Solitaire (deutsche Ausgabe) - Alice Oseman - E-Book
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Solitaire (deutsche Ausgabe) E-Book

Alice Oseman

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Beschreibung

Erlebe das aufwühlende Schuljahr mit Victoria Spring! Victoria Spring hat alles, um glücklich zu sein: Nette Freunde, tolle Geschwister, Eltern … Nur möchte sie am liebsten ihre Ruhe haben und einfach gar nichts tun. Bis sie auf Michael Holden trifft. Der seltsame Junge ist immer fröhlich und fest entschlossen, ihr Freund zu sein. Dann versetzen auch noch Nachrichten einer anonymen Gruppe namens Solitaire die ganze Schule in Schockstarre. Und plötzlich ist die Vorstellung, nichts zu tun, schlimmer als zu handeln … Ein Muss für alle Heartstopper-Fans Der bewegende Debütroman von Alice Oseman über Einsamkeit, wahre Freundschaft und die Suche nach sich selbst. Eine Geschichte über Tori Spring und mit vielen beliebten Charakteren aus Alice Osemans gefeierter Graphic-Novel-Serie Heartstopper – jetzt auch als Realverfilmung bei Netflix. In ihrem Coming of Age-Roman Solitaire beschreibt Alice Oseman eindrücklich den Zwang, sich inmitten von Weltschmerz, Depression und Erfolgsdruck zurechtfinden zu müssen. Dabei zeigt sie, dass eine einzige Freundschaft ausreicht, um alles zu verändern. Graphic Novels aus dem Heartstopper-Universum: Heartstopper Volume 1 Heartstopper Volume 2 Heartstopper Volume 3 Heartstopper Volume 4 Heartstopper Volume 5 Heartstopper Volume 6 - folgt Romane aus dem Heartstopper-Universum: Nick & Charlie This Winter Weitere Jugendbuchromane von Alice Oseman bei Loewe: Loveless Nothing Left for Us (die deutsche Übersetzung von Radio Silence) Solitaire I was Born for This

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Seitenzahl: 381

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Inhalt

Erster Teil

Eins – Ich komme in …

Zwei – Die meisten Leute …

Drei – Später lasse ich …

Vier – Ich bin spät …

Fünf – »Das hat aber …

Sechs – Ich gehe hinein, …

Sieben – Wir rechneten nicht …

Acht – Am Montagmorgen um …

Neun – Am nächsten Tag …

Zehn – Den Rest des …

Elf – »Das ist kein …

Zwölf – Man überschreitet eine …

Dreizehn – Oliver kommt verschlafen …

Vierzehn – 14:02   Eingehender Anruf …

Fünfzehn – Als ich aufwache, …

Sechzehn – Die Luft hat …

Siebzehn – Als wir bei …

Achtzehn – Becky verbringt jede …

Neunzehn – Am nächsten Tag …

Zwanzig – Zu Hause gehe …

Einundzwanzig – Es beruhigt mich, …

Zweiundzwanzig – Mittagspause. Oberstufenraum. Ich …

Dreiundzwanzig – Früher habe ich …

Vierundzwanzig – Um neun Uhr …

Fünfundzwanzig – Wir finden nicht …

Sechsundzwanzig – Um null Uhr …

Siebenundzwanzig – Um mich herum …

Zweiter Teil

Eins – Lucas hat früher …

Zwei – Ich finde Lucas …

Drei – Grandma und Granddad …

Vier – Bei der Morgenandacht …

Fünf – Ich sitze im …

Sechs – »Okay, Tori.« Kent …

Sieben – Die letzte Stunde …

Acht – Es war bis …

Neun – »Victoria? Tori? Hallo?« …

Zehn – Ich glaube, heute …

Elf – »Mum«, sage ich. …

Zwölf – Als ich am …

Dreizehn – Am Donnerstag schallt …

Vierzehn – Der vierte Februar …

Fünfzehn – Ich werde den …

Sechzehn – Meine Füße bewegen …

Danach

Danksagung

»Und Ihr Fehler ist ein Hang, jedermann zu verabscheuen.«

»Und der Ihre«, erwiderte er lächelnd, »ist es, jedermann absichtlich misszuverstehen.«

STOLZ UND VORURTEIL

ERSTER TEIL

Elizabeth Bennet: Tanzen Sie, MrDarcy?

MrDarcy: Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.

EINS

Ich komme in den Oberstufenraum und weiß genau, dass die meisten Leute hier so gut wie tot sind. Ich auch. Es heißt, dass es normal ist, nach Weihnachten unter einer Depression zu leiden. Dass man damit rechnen muss, eine seltsame Taubheit in sich zu spüren nach der »schönsten Zeit des Jahres«. Aber ich fühle mich jetzt auch nicht viel anders als an Heiligabend oder während der Weihnachtsfeiertage oder an jedem anderen Tag seit Beginn der Weihnachtsferien. Ich bin wieder in der Schule. Ein neues Jahr hat angefangen. Nichts wird passieren.

Ich stehe da. Becky und ich schauen uns an.

»Tori«, sagt Becky, »du siehst aus, als würdest du dich am liebsten umbringen.«

Sie und der Rest unserer Truppe hocken auf Drehstühlen an den Computertischen. Weil es der erste Schultag nach den Ferien ist, haben alle besonders viel Zeit und Mühe in Haare und Styling investiert. Ich fühle mich sofort fehl am Platz.

Ich lasse mich neben sie auf einen Stuhl fallen und nicke. »Das ist lustig, weil es wahr ist.«

Sie schaut mich immer noch an, aber eigentlich schaut sie gar nicht richtig, und wir lachen, obwohl es nichts zu lachen gibt. Dann merkt Becky, dass ich zu nichts in der Stimmung bin, und lässt mich in Ruhe. Ich lehne mich zurück und falle in eine Art Wachkoma.

Ich heiße Victoria Spring. Vielleicht sollte ich gleich dazusagen, dass ich mir ständig über alle möglichen Sachen den Kopf zerbreche und mir Dinge vorstelle, die mich traurig machen. Ich schlafe gern und ich blogge gern. Und eines Tages werde ich sterben.

Rebecca Allen ist zurzeit wahrscheinlich meine einzige Freundin. Außerdem ist sie wahrscheinlich meine beste Freundin. Ob das eine etwas mit dem anderen zu tun hat, weiß ich noch nicht. Jedenfalls ist Becky Allen sehr hübsch und hat sehr lange lila Haare. Mir ist aufgefallen, dass man oft angeschaut wird, wenn man lila Haare hat. Dann können die Leute oft gar nicht mehr aufhören, einen anzuschauen, mit dem Ergebnis, dass man in der ganzen Schule bekannt und unglaublich beliebt ist. Alle behaupten, einen zu kennen, obwohl sie ziemlich sicher noch kein einziges Wort mit einem gewechselt haben. Becky hat viele Instagram-Follower.

Gerade unterhält sie sich mit Evelyn Foley, die auch zu unserer Truppe gehört. Evelyn gilt als »retro«, weil es ihr egal ist, wie ihre Haare aussehen, und wegen ihrer coolen Halsketten.

»Grundsätzlich müsste man doch erst mal klären«, sagt Evelyn, »ob zwischen Harry und Malfoy nicht eine sexuelle Anziehung besteht.«

Ich weiß nicht, ob Becky Evelyn wirklich mag. Manchmal habe ich das Gefühl, die Leute tun bloß so, als würden sie sich mögen.

