch – und vor allem – in der sozialen Tatsache, dass wir alle auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden sind, weil jede und jeder von uns ein potenzieller oder auch reeller Virenträger und damit eine potenzielle oder auch reelle Gefahr für viele ist? Liegt die Solidarität also darin, dass niemand mit guten Gründen sagen kann, die Corona-Krise gehe ihn nichts an oder er würde die Angelegenheit im Infektionsfall privat mit seinen Ärzten klären; oder falls er jemanden anstecke, käme wohl irgendwie seine Privathaftpflicht-Versicherung für den Schaden auf?

Das Corona-Virus erinnert uns in denkbarer Massivität daran, dass die Solidarität jedenfalls nicht einfach eine Frage der persönlichen Moral, der individuellen Bereitschaft zu Rücksichtnahme, Gemeinsinn und Opferbereitschaft ist. In den Zeiten der Pandemie wird vielmehr in ganz besonderer Weise deutlich, dass die Solidarität zunächst einmal ein gesellschaftliches Faktum ist. Denn in der Pandemie sind wir alle, ob wir wollen oder nicht, ob wir darum wissen oder nicht, ob wir dies akzeptieren oder nicht, in einer unentrinnbaren Infektions-Solidarität miteinander verbunden.

Daran hatten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schon die französischen Solidaristen erinnert, um die es in diesem Buch gehen soll. So schrieb etwa Charles Gide, einer ihrer Wortführer, angesichts der damaligen Tuberkulose-Ausbrüche in Paris, dass die gerade erst entdeckten mikroorganischen Krankheitserreger »den Gedanken der Solidarität« mit einer überwältigenden Evidenz »nicht nur in den Verstand, sondern auch in die heimlichen Tagessorgen jedes einzelnen von uns« katapultiert hätten:

»Jeder weiß nun, daß seine Gesundheit und sein Leben in hohem Maße nicht allein von der Gesundheit seiner Nachbarn und Mitbürger abhängt, sondern sogar von dieser oder jener ihrer unbedachten Handlungen, wie etwa das Ausspeien auf die Erde und das dadurch verursachte Ausstreuen von Tuberkulosebazillen. Bedeutet nicht die kürzlich (10. Juli 1893) erlassene Verordnung der Pariser Polizeipräfektur, die das ›Ausspeien in den Straßenbahnwagen und im Omnibus‹ untersagt, ein merkwürdiges Auftreten der Solidarität im Gesetz? « (Gide 1929, 52f.)

Aber nicht nur Charles Gide, sondern auch Léon Bourgeois, die eigentliche Frontfigur des solidarisme – seine Frau und seine Tochter starben im Jahr 1904 an der Tuberkulose – sah in der Politik der öffentlichen Gesundheit »die dringendste soziale Verpflichtung, die aus dem Faktum der Solidarität erwächst« (Bourgeois 1904, VII).

In den Zeiten der Pandemie wird uns schlagartig klar, dass im Ernstfall nicht weniger als unser aller Leben vom Tun und Unterlassen der anderen abhängt. Uns wird klar, dass wir in unseren sozial immer dichteren Gesellschaften, in denen wir uns nicht aus dem Weg gehen können, auf Leben und Tod miteinander verbunden sind. Solidarität ist deshalb nicht allein – und nicht einmal in erster Linie – eine Frage von Tugend und Moral, von Anstand und Verantwortung, von Rücksichtnahme und Gemeinsinn. Sie ist auch nicht primär eine Frage staatlich verordneter Zwangssolidarität. Die Solidarität ist vielmehr schlicht ein unerbittliches Faktum des sozialen Lebens, dem sich niemand entziehen kann. Bei der Solidarität geht es – entgegen unseren eingelebten Wahrnehmungsroutinen – gerade nicht um Gefühle und Tugenden, sondern um etwas ganz anderes: Es geht um den Begriff einer de facto-Solidarität, die uns zum Guten oder zum Bösen unausweichlich miteinander verbindet, ob wir wollen oder nicht. Und genau hier rühren wir an die eigentliche Wortbedeutung der Solidarität (dicht, fest, solide), die schon etymologisch nichts mit Mitleid und Moral zu tun hat. Es geht vielmehr um unentrinnbar gegebene und nicht einfach zu unserer Disposition stehende Bindungen, um feste soziale Legierungen, in denen wir uns immer schon vorfinden und die unabhängig von unserem Willen und unserer Zustimmung existieren.

