Hier ist es schön - Annika Scheffel - E-Book

Hier ist es schön E-Book

Annika Scheffel

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Beschreibung

An einem Tag im August beschließt Irma, die Erde zu verlassen, ihren Eltern und Freunden für immer den Rücken zu kehren und eine Heldin zu werden. Gemeinsam mit dem rätselhaften Sam wird sie in einer spektakulären Fernsehshow dafür ausgewählt, einen neuen Planeten zu besiedeln. Doch dann entscheidet sich Sam plötzlich anders. Er, der abgeschirmt von der Welt und den Menschen aufwuchs, ergreift die Flucht. Er will endlich Antworten auf die Fragen nach seiner Herkunft, nach seiner Geschichte. Und so begeben sich Sam und Irma auf eine Reise – nicht ins All, sondern durch abgestorbene Wälder, lebensfeindliche Städte, entlang leerer Straßen. Sie entdecken eine kaputte Welt von surrealer Schönheit, verfolgt – oder doch gelenkt? – von Mächten, die Puppenspielern gleich im Hintergrund die Fäden ziehen.

Hier ist es schön ist ein so phantastischer wie gegenwärtiger Roman über den Größenwahn der Menschen, die Ausbeutung der Natur, die totale Überwachung, den Zynismus von Reality-Shows – vor allem aber ist es ein Roman über das Wünschen und das Träumen, ein zärtliches Porträt zweier junger Menschen und ihres Kampfes um Freiheit und Selbstbestimmung.

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Seitenzahl: 483

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Annika Scheffel

Hier ist es schön

Roman

Suhrkamp

Hier ist es schön

*Für meine Eltern, in der Homebase.Und für Jenny & Gesa, auf ihren Planeten.

Gehorchen! — Herrschen! ungeheure schwindlichte Kluft — Legt alles hinein, was der Mensch kostbares hat — eure gewonnenen Schlachten, Eroberer — Künstler, eure unsterblichen Werke — eure Wollüste, Epikure — eure Meere und Inseln, ihr Weltumschiffer! Gehorchen und Herrschen — Sein und Nichtsein!

Friedrich Schiller: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, 1783

*

Er bewahrt den Brief unter seiner Kleidung, und wenn er sie ablegt, behält er ihn nah bei sich. Das Papier wird nass und wellig und bekommt Risse. Bald schon kann keiner außer ihm mehr lesen, was dort steht, doch die Worte bleiben ein fernes Versprechen in diesem lichtgrauen Labyrinth, in dem sie ihn leben lassen.

Vorspann

Wasser, Land, Berge, Wolken. Städte nur als ziegelrote Flecken. Anschwellendes Klavier, mit Schwung stürzt sich die Kamera in den Himmel, ein Sternenmeer wie schon ewig nicht, hier unten ist es neblig. Aus den flackernden Gestirnen bildet sich der Titel heraus:

CARPE DIEM

Das Klavierspiel wird lieblich, dann leise, dann Stille.

Kein Black, ein White.

Die erste Sendung beginnt mit Olivier. Er tritt vor, sieht direkt in die Kamera, sein Blick bohrt sich in die Augen der Zuschauer.

Dann spricht er:

»Heute schreiben wir die Geschichte weiter, heute schreiben wir sie neu, schreiben wir sie gemeinsam besser!«

Er lächelt leicht.

Dann verschluckt ihn das Weiß.

Die Stimme übernimmt, und der Text dazu fließt in den jeweiligen Sprachen die Bildschirme hinauf:

Aus Tausenden wählen wir zwei Hoffnungsträger,

einen Mann, eine Frau.

Sie fliegen für uns in eine neue, weit entfernte Welt.

Eine Welt, in der noch alles möglich ist.

Sie haben die Chance, dort alles richtig zu machen.

Sie kommen niemals zurück, und wir werden in ihnen unsterblich.

Carpe Diem, nutze den Tag, gib nicht auf.

Sie werden leben!

Eine Minute Stille.

Dann beginnt die Sendung mit einem Knall.

Innen

In ancient days, men looked at stars and saw their heroes in the constellations. In modern times, we do much the same, but our heroes are epic men of flesh and blood.

Others will follow, and surely find their way home. Man's search will not be denied. But these men were the first, and they will remain the foremost in our hearts.

For every human being who looks up at the moon in the nights to come will know that there is some corner of another world that is forever mankind.

William Safire: In Event of Moon Disaster, 1969

Die Briefe I

Du,

du hast früher immer wieder nach der Sache mit deinem Daumen gefragt, wir haben dir Antworten gegeben, angepasst an dein jeweiliges Alter. Jetzt fragst du nicht mehr, und ich will dir noch sagen: Keine unserer Antworten entsprach der Wahrheit. Der fehlende halbe Daumen ist kein Zeichen dafür, dass du eine märchenhafte Prinzessin, Irma, oder die Reinkarnation eines berühmten Wissenschaftlers aus dem 18. Jahrhundert, jemand Außer- bis Überirdisches bist. Er bedeutet nicht, dass es sich bei dir um eine Besonderheit handelt. Der Finger ist nur eine Genmutation. Oder, was heißt »nur«? Nichts weiter. Er ist ein Teil von dir, etwas, was dich immer fasziniert und manchmal, glaube ich, geärgert hat. Wir haben dir die Zukunft im Superlativ erzählt, so viele Größenwahnsinnigkeiten. Alle Eltern machen das, denke ich. Aber vielleicht waren wir damit etwas schlimmer als die anderen. Das täte mir leid, das würde manches erklären. Weißt du, dass wir ständig nach unserer Schuld suchen? Du nennst keine Gründe außer dem Abenteuer. Wir sind deine Eltern, wir brauchen mehr als das. Irma, lass es uns auf den Finger schieben, auf die Hälfte, die fehlt. Auf einen Teil von dir, den es nicht gibt. Also: Ein nicht vorhandener halber Daumen ist schuld daran, dass du in die Unendlichkeit verschwinden willst. So was kann vorkommen, haben die Ärzte nach deiner Geburt gesagt. So ist das eben.

Papa

*

Kindchen,

ganz hinreißend sahst Du aus in dem Film, den sie über Eure Ankunft gezeigt haben! Das Blau stand Dir gut, aber so sieht Dein Haar noch viel schöner aus, und geflochten haben sie es Dir, und das Kleid war so hübsch, ich habe Dich noch nie im Kleid gesehen, Irma, oder irre ich mich? Du sahst aus wie aus einer anderen Zeit, einer, die es nur in Märchen und Sagen gibt. Es stand Dir wirklich gut. Und überhaupt sahst Du aus, als würdest Du genau da hingehören, wo Du jetzt bist, wo immer das ist. Die anderen gefielen mir auch, aber nicht ganz so wie Du, mein Irmchen. Höchstwahrscheinlich bin ich da parteiisch. Du hast das sehr gut gemacht, diesen ersten Auftritt, dabei warst Du sicherlich sehr aufgeregt. Du weißt ja wahrscheinlich, wie viele Menschen Euch zusehen. Lass mich nur eine Sache sagen: Du könntest ein bisschen mehr lächeln! Sieh Dir Viola an, die macht das gut, wenn auch ein wenig zu ausdauernd. So viel wie Viola musst Du nicht grinsen, bewahre, Du hast ja auch noch anderes zu tun. Aber ich weiß doch, wie schön Du lächeln kannst, und ich weiß auch, dass Du in den letzten Jahren nicht besonders viel Lust gehabt hast, zu strahlen. Tu es jetzt, Irma! Sei freundlich, sei nett, sei höflich und vor allem: lächle, strahle! Das heißt, wenn Du wirklich mitwillst, wenn Du überhaupt ausgewählt werden möchtest. Sonst nicht, sonst lass es und komm zurück zu Deinen Eltern, die sich schrecklich grämen, obwohl sie sich doch für Dich freuen sollten: Du weißt, was Du willst! Ich mische mich nicht ein, das ist nicht meine Aufgabe. Ich gebe Dir nur ein paar altersweise Tipps, so wie ich das auch täte, wenn Du zum Beispiel überlegen würdest, hier unten ein Haus zu bauen. Was man da alles beachten muss, da könnte ich auch die ein oder andere Sache zu sagen. Jetzt aber kein Haus, jetzt der Himmel und weiter. Zeig Dich von Deiner besten Seite, mein Herz,

Deine Oma

PS: Dieses Jahr sind die Äpfel exzellent. Ich schicke Dir einen mit, teil ihn Dir mit diesem Jungen, den sie Sam genannt haben. Glaub mir, der kann einen Apfel vertragen! Während Du eine grimmige Prinzessin warst, sah er aus wie ein verschrecktes Kind. Er spielt gar nicht, das hat mir gefallen, aber wenn er weiter so großäugig aus der Wäsche guckt, dann kommt er nicht weit. Gib ihm also was ab!