»Höchstens in Fan-Fiction«, erwidert Becky. »Leb deine schmutzigen Fantasien bitte mit dir und deinem Blog aus.«

Evelyn lacht. »Ich meine ja bloß. Immerhin hilft Malfoy Harry am Ende. Eigentlich ist er ein netter Kerl, oder? Warum also schikaniert er Harry sieben Jahre lang? Weil. Er. Ihn. Insgeheim. Mag.« Sie klatscht bei jedem Wort in die Hände. Es macht ihre Argumentation nicht überzeugender. »Was sich neckt, das liebt sich, wie jeder weiß. Psychologisch ist der Fall glasklar.«

»Erstens«, sagt Becky, »ist mir diese Fangirl-Vorstellung, dass Draco Malfoy so was wie eine wunderschöne gequälte Seele ist, die nach Verständnis und Erlösung sucht, total zuwider. Er ist im Grunde ein krasser Rassist. Und zweitens ist die Vorstellung, dass Mobbing bedeutet, dass man auf jemanden steht, prinzipiell die Grundlage für häusliche Gewalt.« Evelyn sieht aus, als wäre sie zutiefst beleidigt. »Es ist nur ein Buch und nicht das echte Leben.« Becky seufzt und dreht sich zu mir, genau wie Evelyn. Ich schließe daraus, dass ich unter Druck stehe, etwas zu der Diskussion beizutragen. »Um ehrlich zu sein, finde ich, dass Harry Potter ziemlich scheiße ist«, sage ich. »Ich wünschte, wir könnten das endlich mal hinter uns lassen.« Becky und Evelyn schauen mich an.

Ich habe den Eindruck, dass ich der Unterhaltung damit den Todesstoß versetzt habe, also murmle ich eine Entschuldigung, hieve mich aus dem Stuhl und suche das Weite. Manchmal hasse ich Menschen. Für meine seelische Gesundheit ist das wahrscheinlich ziemlich übel.

Es gibt in unserer alles jetzt noch einmal sehr gründlich School for Girls, auch »Higgs« genannt, und die Truham Grammar School for Boys. Trotz des Namens nehmen beide Schulen ab der Oberstufe sowohl Mädchen als auch Jungen auf. Und da ich jetzt in der Oberstufe bin, bin ich mit einem plötzlichen Zustrom der männlichen Spezies konfrontiert. An der Higgs haben Jungs den Status von Fabelwesen, und wer einen festen Freund hat, steht automatisch an der Spitze der sozialen Hierarchie. Aber wenn ich zu viel über Jungs nachdenke oder rede, habe ich immer das Bedürfnis, mir ins Gesicht zu schießen.

Selbst wenn mir so was wie Aussehen wichtig wäre, ist es uns dank unserer umwerfenden Schuluniform gar nicht möglich, unsere körperlichen Vorzüge zur Schau zu stellen. Normalerweise muss man ab der Oberstufe keine Uniform mehr tragen; aber an der Higgs zwingen sie uns weiter, ihre hässliche Tracht anzuziehen. Sie ist grau – die perfekte Farbe für einen so stumpfsinnigen Ort.

Als ich zu meinem Schließfach komme, klebt dort ein rosa Post-it. Darauf ist ein nach links zeigender Pfeil gemalt, der mich vermutlich auffordern soll, nach links zu schauen. Ich drehe genervt den Kopf. Ein paar Schließfächer weiter klebt ein weiteres Post-it. Und an der Wand am Ende des Flurs noch eins. Alle laufen einfach daran vorbei, ohne es zu bemerken. Ich schätze, die meisten sind nicht aufmerksam genug. Das oder es interessiert sie einfach nicht. Was ich nachvollziehen kann.

Ich ziehe den rosa Zettel von meiner Spindtür ab und gehe zum nächsten Post-it.

Es gibt Tage, an denen ich mich gern mit Dingen beschäftige, die anderen Leuten egal sind. Das gibt mir das Gefühl, etwas Bedeutsames zu tun, vor allem deswegen, weil es sonst niemand tut.

Heute ist einer dieser Tage.

Plötzlich entdecke ich überall Post-its.

Der Pfeil auf dem vorletzten Post-it zeigt nach oben – ich nehme an, das soll »vorwärts« heißen – und klebt an der Tür des Computerraums C16 im ersten Stock. Das Fenster in der Tür ist mit schwarzem Stoff verhängt. Der Raum wurde letztes Jahr nicht benutzt, weil er renoviert werden sollte, allerdings sieht es nicht so aus, als ob schon jemand damit angefangen hätte. Der Gedanke macht mich irgendwie fertig, aber ich öffne die Tür trotzdem.

Der Raum hat eine lange Fensterfront und die Computer, die darin stehen, sind vorsintflutliche Quader. Anscheinend bin ich in die 1990er-Jahre zurückgereist.

Das letzte Post-it klebt auf der hinteren Wand. Es steht eine Internetadresse drauf:

SOLITAIRE.CO.UK

Solitaire ist ein Computer-Kartenspiel, das man mit sich selbst spielt. Früher habe ich mir in Informatik damit die Zeit vertrieben, was für die Entwicklung meiner Intelligenz wahrscheinlich förderlicher war, als wenn ich mir angehört hätte, was unser Lehrer vorne von sich gab.

Plötzlich geht die Tür auf.

»Du meine Güte. Die Computer hier drin sind so alt, dass die Schulleitung dafür strafrechtlich verfolgt werden sollte.«

Ich drehe mich langsam um.

Da steht ein Typ im Computerraum.

»Ich kann förmlich das schrille Kreischen und Piepsen hören, mit dem sich das Modem quälend langsam ins Internet einwählt«, sagt er zu sich selbst. Er schaut sich um und merkt erst mit einiger Verzögerung, dass er nicht allein im Raum ist.

Er sieht ganz normal aus, nicht hässlich, aber auch nicht umwerfend. Das Auffälligste an ihm ist seine Brille mit dem dicken Kunststoffgestell, die an 3-D-Kinobrillen erinnert. Der Typ ist groß und hat einen Seitenscheitel. In der einen Hand hält er einen Becher Tee, in der anderen einen Zettel und seinen Stundenplan.

Als er mich sieht, leuchten seine Augen auf, und ich schwöre bei Gott, dass sie doppelt so groß werden wie vorher. Er stürzt wie ein angriffslustiger Löwe auf mich zu. Ich stolpere erschrocken ein paar Schritte rückwärts. Dann beugt er sich so weit vor, dass sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt ist. Ich sehe mein Spiegelbild in seiner lächerlich großen Brille und mir fällt auf, dass er ein blaues und ein grünes Auge hat. Heterochromie.

Er grinst übers ganze Gesicht.

»Victoria Spring!« Er reißt aufgeregt die Arme hoch.

Ich sage und tue nichts. Ich habe Kopfschmerzen.

»Du bist Victoria Spring.« Er hält mir den Zettel vor die Nase. Es ist ein ausgedrucktes Foto. Von mir. Darunter steht in winziger Schrift: Victoria Spring, 11A. Das Bild hängt eigentlich im Infokasten neben dem Lehrerzimmer bei den Fotos der Klassensprecher aller Stufen. In der Elften war ich Klassensprecherin, weil keine andere Lust hatte, den Job zu übernehmen. Ich wurde dann gefragt, ob ich mich nicht freiwillig melden könnte. Das Foto ist grauenhaft. Ich hatte damals noch lange Haare und sehe darauf ein bisschen so aus wie das Mädchen aus diesem Horrorfilm Ring. So als hätte ich noch nicht einmal ein Gesicht.

Ich schaue in sein blaues Auge. »Hast du das einfach so aus dem Infokasten genommen?«

Er tritt einen Schritt zurück und stellt wieder einen angemessenen Abstand zwischen uns her. Sein Lächeln hat etwas Durchgeknalltes. »Ich hab so einem Typen gesagt, ich würde ihm helfen, dich zu suchen.« Er tippt sich mit seinem Stundenplan nachdenklich ans Kinn. »Blond … Skinny Jeans … läuft durch die Gegend, als hätte er keine Ahnung, wo er eigentlich ist …«

Ich kenne keine Typen. Erst recht keine blonden Typen, die Skinny Jeans tragen.

Ich zucke mit den Achseln. »Und woher wusstest du, dass ich hier bin?«

Er zuckt auch mit den Achseln. »Wusste ich gar nicht. Ich bin bloß wegen dem Pfeil an der Tür reingekommen. Das sah so geheimnisvoll aus. Und plötzlich stehst du vor mir! Was für eine lustige Fügung des Schicksals!«

Er nimmt einen Schluck von seinem Tee.

»Ich hab dich schon mal gesehen.« Er lächelt immer noch.

Ich müsste ihm eigentlich auch schon mal irgendwann auf dem Flur über den Weg gelaufen sein. Aber dann würde ich mich mit Sicherheit an diese hässliche Brille erinnern. »Ich glaube nicht, dass ich dich schon mal gesehen habe.«

»Das überrascht mich nicht«, sagt er. »Ich bin in der Dreizehnten, es gibt also nicht viele Gelegenheiten, bei denen wir uns treffen könnten. Außerdem bin ich erst letzten September von der Truham übergewechselt.«

Das erklärt, warum ich ihn nicht kenne. Vier Monate reichen nicht, um mir ein Gesicht einzuprägen.

»Also?« Er trommelt mit den Fingern auf seinem Becher herum. »Was ist hier los?«

Ich zeige lustlos auf das Post-it an der Wand. Er geht hin und zieht es ab.

»Solitaire.co.uk. Interessant. Okay. Eigentlich könnten wir ja einen dieser Rechner benutzen, um zu sehen, was sich hinter dieser Adresse verbirgt. Wahrscheinlich wären wir beide allerdings längst gestorben, bis die Dinger hier es geschafft hätten, hochzufahren und den Internet Explorer zu öffnen. Ich gehe jede Wette ein, dass die alle noch unter Windows 95 laufen.«

Er setzt sich auf einen der Drehstühle und starrt aus dem Fenster. Draußen ist alles so hell erleuchtet, als würde die Welt in Flammen stehen. Der Blick reicht über die Stadt hinweg bis hinaus ins Grüne. Er merkt, dass ich auch aus dem Fenster schaue.

»Es fühlt sich an, als würde man hinausgesogen werden, findest du nicht?« Er seufzt. »Heute Morgen hab ich auf dem Weg hierher einen alten Mann gesehen. Er saß an einer Bushaltestelle und hatte Kopfhörer auf, dabei hat er mit den Händen auf seine Knie geklopft und in den Himmel geschaut. Wie oft sieht man so etwas? Einen alten Mann mit Kopfhörern. Ich würde gern wissen, was er sich angehört hat. Man würde automatisch auf klassische Musik tippen, aber es hätte alles sein können. Ob es traurige Musik war?« Er legt die Füße auf einen der Tische und schlägt sie übereinander. »Hoffentlich nicht.«

»Traurige Musik ist okay«, sage ich, »zumindest in Maßen.«

Er dreht sich zu mir um und rückt seine Krawatte zurecht.

»Du bist eindeutig Victoria Spring, oder?« Es hört sich nicht wie eine Frage an, sondern so, als würde er das schon ganz lange wissen.

»Tori.« Ich lasse meine Stimme so monoton wie möglich klingen. »Ich heiße Tori.«

Er schiebt die Hände in die Taschen seines Schulblazers. Ich verschränke die Arme vor der Brust.

»Bist du schon mal in diesem Raum gewesen?«, fragt er.

»Nein.«

Er nickt. »Interessant.«

Ich verdrehe die Augen und schüttle den Kopf. »Was?«

»Was was?«

Ich seufze gelangweilt. »Was ist interessant?«

»Wir sind beide aus demselben Grund hier. Weil wir nach etwas suchen.«

»Und was soll das sein?«

»Eine Antwort.«

Ich ziehe die Brauen hoch. Er mustert mich durch seine Brille.

»Findest du nicht auch, dass Geheimnisse Spaß machen?«, sagt er. »Du willst doch bestimmt wissen, was es damit auf sich hat, oder?«

In dem Moment wird mir klar, dass ich es wahrscheinlich nicht wissen will. Mir wird klar, dass ich einfach aus dem Raum gehen und nie wieder auch nur einen Gedanken an solitaire.co.uk oder diesen wichtigtuerischen Typen verschwenden könnte.

Aber weil ich will, dass er aufhört, so verdammt herablassend zu sein, ziehe ich schnell mein Handy aus meinem Blazer und tippe solitaire.co.uk in die Internet-Adressleiste ein und öffne die Website.

Als die Seite aufgeht, muss ich laut lachen – es ist ein leerer Blog. Wahrscheinlich der Blog von einem Troll.

Was für ein sinnloser, sinnloser Tag.

Ich halte ihm das Handy hin. »Fall gelöst, Sherlock.«

Zuerst lächelt er, als würde ich einen Witz machen, aber dann wandert sein Blick auf dem Display nach unten und er nimmt mir ungläubig das Telefon aus der Hand.

»Das ist … ein leerer Blog …«, murmelt er und mit einem Mal (ich habe keine Ahnung, woher dieses Gefühl plötzlich kommt) tut er mir wahnsinnig leid. Weil er so verdammt traurig aussieht. Er gibt mir kopfschüttelnd das Handy zurück. Ich bin mir nicht sicher, was ich jetzt tun soll. Er sieht aus, als wäre gerade jemand gestorben.

»Tja, also … Ich muss dann mal in den Unterricht.«

»Nein, nein, warte!« Er springt vom Stuhl auf, sodass wir uns wieder gegenüberstehen.

Es folgt ein extrem unbehagliches Schweigen.

Er schaut mich an, kneift die Augen zusammen, schaut sich das Foto auf seinem Zettel an, dann wieder mich, dann wieder das Foto. »Du hast dir die Haare abgeschnitten!«

Ich verbeiße mir einen sarkastischen Kommentar. »Ja«, sage ich ernst. »Ja, ich habe mir die Haare abgeschnitten.«

»Sie waren so lang.«

»Ja, das waren sie.«

»Warum hast du sie abgeschnitten?«

Gegen Ende der Sommerferien war ich allein shoppen, weil Mum und Dad beschäftigt waren, ich aber so viel Zeug für das neue Schuljahr brauchte und es einfach endlich erledigt haben wollte. Leider hatte ich nicht daran gedacht, dass ich eine absolute Null im Shoppen bin. Meine Schultasche war hinüber, also habe ich auf der Suche nach einer neuen die etwas besseren Modeketten abgeklappert – River Island, Zara, Urban Outfitters und Mango. Aber die Taschen, die mir gefielen, kosteten alle um die fünfzig Pfund und kamen nicht infrage. Also habe ich es in billigeren Läden versucht – New Look und Primark und H&M –, aber auch da konnte ich keine finden, die mir gefiel. Nachdem ich dann in so ziemlich jedem verdammten Geschäft gewesen war, das Taschen verkauft, und immer noch nichts gefunden hatte, bekam ich mitten im Shopping Center auf einer Bank einen kleinen Nervenzusammenbruch. Ich dachte an das zwölfte Schuljahr, das bald anfangen würde, an die ganzen Dinge, die auf mich zukommen würden, und die ganzen neuen Leute, mit denen ich würde reden müssen, als ich in einer Schaufensterscheibe plötzlich mein Spiegelbild sah und mir klar wurde, dass mein Gesicht unter all den Haaren kaum zu erkennen war. Wer in Gottes Namen will sich schon mit so einer unterhalten?, fragte ich mich. Ich spürte all diese Haare auf meiner Stirn und im Gesicht und wie sie meine Schultern und meinen Rücken zudeckten und auf einmal hatte ich das Gefühl, als würden sie wie lange, dünne Würmer um mich herumkriechen und mich erwürgen. Ich bekam wahnsinniges Herzrasen und bin zum nächstbesten Friseur gegangen, wo ich sie mir schulterlang abschneiden ließ. Die Friseurin hat sich erst geweigert, aber ich blieb hart. Das Geld für eine neue Schultasche ging also für einen neuen Haarschnitt drauf.

»Ich wollte sie einfach kürzer haben«, sage ich.

Er tritt näher. Ich weiche zurück.

»Du sagst nie das, was du eigentlich sagen willst, oder?«

Ich lache. Im Grunde tue ich nichts anderes, als Luft auszustoßen, aber für mich geht es als Lachen durch. »Wer bist du?«

Er lehnt sich zurück, breitet die Arme aus, als wäre er der wiederauferstandene Jesus Christus, und verkündet mit tiefer, dröhnender Stimme: »Mein Name ist Michael Holden.«

Michael Holden.

»Und wer bist du, Victoria Spring?«

Mir fällt nichts ein, was ich darauf antworten könnte, weil genau das meine Antwort wäre: nichts. Ich bin ein Vakuum. Ich bin leer. Ich bin nichts.

Plötzlich hallt MrKents Stimme durch den Raum. Ich schaue zur Lautsprecheranlage hinter mir hoch.

»Ich bitte alle Schüler der Oberstufe, sich für ein kurzes Meeting im Pausenraum einzufinden.«

Als ich mich wieder umdrehe, bin ich allein. Einen Moment lang stehe ich wie angewurzelt da. Dann öffne ich die Hand und entdecke darin das Post-it, auf dem SOLITAIRE.CO.UK steht. Ich habe keine Ahnung, wie es von Michael Holdens Hand in meine gewandert ist.

Und ich glaube, das ist der Moment.

Der Moment, in dem alles anfängt.

ZWEI

Die meisten Leute auf der Higgs sind seelen- und rückgratlose Idioten. Ich habe es geschafft, mich in eine kleine Gruppe von Mädchen zu integrieren, die für mich zu den »netten Leuten« gehören. Trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, die Einzige zu sein, die ein Bewusstsein hat. So als würde ich ein Videospiel spielen und wäre von computergenerierten Statisten umgeben, die nur bestimmte Aktionen ausführen können, wie zum Beispiel »eine belanglose Unterhaltung beginnen« oder »umarmen«.

Außerdem haben die Leute hier – wie vermutlich die meisten Jugendlichen überhaupt – in neunzig Prozent der Fälle keine Lust, sich für irgendetwas besonders anzustrengen. Ich finde das nicht schlimm. Wir werden in unserem späteren Leben noch genügend Zeit haben, uns anzustrengen. Es wäre Energieverschwendung, uns in unserer jetzigen Lebensphase zu sehr zu verausgaben, wenn wir stattdessen so angenehme Dinge tun können wie schlafen, essen oder illegal Musik runterladen. Ich investiere so gut wie keine Energie in irgendetwas. Genau wie die meisten anderen. Es passiert ziemlich oft, dass man in den Oberstufenraum kommt und von hundert Teenagern empfangen wird, die zusammengesackt über Stühlen und Tischen oder auf dem Boden hocken.

Kent ist noch nicht da. Ich gehe zu Becky und den anderen aus unserer Truppe rüber. Sie sitzen in der Computer-Ecke und unterhalten sich darüber, ob Michael Cera jetzt eigentlich gut aussieht oder nicht.

»Tori. Tori. Tori.« Becky tätschelt meinen Arm. »Ich brauche hier mal deine Unterstützung. Du hast doch Juno gesehen, oder? Findest du nicht auch, dass Michael total süß ist?« Sie macht ein verzücktes Gesicht. »Schüchterne Jungs sind einfach besonders sexy, oder?«

Ich lege ihr beide Hände auf die Schultern. »Beruhige dich wieder, Rebecca. Nicht jeder vergöttert Cera so wie du.«

Sie fängt an, irgendwas über Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt zu erzählen, aber ich höre nicht richtig zu. Der Michael, über den ich nachdenke, heißt nicht Cera mit Nachnamen.

Ich lasse die anderen ihre Diskussion ohne mich weiterführen und drehe eine Runde durch den Raum.

Ja, ganz richtig. Ich suche nach Michael Holden.

Ich weiß selbst nicht so genau, warum ich nach ihm suche. Wahrscheinlich habe ich schon mal angedeutet, dass ich mich nur für sehr wenige Dinge interessiere, schon gar nicht für irgendwelche anderen Leute. Aber es ärgert mich, wenn jemand glaubt, er könnte eine Unterhaltung anfangen und dann einfach wortlos abhauen.

Das ist unhöflich, okay?

Auf meinem Rundgang komme ich an sämtlichen Cliquen vorbei, die es bei uns so gibt. Ja, ich weiß. Das klingt total nach Highschool Musical. Aber Cliquen sind deswegen ein Teenie-Film-Klischee, weil es sie wirklich gibt. In einer überwiegend von Mädchen besuchten Schule lässt sich jeder Jahrgang in drei Hauptkategorien einteilen:

1.Beliebte Mädchen, die mit den coolen Jungs von der Truham Boys School abhängen und mit gefälschten Ausweisen in Clubs gehen. Sie sind entweder sehr nett zu dir oder sehr schrecklich und für was davon sie sich schlussendlich entscheiden, hängt von den verschiedensten Dingen ab, die komplett außerhalb deiner Kontrolle liegen. Sehr einschüchternd.

2.Die Mädchen, denen es nichts ausmacht, als nerdy oder uncool zu gelten. Manche Menschen stempeln sie als ›weird‹ ab, aber ich bewundere sie irgendwie, weil sie wirklich einen Scheiß auf die Meinung anderer geben, ihren Nischen-Hobbys nachgehen und einfach ihr Leben leben. Gut für sie.

3.So genannte normale Mädchen. All diejenigen, die zu keiner den zwei Gruppen zu passen scheinen, denke ich. Was vermutlich bedeutet, dass sie ihre eigentliche Persönlichkeit unterdrücken, um sich anzupassen. Doch sobald sie die Schule verlassen, erleben sie ihr großes Erwachen und werden tatsächlich interessant. Schule ist die Hölle.

Damit will ich nicht sagen, dass jedes Mädchen in eine dieser drei Kategorien passt. Ich finde es gut, dass es Ausnahmen gibt, weil es mich ankotzt, dass diese Kategorien überhaupt existieren. Keine Ahnung, in welche ich gehöre. Wahrscheinlich am ehesten in die dritte, weil das die Schublade ist, in die man unsere Truppe stecken könnte. Andererseits habe ich eigentlich nicht das Gefühl, wie die anderen aus unserer Truppe zu sein. Oder wie sonst irgendjemand.

Ich gehe drei- oder viermal den Raum ab, kann ihn aber nirgends entdecken. Egal. Vielleicht habe ich mir Michael Holden bloß eingebildet. Wirklich interessieren tut er mich sowieso nicht. Ich kehre zu unserer Truppe zurück, hocke mich zu Beckys Füßen auf den Boden und schließe die Augen.

Die Tür des Oberstufenraums schwingt auf und unser stellvertretender Schulleiter MrKent kommt herein. Er hat sein übliches Gefolge dabei: Miss Strasser, die maximal fünf Jahre älter sein kann als wir, und unsere Schülersprecherin Zelda (kein Witz – sie ist wirklich mit diesem fabelhaften Namen gesegnet). Kent ist ein großer, schlaksiger Mann, der vor allem für seine verblüffende Ähnlichkeit mit Alan Rickman bekannt ist, und wahrscheinlich der einzige Lehrer an dieser Schule, der über wahre Intelligenz verfügt. Ich habe ihn schon seit über fünf Jahren in Englisch, wir kennen uns also ziemlich gut. Das ist wahrscheinlich etwas merkwürdig. Über unsere Schulleiterin MrsLemaire geht das Gerücht, sie wäre ein Mitglied der französischen Regierung; das würde zumindest erklären, warum sie so gut wie nie in der Schule zu sehen ist, die sie leitet.

»Wenn ich um etwas Ruhe bitten darf«, ruft Kent und stellt sich vor das interaktive Whiteboard an der Wand, über dem der Wahlspruch unserer Schule steht: Confortamini in Domino et in potentia virtutis eius. Ein Meer aus grauen Schuluniformen wendet sich ihm zu. Kent legt erst einmal eine Kunstpause ein. Das macht er oft.

Becky und ich grinsen uns an und beginnen, die Sekunden zu zählen. Ich weiß nicht mehr, wann wir mit diesem Spiel angefangen haben, aber jedes Mal, wenn wir uns zu einer Veranstaltung in der Aula oder zu Oberstufen-Treffen versammeln, zählen wir, wie lange Kents Schweigen andauert. Sein Rekord liegt bei 79Sekunden. Kein Scherz.

Als wir bei zwölf angekommen sind, setzt er zum Sprechen an …

Aus der Lautsprecheranlage ertönt Musik.

Es ist die Darth-Vader-Melodie aus Star Wars.

Unter den Schülern breitet sich sofort Unruhe aus. Alle schauen sich verwirrt an, flüstern aufgeregt und fragen sich, warum Kent diesmal Musik über die Lautsprecheranlage spielen lässt und weshalb ausgerechnet Star Wars. Vielleicht beginnt er gleich darüber zu sinnieren, wie wichtig klare Kommunikation, Beharrlichkeit, Einfühlungsvermögen und Verständnis sind, oder die Fähigkeit zur Unabhängigkeit. Die Vorträge, die er sonst auch auf den Oberstufentreffen hält. Vielleicht versucht er auch auf die Bedeutung von Führungspositionen hinzuweisen. Erst als auf dem Whiteboard hinter ihm Bilder auftauchen, kapieren wir, was wirklich los ist.

Das erste zeigt Kents Gesicht, das per Photoshop zwischen Yodas spitze Ohren montiert wurde. Dann folgt ein Bild von Kent als Jabba the Hutt.

Dann als Prinzessin Leia in einem goldenen Bikini.

Die gesamte Oberstufe bricht in Gelächter aus.

Der echte Kent, mit ernstem Gesicht, aber stets gefasst, verlässt den Raum. Sobald Miss Strasser ihm gefolgt ist, stecken alle die Köpfe zusammen und hecheln noch einmal den Ausdruck in Kents Augen durch, als er sein weiß geschminktes, von Prinzessin Leias Schneckenfrisur gerahmtes Gesicht auf Carrie Fishers Körper gesehen hat. Ich muss zugeben, dass das Ganze ziemlich witzig war.

Als zuletzt ein Bild von Kent als Darth Maul vom Bildschirm verschwindet und das aus den Lautsprechern über unseren Köpfen dröhnende orchestrale Meisterwerk seinem Höhepunkt zustrebt, erscheint auf dem Whiteboard folgender Schriftzug:

SOLITAIRE.CO.UK

Becky ruft die Seite sofort auf einem der Computer auf und wir scharen uns um sie und spähen ihr über die Schulter. Der Troll-Blog hat mittlerweile einen Post, der vor zwei Minuten hochgeladen wurde – ein Foto von Kent, der auf das Whiteboard starrt, sein Gesicht starr vor Wut.

Alle beginnen gleichzeitig zu reden. Das heißt, die anderen beginnen alle gleichzeitig zu reden. Ich sitze bloß stumm da.

»Da halten sich ein paar Leute anscheinend für besonders clever«, schnaubt Becky.

»Es ist ja auch clever«, wirft Evelyn ein, die mal wieder ihre vermeintliche Überlegenheit demonstrieren muss. »Endlich zeigt es denen da oben mal jemand.«

Ich schüttle den Kopf, weil daran nichts clever ist, außer vielleicht, dass derjenige, der Kents Gesicht in das von Yoda verwandelt hat, verdammt gut mit Photoshop umgehen kann.

Lauren grinst breit. Lauren Romilly raucht nur auf Partys und scheint das Chaos zu lieben. »Ich kann den Insta-Post schon sehen. Wahrscheinlich quillt mein TwitterFeed gerade über.«

»Ich brauche unbedingt ein Foto davon in meinem Feed«, sagt Evelyn. »Ich könnte nämlich gut noch ein paar Tausend neue Follower gebrauchen.«

»Hör bloß auf!«, zischt Lauren. »Du bist doch sowieso schon eine Netzberühmtheit.«

Das bringt mich zum Lachen. »Poste doch einfach noch ein Foto von deinem Hund, Evelyn«, sage ich leise. »Die werden doch jedes Mal ungefähr zwanzigtausendmal geliket.«

Nur Becky hat es gehört. Sie grinst mich an und ich grinse zurück, was irgendwie nett ist, weil mir nur selten etwas Witziges einfällt.

Und das ist dann auch schon so ziemlich alles, was wir dazu zu sagen haben.

Zehn Minuten später ist die Sache wieder vergessen.

Aber bei mir hat diese Solitaire-Aktion ein merkwürdiges Gefühl ausgelöst. Als Kind war ich nämlich ziemlich besessen von Star Wars. Es ist zwar schon ein paar Jahre her, dass ich das letzte Mal einen der Filme gesehen habe, aber die Musik hat irgendetwas in mir hervorgerufen. Ich weiß nicht, was. Ein Gefühl in meiner Brust.

Oh Gott, ich werde sentimental.

Wer immer sich das ausgedacht hat, ist jetzt bestimmt sehr zufrieden mit sich. Irgendwie hasse ich sie dafür.

Fünf Minuten später, als ich gerade – das Gesicht in den Armen vergraben, um mich vor jeglicher Form sozialer Kontaktaufnahme zu schützen – auf dem Computertisch eingedöst bin, tippt mir jemand auf die Schulter.

Ich fahre hoch und blinzle verschlafen. Becky sieht mich ganz seltsam an, eingerahmt von wallenden lila Haaren. Sie zwinkert mir zu.

»Was?«, frage ich.

Sie zeigt hinter sich.

Da steht ein Typ. Nervös. Das Gesicht zu einer Art grinsender Grimasse verzogen. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag, aber mein Gehirn weigert sich noch, die Informationen zu verarbeiten. Ich mache dreimal den Mund auf und wieder zu, bevor ich meine Sprache wiederfinde.

»Großer Gott.«

Der Typ macht einen Schritt auf mich zu.

»V-Victoria?«

Mit Ausnahme meiner neuen Bekanntschaft Michael Holden gibt es nur zwei Menschen in meinem Leben, die mich je Victoria genannt haben. Einer davon ist mein Bruder Charlie. Und der andere ist:

»Lucas Ryan«, sage ich.

Ich kannte mal einen Jungen namens Lucas Ryan. Er weinte viel, aber er mochte Pokémon genauso sehr wie ich, was uns wohl zu Freunden machte. Er hat mir mal erzählt, dass er später, wenn er groß ist, am liebsten in einer riesigen Seifenblase leben würde, weil man darin überallhin fliegen und alles sehen könnte, und ich hab ihm gesagt, dass das ein schreckliches Zuhause wäre, weil Seifenblasen in ihrem Inneren immer leer sind. Zu meinem achten Geburtstag schenkte er mir einen Batman-Schlüsselanhänger, zu meinem neunten ein Manga-zeichnen-leicht-gemacht-Buch, zu meinem zehnten Pokémon-Karten und zu meinem elften ein T-Shirt mit einem Tiger drauf.

Ein Wunder, dass ich ihn überhaupt wiedererkannt habe. Mittlerweile sieht er völlig anders aus. Außerdem ist er früher immer kleiner gewesen als ich, aber jetzt überragt er mich um mindestens einen ganzen Kopf und hat offensichtlich den Stimmbruch bereits hinter sich gebracht. Alles, was von dem elfjährigen Lucas Ryan übriggeblieben ist, sind seine gräulich-blonden Haare, seine Schlaksigkeit und der verlegene Gesichtsausdruck.

Er ist der »Blonde mit den Skinny Jeans«.

»Großer Gott«, sage ich noch mal. »Hi.«

Er lächelt und dann lacht er. An das Lachen erinnere ich mich. Es kommt ganz tief unten aus dem Brustkorb. Ein Brustkorblachen.

»Hi!« Er lächelt über das ganze Gesicht. Es ist ein nettes Lächeln. Ein ruhiges Lächeln.

Ich springe fassungslos von meinem Stuhl auf und mustere ihn von oben bis unten. Er ist es wirklich.

»Du bist es wirklich«, sage ich und muss mich regelrecht dazu zwingen, ihm nicht auf die Schulter zu klopfen. Nur um zu prüfen, ob er auch tatsächlich leibhaftig hier vor mir steht.

Er lacht noch einmal. Seine Augen werden dabei ganz schmal. »Ich bin es wirklich!«

»W-wie … was machst du hier?«

Er schaut ein bisschen verlegen. Das hat er früher schon immer gemacht. »Ich bin gerade erst von der Truham übergewechselt«, sagt er. »Ich wusste, dass du hier bist, deswegen …« Er nestelt an seinem Hemdkragen herum. Auch wie früher. »Ähm … ich dachte, ich suche mal nach dir, weil ich … na ja, weil ich hier noch niemanden kenne. Also, ähm, ja. Hallo.«

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass es mir nie besonders leichtgefallen ist, Freundschaften zu schließen. Das war schon in der Grundschule so. Während der ganzen sieben, von demütigender Ablehnung meiner Mitschüler geprägten Jahre dort habe ich nur diesen einen Freund gefunden. Und auch wenn ich diese Zeit nicht noch mal erleben möchte, gab es damals etwas, das mir geholfen hat durchzuhalten: Lucas Ryans stille Freundschaft.

»Wow«, sagt Becky, die wie immer vor Neugier platzt, wenn sie eine interessante Story wittert. »Woher kennt ihr beiden euch?«

Ich bin ja schon ziemlich schüchtern, aber Lucas ist wirklich nicht zu toppen. Er dreht sich zu Becky um und wird knallrot. Ich werde selbst fast ein bisschen verlegen, als ich ihn so sehe.

»Aus der Grundschule«, sage ich schnell. »Er war mein bester Freund.«

Beckys in Form gezupfte Brauen schnellen in die Höhe. »Das giiiibt’s doch nicht.« Sie lässt den Blick zwischen uns hin und her wandern und sagt dann zu Lucas: »Tja, scheint, als wäre ich deine Nachfolgerin. Ich bin Becky.« Sie breitet die Arme aus. »Willkommen im Land der Unterdrückung.«

»Ich bin Lucas« ist alles, was Lucas mit dünner Stimme hervorbringt.

Er dreht sich wieder zu mir. »Wir könnten da wieder anfangen, wo wir aufgehört haben«, sagt er.

Fühlt sich so eine wiedergeborene Freundschaft an?

»Ja …«, sage ich. Der Schock hat mein Vokabular dezimiert. »Ja.«

Um uns herum strömen die Leute aus dem Raum, weil gleich die erste Stunde beginnt und weder Kent noch Miss Strasser zurückgekehrt sind.

Lucas nickt mir zu. »Ähm, ich will nicht gleich zu meiner ersten Stunde zu spät kommen – der Tag heute wird sowieso schon peinlich genug –, aber ich melde mich bald mal bei dir, ja? Ich such dich einfach auf Facebook.«

Becky starrt Lucas fassungslos hinterher und packt mich dann an den Schultern. »Tori hat gerade mit einem Jungen geredet. Nein – Tori hat gerade von sich aus eine Unterhaltung geführt. Ich glaube, mir kommen gleich die Tränen.«

»Na, na.« Ich tätschle ihre Schulter. »Sei stark. Du wirst darüber hinwegkommen.«

»Ich bin wahnsinnig stolz auf dich. Nein, im Ernst. Ich fühle mich wie eine stolze Mutter.«

Ich schnaube. »Ich bin durchaus in der Lage, aus eigenem Antrieb eine Unterhaltung zu führen. Oder wie sonst nennst du das, was wir hier gerade machen?«

»Ich bin die einzige Ausnahme. Jedem anderen gegenüber bist du ungefähr so kontaktfreudig wie ein Pappkarton.«

»Vielleicht bin ich ja ein Pappkarton.«

Wir müssen beide lachen.

»Das ist lustig …, weil es wahr ist«, sage ich und lache wieder, zumindest nach außen hin. Ha, ha, ha.

DREI

Später lasse ich mich auf mein Bett fallen und schalte meinen Laptop ein. Das ist jeden Tag das Erste, was ich mache, sobald ich nach Hause komme. Wenn ich nicht in der Schule bin, kann man sich absolut sicher sein, dass mein Laptop nicht weiter als zwei Meter von meinem Herzen entfernt ist. Mein Laptop ist mein Seelenverwandter.

Während der letzten zwei Monate ist mir klar geworden, dass ich mehr Ähnlichkeit mit einem Blog habe als mit einem echten Menschen. Ich habe keine Ahnung, wann und warum genau ich mit dem Bloggen angefangen habe, aber irgendwie kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie ich die Zeit davor verbracht habe. Und noch viel weniger wüsste ich, was ich tun sollte, wenn ich den Blog nicht mehr hätte. Ich bereue es wirklich aus tiefstem Herzen, damit angefangen zu haben. Es ist ziemlich peinlich. Aber das Netz ist der einzige Ort, wo ich Leute finde, die irgendwie wie ich sind. Hier redet man so über sich, wie man es im echten Leben niemals tun würde.

Ich glaube, wenn ich den Blog löschen würde, wäre ich völlig allein.

Ich blogge nicht, um mehr Follower zu bekommen. Ich bin nicht wie Evelyn. Es ist nur so, dass es nicht sozialverträglich ist, trauriges Zeug in der echten Welt laut auszusprechen, weil die Leute dann denken, man will sich wichtig machen. Ich hasse so was. Mir geht es einfach darum, alles sagen zu können, was ich will. Selbst wenn es nur im Netz ist.

Nachdem ich ungefähr eine Milliarde Jahre darauf gewartet habe, dass sich die Seite aufbaut, beschäftige ich mich erst mal eine ganze Weile mit dem Blog. Es sind ein paar anonyme Nachrichten mit ziemlich kitschigem Inhalt eingegangen – einige meiner Follower steigern sich immer total in den pathetischen Kram rein, den ich poste. Dann schaue ich, was es bei Facebook Neues gibt. Zwei Benachrichtigungen – Lucas und Michael haben Freundschaftsanfragen geschickt. Ich nehme beide an und checke danach meine Mails. Nichts.

Zuletzt werfe ich noch mal einen Blick auf den Solitaire-Blog.

Auf der Startseite ist immer noch das witzige Foto von Kent zu sehen, der vergeblich versucht, seine Wut zu unterdrücken, aber davon abgesehen ist das einzig Neue eine Überschrift, die vorhin noch nicht da gewesen ist:

Solitaire: Abwarten kann tödlich sein.

Ich habe keine Ahnung, was mit diesem Solitaire-Blog bezweckt werden soll, aber »Abwarten kann tödlich sein« klingt für mich wie einer dieser bescheuerten Warnhinweise auf Zigarettenschachteln.

Ich hole das SOLITAIRE.CO.UK-Post-it aus meiner Tasche und klebe es genau in die Mitte der einzigen leeren Wand in meinem Zimmer.

Dann muss ich an meine Begegnung mit Lucas Ryan denken und spüre für einen kurzen Moment wieder so etwas wie Hoffnung. Keine Ahnung, warum. Ist auch egal. Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt den Kopf darüber zerbreche. Ich weiß ja noch nicht einmal, warum ich diesem Post-it in den Computerraum gefolgt bin. Oder warum ich sonst irgendwas tue, Herrgott noch mal.

Irgendwann schaffe ich es, mich aufzuraffen und nach unten zu gehen, um mir etwas zu trinken zu holen. Mum sitzt in der Küche an ihrem Laptop. Eigentlich sind wir uns ziemlich ähnlich. Sie ist genauso süchtig nach Microsoft Excel wie ich nach Google Chrome. Als sie mich fragt, wie mein Tag war, zucke ich bloß mit den Achseln und antworte, dass er okay war, weil ich mir sicher bin, dass es sie sowieso nicht interessiert.

Wir reden nicht besonders viel miteinander, was vielleicht daran liegt, dass wir uns wie gesagt so ähnlich sind. Wenn es dann doch mal dazu kommt, geht uns schon nach kurzer Zeit der Gesprächsstoff aus oder wir streiten uns, was uns anscheinend zu der stillschweigenden Erkenntnis gebracht hat, dass es sinnlos ist, es noch weiter zu versuchen. Im Großen und Ganzen habe ich damit kein Problem. Mein Dad ist jemand, der viel und gern redet, aber um ehrlich zu sein, kann ich mit dem, was er so sagt, nicht wirklich etwas anfangen, außerdem habe ich ja noch Charlie.

Das Telefon klingelt.

»Kannst du drangehen?«, bittet mich Mum.

Ich hasse das Telefon. Es ist die schlimmste Erfindung in der Geschichte der Menschheit, weil absolut nichts passiert, wenn man nichts sagt. Einfach nur zuhören und an den richtigen Stellen nicken reicht nicht. Man muss etwas sagen. Man hat keine andere Wahl. Das Telefon nimmt einem das Recht zu schweigen.

Ich gehe trotzdem dran, weil ich keine schreckliche Tochter sein will.

»Hallo?«

»Tori. Ich bin’s.« Es ist Becky. »Wieso zum Henker gehst du ans Telefon?«

»Ich habe beschlossen, meine Haltung dem Leben gegenüber zu überdenken und ein völlig neuer Mensch zu werden.«

»Kannst du das noch mal wiederholen?«

»Warum rufst du an? Du rufst mich nie an.«

»Weil das hier viel zu wichtig ist für eine SMS.«

Es entsteht eine Pause. Ich warte darauf, dass sie weiterspricht, aber sie scheint darauf zu warten, dass ich etwas sage.

»Okay …«

»Es geht um Jack.«

Verstehe.

Becky ruft wegen ihrem Beinahe-Freund Jack an.

Das macht sie ziemlich oft. Nicht mich anrufen, sondern mich mit Geschichten über ihre diversen Beinahe-Freunde zutexten.

Während ich Becky zuhöre, streue ich an den Stellen, an denen es notwendig ist, ein »Mhm« oder »Absolut« oder »Oh mein Gott« ein. Ihre Stimme rückt in den Hintergrund, als ich abdrifte und mir vorstelle, ich wäre sie. Ein liebenswertes, glückliches, witziges Mädchen, das pro Woche zu mindestens zwei Partys eingeladen wird und innerhalb von Sekunden eine angeregte Unterhaltung anfangen kann. Ich stelle mir vor, wie ich auf eine Party komme. Pulsierende Musik, jeder hat eine Flasche in der Hand und irgendwie bin ich plötzlich von einer Gruppe von Leuten umringt. Ich lache und stehe im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Augen leuchten bewundernd auf, wenn ich mal wieder eine meiner total peinlichen Geschichten zum Besten gebe, vielleicht eine, in der ich betrunken in irgendein Fettnäpfchen getreten bin oder es um einen meiner Ex-Freunde geht, und alle fragen sich, wie eine Sechzehnjährige es schafft, ein so glamouröses, aufregendes und unbekümmertes Leben zu führen. Alle fallen mir um den Hals. Alle wollen wissen, was ich so treibe. Wenn ich tanze, tanzen die anderen auch; wenn ich mich setze und anfange, über vertrauliche Dinge zu plaudern, bilden die Leute einen Kreis um mich; wenn ich gehe, ist die Party zu Ende.

»… du weißt, wovon ich spreche, oder?«, sagt sie.

Weiß ich nicht.

»Vor ein paar Wochen – Gott, ich hätte es dir schon viel früher erzählen sollen – haben wir miteinander geschlafen.«

Ich erstarre. Damit habe ich nicht gerechnet. Dann wird mir klar, dass damit eigentlich schon seit einer Weile zu rechnen gewesen ist. Das ist es, was die meisten in diesem Alter tun. Sie finden einen Partner, küssen, haben Sex. Ich habe kein Problem damit, dass Leute das tun – tatsächlich bin ich pro Sex und Becky wollte schon seit einer Weile mit Jack schlafen. Und ich weiß, dass es beim Küssen und Miteinanderschlafen nicht darum geht, es vor allen anderen zu machen. Es gibt auch Menschen, die diese Dinge ohnehin nie tun wollen. Aber ich habe dennoch das Gefühl, als wäre sie mutiger als ich. Sie bekommt, was sie will. Und was mache ich? Nichts. Ich habe absolut keine Ahnung, was ich will.

»Tja …« Es gibt buchstäblich nichts, was ich dazu sagen könnte.

»Das freut mich für dich.«

Am anderen Ende der Leitung ist es für einen Moment still. »Das ist alles?«

»War es … gut?«

Sie lacht. »Es war für uns beide das erste Mal, also, nein, nicht wirklich. Aber es hat trotzdem Spaß gemacht.«

»Oh. Okay.«

»Verurteilst du mich?«

»Was? Nein!«

»Ich hab das Gefühl, du tust es.«

»Tue ich nicht. Versprochen.« Ich versuche, positiver zu klingen. »Ich freue mich wirklich für dich.«

Sie scheint sich damit zufriedenzugeben und fängt an zu erzählen, dass Jack einen Freund hat, der angeblich perfekt für mich ist, während ich dasitze, in Schuldgefühlen versinke, weil ich eine furchtbare Freundin und eine schreckliche Person bin, die eifersüchtig auf ihre beste Freundin ist. Weil sie alles ist, was ich gern sein würde. Selbstsicher. Extrovertiert. Glücklich.

Nachdem das Telefongespräch beendet ist, gehe ich in die Küche zurück. Mum sitzt immer noch wie hypnotisiert vor ihrem Laptop und in mir kommt wieder das Gefühl hoch, wie sinnlos dieser Tag doch ist. Michael Holden taucht vor meinem inneren Auge auf, dann Lucas Ryan und dann der Solitaire-Blog. Ich beschließe, dass ich mit meinem Bruder sprechen muss. Ich schenke mir ein Glas zuckerfreie Zitronenlimonade ein und verlasse die Küche.

Mein Bruder Charles Spring ist fünfzehn Jahre alt und geht in die elfte Klasse der Truham Grammar School. Ich halte ihn für den nettesten Menschen in der Geschichte des Universums und mir ist klar, dass »nett« ein ziemlich bedeutungsloses Wort ist, aber genau deswegen ist es so mächtig. Einfach nur ein »netter« Mensch zu sein ist unglaublich schwierig, weil es eine Menge Dinge gibt, die einem dabei in die Quere kommen können. Als Charlie klein war, weigerte er sich, jemals irgendetwas von seinen Sachen wegzuwerfen – für ihn war einfach alles etwas Besonderes. Jedes Bilderbuch. Jedes zu klein gewordene T-Shirt. Jedes unvollständige Brettspiel. Alles hatte eine bestimmte Bedeutung für ihn. Wenn ich ihn nach irgendeinem seiner Schätze fragte, die er zu meterhohen Stapeln aufgetürmt in seinem Zimmer aufbewahrte, erklärte er mir detailliert, wo er ihn gefunden hatte (zum Beispiel am Strand) oder von wem er war (von unserer Großmutter) oder wo er ihn gekauft hatte (mit sechs im Londoner Zoo).

Allerdings hat er das ganze Zeug, aus dem er rausgewachsen war, ausgemistet, und generell ist nichts mehr so, wie es früher mal war. Charlie hatte eine schwere Zeit in den letzten paar Monaten. Seine Essstörung ist letzten Sommer ziemlich schlimm geworden und er ist in einige seiner Selbstverletzungsmuster zurückgefallen. Aber nachdem er ein paar Wochen in einer psychiatrischen Station verbracht hat, wurde es besser. Es klang zunächst ziemlich einschüchternd, hat ihm im Endeffekt aber wirklich geholfen. Er ist nun in Therapie und arbeitet daran, dass es ihm besser geht. Und er ist immer noch derselbe Mensch, der eine Menge Liebe zu geben hat.

Ich finde ihn mit seinem Freund Nick und meinem anderen Bruder Oliver im Wohnzimmer, allerdings habe ich keine Ahnung, was die drei dort treiben. Im Raum stapeln sich mindestens fünfzig Kartons, die Nick und Charlie gerade unter der Regie von Oliver, der sieben ist, zu einer undefinierbaren Konstruktion zusammenbauen. An manchen Stellen reicht sie bis unter die Decke. Oliver muss sich auf die Couch stellen, um die Bauarbeiten überwachen zu können.

Als Charlie irgendwann um das Kartongebilde herumkommt, sieht er mich in der Tür stehen. »Victoria!«

»Ich frage wohl lieber nicht, was das sein soll«, sage ich.

Er wirft mir einen verständnislosen Blick zu. »Sieht man doch. Das wird ein Traktor für Oliver.«

Ich nicke. »Natürlich. Ein Traktor.«

Nick taucht zwischen den Kartons auf. Auf den ersten Blick sieht Nicholas Nelson – wie ich ein Zwölftklässler – genauso aus wie die Art von Jungs, die im Schulbus hinten sitzen und jederzeit bereit sind, dich mit Sandwiches abzuwerfen. Aber in Wirklichkeit ist Nick die menschliche Version eines Golden-Retriever-Welpen, genauso wie er Rugby Captain an der Truham und ein wirklich liebenswerter Mensch ist. Ich weiß nicht mehr genau, wann aus Nick und Charlie Nick-und-Charlie wurde, aber Nick hat Charlie in seiner schwierigsten Phase beigestanden, deshalb ist er meiner Meinung nach definitiv in Ordnung.

»Tori.« Er nickt ernst. »Gut, dass du da bist. Wir können hier noch ein paar Leute brauchen, die kräftig mit anpacken.«

»Tori, kannst du mir das Tesaband geben?«, ruft Oliver mir zu, aber er sagt nicht »Tesaband«, sondern »Tefaband«, weil er vor Kurzem vorne zwei Milchzähne verloren hat.

Ich reiche Oliver das Tefaband, dann zeige ich auf die Kartons und frage Charlie: »Wo habt ihr die alle her?«

»Die gehören Oliver, nicht mir«, antwortet er achselzuckend und macht sich wieder an die Arbeit.

Tja, und so kommt es, dass ich in unserem Wohnzimmer einen Kartontraktor baue.