Ein »kaltes, stahlhartes Wort«

Über diesen ursprünglichen, nicht moralisch-normativ, sondern soziologisch-deskriptiv gefassten Solidaritätsbegriff haben wir uns in unseren gesellschaftlichen Selbstverständigungsdebatten aber nur wenig Rechenschaft gegeben. Er erscheint vielen als fremd und irritierend; und er löst nicht wenige Abwehrreflexe aus. Und doch: Ein Blick in die Begriffsgeschichte der Solidarität macht deutlich, dass dieses Wort in der Tat auf das unausweichliche soziale Faktum zunehmender wechselseitiger Abhängigkeit und Verstrickung verweist, durch das sich der soziale Zusammenhang moderner, hocharbeitsteilig organisierter Gesellschaften kennzeichnet. Vor diesem Hintergrund dürften die zahlreichen Verwirrungen und Missverständnisse um den Solidaritätsbegriff vor allem daher rühren, dass dieses Wort in der Philosophie, den Politikwissenschaften und der politischen Publizistik zwar oft und gerne bemüht, aber nur überraschend wenig historisch-systematisch reflektiert wird. Herfried Münkler, einer der Grandseigneurs der politischen Ideengeschichte, hat in diesem Zusammenhang mit einigem Recht konstatiert, dass die Solidarität »das Stiefkind der Moralphilosophie, aber auch der Gesellschaftstheorie« ist:

»Während über Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit in jüngster Zeit buchstäblich ganze Bibliotheken geschrieben worden sind, finden sich zur Solidarität nur ein paar Bücher und Aufsätze. Offenbar ist Solidarität nicht sonderlich theoriefähig; jedenfalls kann von einer Theorie der Solidarität, die mit den Theorien über Freiheit und Gerechtigkeit vergleichbar wäre, nicht die Rede sein.« (Münkler 2004, 15; Herv. i.O.)

Angesichts der enormen Beliebtheit der Rede von der Solidarität ist das Bild vom Stiefkind aber wohl unpassend. Oft werden Stiefkinder ja wenig geliebt, und sie sind auch nicht omnipräsent. Die Solidarität wäre wohl besser als das Lieblingskind der Moderne zu bezeichnen, das immer und überall vorgezeigt wird. Sie ist aber wohl auch ein illegitimes Findelkind. Dem freiheitsrechtlichen Liberalismus jedenfalls, dem eigentlichen Vater des normativen Projekts der Moderne, ist sie bis heute eher fremd und unzugänglich geblieben, auch wenn er ihr mittlerweile durchaus charmante Züge abgewinnen kann; zumindest dann, wenn sie sich mit der Rolle einer unpolitischen, auf Freiwilligkeit beruhenden Haltung individueller Moralität zufrieden gibt. Dennoch bleibt eine gehörige Unsicherheit über den genetischen Code der Solidarität bestehen. Man weiß noch immer nicht so recht, was man von ihr genau zu halten hat und ob und wie sie zur politischen Moderne gehören kann und soll.

Die Solidarität ist jedenfalls das jüngste Kind der politischen Moderne; und sie ist ein weithin unverstandenes Kind, in das bis heute alle möglichen und unmöglichen Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen hineinprojiziert werden. Man fragt sich aber kaum, woher dieses Kind eigentlich kommt, welche Geschichte es hat, wie es sich selbst verstehen will und wie es sein Verhältnis zur Moderne zu bestimmen versucht. Kurt Eisner, der einem demokratischen Sozialismus verpflichtete Berliner Journalist, der im November 1918 die bayerische Republik als Freistaat ausgerufen hatte und im Februar 1919 von einem völkisch-reaktionären Leutnant auf offener Straße erschossen wurde, hat in diesem Zusammenhang eine der schönsten Beschreibungen der Solidarität verfasst, über die wir verfügen. Er schrieb im Jahr 1908 in einem privaten Brief an eine Freundin, dass man die Solidarität nicht mit Liebe, Mitleid und Barmherzigkeit verwechseln dürfe:

»Das kalte, stahlharte Wort Solidarität aber ist in dem Ofen wissenschaftlichen Denkens geglüht. […] Die Solidarität hat ihre Wiege im Kopfe der Menschheit, nicht im Gefühl. Wissenschaft hat sie gesäugt, und in der großen Stadt, zwischen Schlöten und Straßenbahnen, ist sie zur Schule gegangen. Noch hat sie ihre Lehrzeit nicht abgeschlossen. Ist sie aber reif geworden und allmächtig, dann wirst Du erkennen, wie in diesem harten Begriff das heiße Herz einer Welt von neuen Gefühlen und das Gefühl einer neuen Welt leidenschaftlich klopft.« (Eisner 1919, 56)

Wie auch immer es heute – einhundert Jahre später – um diese »neue Welt« bestellt sein mag; Tatsache ist jedenfalls, dass die Solidarität in ihrem Ursprung wirklich ein »kaltes, stahlhartes Wort« ist, das dem »wissenschaftlichen Denken« des 19. Jahrhunderts entstammt und seine Wurzeln nicht in menschlicher Empfindsamkeit, sondern »zwischen Schlöten und Straßenbahnen« hat. Sie erblickte erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Licht der Welt und hat mit den aus dem 18. Jahrhundert stammenden Ideen des politischen Liberalismus, mit individueller Freiheit und Gleichheit, mit Aufklärung, Bildung und Vernunft nichts zu tun. Bei den Klassikern der modernen politischen Philosophie ist der Begriff noch nicht zu finden. Weder Hobbes noch Locke, weder Rousseau noch Kant haben ihn verwendet; und auch im Umfeld der Französischen Revolution von 1789 scheint er kaum eine Rolle gespielt zu haben. Erst in der Februar-Revolution des Jahres 1848 wurde solidarité zu einem Grundbegriff der politisch-sozialen Sprache, der sich dann bald zu einem programmatischen Leitbegriff der entstehenden Arbeiterbewegungen entwickelte und über Frankreich hinaus in ganz Europa prominent wurde.

Ursprünglich fungierte solidarité – als Synonym für solidité (Festigkeit, Stabilität) – ausschließlich als juristischer Fachbegriff für die aus dem römischen Recht stammende obligatio in solidum, die wechselseitige Solidarhaftung, bei der sich mehrere Vertragspartner gegenüber einem Gläubiger verpflichten, für Zahlungspflichten eines Einzelnen in Gänze, in solidum, einzustehen. Erste Spuren einer darüber hinausgehenden Verwendungsweise der Solidaritätsvokabel finden sich in einigen wenigen Texten der französischen Restaurationsphilosophie, die sich gegen den Voluntarismus von Aufklärung und Revolution richten und die vermeintlich unveränderlichen, der Verfügungsmacht der Individuen entzogenen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung von Geschichte und Gesellschaft betonen. Besonders nachdrücklich wird dieses Wahrnehmungsmuster dann im Jahr 1851 noch einmal von dem spanischen Adligen Juan Donoso Cortés artikuliert, der von einem »Dogma der Solidarität« sprach, das er scharf gegen die liberalen und sozialistischen Strömungen seiner Zeit in Stellung brachte. Dieses Dogma markiere die Grenzen der Ideen von individueller Freiheit und Gleichheit und erinnere daran, dass der Mensch »das ist, was seine Familie ist, in der er geboren wurde; und das ist, was die Gesellschaft ist, in der er lebt und in der er atmet« (Donoso Cortés 2007, 160). Wer dagegen die an Blut und Abstammung, an Herkommen und gottgewollter Ungleichheit der Menschen gebundene Solidarität bestreite, zerstöre sämtliche Formen familialen und nationalen Zusammenhalts und betreibe den Untergang jeglicher Form sozialer Ordnung.

Im Umfeld der 1848er-Revolution sollte die Rede von der Solidarität aber nicht nur in reaktionären Theoriemilieus, sondern auch bei einem begeisterten Anhänger der liberalen Freihandelslehre reüssieren. Der seinerzeit sehr bekannte Pariser Ökonom und Publizist Claude Frédéric Bastiat, der sein Lebenswerk dem Kampf gegen Schutzzöllner und Sozialisten gewidmet hatte, sprach in seinem unvollendet gebliebenen Hauptwerk Harmonies économiques (1850) emphatisch von einem »Gesetz der Solidarität«, da die Gesellschaft insgesamt nichts anderes sei als »ein Ensemble sich kreuzender Solidaritäten«:

»Dieser ganze Austausch von Gedanken, Produkten, Diensten und Arbeiten, von Übeln und Gütern, von Tugenden und Lastern, der aus der menschlichen Familie eine große Einheit und aus den Milliarden vergänglicher Existenzen ein gemeinsames, universelles und kontinuierliches Leben macht; all das ist die Solidarität.« (Bastiat 1982, 538f.; Herv. i.O.)

Diese Solidarität werde sich, so Bastiat, der die heilsamen Wirkungen des freien Marktes und der freien Konkurrenz hymnisch feierte, früher oder später von selbst zu einer natürlichen Harmonie des Fortschritts und des Wohlstands entwickeln, wenn man sie nur sich selbst überlässt und nicht künstlich in sie eingreift. Deshalb komme es entscheidend darauf an, die sichtbaren und unsichtbaren Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes zu erkennen und ihnen zu vertrauen, denn nur so könne sich die ökonomische solidarité naturelle – gegen »den großen Missbrauch, den gewisse sozialistische Schulen mit dem Wort Solidarität betreiben« (ebd., 541) – ungehindert entfalten und vollziehen.

Die Solidarität als »grand fait«

Donoso Cortés und Bastiat reagierten gleichermaßen auf den enormen Siegeszug, den die Formel der Solidarität in den politischen Aufbrüchen der Revolution von 1848 erlebt hatte. Nachdem der Solidaritätsbegriff in den 1840er-Jahren schon im frühsozialistischen Umfeld Charles Fouriers, vor allem aber beim vom Christentum beeinflussten demokratischen Sozialisten Pierre Leroux prominente Verwendung fand, avancierte er 1848 zum leidenschaftlichen Programmbegriff sozialistisch-demokratischer Gesellschaftsgestaltung. Hier erfuhr die Solidarität – als solidarité humaine – erstmals ihre hohen moralischen Aufladungen, aus denen sich egalitäre Vorstellungen mitmenschlicher Verbundenheit und wechselseitiger Verpflichtung entwickelten. Anders als mit der Anrufung der Brüderlichkeit verbanden sich mit der Rede von der Solidarität aber weiterhin nicht primär normativ-appellative, sondern vor allem analytisch-deskriptive Bedeutungsgehalte. So erklärte etwa der sozialistische Ökonom Constantin Pecqueur im Jahr 1850 begeistert:

»Was ist die Solidarität? Sie ist die natürliche, notwendige, intime, kontinuierliche, uneingeschränkte und unbegrenzte Abhängigkeit der einen von den anderen, der menschlichen Wesen im Allgemeinen, [als Bedingung, HJGK] für ihre intellektuelle, moralische und physische Entwicklung, ihr Wohlergehen, ihre Freiheit, ihre Vollendung und ihr Glück. […] Die große Tatsache (le grand fait), die die Sozialwissenschaft festgestellt hat, ist eben diese: das konstante Bedürfnis, das wir aneinander haben, ein Bedürfnis, das so absolut ist, dass aus allen Mitgliedern der Gesellschaft ein unteilbares Ganzes wird. Diese große Tatsache […] ist zugleich die Grundlage und das Licht der Sozialwissenschaft […]. Die Organisation der Solidarität ist das einzige Mittel, um wirkliche Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu erreichen.« (zit.n. Borgetto 1993, 353)

Auch in der enthusiastisch aufgeladenen Ausnahmesituation der 1848er-Aufbrüche blieb also der dominante Bedeutungssinn der solidarité die soziologische Beschreibung gesellschaftlicher Interdependenz- und Abhängigkeitsverhältnisse. Die Solidarität will sich als grand fait, als hartes Faktum sozialwissenschaftlicher Erkenntnis verstehen – und war weit davon entfernt, lediglich als Synonym für Brüderlichkeit zu fungieren. In diesem Sinne wird die Solidarität auch in der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden französischen Solidaritätssoziologie verstanden und entworfen. Bei Auguste Comte und Émile Durkheim avancierte sie zum zentralen Grundbegriff der neuen ›Wissenschaft von der Gesellschaft‹. Der Begriff der de facto-Solidarität bezeichnet hier nicht weniger als den auf sozialstrukturellen Prozessen wachsender »Arbeitsteilung und Kräftevereinigung« (Auguste Comte), auf zunehmender »sozialer Dichte und Differenzierung« (Émile Durkheim) beruhenden sozialen Zusammenhalt moderner Gesellschaften. Denn dieser basiere, so die neue Soziologie, nicht länger auf Religion und Überlieferung; und schon gar nicht gründe er in einem künstlichen Gesellschaftsvertrag und der bewussten Zustimmung der Gesellschaftsmitglieder. In diesem Sinne bricht das soziologische Konzept der Solidarität fundamental mit den aus dem 18. Jahrhundert stammenden Wahrnehmungsmustern der Aufklärungsphilosophie und des politischen Liberalismus.

Dieser deskriptiv-nüchterne Solidaritätsbegriff sollte dann auch im Zentrum des republikanischen solidarisme um Léon Bourgeois, Alfred Fouillée und Charles Gide stehen, der im Frankreich der Dritten Republik eine neue postliberale Sozialdoktrin jenseits von Individualismus und Kollektivismus auf den Weg brachte; eine Sozialdoktrin, die vor allem für den in dieser Zeit entstehenden Wohlfahrtsstaat der Industriegesellschaft eine moderne republikanische Legitimationstheorie zur Verfügung stellen wollte. Dem solidarisme ging es um das anspruchsvolle Projekt, die für das liberale Denken so grundlegende Antithese von Individuum und Gemeinschaft zu überwinden und auf das »gleichzeitige Wachstum des individuellen und des sozialen Lebens« (Alfred Fouillée) hinzuweisen, um auf dieser Grundlage die Freiheits- und Gleichheitslektionen der Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts mit den solidaritätssoziologischen Einsichten des 19. Jahrhunderts in Einklang zu bringen. Der solidarisme verabschiedete damit die allzu simplen ökonomisch-sozialen Ausgangsannahmen des liberalen Moraldispositivs von Freiheit und Unabhängigkeit, von Eigenstand und Eigenverantwortung, die sich am vorindustriellen Leitbild einer egalitären »Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen« (Lothar Gall) orientieren und mit dem Aufkommen der großen Industrie historisch obsolet zu werden begannen. Ohne die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zu gefährden, eröffnete der soziologische Begriff der de facto-Solidarität dem solidarisme die Möglichkeit, die Theorie des liberalen Rechtsstaates zu einer Theorie des postliberalen Wohlfahrtsstaates auf republikanischer Grundlage weiterzuentwickeln und auf diesem Weg die Ideale der Französischen Revolution für die gesellschaftlichen Realitäten des beginnenden 20. Jahrhunderts auf einem transformierten Normativitätsniveau neu fruchtbar zu machen. In diesem Sinne forderten die Solidaristen, die Revolutions-Trias von ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ durch die solidaristische Trias von ›Solidarität, Gleichheit, Freiheit‹ zu ersetzen, denn:

»Die Solidarität ist das erste Faktum, vorgängig zu jeder sozialen Organisation; sie ist zur gleichen Zeit der objektive Seinsgrund der Brüderlichkeit. Mit ihr muss man anfangen. Solidarität zuerst, dann Gleichheit oder Gerechtigkeit, die in Wahrheit identisch sind, schließlich: Freiheit. Dies ist die notwendige Ordnung der drei Ideen, mit denen die Revolution die soziale Wahrheit auf den Punkt bringt.« (Bourgeois 2008b, 122f.)

Dieser Essay will an die vergessenen Aufbrüche des französischen Solidarismus erinnern und die Frage aufwerfen, ob sie in der Lage sind, eine neue solidaristische Idee des Sozialen für heute zu inspirieren und die vorherrschenden Plausibilitäten des politischen Liberalismus in ihrer kulturellen Hegemonie nachhaltig zu erschüttern.

2.Noch immer »Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen«?Der versäumte Abschied von der liberalen Gesellschaftsillusion

Die Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts steht an der Wiege unserer politischen Kultur. Sie prägt bis heute unsere ethischen Grundüberzeugungen in fundamentaler Weise; und das ist auch gut so. In den Gesellschaften der europäischen Neuzeit löste sie enorme Emanzipationsschübe aus, ohne die unsere Vorstellungen von der unbedingten Freiheit und Gleichheit aller, von der unantastbaren Würde jedes Menschen, von der moralischen Autonomie und Selbstbestimmungsfähigkeit des Einzelnen nicht entstanden wären.

Mit der Entstehung des Stadtbürgertums, der Entfaltung von Schifffahrt und Handel, der Entdeckung neuer Märkte und Absatzgebiete, der Zunahme markt- und geldvermittelter Wirtschaft, dem rasanten Bevölkerungswachstum, der Entwicklung von Technik und Wissenschaft, der neuen Dynamik in Bildung und Kultur geriet die vermeintlich unveränderliche Welt der feudalgesellschaftlichen Ordnung ins Wanken. Mit der beginnenden Moderne kamen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft nachhaltig in Bewegung: »Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Stehende und Ständische verdampft, alles Heilige wird entweiht.« (Marx/Engels 1989, 23) Stattdessen herrschten nun Aufbruch, Veränderung und Unsicherheit, aber auch Hoffnung und Zuversicht. Mit der politisch-industriellen Doppelrevolution, der politischen Entmachtung des Adels und dem Durchbruch zur ökonomischen Herrschaft des Besitzbürgertums im Rahmen der rasanten Industrialisierungsprozesse der modernen Gesellschaft, sollte die alte Welt endgültig einstürzen.

Autonome Persönlichkeit und egalitäre Bürgergesellschaft

In dem Maße, wie die jahrhundertelang geltenden, in den ewigen Gesetzen der Schöpfungsordnung Gottes und seiner Vorsehung gründenden Fundamente der alteuropäischen Sozialstruktur an Glaubwürdigkeit verloren, entstand ein mentaler Freiraum für eine neue gesellschaftliche Moral, für postfeudale Vorstellungen des sozialen Lebens, die sich von den überlieferten Kategorien gottgewollter Hierarchie und ständischer Ordnung verabschieden und stattdessen das bürgerliche Subjekt als neues normatives Leitbild ausrufen. Im selbstbewussten Anspruch, das ›finstere Mittelalter‹ durch eine neue, vom ›Licht der Vernunft‹ erhellte Geschichtsepoche zu ersetzen, machte sich die europäische Aufklärungsbewegung auf den Weg, den verkrusteten Herrschaftsverhältnissen ihrer Zeit die Verheißungen eines kommenden Zeitalters der Bildung und des Fortschritts entgegenzusetzen. In ihrem Zentrum stand das Ideal der autonomen Einzelpersönlichkeit, der freie, mündige, vernunftbegabte und verantwortungsbewusste Mensch, so wie er in den natur- und vernunftrechtlichen Anthropologien der Neuzeit,in den Staats- und Sozialphilosophien des 17. und 18. Jahrhunderts beschrieben und entworfen wurde.1 Das freie Individuum – damit waren stets nur Männer gemeint – sollte sich zum einen als ökonomisch unabhängiger Marktbürger erfahren können, der auf einem von obrigkeitlichen Vorgaben freien lokalen Markt der Waren und Dienstleistungen eigenverantwortlich agieren und seinen materiellen Interessen ungehindert nachgehen kann; und je überschaubarer dieser Markt ist, umso höher sind hier die Chancen ökonomischer Selbstbestimmung. Zum anderen sollte sich dieses Individuum als politisch partizipierender Aktivbürger realisieren können, der sich nicht mit der halbierten Freiheit einer nur ökonomischen Autonomie begnügt, sondern gleichberechtigt am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess des Staates mitwirken will; und die Chancen einer demokratischen Selbstregierung erscheinen hier tatsächlich hoch, weil in einer solchen egalitären Marktgesellschaft keine grundlegenden Interessenantagonismen vorliegen und das Wahlrecht für unterbürgerliche, eigentumslose Bevölkerungsschichten ohnehin nicht gelten sollte. Und schließlich sollte sich das autonome Individuum auch in den Fragen von Bildung, Kunst und Kultur, von Religion, Ethik und Weltanschauung als kulturell selbstentscheidungsfähige Person erleben können und entsprechende Anerkennung finden, auch wenn die Vorstellung vorherrschend blieb, dass eine völlige Ablehnung jedes Gottesglaubens nicht zu akzeptieren sei, da man ohne die Vorstellung einer belohnenden oder bestrafenden Instanz im Jenseits kaum eine genügende Gehorsamsbereitschaft gegenüber den Gesetzen des Staates erwarten könne.

Mit diesem dreifachen Autonomieversprechen verband sich zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters ein faszinierendes gesellschaftliches Reformprojekt, dessen zukunftsweisende Kraft auch weite Teile der unteren sozialen Schichten erreichen konnte. Die frühliberale Gesellschaftsvision wurde zwar nirgends konsistent und umfassend ausgearbeitet und ist deshalb heute weniger präsent als die epochalen verfassungsrechtlichen Leitideen von Freiheit und Gleichheit, von politischer Öffentlichkeit und demokratischer Republik, die in Autoren wie John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant ihre berühmten Meisterdenker gefunden haben. Dennoch vermochte sie eine erhebliche politisch-moralische Strahlkraft zu entfalten. Einer treffenden Formulierung des Frankfurter Historikers Lothar Gall zufolge orientiert sich diese Vision am »Zukunftsbild einer klassenlosen Bürgergesellschaft ›mittlerer‹ Existenzen, einer, rückblickend formuliert, vorindustriellen, berufsständisch organisierten Mittelstandsgesellschaft auf patriarchalischer Grundlage« (Gall 1975, 353). In ihr geht es um eine sozial homogene Gesellschaft freier und gleicher, ökonomisch selbständiger Privatbürger, die nicht nur ihre individuellen Existenzbedingungen, sondern auch ihr politisches Zusammenleben in die eigenen Hände nehmen können und wollen. Und wer aufgrund mangelnder Bildung und fehlenden Besitzes zunächst noch vom Status eines solchen Vollbürgers ausgeschlossen ist, für den sollte sich dieses Defizit durch umfassende volkspädagogische Bemühungen mit der Zeit rasch und harmonisch ausgleichen lassen. Damit war klar: Die statusorientierte Gesellschaft ständischer Geburtsprivilegien sollte ersetzt werden durch eine egalitäre Gesellschaft freier und gleicher Privatbürger, die jedem Individuum grundsätzlich die gleiche Chance einräumt, sich durch eigene Arbeit, durch Leistung, Fleiß und Anstrengung einen zumindest bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten. In diesem Sinne war die frühliberale Bewegung davon überzeugt, dass »die Zahl jener, die durch eine geistig wie materiell selbständige Existenz sozusagen das Entreebillet in die ›bürgerliche Gesellschaft‹ erwerben würden, […] ständig und stürmisch ansteigen« werde, »bis schließlich jeder oder nahezu jeder ›Bürger‹, ein vollbürtiges Mitglied der ›bürgerlichen‹ Gesellschaft« sein wird (ebd., 345).

Bürgerliche Freiheit und privates Produktiveigentum

Zugeschnitten war dieses universalistisch-egalitäre Gesellschaftsbild auf die – nicht wenig idealisierten – Verhältnisse einer dörflich-kleinstädtischen, von freien Bauern, Handwerkern und Kaufleuten bevölkerten Lebenswelt, in der die sozioökonomischen Grundlagen für eine überschaubare Gesellschaft selbstverantwortlicher Kleinproduzenten in hinreichender Weise vorliegen. So schien hier die freie Verfügung über ein gewisses produktives Eigentum für jeden erreichbar zu sein, etwa in Form einer Ackerscholle oder eines Handwerksbetriebs, auf dessen Grundlage der Einzelne seine ökonomische Existenz nicht allein auf Subsistenzbasis, sondern auch mithilfe der egalitären Tauschprozesse eines freien Marktes eigenverantwortlich sichern und ausbauen kann. So wie sich Freiheit politisch-rechtlich durch die »Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür«