Solupp 3: Frühling auf Solupp - Annika Scheffel - E-Book

Solupp 3: Frühling auf Solupp E-Book

Annika Scheffel

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Beschreibung

Sehnsuchtsort Solupp: Neues Insel-Abenteuer für Kinder ab 10 Jahren.

Der Frühling ist nach Solupp gekommen und mit ihm Jule, Maris beste Freundin. Das ist seit Langem ihr größter Wunsch. Mit Ema, dem Inselmädchen, sind sie jetzt drei beste Freundinnen. Aber drei ist einfach eine schwierige Zahl, merkt Jule. Doch als die alte Fischerin Oona Hilfe braucht und ihre geliebte Insel vielleicht verlassen muss, ist die Sache klar. Gemeinsam sammeln sie Oonas wertvollste Erinnerungen, die überall auf Solupp versteckt sind. Oona und Solupp gehören schließlich zusammen!

Mehr Inselabenteuer aus Solupp:

  • Sommer auf Solupp (9783522185714)
  • Winter auf Solupp (9783522186094)

Die Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Das Buch

Der Frühling ist nach Solupp gekommen und mit ihm Jule, Maris beste Freundin. Zuerst fühlt es sich komisch an, dass sie Mari hier mit Ema teilen muss, aber dann stürzen sie sich alle drei ins Abenteuer. Sie folgen den Ponys auf den Midlem und schmieden einen Plan, damit die alte Fischerin Oona ihr Zuhause nicht verliert. Der Inselzauber trifft Jule mit voller Wucht. Es scheint fast so, als gäbe es Geheimnisse, die nur auf Solupp gelüftet werden können.

Die Autorin

© Ekko von Schwichow

Annika Scheffel wurde 1983 in Hannover geboren. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Giessen. Einen Teil ihres Studiums verbrachte sie in Bergen, Norwegen. Seit Ende des Studiums arbeitet sie auch im Drehbuchbereich. Im März 2010 erschien ihr Debütroman "BEN", der mit dem Förderpreis des Grimmelshausenpreises ausgezeichnet und für die SWR-Bestenliste ausgewählt wurde. Ihr Roman "Hier ist es schön" erhielt den Robert-Gernhardt-Preis. Annika Scheffel lebt in Berlin.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

FÜR MEINE MUTTER.DU BIST WEG. DU BIST DA.

NICHTS GEHT VERLOREN, ALLES VERWANDELT SICH.

Michael Ende, Momo

ERSTES KAPITEL

SOLUPPSEHNSUCHT

Heute ist es so weit! Er ist da! Keinen Moment länger hält Jule es in der Wohnung aus. So schnell sie kann rennt sie die Treppe hinunter und wenn sie nicht das Board unterm Arm klemmen hätte, sie würde das Geländer runterrutschen!

So nimmt sie zwei, drei, vier Treppenstufen auf einmal, insgesamt sind es genau hundertzehn, von oben aus dem Dachgeschoss bis nach unten in den schummrigen, immer kalten Hausflur. Mit beiden Händen zieht Jule die absurd schwere Haustür auf und da ist er. Tatsächlich! Der Frühling. Endlich!

Der erste richtige Frühlingstag ist der beste. Genau wie der erste richtige Sommertag. Oder der erste Herbsttag. Oder der erste Wintertag – Na ja, der Tag jedenfalls, wenn die neue Jahreszeit genau so ist, wie man sie sich vorstellt. Der erste Frühlingstag ist ein bisschen schüchtern. Er spiegelt sich aus Versehen in der Pfütze, er schleicht um das Schneeglöckchen neben dem rostigen Fahrradskelett. Der erste richtige Frühlingstag hängt die Sonne ganz behutsam ein winziges Stück näher über die Erde und Jule schließt die Augen, steckt ihr Gesicht in Richtung Himmel und jetzt beginnen die Lichtpunkte auf ihren Lidern zu tanzen. Sie atmet tief ein. Der erste richtige Frühlingstag riecht hier in der Stadt irgendwie weich, nach Waschmittel, nach Kaffee, riecht wie eine sanfte Version vom Sommer.

Endlich, denkt Jule. Endlich ist der Frühling da. Und zwar nicht nur irgendein Frühling, sondern der Frühling. Der Frühling, in dem sie nach Solupp fahren wird.

Jule stellt ihr Longboard ab, pusht drei, vier Mal und los geht es, vom Gehweg hinab, auf die Fahrbahn. Die Straße hinunter, das Schlagloch am Ende umfahren, und dann direkt auf das Tor zu. Sogar die sonst so teilnahmslos dreinschauenden eisernen Eulen darauf sehen heute richtig lebendig aus. So was kann er, der Frühling! Alles, was eben noch schlief, zum Leben erwecken.

Jule würde den Weg mit geschlossenen Augen finden, so vertraut ist er ihr. Zwischen ihrem und Maris Zuhause sind es nur ein paar Hundert Meter. Schnell durch das Eulentor, hinein in den hinter hohen Mauern versteckten Park, der früher mal ein Friedhof war. Jetzt gibt es hier einen kleinen Spielplatz und die besten Verstecke und sogar noch mehr Frühling und zwar in Form zweier älterer Damen, die es sich mit einer Thermoskanne und einer ordentlich ausgebreiteten Picknickdecke auf einer Bank gemütlich gemacht haben. So werden sie und Mari später auch da sitzen, wenn sie alt sind und nachdem sie gemeinsam die Eisberge vom Schmelzen abgehalten, alle Kaugummisorten der Welt probiert, nachdem sie Profifußballerinnen geworden, und ein Reanimationszentrum für ausgestorbene Tierarten gegründet haben, das steht schon mal fest.

Raus geht’s aus dem Park, und heute ist die Bahn frei, kann Jule ohne Halten direkt über die sonst viel befahrene Fahrbahn und dann um die Ecke in Maris Straße rollen. Noch schnell am Späti vorbei, wo Betty schon seit Mitte Januar versucht, den Frühling mit einem Strauß ausgeblichener Plastiktulpen anzulocken.

»Schön, wa?«, ruft Betty Jule zu und Jule ruft zurück: »Aber so was von!« Und wie mit der Zukunft auf einer gemütlichen Parkbank, ist Jule sich auch damit sicher: dass Betty und sie haargenau das selbe meinen, nämlich den Frühling, was sonst, wen sonst? Und jetzt ist sie übrigens da. Eingeklemmt zwischen zwei kerzengeraden Neubauten, die faszinierenderweise die Nummern neunzig und hundertzwölf haben, klemmt die Nummer sechzehn: Der schiefe Altbau, in dem Mari mit Bela und Tom und Paula wohnt. Und mit Kurt. Kurt, ach, Kurt –

Ne, jetzt nicht! Jetzt wird nicht an Kurt gedacht, jetzt will der erste richtige Frühlingstag bewundert werden. Rundherum, querdurch, mit allem Pipapo.

Der erste richtige Frühlingstag klingt hier in der Straße nach Tellerklappern aus dem Bistro, nach Fahrradklingeln auf dem Gehweg, nach Klaviermusik aus einem geöffneten Fenster im zweiten Stock und nach Maris wütender Stimme im dritten, die unten auf der Straße auch durch die geschlossenen Fenster gut zu hören ist.

Seltsam ...

Jule springt vom Board, klemmt es sich unter den Arm, und schlüpft hinter dem gigantischen Bernhardiner Döblin und seinem winzigen Besitzer hinein in das Treppenhaus, in dem es immer nach warmen Buttercroissants und Allzweckreiniger riecht. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastet Jule die Treppe hinauf. Wenn Mari so laut wird, dann muss etwas wirklich Schlimmes passiert sein.

Jule schiebt die Tür auf. Die Wohnungstür der Fröhlichs schließt nicht richtig, springt bei jedem Luftzug einfach auf und steht dann sperrangelweit offen, als wolle sie alle Welt einladen. Im schmalen Flur herrscht das übliche Winterjacken-Schuhe-Schals-Mützen-Schneehosen-Fußball-Einkaufstaschen-Chaos und mittendrin steht Kurt, wirft Jule einen kurzen Blick zu und murmelt, als sie sich die Mütze vom Kopf zieht:

»Cooles Grün«.

»Äh, danke, ich hab mal ver... –«, beginnt Jule, aber Kurt will schon weiter, schiebt sich an Jule vorbei, schnappt sich sein Board, und versucht, die Tür hinter sich zuzuknallen. Vergeblich. Die Fröhlich-Tür kann man nämlich nicht besonders gut knallen. Das weiß Jule und das sollte auch Kurt wissen. Die Fröhlichtür jault nur leise mit den Scharnieren, die schlägt nicht zu, die bleibt einen Spalt weit offen stehen, und so kriegt Jule ganz gut mit, wie Kurt ungewohnt und extra laut die Treppe runterpoltert und es mit der Lautstärke am Ende noch schafft, den Frühling wieder zu verschrecken.

Unschlüssig steht sie im Flur und hört, wie Mari in der Küche schreit:

»Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie das für uns ist!«

»Doch, Mari, glaub mir, das können wir, aber –«

»Nein!«, brüllt Mari. »Nichts aber! Wir halten das nicht mehr aus!«

Ganz leise tritt Jule näher an die Küchentür, sieht durch den Spalt hinein. Dort steht, zwischen Belas Playmobilfiguren immer noch das Frühstücksgeschirr auf dem Tisch. Der dazugehörige Bela hockt mit verschränkten Armen auf der Arbeitsplatte. Maris Eltern sitzen am Tisch und sehen so erschöpft aus wie lange nicht mehr. Mari selbst steht mitten in der Küche, hält eins von Belas Plastikschwertern in den Händen und fuchtelt beim Fauchen damit herum wie eine dieser ungelenken Figuren aus den allerersten Animationsfilmen.

»Marimädchen, dieses Mal ist es –«, beginnt Paula. Doch jetzt dreht Mari sich um, stürmt aus der Küche in den Flur, und nur weil Jule gerade noch rechtzeitig zur Seite springt, rennt Mari sie nicht über den Haufen.

»Mari?«

Mari antwortet nicht, greift Jules Hand und zieht sie mit sich in ihr Zimmer. Und die Tür zu Maris kleinem Zimmer, die kann man übrigens ganz super knallen.

»Mari, echt jetzt!«, ruft Tom aus der Küche.

»Echt jetzt, echt jetzt!«, äfft Mari ihn nach und läuft aufgebracht und schwertfuchtelnd über die quietschenden Dielen. Jule weiß genau, was zu tun ist, was sie machen muss. Niemanden kennt Jule so gut wie Mari, niemand kennt Jule so gut wie Mari. Sie sind schon ewig Freundinnen. Jule und Mari kennen sich vom Spielplatz im Friedhofspark. Da waren sie noch nicht mal drei Jahre alt. Angeblich hatte Mari Jule ihr Lieblingssandförmchen weggenommen (das war eine rote Ente) und dann hatte Jule Mari ihren Eimer weggenommen (der war gelb mit roten Punkten) und dann hatte Mari mit Sand geworfen und dann war Tom eingeschritten und hatte angefangen eine Versöhnungssandburg zu bauen und weil Jule und Mari sich davon nicht hatten stören lassen, sondern einander weiter mit Sand beworfen hatten, hatte schließlich auch Ilyas sich in die Sandkiste gehockt und mitgebaut. Die Burg war fantastisch. Das weiß Jule noch. Oder vielleicht hat sie die Geschichte auch einfach so oft gehört. Ob es nun Tom und Ilyas, oder Jule und Mari gewesen waren, die sich als erstes angefreundet hatten, ist bis heute ungeklärt. Felsenfest steht aber, dass Jule und Mari seit jenem Tag allerbeste Freundinnen sind. Jule kennt Mari in und auswendig. Und deswegen weiß sie, dass sie sich jetzt nicht einmischen darf, dass sie abwarten muss, bis Mari sich wieder ein bisschen beruhigt hat. Jule schnappt sich ein Kissen vom Bett, öffnet die Tür zu dem winzigen Balkon. Früher haben sie sich hier mit einem Bettlaken und vielen Decken Höhlen gebaut, haben Baumhaus gespielt und Detektivinnenbüro und Weltraumstation, eingeklemmt zwischen der eisernen Balustrade und der Hauswand. Mittlerweile passen sie nur noch auf die winzige Plattform, wenn sie die Beine anwinkeln, oder sie durch das Balkongitter baumeln lassen. Jule macht es sich mit dem Kissen so bequem wie nur irgendwie möglich. Die Hauswand in ihrem Rücken ist kalt, aber die Frühlingssonne wärmt schon ihr Gesicht. Jule zieht den Pulli über ihre Hände. So ist es fast gemütlich. Sie liebt diesen Platz über der Stadt, von dem aus man das Geschehen in der Straße perfekt im Blick hat. Gerade werden im Café gegenüber Kuchen und Torten angeliefert, die bunten Kartons schwanken bedenklich im Arm des Lieferanten. Sie könnten sich ein Stück holen, nachher, und unten am Fluss teilen. Schoko- oder Erdnussbutter oder eben was mit Streuseln – Oh, da kommt Kurt um die Ecke. Mit hängenden Schultern und gesenktem Blick latscht er die Straße hinunter, das Skateboard unter dem Arm, als hätte er vergessen, dass er damit fahren kann, so schnell und waghalsig und einfach drauflos wie sonst kaum jemand. Jule winkt ihm zu, aber Kurt sieht sie nicht, verschwindet unten im Haus.

Ey Kurt, denkt Jule. Du Heini.

Ein Kissen landet neben Jule auf dem Boden und im nächsten Moment sinkt Mari neben sie.

»Schlimm?«, fragt Jule.

»Sehr schlimm«, seufzt Mari. »Superschlimm. Sozusagen das Schlimmste.«

Jule kramt in ihrer Hosentasche, hält Mari wortlos die Kaugummipackung hin. Seit ein paar Wochen lieben sie Pfirsichgeschmack.

Mari zieht eins aus der Packung, schiebt es sich bedächtig in den Mund. Man braucht mindestens drei Streifen, dann kann man tolle Blasen machen, aber mit weniger geht’s nicht. Still kauend sitzen sie nebeneinander. Der Frühling kitzelt ihre Nase, aber lachen kann Jule gerade nicht. Sie muss wissen, was Schlimmes passiert ist. Ob sie ihrer Freundin irgendwie helfen kann. Ein Kaugummi ist ja gut, aber das Schlimmste kann man mit Kaugummi nicht besiegen. Jetzt hält Jule es nicht mehr aus:

»Ist wieder was mit Tom?«, fragt sie zögernd und spürt, wie ihr Herz wild zu klopfen beginnt. Bitte, bitte nicht! Das war echt die schlimmste Zeit, letztes Jahr, als Tom von einem auf den anderen Tag im Krankenhaus verschwand und das Leben aus der Fröhlich-Wohnung wich wie aus einem alten Heliumballon. Alles, alle hier wurden so still auf eine ganz und gar ungute Art. Jule erinnert sich noch daran, wie klitzeklein und schattenhaft Bela plötzlich wirkte. An Kurt, der sich statt frischer Kleidung jeden Morgen ein gruselig fröhliches Grinsen überstreifte und rastlos durch die Wohnung huschte, um irgendwas zu erledigen, dessen Augenringe bald dunkler waren als die schwarzen Lackreste auf seinen abgenagten Fingernägeln. Und Mari. Selbst Mari wurde Jule fremd, fiel ihr manchmal schwer. Weil deren Stimmung sich von einem auf den anderen Moment ändern konnte, wie das Wetter im April. Und trotzdem: sie waren geblieben, natürlich waren sie das. Jule und Ilyas. Und während es sich anfühlte, als seien Stille und Sorge ansteckend, es auch um die Familie Fröhlich immer stiller und schwerer und einsamer wurde, hatten Jule und ihr Vater getan, was sie konnten. Ilyas hatte sich mit Paula bei Tom im Krankenhaus abgewechselt, mit seinem Rechner am Krankenbett gesessen, wenn Paula arbeiten musste und seinem meistens schlafenden oder schläfrigen Freund Gesellschaft geleistet. Und Jule hatte Mari vor unpassenden Fragen beschützt, hatte stellvertretend böse Blicke geworfen, hatte Geschichten gesammelt für sie und Witze und Musik. Sie war mit Bela in den Streichelzoo gegangen, zum T-Rex im Naturkundemuseum und zum Spielplatz im Park. Und heimlich hatte Jule Kurts Leute zusammengetrommelt, damit die ihren immer geisterhafter werdenden Freund ab und zu mal aus der Wohnung zerrten, ans Tageslicht. Es war viel gewesen und dabei doch immer zu wenig.

Aber dann geschah das, was Ilyas später als Wunder bezeichnete, weil es so lange so unwahrscheinlich gewesen war: Tom wurde wieder gesund. Maris Papa kam nach Hause. Alles war gut.

Und jetzt? Bitte, bitte nicht, denkt Jule inständig. Nicht wieder, nicht das!

Und sie ist so erleichtert, als Mari den Kopf schüttelt: »Ne, Papa ist gesund. Soweit ist alles o.k. Oder eben nicht. Es geht um Solupp, wir ... wir fahren doch nicht!«

Nein! Die Frühlingsferien! Die Frühlingsferien auf Solupp! Ihr Plan!

»Ich dachte, das steht fest?«

»Das dachte ich auch!«, stößt Mari hervor. »Und heute Morgen meinte Mama plötzlich, dass sie arbeiten müssen!«

Jule nickt. Klar. Klar müssen Paula und Tom arbeiten. Sie hatte sich eh schon gewundert, dass die beiden so viel Zeit für die Soluppreisen hatten. Sechs Wochen im Sommer, fast zwei Wochen im Winter ...

Dabei wollte am Anfang keines der Fröhlichkinder dorthin.

Die ganzen Sommerferien plante Maris Mutter Paula auf dieser winzigen kleinen Insel im Nirgendwo zu verbringen, und Mari war außer sich. Kein Wunder! Schließlich hatten sie sich schon ewig so dermaßen auf das Fußballcamp gefreut. Und Jule natürlich auch: Lagerfeuer, Training und Turnier – alles und immer gemeinsam mit Mari. Auch sie war so enttäuscht und traurig, als ihre Freundin ihr mit tränenverschmiertem Gesicht von der furchtbaren Insel erzählte. Aber als Mari dann plötzlich anfing, Jule anzupampen, als wenn die verantwortlich für diese Inselsache wäre, da reichte es Jule. Was konnte sie denn dafür, dass Maris Mama unbedingt nach Solupp wollte! Zwei Tage sprachen sie nicht miteinander. Kein einziges Wort. Es war schrecklich. Und auch Ilyas bekam mit, dass etwas ganz und gar nicht stimmte:

»Jule, canım, was ist los?«

»Nix«, hatte sie behauptet, und dann war alles aus ihr rausgeströmt und Ilyas hatte ihr Tee gekocht mit extra viel Zucker, und er hatte den Rechner zugeklappt und ihr zugehört.

»Ich kann euch nicht helfen«, hatte er am Ende gesagt, »aber ich bin mir sicher, das wird wieder!«

Ha! Typisch Erwachsener: Das wird schon wieder! Von wegen! Warum hatte sie ihm überhaupt so viel erzählt, wenn das dann alles war, was er sagen konnte? Jule war aufgesprungen, wollte in ihr Zimmer laufen, aber da hatte Ilyas noch etwas gesagt: »Ich kann nichts tun und ihr beide könnt auch nichts tun. Es braucht Zeit. So etwas braucht Zeit.«

Und für einen winzigen Moment war der Schatten über sein Gesicht gehuscht, den Jule so gut kannte und den sie hasste.

»Glaub mir, canım, mein Herz, es wird wieder gut!«

»Baba –«

»Echt wahr!«, hatte Ilyas gesagt, und dann war er vom Küchenhocker aufgestanden, und wieder in seinem Arbeitszimmer verschwunden, an seinen Computer, und Jule hatte ihm nullkommagarnicht geglaubt. Warum auch?

Aber dann war wieder ein Wunder geschehen: Ihr Vater hatte recht gehabt! Es wurde wieder gut. Doch es war nicht die Zeit, die es wieder gut werden ließ, es war Solupp. Diese furchtbare Insel. Diese furchtbare Insel, die gar nicht so furchtbar war, sondern laut Mari der beste Ort auf der Welt.

Und so hockten Jule und Mari am letzten Nachmittag der Sommerferien am Fluss auf ihrer geheimen Treppe unter der Brücke, spuckten Kirschkerne in das träge, nach dem heißen Sommer ein bisschen stinkige Wasser, und Mari erzählte von Solupp. Stundenlang.

»Du musst unbedingt mitkommen, das nächste Mal, dann zeige ich dir alles und dann lernst du Ema kennen, die ist so toll, ich wette, ihr mögt euch! Ema ist so super!«

Aber Jule war nicht mitgekommen, auch das nächste Mal nicht. Das nächste Mal war nämlich im Winter und Ilyas hatte Jule wortlos einen Vogel gezeigt, als sie ihn angefleht hatte, den Fröhlichs hinterherzureisen, mit dem Zug, dem Fahrrad, per Anhalter – ganz egal! Hauptsache: nach Solupp.

»Nichts in der Welt bringt mich auf eine Insel!«, hatte Ilyas gesagt. »Und schon gar nicht zu dieser Jahreszeit! Ich muss arbeiten und Frieren können wir schließlich auch hier!«

Jule wusste, wann sie keine Chance hatte. Protestmäßig färbte sie ihr Haar knallgelb. Dann blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als in der winterdämmrigen Wohnung auf dem Bett zu liegen, extra-laut Musik zu hören, mit dem Kugelschreiber dramatische Muster und schlecht gelaunte Comicgesichter auf ihren Arm zu kritzeln und sich sicher zu sein, dass sie es unfassbar schwer hatte, mit so einem fiesen Vater.

Und dieses Mal klangen Maris Erzählungen von Solupp noch märchenhafter und unglaublicher: »Sogar Kurts Wunsch hat sich erfüllt!«, erzählte Mari Jule aufgeregt, nachdem sie und Kurt erst fast eine Woche später zurück in die Schule gekommen waren. »Weißt du? Wegen der Wechselnacht!«

»Und da hat er sich gewünscht, dass das Meer zufriert?«

»Ne, aber dass er länger bei Joon bleiben kann«, hatte Mari leise gesagt, und Jule einen verstohlenen Blick zugeworfen.

Denn das ist wirklich so eine Sache, das mit Kurt. Jule mag Kurt nämlich. Ziemlich sehr und schon super lange. Weil Kurt zwar knurrig, aber dabei heimlich und wirklich auch sehr, sehr süß ist. Weil er ihr Fragen stellt und sich echt für die Antworten interessiert. Weil er Jule Tricks auf dem Longboard zeigt und sie und Mari ab und zu mit zum Skaterpark nimmt. Kurt hat tolle Augen, und traut sich, die mit Kajal zu umranden, und Kurt lacht zwar selten, aber wenn, dann so richtig, und mit Augenfunkeln, und dann funkelt in Jule etwas zurück, da kann sie gar nichts gegen tun. Tja.

Jetzt ist Kurt jedenfalls volle Kanne in diesen Joon von Solupp verliebt und der auch in ihn. Und weil Mari das mit Jule natürlich weiß, also, dass die ein bisschen ziemlich sehr in Kurt verliebt ist, oder vielleicht nicht verliebt, aber zumindest extrem verknallt, deswegen wollte Mari auch erst gar nicht mit der Sprache rausrücken. Aber Jule hat Kurt ja selbst gesehen, mit seinen permanent leuchtenden Glitzeraugen und mit seiner ständigen Sehnsucht. Die Jule übrigens sehr gut kennt, aus eigener Erfahrung. Es ist überdeutlich, dass es Kurt krass erwischt hat, mit diesem Märchenprinzen von der Märcheninsel irgendwo im Nirgendwo, jenseits aller Karten. Und Jule versucht wirklich, sich zu freuen für Kurt. Weil es dem ziemlich gut geht mit seiner Joonliebe, und weil glücklich Verliebtsein ja auch was extrem Schönes ist. Aber unglücklich verliebt sein eben so ganz und gar nicht.

Und jetzt das. Jetzt soll Solupp ausfallen.

»Mama meinte, dass sie nie was versprochen hätten, sondern dass sie mal gucken werden«, knurrt Mari.

Jule seufzt. Das ist echt fies. Mal gucken ist eine ganz schwierige Sache. Mal gucken ist eigentlich mindestens so gut wie versprochen, und dann aber doch nicht. Mal gucken sagen Eltern, die insgeheim schon ahnen, dass etwas nicht klappen wird, sich aber noch nicht trauen, das zu sagen und den Ärger lieber auf später verschieben. Und den Ärger, den haben sie jetzt. An diesem bis eben noch so wunderbaren allerersten Frühlingstag.

»Ich war mir so sicher«, flüstert Mari und legt ihre Füße oben auf die Balkonbrüstung und ihren Kopf auf Jules Schulter. Jule nickt. Sie ja auch. Sie hatten schließlich den Plan und bis zu den Frühlingsferien blieben ihnen noch sechs Wochen Zeit.

Mari war sich hundertprozentig sicher, dass Paula und Tom erlauben würden, dass Jule dieses Mal mitkommt. Und Jule sich absolut sicher, dass Ilyas das erst mal nicht erlauben würde.

Sie hatte längst mit dem sanften Überzeugungsprogramm angefangen, das aus drei Schritten bestand. Schritt eins: Vernünftig sein und ungefragt helfen. Seit zwei Wochen wäscht Jule abends ab, deckt am Wochenende den Frühstückstisch, und hat sogar Ilyas’ Rad repariert, damit ihr Vater endlich nicht mehr über die stickige U-Bahn schimpfen muss. Schritt zwei sieht vor, ihn davon zu überzeugen, dass es ja auch mal ganz schön sein kann, die Wohnung für sich zu haben. Ohne Jule, ihre laute Musik und die knallbunten Haarsträhnen im Abflusssieb. Sobald Ilyas das eingesehen hatte, wollte Jule ihm mitteilen (ja, mitteilen, nicht fragen), dass sie die Frühlingsferien mit den Fröhlichs auf Solupp verbringen wird. Und ihr Vater, der würde gar nicht anders können, als zuzustimmen. Das war jedenfalls der Plan. Bis jetzt.

»Dann fahre ich halt alleine, wenn ihr nicht mitkommt!«

»Niemals!«, ruft Paula. »Echt, Kurt, bei aller Liebe – das geht nicht!«

»Das geht«, verkündet Kurt. »Das schaffe ich!« Er klingt jetzt echt verzweifelt.

Jule und Mari sehen einander an.

»Das werden sie niemals erlauben«, sagt Mari resigniert. Und richtig, im nächsten Moment knallt schon wieder eine Tür und Kurt stürmt draußen am Zimmer vorbei und dann hören sie, wie auch seine Tür ins Schloss fällt.

»Er hat Sehnsucht«, sagt Mari leise. »Soluppsehnsucht.«

Jule nickt. Selbst sie kann es spüren, die noch nie auf der Insel war, die Solupp nur aus Erzählungen kennt: Ein Ziehen, ein Zerren, eine ganz schlimme Soluppsehnsucht.

»Egal, was Mama und Papa sagen: Wir MÜSSEN nach Solupp«, stellt Mari fest. »Kurt wird immer trauriger, und Bela braucht dringend Feinur, und du musst unbedingt Ema kennenlernen und Sumi und Oona und die Solbeeren und –«

»Solupp«, unterbricht Jule ihre beste Freundin. »Ich weiß.«

Und Jule weiß nicht nur, wann man Mari in Ruhe lassen muss, sondern auch, wann etwas für ihre allerallerbeste Freundin überlebenswichtig ist und für sie damit auch.

Mari richtet sich auf, schüttelt den Kopf, als könne man eine handfeste Soluppsehnsucht einfach abschütteln. Dann verkündet sie plötzlich:

»Jedenfalls: ich mag das Grün!«

Jule grinst zufrieden. Und dann grinst sie noch mehr. Weil ihr einfällt, dass nur eine Sache in diesem Moment besser ist, als ein ganz früher Frühling und ein unperfekt perfektes Grün: ein meerblaues Blau.

Jule springt auf: »Du, ich muss los!«

Mari sieht sie irritiert an: »Ich dachte, wir gehen nachher noch mit Kurt zum Skaten?«

Jule runzelt die Stirn: »Meinst du, Kurt verlässt heute noch mal sein Zimmer?«

»Wahrscheinlich nicht. Boah –«. Frustriert lehnt Mari den Kopf an die Hauswand.

Jule stupst mit dem Turnschuh gegen Maris Fuß:

»Hey, ich versprech’ dir was!«

Mari sieht sie neugierig an.

»Wir fahren nach Solupp!«

»Aber –«

»Diesen Frühling!«

»Aber –«

»Vertrau mir, echt, ich regele das!«

Mari rappelt sich auf und als Jule ihre Hand ausstreckt, hakt Mari ihren kleinen Finger um Jules, und dann schließen sie beide die Augen und drücken ihre Finger fest, und denken im gleichen Moment: »Versprochen, nicht gebrochen.« Und dieser Schwur stammt zwar noch aus der ersten Klasse, aber genau deshalb ist er wohl auch so verdammt wirksam.

Der erste Frühlingstag ist der beste. Er riecht nach frisch aufgebackenen Tiefkühlbrötchen, nach dem Fluss, der am Ende der Straße irgendwie schneller als vorher unter der Brücke durchfließt. Der erste Frühlingstag, findet Jule, der riecht nach einer großen Lust auf Abenteuer. Der allererste Frühlingstag ist einfach der beste. Und Jule wird nicht zulassen, dass sich daran etwas ändert. Der erste Frühlingstag verdient es, ein schöner Tag zu sein, einer mit einem glücklichen Ende, einer guten Nachricht zum Abschluss. Und während sie sich auf ihr Brett schwingt und ordentlich pusht, ist Jule sich vollkommen sicher, dass sie ihr Versprechen halten kann.

ZWEITES KAPITEL

DER HERZENSWUNSCH

»Julika!«, ruft Frau Nowak aus dem Zweiten ihr strahlend entgegen. »Du bist ja janz blau!«

»Grün!«, grinst Jule. »Jadegrün, genau genommen.«

»Juti!«, ruft Frau Nowak. »Dit steht dir aber!«

»Danke, Frau Nowak!«

Frau Nowak strahlt ihr fast zahnloses Lächeln, dann räuspert sie sich: »Zeit für’n kleenes Pläuschchen?«

Jetzt bleibt Jule stehen. Sie mag die Kaffeekränzchen bei Frau Nowak sehr. Bei Frau Nowaks Kaffeekränzchen gibt es nie Kaffee. Dafür viel zu süßen, nur leicht mit Leitungswasser verdünnten Himbeersirup, kleine Gewürzgurken und ziemlich weiche Löffelbisquits, und dann reden sie über Gott und die Welt und wirklich, wirklich alles. Frau Nowak ist eine tolle Zuhörerin, und eine noch bessere Erzählerin. Wobei Jule nie weiß, welche ihrer Geschichten wahr, und welche erfunden sind. Aber das ist ja eigentlich auch egal, wichtig ist nur, dass sie gerne Zeit zusammen verbringen.

»Heute geht’s leider nicht, Frau Nowak, ich hab’s ein bisschen eilig. Aber vielleicht morgen, gleich nach der Schule? So gegen drei?«

»Abjemacht!«, strahlt Frau Nowak zufrieden. Doch dann verdunkelt sich ihr Gesicht:

»Aber sach ma, Kleene, wat issn los? Allet jut mit’m Papa?«

»Klar, alles jut!«, behauptet Jule. »Alles super! Ich muss nur noch was erledigen –«

Frau Nowak zieht verschwörerisch lächelnd die Augenbrauen hoch:

»Aha, aha! Nachtigall ick hör dir trapsen«, ruft sie. »Die Liebe! Hier jehts doch janz sicher um die Liebe!«

»Ne, Frau Nowak! Geht’s nicht, ich –«

»Nu erzähl mir doch nix, ick seh dat doch. Bin ja och nich von vorjestern – Wie hieß er noch, der Kleene, der Hübsche, der mit der Rockmusik?«

»Heavy Metal und Punk«, stellt Jule fest. »Das heißt, gerade hört er eigentlich eher Grunge –«

»Ja, ja, aber nu sach ma an: Wo drückt denn nu der Schuh?«

»Der drückt doch gar nicht!«, ruft Jule, und muss jetzt doch mal die Augen verdrehen. »Frau Nowak, es geht doch nicht immer, immer, immer nur um die Liebe!«

»Ach, Kindchen –«, seufzt Frau Nowak, und Jule weiß, dass die alte Dame ihr kein Wort glaubt. Und weil ihr das so gar nicht gefällt, dass Frau Nowak denkt, Jule hätte nichts anderes im Kopf als die Sache mit der ollen Liebe, erzählt sie ihr, worum es in diesem Fall wirklich geht:

»Es ist wegen Solupp!«

»Solupp –«, flüstert Frau Nowak. Und auch sie scheint zu spüren, dass das mit Solupp so ein bisschen was Magisches ist. »Diese jeheimnisvolle Insel, auf die deine Freundin Mari immer fährt?«

»Na ja, zwei Mal war sie da. Und eigentlich jetzt im Frühling ein drittes und ich wollte mit – Aber jetzt geht das irgendwie nicht, wegen der Arbeit –«

»Ach, ach –«, seufzt Frau Nowak und ihr Blick wird weich, weil sie jetzt nämlich ihren eigenen Gedanken nachhängt, und schließlich ganz in ihren Erinnerungen verschwindet. Jule nutzt die Gelegenheit, verabschiedet sich schnell und huscht davon, weiter die Treppe hinauf ganz nach oben, wo ihr das Sonnenlicht warm durch das runde Dachfenster entgegenflutet.

»Julika«, ruft ihr Frau Nowak von unten zu, »sprich deinen Vater nich auf das Meer an – Quäl’ ihn nicht damit –«

Jule schüttelt den Kopf: Manchmal ist Frau Nowak auch ein bisschen merkwürdig. Wie kann man jemanden mit dem Meer quälen? Was für ein seltsamer Gedanke! Und doch – ein bisschen mulmig ist es Jule schon damit, Ilyas wegen der Sache mit Solupp zu fragen. Am besten einfach schnell durchziehen ... eilig schließt sie die Tür auf.

Hier oben, direkt unter dem Dach, ist es schon jetzt ziemlich warm. Im Sommer wird das dann so unerträglich, dass selbst der riesige alte Ventilator, den Ilyas Jahr für Jahr erneut repariert, nichts ausrichten kann. Dann hängen sie nasse Bettlaken vor die Dachfenster, essen Unmengen mühsam die Treppe hinaufgeschleppte Wassermelonen und Salzstangen, trinken literweise lauwarmen Tee, und stöhnen ununterbrochen über die Hitze. Und trotzdem kommt Wegziehen nicht infrage. Das hat mehrere Gründe. Rein praktische, wie die Tatsache, dass es unmöglich ist, was Bezahlbares in der Stadt zu finden. Und dann gibt es noch die Gründe, über die ihr Vater nicht spricht, die Jule aber kennt oder zumindest ahnt. Früher.

Vor ein paar Jahren hat Jule ein Foto gefunden, zufällig, in dem Spalt zwischen Spüle und Küchenschrank. Darauf war ein unfassbar junger Ilyas zu sehen, und vor ihm stand eine Frau, und der sehr junge Ilyas hatte die Arme um sie gelegt und die Hände auf ihren kugeligen Bauch, und Jule hatte den Atem angehalten, denn die Frau auf dem Bild, das musste Selma sein, Jules Mutter. Die Frau hatte die gleichen dunklen Augenbrauen wie Jule und exakt den gleichen breiten Mund. Und das in ihrem Bauch, das war dann wohl Jule selbst und höchstpersönlich. Höchstens zwei, drei Monate, bevor sie geboren und ihre Mutter gestorb–

Was Jule jetzt wusste, dank des Fotos: Ihre Mutter hatte beim Lachen die Augen zugekniffen, und sie stellte sich Selmas Lachen ähnlich laut und rau vor wie ihr eigenes. Ihre Mutter war einen halben Kopf größer als Ilyas. Und anders als Jule hatte Selma ein Faible für wallende Kleider. Wahrscheinlich, hatte Jule beschlossen, war ihre Mutter ein ziemlich fröhlicher Mensch. Der Gedanke gefiel ihr, und gerne hätte sie noch mehr erfahren, aber das war so unmöglich wie die Sache mit dem Meer.

Über Jules Mutter wurde nicht gesprochen. Jule hatte es wieder und wieder versucht, und immer hatte sich Ilyas’ Gesicht verfinstert, war er still geworden und irgendwie abweisend. Nichts, was Jule über ihre Mutter wusste, hatte sie von Ilyas. Von ihrer Oma wusste sie, dass Selma als Kind vom Apfelbaum gefallen war und sich eine Gehirnerschütterung geholt hatte, dass sie eine Hündin hatte namens Schrippe, die gerne auf den Hinterbeinen lief und vermutlich glaubte, sie sei ein Mensch. Von ihrem Opa, dass Selmas Lieblingsessen Spaghetti mit Hackfleisch war, dass sie es liebte, durch die Stadt zu streifen, und dass sie von diesen Streifzügen mit haufenweise Geschichten zurückkam. Oma und Opa zeigten ihr Fotos von ihrer Mutter als Baby, als Kind, als Mädchen in Jules Alter. Nur Ilyas schwieg, wurde finster, wurde traurig und stumm, wenn Jule nach seinen Erinnerungen an Selma fragte. Ilyas erzählte ihr nichts, und niemals durfte Jules Vater erfahren, dass Jule das Foto gefunden hatte. Dass es da jetzt doch etwas gab. Etwas von früher, von ihrer Mutter, an das und an die sie selbst nicht die klitzekleinste Erinnerung hatte. Das Bild war etwas Verbotenes, war ein Geheimnis, das Bild war ein Schatz: es war der einzige Beweis dafür, dass sie gemeinsam oder zumindest gleichzeitig existiert hatten, Ilyas und Jule und Selma.

Nur Mari zeigte sie es.

»Sie sieht wirklich aus wie du!«, hatte die gerufen und das Foto prüfend neben Jules Gesicht gehalten. »Nur das Haar, das hast du eindeutig von Ilyas –« Stimmt, das Haar der Frau auf dem Bild war hell und spiegelglatt, während Ilyas’ und Jules Haar sich dunkel wellte. Jedenfalls damals noch, bevor Jule mit den Tön- und Färbeexperimenten begonnen hatte ...

Während Ilyas in seinem Arbeitszimmer saß und seine ewige Computerarbeit machte, begann Jule heimlich nach weiteren Spuren zu suchen. Wenn Ilyas bei seinem Versuch, Selma und sein altes Leben verschwinden zu lassen, das Foto übersehen hatte, dann musste doch noch mehr zu finden sein! So ein ganzes Leben, so ein Mensch lässt sich ja schließlich nicht einfach ungeschehen machen!

Die erste und offensichtlichste Spur waren die dünnen Holzwände, mit denen Ilyas das Dachatelier in eine ziemlich verschachtelte Wohnung verwandelt hatte: Jules Zimmer, Ilyas’ Arbeits- und Schlafzimmer, eine große Küche und ein winzig kleines Bad, in dem man über die Toilette steigen musste, um in die Badewanne zu gelangen.

Und auch die fehlenden Decken, die allen Besuchenden sofort auffielen, die für Jule aber bisher nicht weiter ungewöhnlich gewesen waren, machten jetzt Sinn! Es war alles ein Raum und ein vollkommen anderes Leben! Früher. Früher ist ein tiefgrüner, fingernagelgroßer Farbfleck auf den Dielen, ist der scharfe Geruch nach Lösungsmittel, der an den heißesten Sommertagen wieder zum Leben erweckt wird, ist ein kleiner, hart getrockneter Borstenpinsel, der sich in dem alten Blumentopf neben dem Gasherd, in dem sie ihre Kochlöffel und Suppenkellen und Pfannenwender, sowie unzählige Kugelschreiber aufbewahren, versteckt hat. Früher, das ist Selma mit ihren dunklen Brauen und dem breiten Mund und dem lauten Lachen. Und vielleicht sieht Ilyas sie ja auch deswegen manchmal so seltsam an, so, als würde er sie schon immer kennen und gleichzeitig zum allerersten Mal sehen. Wie ein Gespenst.

Aber weg jetzt mit den Gespenstern, raus aus dem Früher.

»Solupp«, sagt Jule sich. »Wir müssen nach Solupp!«

Jule stellt ihr Board neben der Tür ab und schlüpft aus den Turnschuhen:

»Baba?«

Ilyas antwortet nicht. Wenn er arbeitet, hört er nichts und niemanden, trotz der leinwanddünnen Wände. Vielleicht ist er auch wieder in einem seiner Meetings. Die gehen immer ewig und Jule hat sich schon ungefähr tausend Mal geschworen, dass sie niemals einen Job haben wird, bei dem man sich stundenlang mit anderen Menschen anstarren muss, dabei aber tagein und tagaus vollkommen alleine ist. Wird Zeit, dass Ilyas hier rauskommt!

Schnell wirft Jule einen Blick in den knurrenden Kühlschrank, schnappt sich zwei Joghurts, einmal pur und stichfest für Papa, einmal griechisch süß für sich. Noch einen großen Löffel Honig und einen extra und ein paar Walnüsse rein – fertig und perfekt! Jetzt los, bevor sie der Mut verlässt oder noch schlimmer: die Zuversicht.

»Hallo?!«