Solupp 1: Sommer auf Solupp - Annika Scheffel - E-Book

Solupp 1: Sommer auf Solupp E-Book

Annika Scheffel

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Beschreibung

Sommer genießen, Lieblingsort finden: Die perfekte Urlaubslektüre unterm Sonnenschirm zum Wohlfühlen und Wegträumen, für Kinder ab 10

Irgendwo weit draußen, wie ein Klecks im Meer, liegt Solupp. Die 12-jährige Mari wäre jetzt viel lieber im Fußballcamp als auf dieser winzigen Insel und auch Kurt und der kleine Bela sind alles andere als begeistert. Aber dann erfahren die Geschwister von einem sagenumwobenen Schatz und schon stecken sie mittendrin im schönsten Abenteuer, das man sich vorstellen kann.

In besonderer Ausstattung, mit Halbleinen und Lesebändchen.

Mehr Inselabenteuer aus Solupp:

  • Frühling auf Solupp (9783522186254)
  • Winter auf Solupp (9783522186094)

Die Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Das Buch

Irgendwo weit draußen, wie ein Klecks im Meer, liegt Solupp. Niemals hätte Mari gedacht, dass dieser Ort so viele Überraschungen bereithalten würde: Das Ferienhaus mit den geheimnisvollen Zimmern, die magischen Dunkelstunden, die Wildponys, der fremde Junge aus dem Meer. Und während sie sich noch über all die Rätsel wundern, stecken Mari und ihre Brüder schon mittendrin im schönsten Abenteuer, das man sich vorstellen kann.

Die Autorin

© Ekko von Schwichow

Annika Scheffel wurde 1983 in Hannover geboren. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Giessen. Einen Teil ihres Studiums verbrachte sie in Bergen, Norwegen. Seit Ende des Studiums arbeitet sie auch im Drehbuchbereich. Im März 2010 erschien ihr Debütroman „BEN“, der mit dem Förderpreis des Grimmelshausenpreises ausgezeichnet und für die SWR-Bestenliste ausgewählt wurde. Ihr Roman „Hier ist es schön“ erhielt den Robert-Gernhardt-Preis. Annika Scheffel lebt in Berlin.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch! Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

FÜR JUNIS & SAMU. UND FÜR ALLE, DIE EINEN ORT WIE SOLUPP GEBRAUCHEN KÖNNEN.

HIER STEHE ICH UND SPÜRE, WIE DER WINTER AUS MIR HERAUSRINNT …

(aus: Ronja Räubertochter, Astrid Lindgren)

Mit knatterndem Motor pflügt sich die Elysion durch die Wellen.

»Ist das Solupp?«, fragt Mari.

Sie muss grinsen, sie kann gar nicht anders, obwohl sie sich eigentlich fest vorgenommen hat, keine Miene zu verziehen. Aber das Lächeln kommt einfach von selbst, weil die Sonne ihr ins Gesicht scheint und die Luft nach Salz riecht und Sonnencreme und Abenteuer, warm und weich und wunderbar. Und weil das Meer vor ihr glitzert wie verzaubert und der Himmel so blau ist, als hätte ihn sich jemand ausgedacht, und die Möwen so aufgeregt kreischen, als hätten sie eine wichtige Nachricht für Mari.

Mama legt den Arm um ihre Schulter, und zum ersten Mal, seit Monaten vielleicht, ist das warme Gefühl wieder da. Das ist wie in einem Film, wo jemand von einem Fluch erlöst wird und das Leben in den Körper zurückkehrt, wie eine Entfluchung fühlt sich das an, was jetzt durch Maris Körper strömt.

Vielleicht ist das so was wie Vorfreude und vielleicht, ja vielleicht ist das sogar so was wie Glück.

Maris kleiner Bruder Bela spürt das offensichtlich auch, er springt neben Mari an der Reling auf und ab, winkt den Möwen zu und schreit gegen den Wind an: »Ich flieg viel schneller als ihr!«

So ausgelassen hat Mari ihn ewig nicht mehr erlebt. In den letzten Monaten war er immer stiller geworden, wie ein kleiner Schatten hinter Kurt und Mari hergeschlichen, hatte sie bis auf Klo verfolgt, als fürchtete er, sie könnten sich irgendwie in Luft auflösen.

Und jetzt dreht er fast durch und sieht gar nicht mehr so klein aus und ängstlich, sondern tatsächlich wie Superman, der fliegen kann.

Mari sieht sich zu Kurt um. Ihr großer Bruder sitzt dahinten auf der weiß-splittrigen Holzbank, die Beine an die Reling gelehnt, die Kapuze tief in der Stirn und ganz sicher hat er darunter die Kopfhörer auf und hört wieder seine Brüllmusik aus dem antiken Walkman, den er und Papa vor Urzeiten einmal aus der Elektroschrottkiste eines ranzigen Flohmarktstandes gezogen hatten, und mit dem Kurt seit ein paar Wochen wie verwachsen ist, den er hütet, als wäre es sein Herz, das ihm aus Versehen aus dem Körper geplumpst ist.

»Scheint ja höchstbeliebt zu sein, dein Sol-Quatsch!«, hatte er in Mamas Richtung geknurrt, als sie, neben einer geduckten Gestalt, mit einem seltsam altmodischen dunkelroten Mantel, weit hochgeklapptem Kragen und einer trotz der Jahreszeit tief in die Stirn gezogenen Wollmütze, die Einzigen waren, die am Hafen die winzige, farbblättrige Elysion betreten hatten.

Dann hatte er den sanften Wellen noch einen misstrauischen Blick zugeworfen und seitdem war er verstummt.

Oder anders: Kurt ist verschwunden.

Die letzten Wochen in seinem Zimmer und seit sie heute am frühen Morgen losgefahren sind, in seinem übergroßen düsteren Lieblingssweatshirt mit seiner Musik.

Seit Papa wieder da ist, ist Kurt so. Er vergräbt sich, knallt die Türen hinter sich zu und spricht mit niemandem. Mari vermisst ihn, fast so, wie sie Papa zuvor vermisst hat.

»Das ist gerade noch mal gut gegangen«, sagten die Ärzte bei Papas Entlassung aus dem Krankenhaus, und dass er von jetzt an auf sich aufpassen soll. Und damit waren sie dann wieder komplett, also zu fünft, und Papa einigermaßen gesund und gerettet, und Mama hatte eigentlich keinen Grund mehr, so traurig durch die Gegend zu schauen, wenn sie denkt, dass keiner es merkt.

Aber ein Geradenochmalgutgegangen heißt wohl nicht, dass nun alles wieder so ist wie früher. Im Gegenteil: Seit Papa zurück ist, fühlt Mari sich einsamer als zuvor.

Dabei sollte doch alles gut sein, jetzt, wo die Krankheit weg war. Aber das wurde es nicht, nicht mal das Wetter draußen wurde besser, obwohl der Sommer immer näher rückte, es wie immer auch in diesem seltsamen Jahr erst April, dann Mai, dann Juni wurde. Und genau wie das Wetter blieb die Laune der Fröhlichs düster und daran änderte selbst die Sache mit Solupp nichts, ganz im Gegenteil: die Sache mit Solupp machte alles noch schlimmer.

»Wir fahren weg!«, hatte Mama schon in der Tür gerufen, als sie eines Abends aus der Praxis nach Hause kam. Sie hatte Pizza mitgebracht, fünf große Schachteln, für Bela eine in Mickeymausform. Normalerweise ist Mama eine große Verfechterin von Salat und Rohkost allgemein, sie packt getrocknete Datteln in Brotdosen und Avocadospalten und Kefirgetränke auf den Frühstückstisch, da war das mit der Pizza schon eine große Sache. Und sogar Papa kam rüber geschlurft vom Sofa, das er, seit er aus dem Krankenhaus wieder da war, eigentlich nie verließ, weil er immer und immer müde war.

»Was ist denn hier passiert?«, fragte er, als wären die Pizzen etwas, was einem einfach so passiert.

Mama setzte ihr breitestes Grinsen auf: »Urlaub! Wir brauchen Urlaub!«

»Italien!«, sagte Mari.

»Familienpark!«, rief Bela.

»Ohne mich!«, knurrte Kurt, schnappte sich den Pizzakarton mit der Diavolo extra scharf und verschwand wieder in seinem Zimmer.

»Sehr schön«, seufzte Mama, »genau so habe ich mir das vorgestellt.«

Das war ironisch. Natürlich hatte Mama sich das so nicht vorgestellt. Genauso wenig wie Mari. Nichts war, wie sich irgendwer was vorgestellt hatte, vielleicht weil alles so ganz insgesamt völlig unvorstellbar war.

»Setzt ihr euch wenigstens mit an den Tisch?«

Klar hatten Papa und Bela und Mari sich mit an den Tisch gesetzt, keiner wollte, dass Mama wieder von ihrem Stimmungstief verschluckt wurde.

»Also, Italien?«, fragte Mari, nachdem Bela zweimal sein Milchglas umgeworfen, Mama sich zweimal die Haare gerauft und Papa ungefähr Zweimillionen Mal gegähnt hatte.

»Dieses Jahr«, sagte Mama geheimnisvoll, »fahren wir nicht nach Italien, sondern –«

»Familienpark?«, fragte Bela hoffnungsvoll.

»Viel besser!«, rief Mama.

Bela sah sie mit offenem Mund an. Er konnte sich nichts vorstellen, was besser war als der Ferienpark mit der Wasserfontäne und der Kinderdisco und den bunten Säften mit Schirmchen und Zuckerrand.

»Nun sag schon«, gähnte Papa.

»Wir fahren nach Solupp!«, rief Mama und sah Papa und Bela und Mari erwartungsvoll an.

»Sol-was?«, fragten Papa und Mari wie aus einem Mund. Mari sah zu Papa rüber, aber der grinste nicht mal.

»Solupp!«

Bela fing an zu kichern: »Was soll das denn sein?«

»Das, meine Lieben, ist der wunderbarste Ort auf der ganzen Welt!«

»Der wunderbarste Ort auf der ganzen Welt«, wiederholte Bela mit leuchtenden Augen, »da will ich hin!«

»Da fahren wir auch hin!«, sagte Mama so hochzufrieden wie lange nicht mehr.

»Ach ja?«, murmelte Papa, »machen wir das?«

Mama nickte eifrig, und obwohl Mari keine Ahnung hatte, wie sie das mit diesem Sol-Dingsda finden sollte, fand sie es schön, dass Mama endlich mal wieder begeistert aussah.

»Wo ist das denn?«, fragte sie.

Darauf hatte Mama gewartet. Sie sprang auf und kam einen Moment später mit ihrer Arzttasche wieder.

»Du bist so schnell!«, sagte Bela verträumt, für den Mama so etwas wie ein Superheld ist.

Mama holte einen Stapel Papier aus ihrer Tasche und faltete ein Blatt auseinander. Eine Karte. Darauf sah man die Küste und die großen Inseln und Mamas Finger kreiste über dem Meer und den großen Inseln und dann tippte sie dahin, wo Mari bisher nichts als Blau gesehen hatte.

Papa, Bela und Mari beugten sich vor.

»Wir machen Urlaub im Meer? Entschuldige, Schatz, aber ich glaube, eine Woche schwimmen, das ist doch noch etwas zu anstrengend für mich –«

»Sechs Wochen«, strahlte Mama.

»Sechs Wochen?«, wiederholte Papa.

Er klang so, als hätte Mama ihm eben verkündet, dass sie von nun an nach Feierabend nicht mehr für ihre Patienten verfügbar sein, oder dass sie sich nur noch von Pizza und Pommes ernähren würde oder so was Verrücktes. Kein Wunder, dass Papa so fassungslos war. Der längste Urlaub bisher wären zehn Tage gewesen, aber nach einer Woche hatten sie abbrechen müssen, weil Mama sich Sorgen machte, dass sie dringend in der Praxis gebraucht werden könnte und ihre Vertretung sich nur nicht traute, Bescheid zu sagen.

»Sechs Wochen Urlaub. Wir machen sechs Wochen Urlaub.«

»Die ganzen Sommerferien?«, fragte Mari und spürte, wie ihre Lippen zu zittern begannen.

Da war wieder die Wut. Das war so eine Sache. Früher war Mari selten wütend gewesen, aber seit Papas Krankheit wollte die Wut manchmal einfach so aus ihr herausschießen, sodass Mari sich anstrengen musste, sie in Schach zu halten und wieder zurück in ihren Bauch zu stopfen. Und jetzt war die Wut kurz davor, aus ihr rauszudonnern.

»Aber das Fußballcamp –«, presste sie hervor.

Mama sah sie erschrocken an: »Oh, stimmt, Liebes, das Fußballcamp –«

»Mama, Mari hat doch ihr Fußballcamp!«, rief Bela aufgeregt, »das weißt du doch! Sie wollen doch dieses Jahr den Pokal holen!«

»Ich weiß, Bela«, sagte Mama und dabei sah Mari ihr an, dass Mama das ganz und gar nicht wusste. Mama hatte das Fußballcamp vergessen, Mama hatte vergessen, dass Maris Team schon seit Monaten dafür trainierte, dass der Trainer gesagt hatte, wenn Mari so weitermachte, würde sie beim großen Turnier in der Startaufstellung sein, dass Mari jeden Morgen vor der Schule eine extra Runde durch den Park lief, obwohl es da noch kalt war und ein bisschen einsam. Mama hatte es vergessen, hatte es vielleicht gar nicht mitbekommen, weil sie nie da war und wenn doch, nie ganz. So, wie sie alles vergaß und nichts mitbekam, seit der Sache mit Papa. Weil sie nämlich nur noch an den dachte und seine blöde Krankheit!

Mari sprang auf: »Du bist so fies!«

Bela sah Mari entsetzt an: »Gar nicht, Mari, Mama ist die Liebste!«

Mari wollte irgendwas Gemeines antworten, aber ihr fiel nichts ein und die Wut steckte jetzt im Hals, Mari hatte das Gefühl, zu ersticken.

»Mein Mari-Mädchen –«, fing Mama an, aber Mari unterbrach sie: »Ich bin nicht dein Mari-Mädchen und du bist die blödeste Mutter der Welt!«

»Aber es gibt Ponys!«, sagte Mama schwach.

Mari starrte sie an. Ponys? Was bitte sollte sie mit Ponys?

Hatte Mama wirklich absolut alles vergessen?

»Ich! Hasse! Ponys!«, brüllte Mari, drehte sich um und lief in ihr Zimmer.

Hinter sich hörte sie Bela: »Die armen Ponys!«

Und Papa: »Also echt, Paula, das hättest du ruhig vorher mit mir besprechen können!«

Mit mir, dachte Mari, immer, immer nur Papa. Immer dreht sich alles nur um ihn! Kein Wunder, dass Kurt nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte. Ponys! Wie konnte Mama glauben, dass sie Mari damit auf irgendeine blöde, winzige Insel locken konnte? Eine verdammte Insel mit einem bescheuerten Namen, die man noch dazu nicht mal mit dem Mikroskop auf der Karte erkennen konnte? Was dachte sich Mama nur?

Aber es war beschlossen und wurde nicht mehr geändert.

Mari musste ihr Fußballcamp absagen. Nicht mal die Hoffnung, der Trainer würde Mama die Meinung sagen, ihr erklären, wie wichtig Mari für die Mannschaft war und sie umstimmen, erfüllte sich. Der Trainer hörte sich nur stumm an, was Mari ihm aufgeregt berichtete, nickte und nickte und dann sagte er: »Weißt du, Mari, vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee, das mit der Insel!«

Mari starrte ihn entsetzt an. Was war das hier? Eine Verschwörung?

Zumindest Jule war genauso entsetzt wie Mari: »Wie können sie nur? Wie können sie dir das nur antun? Wir holen den Pokal für dich, ja? Im Geiste bist du dabei!«

Mari schüttelte heftig den Kopf: »Nichts da im Geiste! Ich bin nicht dabei, Jule! Ich sitze mit irgendwelchen dämlichen Ponys, meiner verrückten Mutter, meinem schlaffen Papa, meinem verstummten großen und meinem nervigen kleinen Bruder auf einer gottverlassenen einsamen Insel rum –«

»Vielleicht wird es ja doch ganz schön –«, sagte Jule zaghaft.

Und jetzt kamen die Tränen doch. Jetzt war Mari klar, dass sie allein war. Vollkommen und absolut allein.

Sie würden nach Solupp fahren, sechs Wochen, die ganzen Ferien.

Mari würde ihr Fußballcamp verpassen, Bela seine Playmobilburg dalassen, Kurt sein Zimmer verlassen, Papa seinem Sofa entsteigen müssen. Nur Mama, die freute sich: Ruhe! Meer! Sonne! Solupp!

»Wie bist du eigentlich ausgerechnet auf dieses Soll-Hopp gekommen?«, fragte Papa vom Sofa aus, während Mama die Badesachen auf dem Esstisch auftürmte: Schnorchel, Flossen, Luftmatratzen, Badehosen und -anzüge. Dabei summte sie ziemlich laut und ganz schön hektisch vor sich hin. Mari hatte das Gefühl, dass Mama immer fröhlicher wurde, je grantiger der Rest der Familie war. Als könne sie mit ihrem Gesumme und Gerenne das miese fiese graue Monster vertreiben, das sich seit der Sache mit Papa bei ihnen eingenistet hatte und gierig alles auffraß, was nett und schön und lustig war.

»Sag mal, ehrlich, was ist das mit Soll-Hopp?«

Seit Ewigkeiten klang Papa zum ersten Mal wirklich interessiert. Eigentlich hatte Mari vorgehabt, sich sofort wieder zu verziehen, bevor Mama ihr irgendwas Schreckliches auftrug, so was wie Badeanzug-Anprobieren oder Neue-Rollkoffer-Bewundern. Aber nun blieb Mari mit ihrer Müslischüssel in der Tür stehen und wartete darauf, was Mama antworten würde.

Papa hatte schließlich recht.Warum ausgerechnet Solupp? Warum nicht sechs Wochen Italien? Oder sechs Wochen Familienpark? (Wobei, das war ihr schon klar, sechs Wochen Familienpark, das würde allerhöchstens Bela heil überstehen.)

Mama stand mit Belas Schwimmflügeln in der Hand am Esstisch und sah aus dem Fenster, als würde da irgendwer ein Schild mit der Antwort hochhalten. Aber draußen waren nur die Häuser und der asphaltgraue Himmel, der noch so gar nicht nach Sommer aussah, und eine Antwort hatte dieser müde Himmel ganz sicher nicht.

»Warst du schon mal da?«, fragte Papa.

Mama schüttelte langsam den Kopf, dann sah sie Papa an: »Ehrlich gesagt: ich weiß es nicht.«

Papa warf Mama seinen Du-spinnst-wohl-Blick zu, der früher für Kurt und seine Vorstellungen von Nachhausekommzeiten reserviert gewesen war, dann gähnte er, drehte sich um und schlief wieder ein.

So einfach. Als ob das eine ordentliche Antwort gewesen wäre: Ich weiß es nicht.

»Wie, du weißt es nicht?«, fragte Mari und war selbst erschrocken, wie wütend sie schon wieder klang. Mama drehte sich erstaunt zu ihr um. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass Mari da war.

»Nein. Wirklich nicht, Schatz. Ich hab einfach nach einem Ort gesucht, an den wir sonst nie fahren würden, der ganz neu ist und anders und dann hab ich irgendwann im Internet dieses Bild gesehen, von dem kleinen Haus mit den vielen Rosen und diesem Leuchtturm, und ich weiß nicht warum, aber da wollte ich hin.«

Mama sah Mari hoffnungsvoll an, aber die schüttelte nur den Kopf. Das, was Mama da sagte, das klang nach Bela, nach seiner Kindergartenlogik. Das klang ganz und gar nicht nach Mama, die immer alles planen und wissen und verstehen musste. Die am Computer Tabellen erstellte, für die nächsten hundertzehn Jahre, damit nur nichts Unvorhersehbares geschah. Vielleicht war bei Mama irgendwas durcheinandergekommen mit Papas Diagnose. Die ihnen allen bewiesen hatte, dass eben doch alles anders sein konnte, im Guten wie im Schlechten, egal, wie sehr man plant und vorbereitet. So muss es sein, dachte Mari, dort in der Tür: Mama war ein bisschen verrückt geworden. Und es war ja nicht so, dass Mari das nicht verstand, es war nur, dass sie es nicht wollte. Auf keinen Fall. Mama sollte die Dinge gefälligst endlich wieder im Griff haben. Wieder Maris und Belas und Kurts Mama sein und nicht so eine zähneknirschende Schattengestalt.

»Es muss wirklich wunderschön dort sein«, sagte Mama leise, wie um sich selbst zu überzeugen und plötzlich wollte Mari zu ihr rübergehen, das blöde matschige Müsli wegstellen und sich von Mama umarmen lassen. Wildrosencreme riechen und Waschmittel und Tomatensoße und glauben, dass es schon okay war und gut, was Mama sich da überlegt hatte mit dieser merkwürdigen Insel im unendlichen Blau.

Aber stattdessen wich sie Mamas Blick aus, drehte sich um und ging in ihr Zimmer. Die Wut war zu groß, und die Enttäuschung.

Es gab also nicht einmal einen guten Grund für Solupp! Es gab nur ein Bild: ein Haus und ein Leuchtturm. Und Mamas dämlichen Wunsch, alles mal ganz anders zu machen.

»Es muss da wirklich wunderschön sein!«, wiederholte Mama von da an bei jeder Gelegenheit, und Gelegenheiten gab es viele, weil keiner der Fröhlichs in diesen letzten Wochen vor den Sommerferien mehr viel sprach. Kurt hatte sich irgendwie einen Schlüssel für seine Zimmertür besorgt, Bela sprach nur noch mit seinen Plastikrittern, Papa war in so etwas wie einen Dornröschenschlaf gefallen (nur mit monstermäßigem Schnarchen) und Mari setzte ein Zeichen, indem sie Mama vollkommen ignorierte.

Und das hat sie durchgehalten, bis hier und heute, auf diesem wackligen Boot mit den Holzsitzen und der winzigen Kajüte unter Deck, wo Papa beim Gepäck sitzt und schläft. Und eigentlich hatte Mari geplant, Mama noch weiter zu ignorieren, doch das schaffte sie nur die Autofahrt über, die ungewohnt still war und ohne Pause und Ausnahmsweise-Limo und Flutschfinger, so wie sonst immer, wenn sie nach Italien fuhren oder in Belas heiß geliebten Ferienpark. Doch hier am Bug der Elysion, mit dem Sonnenschein im Gesicht, da ist es, als wenn eine dicke Nebelwand sich lichten würde, da verschwinden die Wut und der Ärger langsam und dann plötzlich ganz schnell, als weit vor ihnen ein kleiner heller Punkt auf dem funkelnden Meer auftaucht.

»Ist das Solupp?«, fragt Mari, und Mama sagt: »Ja, mein Mari-Mädchen, ich denke, das ist Solupp.«

Irgendwie, findet Mari, klingt das ein bisschen wie der Anfang einer Geschichte. Einer der aufregenden, der schönen, einer der verzauberten Sorte.

Und dann sind sie plötzlich da.

Die Elysion legt an, der Fährmann fragt Kurt, ob er ihm helfen will, das schmale Brett hinabzulassen, das als Brücke dient, aber Kurt will nicht, weil Kurt nie was will und überhaupt nichts, in letzter Zeit.

»Ich mag dieses Meer nicht besonders«, knurrt er und zieht seine Kapuze noch tiefer ins Gesicht.

Der Fährmann zuckt die Schultern und murmelt was und das klingt so, als hätte er Das wird schon noch mit dir gesagt, aber da muss Mari sich verhört haben. Nichts wird, schon gar nicht hier, am Ende der Welt.

»Ich mach das!«, sagt Mari und der Fährmann nickt. Zusammen lassen sie den schweren Steg hinab und jetzt ist der Weg frei nach Solupp. Doch bevor die Fröhlichs das Holzbrett betreten können, drängt sich die düstere Gestalt mit der seltsamen Kleidung an ihnen vorbei. Sie trägt jetzt eine riesenhafte altmodische Tasche in der Hand und sieht nicht mal auf, als Papa taumelt und fast ins Wasser fällt.

»Hey, Sie!«, ruft Mama ihm nach, aber er tut so, als würde er sie nicht hören und verschwindet bald hinter einer Düne.

»Also, Leute gibt’s«, donnert der Fährmann. Als er Belas erschrockenes Gesicht sieht, macht er eine übertriebene Verbeugungsgeste und gibt ihnen den Weg frei. Vorsichtig balancieren die fünf Fröhlichs über den schmalen Steg an Land.

»Einen wunderbaren Sommer!«, ruft der Fährmann gut gelaunt, als sie endlich alle das Ufer erreicht haben, und dann zieht er die Brücke wieder hoch, »ihr habt euch wirklich den besten Ort der Welt ausgesucht!«

Mama sieht Mari und Kurt und Bela und Papa an. Vielsagend. Mari schaut weg, rüber zum Fährmann, der winkt und dann legt die Elysion ab und nun sind sie also auf Solupp.

Die Luft hier riecht nach Sommer. Aber nicht wie der in der Stadt, nicht nach heißem Asphalt und nach brackigem Flusswasser und braunfleckigen Bananen, die Luft auf Solupp riecht nach Heckenrosen und Salzwasser und Sommersprossen und Karamelleis mit Sahne, aber eigentlich unbeschreiblich. Wahrscheinlich muss man selbst dort sein, um es sich vorstellen zu können.

Mari atmet ganz tief ein. Vor ihren geschlossenen Lidern flackert das Licht, es ist zu warm im Pullover. Hier hat sich der Sommer also versteckt, auf den in der Stadt alle so sehnlich warten.

»Nimm mal!«, brummt Kurt neben ihr und stößt Mari in die Seite. Er hält ihren Rucksack in den Händen und lässt ihn, bevor Mari zupacken kann, vor ihr auf den Boden plumpsen. Mari hievt den Rucksack auf den Rücken. Da sind vor allem Belas Sachen drin. Alles, was er nicht in seinen winzigen, heiß geliebten knallgrünen Nilpferdrucksack bekommen hat. Mari selbst hat nur wenig mitgenommen, drei T-Shirts, eine Shorts und natürlich das rote Kleid, das Mama eigentlich auf den Aussortierstapel gelegt hatte – ein paar Kleidungsstücke nur, so aus Protest, denn Mari hat nicht vor, lange zu bleiben.

Papa steht neben Mama, die Tasche mit den schwitzigen Proviantbrötchen an sich gedrückt, die Mama vor jedem Urlaub schmiert und die nie jemand isst, weil alle nur die blassen Pommes wollen und die Limonade und die Flutschfinger. Und obwohl es das alles dieses Mal nicht gab, hat keiner die Käseschwitzbrötchen gegessen, so schlimm steht es um sie also doch noch nicht. Mari ist sich nicht sicher, ob sie deswegen erleichtert sein soll.

»Mari?« Bela verschwindet fast hinter der riesigen Papiertüte, die er in den Armen hält. Er durfte die Ritterburg doch noch mitnehmen, kurz vor der Abreise hat er es geschafft, er hat so geweint und Mama hatte, wie immer, keine Geduld.

»Hilfst du mir, die ist irgendwie schwerer als zu Hause!«

Er klingt so kleinlaut, dass Mari ihm sofort hilft, gleich einen Henkel nimmt, ohne irgendwas Fieses zu sagen. Und Bela hat recht: die Plastikburg ist wirklich unfassbar schwer. So, als wären all die Mauern und Ketten und Türme und die kleinen Ritter beim Betreten der Insel lebendig geworden.

Zusammen schleppen sie die Tüte rüber zu Mama und Papa.

»Ist das nicht schön hier? Was sagt ihr jetzt?«, fragt Mama.

Keiner sagt was. Da stehen sie am Anleger, inmitten ihres Gepäcks, die Fröhlichs, wie fünf Schatten im gleißenden Sonnenlicht und wissen nicht, was sie sagen sollen.

Weil es hier tatsächlich zu schön ist, viel zu schön, um wahr zu sein. Und unfassbar, dass so ein Ort existiert, dass es Solupp die ganze Zeit über gegeben hat, auch vor ein paar Monaten schon, als es noch so aussah, als würde Papa diesen Sommer nicht mehr erleben.

Mama hat Papas Hand genommen und Bela kuschelt sich an Kurt und für einen Moment lässt Kurt ihn und Mari sieht ihre Familie und den strahlend weißen Strand und das glitzernde Meer und da ist auch der Leuchtturm, von dem Mama erzählt hat. Schneeweiß steht er auf der kleinen Landzunge, so, als wäre er nicht gebaut worden, sondern über Jahrhunderte hinweg aus dem Boden herausgewachsen.

»Herzlich willkommen auf Solupp!«, ruft eine Stimme und Mari zuckt heftig zusammen.

Vor ihr steht ein Junge und lächelt die Fröhlichs breit an.

Er muss ungefähr in Kurts Alter sein, vierzehn oder vielleicht fünfzehn, aber das Alter ist auch schon alles, worin die beiden sich ähnlich sind. Neben dem braun gebrannten, barfüßigen Jungen in der abgeschnittenen Jeans, mit dem rotweiß gestreiften T-Shirt, den unternehmungslustig funkelnden Augen, sieht Kurt unter seiner schwarzen Kapuze noch bleicher aus, sein Mund noch schmaler und seine Augen noch trauriger. Es ist auch nicht ganz fair, denkt Mari, weil der gut gelaunte Junge ein bisschen so aussieht wie der Sommer persönlich und weil das ja vielleicht kein Wunder ist, wenn man hier wohnt. Neben ihm fällt jedenfalls noch mehr auf, dass Kurt sich in den letzten Wochen nach und nach in den kleinen Vampir verwandelt hat, grimmiger Blick, wild abstehendes Haar und schwarz lackierte Fingernägel inklusive.

»Ich bin Joon«, sagt der Junge und streckt zuerst Bela die Hand hin.

Bela schüttelt sie begeistert: »Bist du ein Geist?«

»Bela Schatz, was soll das denn nun wieder?«, fragt Mama. Sie reagiert nervös auf alles, was auch nur im Entferntesten etwas mit dem Tod zu tun haben könnte.

»Wegen der Haare«, sagt Bela schüchtern.

Joon lacht und fährt sich durchs Haar.

Das ist wirklich so blond, dass es fast weiß aussieht, Vanilleeishaar denkt Mari.

»Die Sonne«, sagt der Junge fröhlich, »im Sommer verwandele ich mich in ein Gespenst.« Und als er Belas entsetzten Blick sieht, fügt er schnell hinzu: »Aber ein nettes!«

»So ein Blödsinn«, stößt Kurt hervor.

»Stimmt!«, grinst Joon und streckt Kurt die Hand hin. Aber Kurt ignoriert ihn einfach und Mari ist das ein bisschen peinlich, schließlich sind sie hier ja nur zu Gast und Joon doch scheinbar ganz nett. Warum kann Kurt nicht einfach mal normal sein und so strahlend und gut gelaunt wie Joon?

Joon scheint Kurts seltsames Verhalten nicht zu stören, jedenfalls begrüßt er jetzt einfach Mama und Papa und dann Mari.

»Du bist die Fußballerin, oder?«

Mari sieht Joon erstaunt an.

»Geist und Hellseher!«, verkündet der grinsend.

»Echt?«, fragt Bela aufgeregt.

»Blödsinn!«, knurrt Kurt.

»Stimmt!«, sagt Joon. »Aber da liegt ein Ball.«

Oh nein! Mari sieht das jetzt erst. Ihr WM-Ball ist aus dem Rucksack gerollt, zum Glück nicht runter ins Wasser! Sie sammelt ihn schnell wieder ein, stopft ihn zurück.

»Soll ich den nehmen?«, fragt Joon, aber Mari schüttelt den Kopf. Das schafft sie schon. Sie schafft alles allein.

»Gut«, sagt Joon vergnügt, »kommt ihr?«

Statt Maris Rucksack schnappt er sich die zwei neuen Rollkoffer, die noch neben dem Fähranleger stehen und auf dem steinigen Weg vollkommen unbrauchbar sind. Das Auto haben sie drüben am Festland im Hafen gelassen, denn Autos sind auf Solupp ja verboten.

»Helios ist schon ganz ungeduldig«, fügt Joon noch hinzu.

Und tatsächlich hört Mari genau jetzt ein Schnauben, und da, ganz hinten, wo der Weg hinter dem grünen Deich verschwindet, sieht sie ein karamellfarbenes Pferd, das vor eine himmelblaue Kutsche gespannt ist.

»Fahren wir mit der Kutsche?«, ruft Bela aufgeregt.

»Klar!«, sagt Joon. »Solupp ist zwar winzig, aber mit eurem Gepäck brauchen wir zu Fuß sonst den ganzen Tag!«

»Na dann los, meine Lieben!«, ruft Mama, und Mari ist froh, dass sie mit dem sonnengebleichten Joon jetzt endlich jemanden hat, mit dem sie um die Wette lächeln kann. Wobei das bei Joon um einiges echter aussieht als bei Mama mit ihrem bemühten »Wir-schaffen-das-schon-Grinsen«.

Sie stapfen los, den sandigen Weg hinauf, und hinter ihnen, schon weit draußen im Meer, tutet die Elysion noch einmal zum Abschied, verschwindet hinter dem Horizont, fährt zurück zum Festland und lässt Mari und Kurt und Bela und ihre Eltern zurück, auf dieser sonnenstrahlenden Insel, die ein bisschen so ist wie aus der Zeit gefallen und aus der Wirklichkeit.

Doch dann ruft Joon: »Passt auf mit den Pferdeäpfeln!«, und Mari ist beruhigt, denn das klingt dann doch so, als befänden sie sich noch auf dieser Welt. Zumindest am Rande davon.

Helios ist ein struppiges Pony, das ungeduldig schnaubend mit den Hufen im feinen Sand scharrt.

»Ist ja gut, gleich geht’s los!«, sagt Joon und gibt ihm auf der flachen Hand einen Apfel. Dann hievt er zusammen mit Mama und Mari die Koffer und Mamas schwere Arzttasche in die Kutsche. Die Tasche, darauf besteht Mama, muss in jeden Urlaub mit. Vorsichtshalber, man-weiß-ja-nie.

»Ich hoffe, ihr passt noch rein!«, lacht Joon. »Könnte ein bisschen eng werden.«

»Ich laufe«, murmelt Kurt.

»Du weißt doch gar nicht, wohin!«, ruft Mama aufgebracht, als Kurt in seinen ausgelatschten Chucks einfach losstiefelt, den Weg hinunter, durch die schmale Öffnung im Deich.

»Keine Sorge«, sagt Joon, »lange Zeit gibt es hier erst mal nur den einen Weg und wenn der sich gabelt, wird er schon wissen, wohin.«

Mama sieht Joon skeptisch an, sagt aber nichts. Auch Mari fragt sich, wie Joon sich damit so sicher sein kann. Er kennt Kurt ja gar nicht und Kurt wiederum kennt sich auf Solupp nicht aus. Woher soll er da wissen, welcher Weg der richtige ist?

»Der findet sich schon wieder an!«, sagt Joon und hilft Bela auf den Kutschbock.

»Ich darf vorne sitzen?« Bela ist begeistert und Mari ist klar, dass Joon nun sein neuer Held ist, jetzt, wo Kurt ihn kaum noch beachtet und Papa immer nur rumsitzt oder rumliegt wie das Gespenst, dass der durch und durch lebendige Joon sicherlich nicht ist, Papa aber vielleicht schon.

Mari sitzt neben Mama und Papa eingequetscht hinten, Joon schnalzt mit der Zunge und mit einem Ruck setzt sich die Kutsche in Bewegung, wird schneller und schneller und Bela ganz vorne kreischt vor Freude und Joon fragt: »Noch schneller, Bela?«, und Bela, der doch sonst immer vor allem Angst hat, ruft: »Ja, schneller!«, und das Pony wird schneller und schneller, bis die Kutsche zu fliegen scheint.

Hinter dem Deich liegt etwas, was Joon als »den Ort« bezeichnet. Das ist ein bisschen übertrieben, denn eigentlich sind es nur sechs bunte, reetgedeckte Häuschen, die sich um einen grasbewachsenen Platz verteilt haben, in dessen Mitte etwas, das aussieht wie zwei stark gebogene Baumstämme, ein Tor bilden.

»Der Walkiefer«, sagt Joon.

»Hier wurden Wale gejagt?«, fragt Mama entsetzt und auch Mari runzelt die Stirn.

»Ja, aber das ist schon lange her. Die alte Oona sagt, dass es der letzte Wal war, ihr Vater war einer der letzten Kapitäne.«

Mari stellt sich vor, wie eine Truppe uralter Menschen auf Walfang geht. Seltsam.

»Und das ist jetzt sozusagen das Ortszentrum?«, fragt Mama.

»Das ist der Ort«, sagt Joon und Mari seufzt – toll, das kann ja spannend werden.

Joon deutet auf das kleinste der Häuser. Es sieht aus, als wäre es ganz aus Rosen gebaut, üppig und wild sind sie überall, in allen Schattierungen von Rot, Rosa und Weiß. Unter einer rot-gelben Markise liegt Obst und Gemüse aus.

»Das ist Jolkas Laden, da könnt ihr einkaufen, morgens und abends.«

»Wann denn?«, fragt Mama, die immer alles ganz genau wissen muss.

»Morgens und abends«, wiederholt Joon, »wenn Jolka Zeit und Lust hat.«

»Das passt doch perfekt«, sagt Papa neben Mari, und obwohl das wirklich nicht besonders aussagekräftig ist, freut Mari sich.

»Auf Solupp wohnen nicht besonders viele Menschen.«

Nicht so viele, das kommt Mari wie eine Untertreibung vor. Selbst hier im Ortszentrum ist außer ein paar Spatzen und Möwen und einer karamellfarbenen Katze, die sich vor einem der Häuser in der Sonne rekelt, niemand zu sehen.

Joon schnalzt mit der Zunge und Helios wird wieder schneller, bald haben sie den Ort hinter sich gelassen.

Mari zupft Mama am Ärmel: »Hast du mal geguckt, wo genau dein Ferienhaus ist?«

»Unser Ferienhaus«, sagt Mama, »ist ganz nah am Meer.«

»Und weit weg von allem anderen«, sagt Mari, bei der trotz Sonne, Glitzermeerblick und Fahrtwind im Gesicht wie ein schleimiger Krake die schlechte Laune zurückgekommen ist. Was sollen sie nur hier? Und wo bitte ist Kurt? Den hätten sie doch schon längst überholen müssen! Was, wenn ihm was passiert ist? So ganz geheuer ist Mari dieses Solupp nicht.

Doch, Moment, da vorne auf dem Weg, da ist er! Eine schmale, einsame Gestalt.

Mari will gerade seinen Namen rufen, da wird ihr klar, dass das da vorne nicht Kurt sein kann. Die Gestalt ist viel zu groß, hält sich viel zu gerade, so geht Kurt nicht. Kurt duckt sich beim Gehen, er lässt die Arme nicht schwingen, weil er seine Hände immer in den Hosentaschen vergräbt. Kurt trägt auch keinen altmodischen, dunkelroten Gehrock, Kurt hat keine große Ledertasche. Das ist nicht Kurt, das ist der unhöfliche Kerl vom Schiff!

Sie sind nur noch ein paar Meter von der Gestalt entfernt, als Helios scheut und dann stehen bleibt, wie von einem Eisblitz getroffen, stocksteif.

»Keine Angst«, flüstert Joon sanft, »ruhig, ganz ruhig …«

Das Pony tänzelt nervös, legt die Ohren an, macht trotz Joons Beruhigungsversuchen keine Anstalten, seinen Weg fortzusetzen.

Die Gestalt hingegen geht weiter, ohne sich umzudrehen, ohne auch nur einen Moment innezuhalten, dabei muss sie doch merken, dass sie für Unruhe sorgt.

»Wir warten einen Moment, ja?«, sagt Joon mehr zu Helios, als zu seinen Fahrgästen.

»Wer ist das?«, fragt Bela unbehaglich.

Joon zuckt die Schultern: »Keine Ahnung, hab ihn noch nie gesehen –«

Er sagt das in einem Ton, als würde das alles klarstellen.

Trotz der Lauwärme spürt Mari, wie eine Gänsehaut ihren Rücken hinabkriecht. Und obwohl Bela ganz sicher so wenig versteht wie sie, fragt er nicht weiter, sondern rutscht ein bisschen näher an Joon heran und im selben Moment nimmt Papa Maris Hand. Mari zuckt zusammen. Seit der Sache sind Papas große Hände immer so kühl. Trotzdem ist es gut, seine Finger um ihre zu spüren.

Wie kann das sein, denkt sie, dass ein Mensch einen Sommertag einfrieren kann? Oder eine Krankheit? Wie ist das möglich?

Sie muss eine ganze Weile nachgedacht haben, denn als sie wieder aufsieht, ist die Gestalt verschwunden. Keine Spur mehr, auch nicht in der Ferne.

»So«, sagt Joon, der sein Bestes gibt, fröhlich zu klingen, »dann wollen wir mal weiterfahren!«

Er schnalzt und Helios wirft seinen Kopf zurück als Antwort und setzt sich wieder in Gang, wird schneller und schneller und der Fahrtwind streicht über Maris Wange und Papas Finger um ihre werden allmählich warm und nur ein, zwei Momente später ist es, als hätte es die unheimliche Gestalt nie gegeben.

»Schneller!«, ruft Bela vorne fröhlich, »schneller!« und Mari muss grinsen, weil sie sich freut, über ihren plötzlich so entschlossenen kleinen Bruder.

»Da ist es!«, ruft Mama und tatsächlich, da vorne, ganz nah am Meer, ist das Haus, das Mari bisher nur von dem einen, unscharfen Foto kennt, das Mama ihr gezeigt hat.

»Genau«, sagt Joon, dessen gute Laune jetzt wieder zurückgekehrt ist, »da ist euer Zuhause!«

Und obwohl wahrscheinlich alle Fröhlichs dasselbe denken, widerspricht ihm niemand, verbessert keiner von ihnen Joon, dass ihr Zuhause ja nun mal ganz klar woanders ist, Leben und Welten weit weg, in der Wohnung über dem kleinen Bistro, in der großen Stadt.

Joon lässt Helios in den schmalen, von Heckenrosen gesäumten Weg einschlagen, der Kies unter den Hufen und Kutschrädern wird feiner, ein Klackern, wie von Belas Murmelbahn.