*

Hallo Irma,

nur eine Frage, du hast bestimmt viel zu tun: Kann man dein Kleid irgendwo bestellen? Ich meine das Kleid, das du bei deinem allerersten Auftritt in der Arena anhattest. Das grüne! Mir fällt kein Ort ein und kein Anlass, zu dem ich es tragen könnte, aber ich würde es einfach in meiner langweiligen Stadt an einem ganz normalen Tag anziehen. So gut gefällt es mir, und so mutig machst du mich!

Danke!

Ein sehr großer Fan

*

Irma,

du hast sie echt nicht mehr alle! Und ich bin feige bis zum Mond oder deinem beschissenen neuen Planeten. Ich habe dir nie gesagt, dass ich glaube, dass das ein verdammter Fehler ist. Völliger Wahnsinn. Komm gefälligst zurück! Mehr Erde, mehr Leben, mehr alles als hier gibt es nirgendwo. Hier sind deine Leute, hier bin ich. Übrigens: Dieses Foto von uns, an deiner Pinnwand, das habe ich damals mitgenommen. Du hast das ewig gesucht, oder? Es steckt in meinem Portemonnaie — du hättest es Milliarden Mal entdecken können, hast du aber nicht. Das liegt daran, dass du nie richtig hinsiehst, du Brillenschlange. Ich bin fies, aber du auch. Ich sag's jetzt: Ich liebe dich! Echt, seit Ewigkeiten schon. Hast du auch nicht gemerkt. Blindschleiche. Das klingt so besch ‌… in diesem ohnehin extrem pathetischen Brief, Briefe an sich sind pathetisch, völlig urzeitlich. Aber anders, behaupten sie, kann man dich nicht erreichen. So ein Quatsch, man könnte, wenn sie wollten. Ich meine, sieh dir die Arena an. Wer so ein Riesending hinstellen kann, der kann auch anderes. Kommunikation möglich machen, zum Beispiel. Aber sie wollen gar nicht, die wollen nicht, dass wir dich erreichen. Die denken, du gehörst ihnen. Lass dir das nicht gefallen, Irma! Noch mal: ICH LIEBE DICH. Verdammt noch mal, was immer das heißt, es fühlt sich so an, und glaub mir oder nicht: Ich bin selbst erschrocken. Solche Worte von mir an dich und noch dazu in einem Brief. So weit ist es mit mir und der Welt gekommen. Aber trotzdem: Das ist kein Grund. Das ist ganz bestimmt kein Grund, hier alles aufzugeben. Lass die Kometen kommen, die Sonne verglühen, die Menschheit völlig den Verstand verlieren und die scheiß Flüsse aufwärts fließen, hier ist es schön. Hier war es schön mit dir und ohne dich eher nicht so. Tritt die beknackten Masken in den Arsch und renn, so schnell du kannst. Sie werden dich natürlich nicht so einfach gehen lassen, aber du bist schnell, du kannst das schaffen. Komm zurück. Nicht nur meinetwegen oder für irgendwen sonst. Sondern einfach, weil alles andere völlig beknackt wäre. Hier fliegt keiner in Richtung Sterne, hier wird gefälligst die Suppe ausgelöffelt, und glaub mir: So schlecht schmeckt sie gar nicht. (Nur ein ganz kleines bisschen nach mehligen Kartoffeln und gelblichen Erbsen, Millionen und Milliarden und Billionen und Billiarden Stunden und wenige Minuten länger zerkocht.) Ein paar Wochen kann ich noch warten, dann suche ich mir eine Frau fürs Leben aus den Heerscharen der Interessierten. Ich meine, ich bin fast siebzehn, und die Zeit rennt.

Ich glaube, das war alles, was ich schreiben wollte. Das wars.

Tom

PS: Doch nicht: Streberin! Das haben bisher nur die anderen gesagt, hinter deinem Rücken oder dir direkt ins Gesicht. Ich nie. Aber sie haben recht. Du musst immer die Beste sein, nicht nur in Mathe, in allem, weltweit. Dir reicht es nie. Irma, du bist die schlimmste Streberin, die mir je begegnet ist.

*

Hey Irma,

ich wollte nur sagen, ich guck das nicht mehr. Das geht gar nicht. Komm nach Hause, oder du hörst nie wieder von mir! So was macht man mit besten Freunden nicht. Sind wir doch, beste Freunde, oder? Meinerseits jedenfalls nicht mehr, wenn du da bleibst. Hör auf, so egoistisch zu sein. Heldentum jenseits der Erde ist scheiße und was für Feiglinge. Ihr verglüht doch nur, es wird sauweh tun, und ich seh da nicht zu, auch wenn die Shows wirklich gut gemacht sind. Aber ich habe mal recherchiert, wer das eigentlich ist, der diesen ganzen Wahnsinn veranstaltet. Ich will dich beunruhigen, und zwar so, dass du zurückkommst: Es sind Laien. Absolute Dilettanten in wissenschaftlicher Hinsicht. Eine Filmproduzentin, ein steinalter Bauunternehmer (er hatte vor sehr langer Zeit die Idee zu einem Flughafen, der nie fertiggestellt wurde und auf dessen Startbahnen eine Kooperative mittlerweile mitleiderregend schrumpelige Kartoffeln anbaut), eine Astrologin (verwechsele das bloß nicht mit Astronomin) und ein Typ, der früher Groschenhefte geschrieben hat und sich jetzt eure »Abenteuer« in der Arena ausdenkt. Die spinnen, Irma, und die haben keine Ahnung von dem, was sie mit euch vorhaben! Lass dich nicht einspannen für deren Quatsch, deren wahnsinnige Träume! Komm zurück!

Maja

PS: Dass die ausgerechnet meinen Namen für ihn ausgewählt haben, das ist doch irre, oder?

*

Mein Schatz,

ich bin so froh, dass du lebst. Wir waren am See, nach der Sendung. Du kannst dir denken, dass es uns beiden nicht gut ging. Papa hat riesige Felsen ins Wasser gestemmt und sich dabei verhoben, er hat einen langgezogenen Schrei ausgestoßen, wie man ihn sonst nur von Tieren kennt, der Löwe damals im Zoo, weißt du noch? (Falls ich dir mehr als nur diesen einen Brief schreiben muss, wird es von »Weißt-du-nochs« nur so wimmeln. Das machen Eltern so, vor allem die verlassenen. Ich werde dich nach Nachbarn fragen, die weggezogen sind, als du deine ersten Schritte machtest, ich werde mich auf Ururgroßcousins — gibt es die? — beziehen, die auch ich nur aus Erzählungen meiner Mutter kenne und die aus Erzählungen ihrer Mutter. Ich werde dir unsere gemeinsame Vergangenheit vorhalten, erwarten, dass du daraus irgendwelche Konsequenzen ziehst, und mich ärgern, aber nicht wundern, wenn dem nicht so ist.) Der Löwe jedenfalls, der hat so gebrüllt wie dein Vater am See, du hast damals vor Schreck deine Brezel fallen lassen, ich musste sie wegschmeißen, erinnerst du dich an den Geruch im Raubtierhaus, Pisse und Schweiß und Verzweiflung?

Jedenfalls: Ich konnte nichts sagen, mehrere Stunden lang nicht. So weit dürfen sie nicht gehen. Die dürfen doch niemanden sterben lassen! Ich habe mir die Einverständniserklärung genau durchgelesen. Sie dürfen. Warum haben wir das unterschrieben? Ich verstehe uns nicht. Wir wollten alles richtig machen und dann so was. Der einzige Trost: Ich bin mir sicher, dass sie dir nichts antun werden. Dich wollen sie dabeihaben. Sie sprechen anders mit dir als mit den anderen Mädchen. Du bist häufiger zu sehen und meistens, wenn du lachst. In letzter Zeit lachst du oft, viel mehr, als ich das in Erinnerung habe. Es sollte mich freuen, aber es macht mich traurig. (Eltern gehören übrigens zu den egoistischsten Wesen der Welt.) Du wirst gemocht. Weißt du noch, in der neunten Klasse? Da hast du mir erzählt, dass es niemanden gibt, jemals geben wird, der dich toll findet. Jetzt lieben dich alle. Dich und diese beiden seltsamen Jungen, Sam und Anas. Magst du einen von ihnen? Ich bin froh, dass du ihnen so wichtig bist, und dann auch wieder nicht, das heißt ja, du gehst. Die Hoffnung ist, dass sich das alles noch als gigantisch dummer Witz herausstellt. Wie Elin gestürzt ist. Es gab keinerlei Sicherheitsvorkehrungen. Was soll das? Sie haben ein Porträt über Anas gezeigt, während sie das, was von Elin nach dem Sturz übrig geblieben ist, weggebracht haben. Anas kommt aus einem ganz kleinen Dorf, dessen Namen ich noch nie gehört habe. Er hat zwei Geschwister. Seine Eltern sind stolz, aber besorgt, sie glauben, dass Anas das Zeug dazu hat. Und dabei geht es ihnen nicht anders als uns: Sie könnten sich dafür, dass sie ihrem Kind von Anfang an so viel Selbstbewusstsein eingetrichtert haben, gegenseitig in den Hintern treten. Und wie Papa und ich treten sie einander natürlich nicht, weil sie schon ahnen, dass sie einander brauchen werden wie zu den schlimmsten Zeiten. Mach dir keine Sorgen, wir sind nett zueinander. Sag mal: Ich hoffe, du hast nichts gesehen. Nichts davon, was mit Elin geschehen ist und wie sie nach dem Sturz aussah. Du bist hart im Nehmen, Irma, ich weiß, aber das ist dann doch ein bisschen viel, stelle ich mir vor?

Anderes: Wir haben Papas Geburtstag gefeiert, mit Kuchen und Kerzen und allem. Die ganze Verwandtschaft war da, bis auf die Kinder. Du bist also nicht die Einzige, die anderes zu tun hat. Deine Cousinen studieren, dein Cousin fährt zur See, bzw. er bereitet sich darauf vor. Er verrät nicht, was genau er dort will. Ich sag nur: Es gibt auch hier absurde Träume, denen du nachrennen könntest. Heute Nachmittag streiche ich den Flur blau. Das wird dunkel, aber schön. Die Wolken hängen bis in die Birnbäume. Den Satz habe ich schon den ganzen Tag im Kopf.

Warum lassen sie euch zwischendurch eigentlich nicht raus? Ihr seid doch nicht gefangen, hoffe ich. Papa schreibt dir auch. Er ist momentan oft wütend. Der Löwenschrei, die Felsen, wie gesagt.

Ein Kuss. Pass auf dich auf.

Mama

PS: Sam gefällt mir etwas besser als Anas, der ist doch eigentlich ein Angeber und gar nicht dein Typ, oder? Mit Sam stimmt etwas nicht, aber er scheint nett zu sein. Ich will mich nicht einmischen, aber das fiel mir auf. Und das: Manchmal wirkt er, ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll, irgendwie weggetreten. Weißt du, was ich meine? Er schließt ab und zu einfach die Augen und reagiert auf gar nichts mehr. Das macht mir Sorgen, so gut er mir sonst auch gefällt. Jemand, der dich begleitet, sollte wach sein und präsent. Ich denke, sie werden ihm das noch abgewöhnen. Aber, was soll das bitte heißen, was sie Sendung für Sendung und in jedem Bericht wiederholen: Er wurde angespült an einem der letzten Sommertage? Wo bitte, wann bitte und vor allem: warum? Willst du das nicht wissen? Findest du das heraus? Es gibt einen Aufruf, man soll sich melden, wenn man etwas über Sam weiß, wenn man verwandt ist. Ich bin mir sicher, es werden Hunderte auftauchen. Wo ich gerade dabei bin: warum überhaupt diese Sache mit dem Namen? Er muss doch schon vorher einen gehabt haben, oder? Ohne Gedächtnis, in Ordnung, aber dass jemand so vollkommen alleine ist, das kann man doch heute niemandem weismachen. Da müssen doch Leute angerufen haben, die ihn kennen, ihn und seinen richtigen Namen. Wenn ich er wäre, ich würde mich weigern, mir einfach einen Namen geben zu lassen! Wenn die versuchen sollten, deinen Namen auszutauschen, wehr dich bitte dagegen. Das ist nicht witzig! So was macht man doch nicht! Wenn du wüsstest, wie lange wir überlegt, wie wir Listen gemacht und penibel ausgewertet haben, und als wir den Namen gefunden haben, waren wir so froh! Irma, was machen sie da mit euch?

PPS: Es ist so lange her, dass ich Briefe geschrieben habe. Sie gingen immer an deinen Vater. Aber was mir gerade einfällt: Als du ganz klein warst, habe ich mir in einer dieser halbwachen Nächte vorgenommen, dir einen Brief zu schreiben. Einen langen, in dem alles gesagt wird, was gesagt werden muss, falls mir etwas passieren sollte, damit du nie zweifelst. Ich habe vergessen, diesen Brief zu schreiben, mir ist nichts passiert. Den Brief kann ich nicht nachholen, er hätte an eine Vorstellung von dir später gerichtet sein müssen, aus meiner Hormonmelancholie heraus. Erinnerst du dich? Ich habe dir fest versprochen, ihn zu schreiben. Ich glaube nicht an dieses Karmading, aber vielleicht sind die Briefe, die ich dir jetzt schreiben muss, eine Strafe dafür, dass es diesen einen Brief nicht gab.

So ein Quatsch. Nichts hängt zusammen, jedenfalls nicht auf eine derart einfache Weise. Aber: Erinnerst du dich, Irma, was ich dir damals alles ins Ohr geflüstert habe, ich, deine tränennahe Mutter? Keine Sorge, gerade weine ich nicht.

PPPS: Siehst du dir ab und zu die Bilder an, weißt du, die auf dem Mikrofilm?

*

Du,

das war knapp. Ich weiß nicht, ob ich mir das noch lange ansehen kann. Du solltest wissen, dass ich dagegen klage. Mit Anas', Violas und Baptistes Angehörigen. Von Elin konnte ich niemanden finden. Sicher brauchen sie Ruhe und Abstand. Wir werden verhindern, dass das so weitergeht, dass noch jemand stirbt. Baptiste hatte Kinder, Elin und Viola waren selbst noch welche. Mein Gott, was für ein Scheiß! (Achtung: So weit ist es mit mir gekommen, ich bete und klinge dabei wie ein betrunkener Hooligan!) Das dürfen die nicht, das geht zu weit. Verstehst du: zu weit! Schleich dich nachts raus, Irma, flieh!

Was gibt es sonst? Wir waren am See, es hat geregnet, und der Regen war irgendwie schwerer als sonst. Das ist nicht metaphorisch gemeint, der Regen war wirklich verdammt schwer. Wir haben uns unter einen Baum gestellt, aber das hat nicht geholfen. Die verdammten Bäume sind kahl. Ich sage dir, der Regen hat gehämmert auf dem Kopf. Das war wie Hagel, nur matschiger. Sei froh, dass ihr nicht rausdürft. Ihr verpasst nichts. Tom war ein paarmal hier, Maja nicht. Tom ist blass, und er grinst dagegen an wie ein Irrer. Seine Eltern machen sich Sorgen, wir treffen uns ab und zu und trinken was. Toms Vater brennt im Keller Schnaps, er macht das sehr gut, unsere Köpfe waren schwer am nächsten Morgen, aber auf eine gute Weise, eine, die zum Weiterschlafen einlädt und die kurzzeitig vergessen lässt.

Mehr Neues gibt es nicht.

Bleib gefälligst am Leben, Irma. Deine Mutter sagt, das wäre nicht das Problem, aber ich finde schon, das ist das Grundlegende: erst mal am Leben bleiben und dann weitersehen. Egal wie, egal wo. Wir bekommen das schon irgendwie hin.

Papa

*

Liebe Irma,

weißt du mehr über Sam als wir? Was hat es damit auf sich, mit dem Angespült-Worden-Sein? Kannst du das erklären? Auch, wenn man angespült wird, muss man doch von irgendwoher stammen, oder nicht?

Erzähl uns mehr davon, bitte, ganz bald! Ich hoffe, man findet seine Familie. Ich bin so gespannt auf die nächsten Shows!

Ein Fan

*

Sehr geehrteIrma (noch ist dein Nachname nicht bekannt),

wir sind eine Organisation, die sich für die Menschenrechte einsetzt. In eurem Feld haben wir noch nicht viel Erfahrung, aber wir haben schon einige aus Gefängnissen befreit, während der Kriege an die 10 ‌000! Wir wissen noch nicht wie, aber wir können euch helfen. Gebt uns ein Zeichen, und wir kommen. Wir sind nicht wenige, versprochen. Dir haben sie noch kein Haar gekrümmt, aber anderen ist schon zu viel passiert. Die Toten und jetzt das mit Sam. Es hätte nicht eure Aufgabe sein dürfen, das Feuer zu löschen. Es ist ihre Sendung, es wäre auch ihre Verantwortung gewesen. So etwas Schönes wie einen Geburtstagskuchen dafür zu nutzen! Ihr wart mutig, aber auch da gibt es Grenzen. Ihr konntet nichts verhindern, weil nichts verhindert werden sollte, es gehörte zur Show, und es hat niemanden überrascht, zu wenige wirklich erschreckt. Wir hoffen, Sam geht es besser. Und noch mal: Wir können euch helfen!

Pro Humanis, für Menschenrechte

*

Also,

sie schicken nur zwei? Was soll das? Wie stellt ihr euch das vor? Ich meine, das kann doch gar nicht gutgehen. Das müsst ihr doch wissen!

J.

*

Mein Schätzchen,

ein halbes Jahr bist du weg. Ich habe ganz feine Falten um die Mundwinkel, aber das hat nichts mit dir zu tun. Ich habe das anhand von Fotos überprüft: Meine Mutter hatte die auch, in genau dem Alter. Wie das wohl bei dir sein wird? Mein Haar ist jetzt ein paar Zentimeter länger, aber das fällt niemandem auf, nach wie vor trage ich immer meinen Zopf.

Es ist ein bisschen wärmer geworden als an den ganz schlimmen Tagen. Ich klebe die Artikel über dich in eine Mappe. Du warst mal Fan, erinnerst dich? Drei dicke Ordner voll von dieser Band, wie hieß sie noch gleich? Papa und ich liegen abends im Bett und erzählen uns Sachen von früher. So sind wir jetzt. So sind vielleicht alle Eltern, aber wahrscheinlich erst ein bisschen später. Ich habe Maja am Fluss gesehen. Sie hat einen Freund und viel kürzeres Haar, sie sah zufrieden aus. Der Freund war mal in eurer Klasse, aber ich erinnere mich nicht an seinen Namen. Er hatte eine Schwester, glaube ich, die Eiskunstläuferin und ein bisschen berühmt war, er trug eine auffällige Brille, jetzt nicht mehr. Papa erinnert sich auch nicht, wie sie hießen, alle Namen, die er sagt, klingen falsch. Ich frage mich, was aus der Schwester geworden ist. Eiskunstlaufen kann man ja nicht ewig, es geht auf die Knochen und Gelenke, und ich weiß auch nicht, ob es überhaupt noch Bahnen gibt. Sie wird etwas anderes gefunden haben.

Schreibst du dir mit Maja und Tom? Ich hoffe doch. Falls du zurückkommst, ist es gut, wenn ihr einander habt. Jetzt bist du so eng mit denen da drinnen. Ich mag Carla. Alle mögen sie. Und Cal. Natürlich gewinnen die beiden nicht, sie sind zu alt, es hätte keinen Sinn, sie zu schicken. Ich wundere mich, dass ihr in den Sendungen so tut, als wäre es egal. Sam ist das, was Oma hinreißend nennen würde, bei Anas bin ich mir immer noch nicht sicher. Ich vermute, du magst ihn. Er sieht gut aus, er lächelt viel. Und ohnehin: Du bist näher dran als ich, und ich habe mich nicht einzumischen. Ich war doch bisher ganz gut im Zurückhalten, oder? Was ich verrückt finde (an diesem ohnehin völlig wahnsinnigen Projekt): dass sie nur zwei auswählen! Was, wenn einem etwas zustößt? Gibt es Notfallpläne? Sagen sie euch irgendwas? Hier draußen stellen wir uns viele Fragen, aber wir bekommen keine Antworten, jedenfalls nicht auf die wirklich wichtigen.

Bald schreibe ich dir wieder. Wir streichen das Wohnzimmer, der Flur sieht gut aus und doch gar nicht so dunkel, das wenige Licht, das sich hinein verirrt, fällt viel mehr auf, ich schicke Fotos.

Küsschen an dich, Milliarden.

Mama

*

Liebe Irma,

du kennst mich nicht, aber ich kenne dich sehr gut. Ich bin zehn Jahre alt, und du bist meine Heldin. Es ist so wahnsinnig mutig, was du machst. Ich hoffe, dass Anas für dich auserwählt wird. Er ist toll.

Ich weiß, dass du nicht viel Zeit hast, aber kannst du mir eine Autogrammkarte schicken?

Ganz viel Glück, ich bin für dich!

Deine Emma

PS: Seit ich die Shows gucke, gebe ich mir viel mehr Mühe in der Schule, weil ich weiß, dass du immer richtig, richtig gut warst und man richtig, richtig gut sein muss, um auserwählt zu werden. Man muss alles richtig machen, stimmt's?! Sonst hat man überhaupt keine Chance.

*

Ihr!

Warum sprecht ihr nicht über die Insel? Warum sucht ihr so weit weg, wenn es hier noch Orte gibt, die sich vielleicht lohnen? Ich kann es mir nur so erklären, dass ihr nichts von der Insel wisst.

Mit der Hoffnung, euch aufgeklärt zu haben,

M. ‌L.

PS: Wenn ihr mich grüßt, während der Show, das würde mich freuen! (Es reicht auch was Unauffälliges, ihr müsst nichts sagen, ein kleines Zeichen an mich wäre schön!)

*

Mein Schatz,

jetzt habe ich dir lange nicht mehr geschrieben. Ich weiß immer noch nicht, ob du die Briefe überhaupt bekommst. Die meisten, die ich frage, meinen ja, aber mich wollen immer alle beruhigen und trösten. Dabei bin ich ganz ruhig und nur noch selten traurig. Man kann sich tatsächlich an alles gewöhnen. So, wie es jetzt ist, ist es okay. Früher sind Leute in deinem Alter für ein, zwei Schuljahre ins Ausland gegangen. Das ist ja gar nicht mehr ohne weiteres möglich. Ich sehe es so: Du hast einen Weg gefunden, deine Welt größer zu machen. Ich hoffe, dir gefallen die Bilder von Flur und Wohnzimmer. Als Nächstes sind die Küche und das Schlafzimmer dran, dann das Badezimmer und die Abstellkammer (gelb? hellgrün? der Raum ist so klein). Dein Zimmer bleibt, wie es ist, keine Angst. Aber wenn du irgendwann wiederkommst (zwischendurch oder zum Abschied), dann kannst du ja mal überlegen, welche Farbe dir gefallen würde. Ab der nächsten Woche habe ich Ferien. Drei Wochen. Papa hat vorgeschlagen, dass wir zu einer der Shows fahren. Aber wir dürfen ohnehin nicht mit dir sprechen, und das, was wir vom Zuschauerraum aus sehen würden, können wir uns auch von zu Hause aus anschauen. Ist das schlimm? Lassen wir dich im Stich? Ich bin mir ehrlich gesagt auch überhaupt nicht sicher, ob das stimmt, dass man sich für die Shows einfach Tickets kaufen, dass die Arena ein Ort ist, der gefunden werden kann. In der Stadt hängen Plakate mit deinem Gesicht. Sie werden ständig gestohlen. Du hast Fans und bekommst davon wahrscheinlich gar nichts mit, oder?

Etwas Trauriges: Toms Bruder Mads ist verschollen. Es gab einen Sturm, ganz plötzlich ging das los, er war draußen auf der Plattform, hat die Bohrungen betreut. Er ist von der Bohrinsel gespült worden. Ein Kollege hat es gesehen, konnte aber nicht mehr helfen. Er ist ausgerutscht, kurz bevor er Mads greifen konnte. Es war schrecklich knapp. Der Kollege hat eine Boje geworfen, dann ein Rettungsboot abgelassen, Mads hat nicht danach gegriffen. Das Meer ist an dieser Stelle angeblich besonders kalt, es gibt Eisschollen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er nach wenigen Minuten tot war. Trotzdem wird immer noch nach ihm gesucht, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie ihn finden. Nicht einmal tot. Das Meer ist nur noch selten ruhig, sagen sie, das macht die Bergung schwierig. Warum ich dir das erzähle? Hier draußen wird für jeden alles gegeben, und bei euch in der Arena führen sie sich auf —

Letzte Woche waren wir wieder bei Toni und Kai (hast du Toms Eltern eigentlich geduzt?), wir sind da jetzt oft. Toni hatte Geburtstag, und es gab Selbstgebrannten, wie immer, der Schnaps schmeckt ekelhaft, aber wir trinken tapfer. Tom war auch kurz da. Ihm geht es gut, aber er vermisst dich, das sieht man. Und jetzt das mit Mads. Bei Toni und Kai hängen überall Bilder von ihm. Mehr als bei uns von dir. Du bist nicht tot. Du bist nicht tot. Derzeit (»derzeit« — warum klingt das nach Vergangenheit?) gibt es nichts, was mich glücklicher macht als das: Du bist nicht tot.

Pass auf dich auf.

Küsschen, Mama

PS: Alle reden ununterbrochen über euch und seit kurzem auch über die Insel. Erinnerst du dich? Die Geschichte, die Papa dir früher erzählt hat? Dass es noch eine Insel gibt, irgendwo in irgendeinem Meer, und dass dort alles ist, wie es sein soll (was immer das bedeuten mag). Papa und ich haben über die Insel gesprochen, er ist der festen Ansicht, dass dort jeder das findet, was er sucht. Wir alle hier draußen suchen nach einer Zukunft, die sich lohnt. Ich frage mich, ob das so schlau ist — wer kümmert sich um die Gegenwart? Warum wird Lohnenswertes immer in anderen Zeiten, an anderen Orten vermutet? Ich habe dabei irgendwie das Gefühl, wir lassen die Gegenwart im Stich. Früher, das heißt, als ich nur ein bisschen älter war als du jetzt, gab es eine Phase, da hat nichts anderes gezählt. Wir haben es uns zu Hause schön gemacht, kleine Gärten gemietet und versucht, Gemüse und Obst anzubauen. Wir haben nichts verstanden von Anbau, die Schnecken haben den Salat gefressen, und die Sonne hat die Tomaten zerstört. Irgendwann haben wir wieder aufgehört damit, so unvermittelt, wie wir angefangen hatten. Jetzt sorgen wir uns öffentlich um die Zukunft und träumen von einer Insel, die es, ehrlich gesagt, gar nicht geben kann. Habt ihr da drinnen von der Insel gehört? Mir gefällt die Geschichte, aber irgendwas daran fühlt sich gefährlich an. Und neulich, als Kai und ich uns an der Tür verabschiedet haben, hat sie etwas geflüstert, was wie »Er hat die Insel gesucht« klang. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden habe, als ich nachgefragt habe, tat sie so, als wäre nichts. Aber eigentlich glaube ich Folgendes: Sie sprach von Mads. So ganz geheuer ist mir die Sache mit der Insel also nicht.

*

Eine Frage: Was ist mit Sam? Was macht er eigentlich, wenn er die Augen schließt und sich nicht mehr rührt? Ist das irgendeine Meditationstechnik? Kann man das lernen? Gibt es Kurse? Weißt du da was?

S. Io

*

Streberin,

ich weiß nicht, ob dich das interessiert, aber mein Bruder ist tot. Es gibt kein Grab, nur einen Stein im Garten meiner Eltern. Die Suche wurde aufgegeben, meine Eltern bekommen eine Entschädigung und zahlen davon das Haus ab. Alles ist seltsam. Scheiße. Mir geht es gut, viel zu gut, trotzdem. Hast du meinen Brief bekommen? Ich sehe mir die verdammten Shows an, nur um ein Zeichen von dir zu bekommen. Dass du kapiert hast, was ich dir geschrieben habe. Viel Zeit bleibt dir nicht, tritt Anas und Sam in den Arsch und komm nach Hause. So bringe ich dich zu nichts, was? Oder zum Gegenteil von dem, was ich will. In der Schule gibt es ein Denkmal für dich! Geil, einen Stein für Mads, ein Denkmal für dich. Was ist eine beschissene Bohrinsel anderes als ein verdammter Planet im All? Ich sehe da nicht viele Unterschiede. Doch: Mads war an den meisten Feiertagen zu Hause, und ich habe, gerade in der letzten Zeit, Milliarden Mal mit ihm telefoniert. Er war immer schwer zu verstehen, der Wind fuhr in die Leitung, dass es donnerte. Aber weißt du, was er gesagt hat (es war nicht bei unserem letzten Telefonat, das würde es noch größer machen, oder?): Vergiss sie! Ich nehme es als seinen letzten Wunsch. Ich vergesse dich, Irma Lewyn. Mach es gut, mach, was du willst. Und bleib gefälligst am Leben, ich will nicht auch noch um dich trauern müssen.

Tom

*

Mein Schatz,

wie geht es dir? Du sahst nicht unglücklich aus, nach dem »Kompatibilitäts-Test«. Trotzdem: Das kann doch nicht wahr sein! Dass ihr euch aneinander ausprobieren musstet, vor laufender Kamera! Man konnte nichts erkennen, zum Glück, aber natürlich wussten alle, was ihr da gerade macht. Dein Vater tobt, ich auch. Wir streiten oft. Das haben wir vorher besser hinbekommen, und ich bin mir sicher, es wird wieder. Wir haben noch mal mit dem Anwalt gesprochen, aber er sagt, man kann nichts machen: die Einverständniserklärung, der freie Wille, ihr dürft tun und lassen, was ihr wollt. Aber willst du das? Es sieht dir nicht ähnlich. Wobei Papa sagt, dass ich das nicht wissen kann, so gut würden wir dich schließlich nicht kennen. Hat er recht? Du warst viel in deinem Zimmer in den letzten Jahren, das stimmt. Aber davor warst du bei uns, bei mir. Ich kenne dich doch, Irma, ich weiß doch, dass du das nicht gut gefunden haben kannst.

Anderes: Oma ist im Krankenhaus, aber sehr tapfer. Sie will zurück nach Hause, zum Garten. Sie macht sich Sorgen, dass die Äpfel verfaulen. Wir waren gestern da. Die Äpfel liegen längst wurmstichig unter den Bäumen. Es macht keinen Unterschied, ob man sie aufsammelt oder nicht. Wir sagen ihr nichts davon. Ich habe Äpfel gekauft (die Preise — bekommt ihr dort drinnen mit, was mittlerweile alles kostet?), und nachher backe ich einen Kuchen. Den bringen wir ihr morgen und erzählen, es seien ihre Äpfel. So viel Lüge muss erlaubt sein. Wir grüßen sie von dir, jedes Mal, wenn wir sie sehen. Noch mehr Lügen. Sie denkt, wir hätten Kontakt, sie weiß nicht, dass das alles nur in eine Richtung geht. Bestenfalls. Nächstes Jahr sind Maja und Tom fertig mit der Schule. Die Fächer werden immer seltsamer, jetzt lernt man in der Elften Ackerbau und Stricken. Es kann nicht alles bleiben, wie es ist. Ab und zu setze ich mich auf die Hollywoodschaukel und stelle mir den Sommer vor. Ich hätte niemals schimpfen sollen über die Hitze. Aber besser weiß man es immer erst hinterher, nicht wahr? Ich habe nichts zu erzählen, aber ich will dir schreiben. Da kommt es zu solchen Sätzen. Sam mag dich wirklich, das sieht man ihm an. Ich würde ihn gerne kennenlernen. Vielleicht geht das, wenn die Sache durch ist. Da müsste es doch noch mal eine Gelegenheit dazu geben, oder? Vielleicht kannst du mal fragen, wir haben keinen Kontakt zu denen, die Papa pauschal »Wahnsinnige« nennt.

Heute Morgen habe ich mich mit der alten Mol gestritten. Sie hat behauptet, wir hätten Privilegien, wir würden durch dich was verdienen. So ein Quatsch. Sie glaubt mir nicht. Ich hätte sie fast geschlagen. So eine Mutter hast du, mein Schatz. Vor dem Geschäft auf der anderen Straßenseite parkt jeden Mittwoch eine Frau mit einem kleinen Kind. Es kann höchstens anderthalb sein. Und fast jede Woche rennt es in Richtung der Straße, und sie merkt es immer zu spät. Bisher hatten sie Glück. Einfach nur Glück. Wir haben aufgepasst, Irma, nicht wahr? Solange wir konnten. Ich schon wieder. Entschuldigung. Dieser Brief könnte tagelang, wochenlang werden. Ich schicke ihn jetzt ab. Wir benutzen die Marken aus Opas Sammlung. Ich weiß nicht, ob die Briefe bis zu dir in die Arena gelangen, aber sie kommen jedenfalls nicht zurück.

Ich hab dich lieb, meine Maus.

Mama

PS: Ist dir der dicke Mann aufgefallen? Er sitzt bei jeder Show im Publikum und macht lustige Sachen. Ich bin mir nicht sicher, ob es ihn wirklich gibt oder ob er von irgendeinem Programmierer in die Arena platziert wurde.

PPS: Seit neuestem tauchen immer wieder Hinweise auf die Insel auf. Einer der letzten Fischer soll im Sturm dort gelandet sein. Er erinnert sich angeblich nicht daran, wo genau das war, und er weiß auch nicht, wie er zurückgekommen ist. Er klingt also nicht sehr vertrauenswürdig, aber wir glauben ihm. Er war einmal im Rahmen der Shows zu sehen, im Vorbericht saß er mit Olivier auf dem Sofa, und sie haben die Insel mit dem Planeten verglichen. Herausgekommen ist dabei natürlich nichts, aber der Fischer ist jetzt ein bisschen berühmt und hat in seinem Haus ein Museum eingerichtet. Man kann ein Büschel trockenes Gras und ein paar Steine besichtigen, die angeblich von der Insel stammen. Papa hat vorgeschlagen, dort hinzufahren, ich glaube, das ist Quatsch, zumal das Auto immer häufiger spinnt und Benzin exorbitant teuer geworden ist. Aber vielleicht leisten wir uns das: den Besuch bei jemandem, der dir eventuell sogar begegnet sein könnte. Wahrscheinlich fahren wir hin. Es gibt sonst nicht viel zu tun.

*

Mein Ochsenfrosch,

das klingt nicht nett, aber so habe ich dich genannt, als du ganz klein warst. Mein Ochsenfrosch. Worauf man so kommt. Aber du hast diese seltsamen Geräusche gemacht beim Einschlafen. Ich denke an dich, mehr wollte ich nicht schreiben.

Papa

*

Guten Tag.

Man bekommt doch irgendwie das Gefühl, dass mittlerweile alles erlaubt ist. Aber nur, weil hier momentan Chaos herrscht, können doch nicht jegliche Vorstellungen von Ethik, Moral und gesundem Menschenverstand einfach über den Haufen geworfen werden, oder? Doch, können sie. Das Ergebnis sind die sogenannten »Shows«, in denen Sie, Irma, sich gerade befinden. Ich bin entsetzt und besorgt, was die Zukunft betrifft. Wenn so etwas möglich ist, was erwartet uns dann noch?

Deshalb schwöre ich hiermit und hier und wahrscheinlich an der völlig falschen Stelle, dass ich alles daransetzen werde, die Welt zu retten. Zumindest mein unmittelbares Umfeld. Es ist noch nicht zu spät, aber es wird (nicht besonders langsam) brenzlig.

Ich hoffe das Beste, aber ich bin nicht optimistisch.

Ihnen alles Gute,

J. ‌S.

*

Mein Schatz,

nur ganz kurz heute: Ich mag den dicken Mann am liebsten. Er bringt mich zum Lachen. Ich bin mir jetzt sicher, einer der Programmierer hat sich einen Scherz erlaubt: Wenn man genau hinsieht, dann erkennt man, dass der dicke Mann im Block links, zehnte Reihe, einen Rüssel hat. Und wenn man so genau hinsieht wie ich (ich klebe am Bildschirm, ich suche in deinem Gesicht nach Zeichen, sei deutlicher Irma, bitte, ich verstehe so wenig), dann sieht man auch noch die Tasche, die an seiner teigigen Seite lehnt, und aus der Tasche ragt die Schnauze eines Krokodils. Das Krokodil klappt im Takt von Oliviers Moderatorenlyrik sein Maul auf und zu. Als er dich zu deinen Träumen befragt hat, hat das Krokodil den dürren Mann neben dem dicken Mann in den Arm gebissen. Niemand hat es bemerkt, keiner außer mir. Wenn ich nicht mehr aushalte, was sie mit dir anstellen, dann suche ich im Publikum nach dem dicken Mann. Manchmal fehlt er, einmal hat er das Studio mitten in der Show lautlos schimpfend verlassen. Ich hatte Angst, dass der Programmierer es mit dem auffälligen Abgang des Rüsselmannes übertrieben hat. Aber niemand hat etwas dazu gesagt, nicht im Netz, nicht in der Zeitung, nicht Phil. Ich und der dicke Mann, wir sind auf eine seltsame Art ein Team, und wenn mir der Programmierer eines Tages begegnen sollte (was unwahrscheinlich ist), dann werde ich ihm danken, für seinen dicken Mann und dafür, dass hier ab und zu noch etwas zum Lachen ist.

Alles Liebe

deine Mama.

*

Ihr werdet verglühen. Lasst das bloß sein.

I.

*

Hallo, mein Schätzchen,

die Zeitung hat über die Fähre berichtet, hier eine Passage daraus, falls du neugierig bist:

»Da ist die Fähre. Sie liegt seit Wochen im Hafen. Wächter stehen aufgereiht davor. Das Schiff ist aus Holzimitat, sein Äußeres orientiert sich an der Mayflower der englischen Pilger. Es hat Segel, aber nur zur Dekoration. Im Inneren sieht es auf eine plüschige Art sehr gemütlich aus. An den Wänden hängen Gemälde in schweren goldenen Rahmen, sie zeigen Tiere, Wälder, Menschen, vom Aussterben Bedrohtes. In der Kommandozentrale wurde ein Steuerrad installiert wie jenes auf der Bounty. Angeblich versteckt sich hinter dem Rad feinste, modernste Mechanik, aber das kann man sich nur schwer vorstellen. Ich höre ein Gespräch mit, eine Frau zweifelt daran, dass das Ganze überhaupt abheben kann, ein anderer verweist auf Jules Verne, bei dem ging das doch auch. Wir Umstehenden lachen. Die Stimmung ist gut, fast euphorisch, man freut sich angesichts dieses gigantischen Rettungsbootes.

Mehr Neugierige kommen. Eltern halten Kinder hoch, Menschen recken Daumen in die Luft, es wird fotografiert. Die Stadt ist stolz, dass man sie ausgesucht hat. Ein Denkmal ist bereits geplant. Die Fähre liegt im Hafen, als würde sie in See stechen wollen. Dabei wissen wir alle: Sie sticht nicht in See, sie sticht in die Sterne. Wenn alles gutgeht. Und ich frage mich, während ich den Steg hinabgehe, unter mir das brackige Wasser, vor mir die kalte Stadt, wie das eigentlich alles finanziert wird.«

Ehrlich gesagt, Irma, frage ich mich das nicht, ist mir das vollkommen egal, sollen sie die letzte Münze aus dem Bullauge werfen, wenn es sich überhaupt öffnen lässt, meinetwegen, für deine Sicherheit dort oben. Ihr selbst habt die Fähre noch nicht gesehen, habe ich gelesen. Neben dem Artikel war ein Foto abgedruckt, das ich dir nicht mitschicke, ich vermute, es hat einen Grund, dass ihr sie noch nicht sehen sollt. Aber glaub mir, sie ist wirklich schön, und sie sieht nicht aus wie ein Schiff, das euch im Stich lassen wird. Das macht mir Mut. Ich hoffe, dir auch.

Küsschen, Mama

PS: Die Speisekammer ist gelb. Es sieht aus, als gäbe es in dem winzigen Raum ein Fenster und draußen ein anderes Wetter.

PPS: Bei dem Fischer waren wir nicht.

PPPS: Mit Sam stimmt doch etwas nicht, oder?! Man hat den Eindruck, er weiß von nichts. Er kommt mir vor wie jemand ohne Geschichte. Klar, ganz ohne Geschichte ist niemand. Vielleicht meine ich auch eher, wie jemand ohne Menschen um sich herum. Menschen, die seine Geschichte erzählen könnten. Zu jedem der Anwärter ist mittlerweile mindestens eine Person aufgetaucht, die erzählen konnte oder wollte. Bei dir waren es schon sechs: deine Flötenlehrerin, zwei ehemalige Mitschüler (ich konnte mich nur noch an eine von ihnen dunkel erinnern, Jo, du hast sie eine Zeitlang sehr bewundert, sie war immer sehr gut in Sport), ein Paketbote (er hat dir angeblich mal etwas gebracht, das so schwer war wie eine Kiste Bücher — hast du jemals eine Kiste voller Bücher bestellt? Sicher nicht. Warum auch? Wir haben genug Bücher), die alte Mol von nebenan (Natürlich! Irgendwas von Kirschbäumen, wie du ihre Kirschen gestohlen hast, mit sieben oder acht. Die Geschichte könnte wahr sein, aber ich habe mich trotzdem geärgert. Die alte Mol wurde schon mehrmals interviewt. Sie erfindet dich neu — ich weiß nicht, ob du lachen würdest darüber oder ob du wütend wärst. Ich denke, du würdest lachen. Wenn ich höre, was die alte Mol alles weiß über dich, dann bekomme ich ein schlechtes Gewissen. So viel weiß ich nicht. Eigentlich weiß ich nichts. Seit du unter den Anwärtern bist und mir nur noch über den Bildschirm begegnest, weiß ich nichts mehr von dir, und die alte Mol weiß anscheinend alles. Ich grüße sie nur noch, wenn es gar nicht anders geht, aber sonst sprechen wir nicht). Maja haben sie auch interviewt. Keine Ahnung, wie freiwillig das war. Sie hat nicht viel über dich erzählt, es ging vor allem darum, was sie von der ganzen Sache hält. Maja war ziemlich wütend während des Interviews, fast ausfallend. So habe ich sie noch nie erlebt. Wie du dir denken kannst oder vielleicht weißt: Sie hält nichts von der Mission. Durch ihren Wutanfall ist Maja ein bisschen berühmt geworden, ich glaube nicht, dass sie das besonders toll findet, es würde nicht zu ihr passen, jedenfalls nicht zu der Maja, die ich kenne. Was ich eigentlich sagen will: Zu Sam gibt es niemanden. Ab und zu jemanden, der behauptet, er sei ein Elternteil, eine Schwester, ein Bruder, aber sie wurden alle als Lügner enttarnt. Wer ist jemand, über den niemand etwas weiß? Nimm dich in Acht, Irma! Nicht vor Sam, sondern vor den Umständen. Hier stimmt etwas ganz grundsätzlich nicht.

*

Du,

wir haben uns das angesehen. Es war mutig von dir und riskant. Ich weiß nicht, ob sie zugelassen hätten, dass dir etwas geschieht. Du bist wichtig für die Show, das merkt man hier draußen an jeder Ecke (überall hängen Plakate, alle sprechen über dich, wir bekommen Post — mittlerweile sind auch nette Briefe dabei). Aber manchmal ist man eben auch als Favorit nicht sicher. Elin mochten alle gerne, und dann das. Du hast Sam das Leben gerettet, ich hoffe, er revanchiert sich, indem er alles tut, damit du nicht ausgewählt wirst für die Mission. Ich habe lange überlegt, ob ich es sage, und habe entschieden, ich sag's: Sam sah nicht aus wie jemand, der gerettet werden will. Er hat sich doch mit Absicht so dumm angestellt. Er wäre erstickt in dem winzigen Raum, wenn du nicht gewesen wärst. Sein Blick, als er wieder zu Bewusstsein gekommen ist. Ich weiß nicht. Hast du rausgefunden, was mit ihm ist? Hier draußen gibt es die wildesten Theorien. Die beste: Er ist eine Art Roboter, einzig erschaffen für die Mission. Ich glaube das nicht, er wirkt zu echt, und wie kann einem Roboter alles zu viel werden? Aber er ist anders als ihr, anders besonders. Du solltest alles über ihn wissen, bevor es zur Auswahl kommt, man muss wissen, mit wem man den Rest seines Lebens verbringt. Nichts mehr davon, ich nerve, nicht wahr?

Geht es dir gut? Wir bekommen mittlerweile Briefe, in unregelmäßigen Abständen, manchmal wochenlang gar nichts, dann stapelweise, die wie Pressetexte klingen. So schreibst du nicht. In den Briefen steht viel Positives, ab und zu eine Sorge, aber die wird jedes Mal schon im Nebensatz zerstreut. Wir stellen uns vor, die Briefe sind von dir, und glauben es ehrlich gesagt nicht.

Weihnachten haben wir Oma zu uns geholt. Sie hat in deinem Zimmer geschlafen, die Treppe war nicht einfach für sie, aber es ging. Sie hat sich gefreut, so dicht bei dir zu sein. Oma nimmt das alles erstaunlich gut auf. Ich habe das Gefühl, ihr sind Orte mittlerweile weitestgehend egal. Und dabei war es so schwer damals, mit dem Haus. Weißt du noch, der Garten? Ich versuche, es genauso zu sehen wie sie, dass es keine Rolle spielt, wo jemand ist, Hauptsache, er existiert (und nicht einmal das scheint wirklich wichtig für sie zu sein, so spricht sie zum Beispiel mit einem Hund, den sie meines Wissens nie hatte). Es gelingt mir nur sehr bedingt. Ich will dich bei uns haben. Es tut mir leid, dass ich das sage, aber nicht genug, um es nicht zu schreiben.

Weihnachten gab es Kartoffeln und Fisch. Wir haben alles im Ofen gebacken, der Fisch wäre fast verbrannt, aber er war gerade noch perfekt. Am Weihnachtsmorgen stand Tom vor der Tür mit einem Kuchen. Er sah gesund aus, älter, irgendwie sortierter, und er wollte nicht reinkommen. Seine Eltern lassen dich grüßen, er sicherlich auch, aber er hat vergessen, es zu sagen. Dieses Jahr gab es für jeden ein Geschenk. Mama hat mir ein Picknick am See geschenkt, ich ihr eine Kette. Ich schmiede jetzt. Wir haben so viel altes Besteck, es macht Spaß. Sie trägt die Kette manchmal, aber es ist ungewohnt für sie, sie trägt ja eigentlich keinen Schmuck. Der Anhänger hat die Form der Insel, seit neuestem kursieren unscharfe Luftaufnahmen. Niemand fragt, wer die macht und verteilt, aber sie tauchen überall auf. Ein Anhänger in Form einer wahrscheinlich erfundenen Insel also. Ich bin mir selbst nicht ganz sicher, was ich Mama damit sagen will. Das Gute: Sie hat sie gar nicht erkannt, sie dachte, die Insel sei ein Elefant, und sie hat sich gefreut. Sonst gibt es nichts Neues. Oder das Neue fällt uns nicht mehr auf. An vieles gewöhnt man sich schnell.

Wir vermissen dich sehr. Pass auf dich auf.

Papa

PS: Bist du aufgeregt wegen der Entscheidung? Bestimmt. Ganz egal was: Du kannst jederzeit zu uns zurückkommen. Daran denke ich jeden Tag, aber ich glaube, ich habe es dir noch nie geschrieben. Noch mal: Du kannst jederzeit nach Hause kommen. Komm nach Hause, Irma!

*

Irmchen,

ich drücke Dich fest!

Oma

*

Mein Schatz,

du bist auserwählt. Du und Sam. Ich weiß nicht, was ich dazu schreiben soll. Wenn es wirklich dein Traum ist, gratuliere ich dir. Es tut mir so leid, mein Schatz, aber es gelingt mir nicht, mich für dich zu freuen. Jemand hat gesagt, dass es doch wohl nicht darauf ankommt, wo jemand ist, sondern dass jemand ist. Was für ein besch ‌… Spruch. Und: Wie kann ich wissen, dass du dann noch bist. Die können mir alles erzählen und erzählen uns nichts. Nicht mal die Mühe einer guten Geschichte machen sie sich.

Wir akzeptieren, was ist, was du willst.

Küsse

Mama

PS: Du machst das gut. Wie immer machst du das gut. Bei allem Grusel, ich bin so stolz auf dich, mein Kind. Mein Kind, mein Kind, mein Kind! Du gehörst niemandem, ich weiß, aber ich wünschte, es wäre so. Ich wünschte, ich könnte für dich entscheiden und über dich bestimmen und dich einsperren, ein für alle Mal, am besten in unseren Kleiderschrank, der hat ein besonders gutes Schloss (wer sollte sich daraus eigentlich befreien — die Hosen, die Hemden?)!

*

Irma, wow!!! Herzlichen Glückwunsch! Das ist Wahnsinn! Du musst dich so verdammt freuen! (Hast du auch Angst?)

Das nächste Mal bewerbe ich mich auch, es wäre das Tollste, dich kennenzulernen. Du bist meine Heldin. Echt.

E.

*

Liebe Irma,

jetzt hast du den Salat. Jetzt bist du dabei. Wolltest du das wirklich? Wie fühlt es sich an, ausgewählt zu sein? Hier gibt es viele Menschen, die auf der Suche sind nach der Insel. Auch das ist eine Aufgabe, eine Mission. Auch dazu gehört Mut. Ich frage mich, ob du und Sam, ob ihr nicht einfach nur feige seid. Weglaufen ist vor allem für die Zurückbleibenden schwer, nicht für den, der läuft. Ich weiß das, ich bin ständig auf der Flucht, aber nicht so wie ihr. Ich stelle mich der Welt, immerhin. Wenn du kannst: Hau da ab. Such dir einen anderen Traum. Oder verglüh meinetwegen. Wir kennen uns nicht, und ich weiß auch nicht, warum ich dir schreibe.

Hochachtungsvoll

ICH

*

Du,

das war die letzte Sendung, erst mal. Zehn Jahre Pause. Sie haben einen bildschönen Abschied inszeniert. Wie das aussah für uns? Ich weiß nicht, ob dich das interessiert, aber ich erzähle es dir: Du saßt auf einem schlichten Stuhl im Lichtkegel, rundherum Schwarz. Sam trat aus der Dunkelheit, verbeugte sich leicht vor dir, nahm deine Hände. Ihr habt gelächelt. Ihr macht das wirklich gut mit dem Lächeln. In der Zeitung stand, dass es kein bisschen kitschig aussah, sondern nach echtem Leben. Wenn sie über euch beide sprechen, verwenden sie das oft: Leben. Du bist aufgestanden, du sahst ganz sicher aus. Sam führte dich in die Mitte der Bühne. Das war alles etwas altmodisch. Bisher warst doch du diejenige, die ihm gezeigt hat, wo es langgeht, und Sam der, der nie wusste wohin. Wahrscheinlich wollten sie etwas Neues ausprobieren. Die Musik schwoll an. Ein Walzer. Ausgerechnet zu »Take this Walz« haben sie euch über die Bühne tanzen lassen. Ihr seid einander jeweils einmal auf die Füße getreten und habt gelacht darüber, das war einstudiert, oder nicht? Danach lief jedenfalls alles perfekt. Du kannst gut tanzen, Irma, und du sahst aus, als hättest du Spaß. Hattest du Spaß? Ihr seid über die Bühne gewirbelt. Mama hat geschimpft und hatte Tränen in den Augen. Wir haben dich noch nie tanzen sehen, und wir werden sentimental hier draußen, sei gewarnt! Über euren Wiegeschritt floss der Abspann ins Bild. Als ob das alles ein Spielfilm wäre. Nach etwa fünf Minuten wurde eine Infotafel eingeblendet: »Liebe Zuschauer, liebe Welt, in zehn Jahren geht es genau an dieser Stelle weiter.« Das war zu viel für Mama. Sie ist rausgerannt und hat irgendwas im Flur umgeräumt, hat die Haustür geöffnet und wieder geschlossen, ohne hinauszugehen. Ich bin sitzen geblieben. Am Ende hieß es, dass wir euch nicht vergessen sollen. Ihr habt weitergetanzt unter all der Schrift. Ihr habt nichts davon mitbekommen, dass ihr nun zwei Figuren seid für die Welt vor dem Bildschirm. Zwei Figuren in einer sehr merkwürdigen Erzählung. Ihr habt getanzt, euch gedreht, es sah schön aus, wie ihr euch zum Schluss noch einmal angelächelt habt. Dann wart ihr weg und der Bildschirm schwarz. Ich habe nicht abgeschaltet.

Geht es dir gut? Was passiert jetzt mit euch?

Grüße in eure Dunkelheit

dein Papa

PS: Was mir Angst macht: dass du selbst mir manchmal vorkommst wie ein Charakter in einem Film. Du rückst weg, Irma, schon jetzt, noch so weit vor der Reise. Was kann ich tun, damit du präsent bleibst für mich? Ich sehe mir die alten Fotos an, denke an die Wochen und Monate, an das erste Jahr nach deiner Geburt. Mama hat mich daran erinnert: Was wir dir alles ins Ohr geflüstert haben, Irma! Versprechen und Wünsche, als hätten wir etwas geahnt. Wir haben nichts geahnt, Irma. Wir haben geflüstert, dass wir bleiben, dass wir immer da sind. Wir bleiben, wir sind da, du gehst. Wie können wir einlösen, was wir versprochen haben, wenn du einfach gehst? Das war so nicht vorgesehen, verdammt noch mal, Irma, so war das nicht geplant! Wir sind hier definitiv ein bisschen verzweifelt.

*

Lebt für uns weiter!

Wir

PS: Macht das gefälligst gut, d. ‌h. besser.

*

Hier:

Jeder Schritt, den man auf einen zumacht, den man liebt; Treppen hinabspringen voller Vorfreude, der Abend vor dem Kindergeburtstag, Wiedersehen, gemeinsam am Tisch sitzen (egal an welchem), unerwartete Sonnenstrahlen (es gibt sie noch), Aussichten genießen, Radfahren mit Rückenwind, Gespräche bis tief in die Nacht; verstehen, was jemand meint; ausgeschlafen sein; der Geruch, wenn die Luft wieder wärmer wird; einen Brief bekommen; zusammen sein; zusammen sein; zusammen sein;

genau: Mir fällt auf, dass fast alle Gründe, die ich für ein Hierbleiben nenne, etwas mit Zusammensein zu tun haben. Das macht sie nicht zu weniger guten Gründen, aber wenn ich diesen Brief abgeschickt habe, werden mir noch tausend andere Gründe gegen eine endgültige Abreise einfallen, jetzt leider nur das. Sie würden mich vermutlich selbst nicht überzeugen. Ich habe Freunde gefragt, meine Familie, nach guten Gründen. Alles, was uns eingefallen ist, kannst du weiter oben lesen. Reicht das? Ist das alles? Es wirkt vielleicht kläglich und klingt kitschig, aber das ist das Resümee der Menschen, die ich kenne und die übrigens allesamt nicht mit dir tauschen möchten. Überleg es dir gut, es könnte sein, dass das Fehlen einer dieser Kleinigkeiten dich dort oben um den Verstand bringen wird. Und das will niemand.

Das Beste

ein dir Fremder

*

Mein Schatz,

also wirklich. Du gehst. Wir können dich nicht erreichen, bekommst du die Briefe? Sie sagen, kurz vor dem Start sehen wir dich noch einmal. Das sind zehn Jahre. Wir sollen zehn Jahre warten, auf ein paar Tage zum Abschiednehmen? Es ist gut, dass es Sam ist. Bis zu eurer Abreise wird noch einiges passieren. Ich hoffe, dass ihr Freunde werdet. Das ist das Beste, was euch passieren kann. Wäre es möglich, dass ihr euch noch anders entscheidet, in den nächsten Jahren? Könnt ihr noch aussteigen? Zwingen dürfen sie euch nicht, oder doch? Wir sind hier, zu Hause. Wenn du uns brauchst, wenn du doch nicht willst.

Wir warten. Wir helfen dir. Wir holen dich da raus, mein Schatz!

Küsschen

deine Mama

PS: Neulich im Finale ist der dicke Mann ausgerastet. Wirklich, den dicken Mann mag ich am liebsten, und neulich habe ich mich dabei ertappt, wie ich beim Aufräumen mit ihm gesprochen habe.

PPS: Das mit den geschlossenen Augen macht Sam immer noch. Weißt du, warum? Ich hatte ehrlich gesagt gehofft, sie gewöhnen es ihm ab, anscheinend nicht. Ich rede mir ein, dass sie etwas getan hätten, wenn es die Mission (also dich) gefährden würde, und ich hoffe, dass ich recht habe damit.

*

Grottenolm,

der Pflaumenbaum ist umgestürzt, direkt auf die Johannisbeeren.

Wir waren am See, aber nicht lange, es war zu kalt.

Weihnachten gab es wieder Fisch.

Oma hat uns die alten Alben gebracht.

Wir schlafen schlecht, aber das kann am Wetter liegen.

Mama wurde bis auf weiteres krankgeschrieben.

Es gibt Gerüchte über Sam. Schlimme Dinge, aber nachzuweisen ist nichts. Ich bin mir sicher, wenn ich dir darüber schreibe, bekommst du diesen Brief nicht. Sei nett zu ihm und sei vorsichtig!

Papa

*

Liebe Irma,

alles Gute zum 18.! Ich bin mir sicher, das wird ein ganz besonderes Jahr. So wie alle deine Jahre besondere sind.

Viele Grüße

ein Fan (oder sollte ich Bewunderer schreiben? Das klingt so distanziert, und ich weiß, dass ich dir ganz nah bin, auch wenn du mich nicht kennst. Ich bin eigentlich du, und ich bin wirklich nicht verrückt, obwohl ich solche Sätze schreibe.)

*

Mein Schatz,

Papa hat sich das Bein gebrochen. Mir ist oft übel.

Weihnachten gab es Fisch.

Die alte Mol fragt nach dir, als ob ihr beste Freunde gewesen wärt. Dabei war es doch das Gegenteil, oder? Sie hat ständig geschimpft.

Wir sind zu Toms Hochzeit eingeladen. Was kann man ihm schenken? Er will nur Essen, aber das kann ja nicht alles sein. Ich hatte an ein Foto von euch beiden gedacht, aber das einzige, das mir einfällt, das immer an der Pinnwand hing, ist weg. Papa sagt ohnehin, dass es schräg wäre, ihm zur Hochzeit ein Bild von dir zu schenken. Stimmt das? Ich meine, ihr wart Freunde.

Die Bäume bleiben kahl.

Mama

*

*

Mein Schatz,

die Hochzeit war ein Traum. Wir haben lange nicht mehr so gut gegessen. Sophias Vater muss großen Einfluss haben, und Sophia ist sehr nett, sie passen gut zueinander. Tom sah anders aus, sehr glücklich auf eine ganz eindeutige Art und dabei erschreckend wütend. In seiner Rede kamst du vor. Ich schicke sie dir mit. Er wird dich nicht vergessen. Wir haben getanzt bis nach Mitternacht, auf dem Rückweg waren überall Kerzen.

Oma ist wieder im Krankenhaus.

Zu Weihnachten hatten wir Kartoffeln zum Fisch.

Mama

*

Du Schnabeltier,

ich will nur, dass du es weißt, ich will damit nichts erreichen: Es geht deiner Mutter nicht gut. Sie vermisst dich zu sehr, sie kann sich nicht daran gewöhnen. Mir geht es nicht anders, aber auch nicht ganz so schlimm. Wir konnten nicht mehr oft schreiben. Nun sehen wir dich bald, und wir stellen uns vor, dass es für immer ist, wir denken nicht an die Zeit.

Anderes: Wir müssen die Magnolie fällen. Die Blüten öffnen sich braun und stinkend. Die alte Mol hat sich beschwert, und sie hat recht, es ist nicht mehr auszuhalten. Irgendwer hat uns erzählt, dass es gut ist, eine Kräuterspirale im Garten zu haben. Wir haben keine Ahnung, woher wir die Kräuter bekommen sollen, aber wir sammeln fleißig Steine für die Umfriedung.

Apropos »Frieden«: